"Diakon wurde man, weil man anders war" - Margit Herfarth - E-Book

"Diakon wurde man, weil man anders war" E-Book

Margit Herfarth

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Beschreibung

Nach der deutschen Teilung war die gemeinsame Ausbildung von ost- und westdeutschen Diakonenschülern in Berlin unmöglich geworden. Stattdessen blieben die einen im Johannesstift, die anderen lebten und lernten in Weißensee, wo in der heutigen Stephanus-Stiftung ein neues Brüderhaus als Ausbildungsstätte eingerichtet wurde. Dieser Band zeichnet die spannungs- und konfliktreiche Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs (KDL) nach, der junge Christen – und später auch Christinnen – im Kontext der DDR-Gesellschaft dazu befähigte, gegen viele Widerstände Diakonie als Hinwendung zu den Menschen "am Rande" auszuüben. ["You Became a Deacon Because You Were Different": The History of the Kirchlich-Diakonischer Lehrgang in Berlin-Weißensee (1952–1991] After the partition of Germany, it had become impossible to train East and West German students of deaconry together. While the latter remained at the Johannesstift, the former lived and studied at a new training facility – known as a "Brüderhaus" – that had been established at the Stephanus Foundation in Weissensee. This book charts the history of a school which, although fraught with tension and conflict, enabled young male (and later female) Christians – despite the numerous obstacles posed by the East German political and social order – to devote themselves to Christian social work and care for those "on the fringes" of society.

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»DIAKON WURDE MAN, WEIL MAN ANDERS WAR«

DIAKONAT – KIRCHE – DIAKONIE

Hrsg. im Namen des Verbandes Evangelischer Diakonen-, Diakoninnen und Diakonatsgemeinschaften in Deutschland e.V. von Dieter Hödl und Thomas Zippert

Band3

MARGITHERFARTH

»DIAKON WURDE MAN, WEIL MAN ANDERS WAR«

DIEGESCHICHTE DESKIRCHLICH-DIAKONISCHENLEHRGANGS INBERLIN-WEISSENSEE (1952–1991)

Margit Herfarth, Dr. theol., Jahrgang 1970, studierte Evangelische Theologie in Münster, Greifswald, Tübingen und Heidelberg sowie Latein in Heidelberg. Gegenwärtig ist Herfarth als Dozentin für Altes Testament, Kirchengeschichte und Bibelkunde am Wichern-Kolleg im Evangelischen Johannesstift in Berlin tätig.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Zacharias Bähring, Leipzig

Satz: Steffi Glauche, Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-374-05166-3

www.eva-leipzig.de

VORWORTE 

Am Anfang stand eine leise Initiative: Eine regionale Gruppe unserer Gemeinschaft spürte die Notwendigkeit, Erlebtes zu bewahren. Vor allem Diakone, die in der Stephanus-Stiftung Verantwortung für die Diakonenausbildung im KDL mitgetragen hatten, wollten, dass diese Zeit, an die in der heutigen Stephanus-Stiftung selbst symbolisch nichts mehr erinnert, gewürdigt und historisch eingeordnet wird. Am Ende liegt ein Buch vor, das dieses Anliegen auf- und ernstgenommen hat. Es beschreibt die Diakonenausbildung, die Zeit des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs (KDL), der nach 1989 aufgelöst und wieder in das Ausbildungssystem des Wichern-Kollegs im Evangelischen Johannesstift eingegliedert wurde.

Wie hat sich in diesem Zusammenhang die Brüderschaft der Stephanus-Stiftung erlebt, verändert, wiedergefunden? Was ist am Ende für die neue Schwestern- und Brüderschaft des Evangelischen Johannesstifts geblieben? Die Brüderschaft der Stephanus-Stiftung hat im Laufe der KDL-Jahre verschiedene Positions- und Rollenveränderungen erlebt: Sie war Initiatorin der Ausbildung, Verantwortungsträgerin und lebte die selbstverständliche Einbindung der Absolventen in eine brüderliche Gemeinschaft, ohne die eine Einsegnung zum Diakon nicht möglich war. Sie hat die Ausbildungsinhalte mitbestimmt, forderte das Verhalten der Diakonenschüler immer wieder heraus und war somit Streitpartnerin. Gleichzeitig dachte sie über das neue Ausbildungsmodell einer Spezialausbildung mit nach und unterstützte deren Umsetzung. Am Ende war sie konfrontiert mit neuen Lebensentwürfen der im KDL Ausgebildeten, die den Wertevorstellungen der brüderlichen Gemeinschaft häufig nicht mehr entsprachen. Die konfliktbeladene Situation lief auf eine Konfrontation hinaus. Die Kluft zwischen Brüderschaft und Ausbildung wurde immer tiefer. Mit dem Mauerfall 1989 kam die gesellschaftliche Wende, damit auch die Abwendung dieser Konfrontation.

Die KDL-Ausbildung ging hinein in ein Ausbildungssystem im Evangelischen Johannesstift, das diese Konflikte schon schmerzhaft in den 1970er Jahren geführt hatte. Über die Ausbildungsziele, die von der Stiftsleitung, der Brüderschaft, den Ausbildungsverantwortlichen und den Studierenden unterschiedlich gesehen wurden, war diskutiert worden. Die Verhältnisse waren geklärt worden. Die Brüderschaft des Ev. Johannesstifts (seit 1992 umbenannt in Schwestern- und Brüderschaft) war der Diakonenausbildung zwar eng verbunden, war aber nicht Trägerin und Verantwortungstragende wie es die Brüderschaft in der Stephanus-Stiftung gewesen war. Sie musste um die Absolventen der Diakonenausbildung werben, da die Einsegnung nicht mehr an die Mitgliedschaft in einer diakonischen Gemeinschaft gebunden war. Dieser »Zwang« hatte im Osten dazu geführt, dass viele KDL-Absolventen auf die Einsegnung verzichteten, da sie nicht in die Brüderschaft eintreten wollten.

Die Schwestern- und Brüderschaft im Johannesstift war Partnerin der Diakonenausbildung, wurde bei Richtungsentscheidungen um ihre Meinung gefragt, letztendlich bestimmte sie aber nicht mit. Hier lag die Entscheidungshoheit beim Wichern-Kolleg und dem Evangelischen Johannesstift. Dem erneuten Zusammengehen beider diakonischer Gemeinschaften 1993 ging auch deshalb ein herausfordernder Prozess voraus. Bedeutete diese Form von Partnerschaft mit der Diakonenausbildung nicht einen Bedeutungsverlust für die diakonische Gemeinschaft? Der direkte Konflikt zwischen den Ansprüchen Studierender und einer scheinbar festgelegten diakonischen Gemeinschaft musste nicht mehr geführt werden, was aber auch damit zu tun hatte, dass viele kritische KDL-Absolventen nicht den Weg in das Evangelische Johannesstift mitgegangen sind bzw. ihn bewusst nicht genommen haben. Die Atmosphäre im Johannesstift und im Wichern-Kolleg war anders, wenig Reibungsfläche bietend: abgeklärter, wenn es die Anforderungen an die Studierenden betraf und gelassener, wenn es um die persönlich unterschiedlichen Entwicklungen der Auszubildenden ging. Mit dem Zusammengehen entstanden Herausforderungen für beide Seiten: Die Brüderschaft der Stephanus-Stiftung sah sich tatsächlich konfrontiert mit einem Bedeutungsverlust, die Schwestern- und Brüderschaft des Ev. Johannesstifts wurde herausgerissen aus einem eingespielten Gleichmaß.

Welche Rolle wollte und sollte die zukünftige diakonische Gemeinschaft im Evangelischen Johannesstift und in der Ausbildung spielen? Welche Rituale, welche Umgangsformen, welche Mitbestimmungsräume mussten jeweils neu kennengelernt, überdacht und angepasst werden? Menschen mussten sich neu kennenlernen, Fremdheit überwinden.

Wir haben es als Schwestern- und Brüderschaft geschafft, wieder geschwisterlich zueinander zu finden. Unsere Rolle im Evangelischen Johannesstift ist nicht mehr vergleichbar mit der der Brüderschaft in der Stephanus-Stiftung. Beratende Stimmen in Gremien können Einfluss nehmen, aber letztendlich nicht mitbestimmen, wie es in der Stephanus-Stiftung zu DDR-Zeiten selbstverständlich war. Durch die erzwungene unterschiedliche Entwicklung der diakonischen Gemeinschaften haben wir aber gelernt, Dinge immer wieder zu hinterfragen, sie nicht als »gottgegeben« hinzunehmen. Der kritische Geist der KDL-Ausbildung ist nicht ganz verweht, auch wenn viele aus dieser Zeit in unserer Gemeinschaft leider fehlen. Er hat sich mit dem Widerstandsgeist aus den verschiedenen Phasen der Diakonenausbildung im Johannesstift verbunden. Sich für das Gemeinwesen verantwortlich fühlen – sich für Veränderungen einsetzen – zum eigenen Denken ermutigen: Das sind Ziele, die Dr.Margit Herfarth in ihren Schlussfolgerungen benannt hat und die meiner Meinung nach in der Ausbildung zur Diakonin und zum Diakon, aber besonders in einer diakonischen Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern gelebt werden müssen, denn Gemeinschaft ist für eine diakonische Ausbildung kein leeres Wort, sondern ein entscheidendes Lernfeld!

Ich danke der Stephanus-Stiftung, dem Evangelischen Johannesstift, der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz und dem VEDD, die der Schwestern- und Brüderschaft durch finanzielle und ideelle Unterstützung dieses Buchprojekt ermöglicht haben.

Jutta Böhnemann-Hierse,

Älteste der Schwestern- und Brüderschaft

des Evangelischen Johannesstifts

GELEITWORT DESHERAUSGEBERS 

Es liest sich so einfach: »Kirchlich-Diakonischer Lehrgang« im Kontext des alttestamentlichen Bibelwortes »Suchet der Stadt Bestes« (Jer 29,7). Doch hinter diesen Worten und Aussagen stehen Menschen mit ihren je eigenen Erfahrungen, angehende Diakone und später auch Diakoninnen, die ihr Leben in dieses Spannungsfeld gestellt und ihren Glauben in diesem Kontext gelebt haben: »Diakon wurde man, weil man anders war.«

In Zeiten, die zuerst geprägt waren von den schrecklichen Erfahrungen eines ungeheuerlichen Krieges; die anschließend bestimmt waren vom Spannungsfeld der Deutschen Zweistaatlichkeit; und die dann überraschend den Aufbruch in ein gemeinsames demokratisches Deutschland ermöglicht haben.

In Zeiten, die ganz unterschiedliche kirchliche Zusammenschlüsse und verschiedene kirchliche Strukturen entstehen ließen, die zeitweise auch zwei Brüderhäuser zur Folge hatten, obwohl alle einmal gemeinsam in einer Gemeinschaft, in einem Brüderhaus gestartet waren und nun wieder vereinigt sind.

»Man muss die Vergangenheit kennen, wenigstens einigermaßen ahnen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu kennen. Ohne Kenntnis der Geschichte ist dem Menschen alles, was um ihn vorgeht, schlechterdings unbegreiflich, geradezu ein Rätsel.«1

Dieser großen geschichtlichen Herausforderung hat sich Margit Herfarth, Dozentin am Wichern-Kolleg des Johannesstifts, gestellt. Sie hat den fließenden Start, sowie die Entwicklung und Gestaltwerdung des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs (KDL) in Berlin-Weißensee aufgezeigt, beides in die jeweiligen gesellschaftlichen und kirchlichen Kontexte eingebunden und damit auch die schwierigen Rahmenbedingungen in den unterschiedlichen Phasen beschrieben. Vor allem aber ist es auch ein wichtiger und notwendiger Schritt, die persönliche Geschichte der Brüder und später auch der Schwestern öffentlich zu machen und zu dokumentieren.

Wesentlich beteiligt hat sich an dieser Herausforderung die Schwestern- und Brüderschaft des Johannesstifts selbst. Diese Beteiligung wurde auch im Rahmen einer »KDL-Geschichtswerkstatt« vollzogen, an der angehende, inzwischen examinierte Diakoninnen und Diakone beteiligt waren und Interviews mit »ehemaligen KDL-Schülern« geführt hatten. Damit wurde gleichzeitig ein intensives Gespräch zwischen den Generationen ermöglicht und vielfältige Lernprozesse initiiert. Das geschah auch deshalb, damit diese persönlichen Schicksale in ihrer beeindruckenden Lebensgestaltung als Form gelebten Glaubens für die nachfolgenden Generationen als Erfahrungsschatz zur Verfügung stehen. »Diakon wurde man, weil man anders war […]«. Søren Kierkegaard2 hat dies so formuliert: »Die Zeit und die Geschichte haben diejenigen gerechtfertigt, die gegen den Strom schwammen und mit den Überzeugungen ihrer Zeit aufeinanderprallten.«

Nach der Darstellung des beruflichen und spirituellen Selbstverständnisses der Diakoninnen und Diakone (Band1) und dem Brückenbau zwischen kirchlich und staatlich anerkannten Qualifikationsanteilen von Diakoninnen und Diakonen (Band2) schließt sich jetzt eine besondere Vertiefung mit einer speziellen geschichtlichen Ausrichtung an und reiht sich als Band3 in die VEDD-Buchreihe »Diakonat – Kirche – Diakonie« ein.3

Ein besonderer Dank für diese Idee, die konzeptionelle Entwicklung und hervorragende Umsetzung gilt Frau Dr.Margit Herfarth und den Verantwortlichen der Schwestern- und Brüderschaft des Johannesstifts.

Dieter Hödl

Vorstandsvorsitzender VEDD

Thomas Zippert

Vorsitzender der Konferenz der Ausbildungs- und Studiengangsleitungen Diakonenausbildung

INHALT

Cover

Schmutztitel

Titel

Autor

Impressum

Vorworte

Geleitwort des Herausgebers

I Einleitung

II Von Improvisationstalenten und Notlösungen (1952–1961)

1 Einrichtung eines »Zweitbrüderhauses« in Weißensee

2 Theologie im Vollzug

2.1 Unterrichtsinhalte und Lehrende

2.2 Bewährung in der Praxis: Engagement in der Stiftung, Arbeitseinsätze und Praktika

3 Gemeinsames Leben

3.1 Haus- und Lebensgemeinschaft

3.2 Alltag, Feste und Fahrten

3.3 Unverlobt und ungebunden?

4 Wie politisch ist die Diakonie?

4.1 Konflikte, Ängste und Repressionen: Die frühen 1950er Jahre

4.2 KDL und DDR-Staat

4.3 Der Arbeiter-Diakon in »Schwarze Pumpe«

4.4 Wanderer zwischen zwei Welten

III Vom Provisorium zur profilierten Eigenständigkeit (1961–1975)

1 Der Mauerbau und seine Folgen

1.1 Gegen die Entfremdung

1.2 Das Ende des Provisoriums: Der neue Status des KDL

1.3 Notwendige Trennungen

2 Umbrüche und Übergänge

2.1 Wer wird Diakon?

2.2 Neue Wege einüben und Demokratie lernen

2.3 Die Arbeit erfordert viel Nervenkraft und Geduld: Hauseltern und ihre Rolle

2.4 Stürmische Zeiten: Rebellion im Brüderhaus

2.4.1 Brüder im Exil

2.4.2 Konsequenzen und Interpretationen

3 Jugendarbeit braucht ein Ziel: Neue Probleme und neue Lösungsversuche

3.1 Jugend zwischen sozialistischer Erziehung und der »Offenen Arbeit«

3.2 Die neue Ausbildungskonzeption

3.2.1 Die Berliner Spezialausbildung

3.2.2 Richtungsstreitigkeiten und Kontroversen

3.2.3 Die Kooperation der Brüderhäuser

IV Position und Revolution (1975–1989)

1 Brüder, Sie müssen den Adler der Weltgeschichte kreisen lassen: Lehr-und Lernerfahrungen

2 Konfliktfelder

2.1 Liebe und Beziehungen

2.2 Streit um die Koedukation

2.3 Ideal und Realität: Gemeinsames Leben

2.4 Brüderschaft

3 Wir waren wie ein kleines freies Land mitten in einem Land, wo gar nichts ging: Diakonsein im Sozialismus

3.1 KDL und DDR-Sozialismus

3.2 KDL und Staatssicherheit

3.3 Frieden schaffen ohne Waffen?

3.4 Westkontakte

3.5 Die friedliche Revolution

V Abschied und neuer Anfang (1989–1991)

1 Von Weißensee nach Spandau

2 Neue Wege unter neuen Bedingungen

3 Was bleibt? Anfragen und Impulse

VI Anhang

1 Der KDL als Modell für das Seminar für Psychiatriediakonie (Autor: Jürgen Schreiter)

2 Zeittafel

3 Quellen- und Literaturverzeichnis

3.1 Beiträge der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen

3.2 Quellenverzeichnis (chronologisch)

3.3 Sekundärliteratur

4 Abbildungsnachweis

Anmerkungen

I EINLEITUNG 

Diakon wurde man, weil man anders war – dieser Satz fiel in einem der Interviews mit ehemaligen Lehrenden und Lernenden am KDL.1 Er trifft genau das, was den Kirchlich-Diakonischen Lehrgang in seinem Kern ausmacht. Der KDL und seine Lehr- und Lerngemeinschaft waren in vieler Hinsicht anders und im Laufe der Jahre verstärkte sich dieses Anderssein eher als dass es sich abschwächte. Der KDL war anders als das Brüderhaus im Johannesstift, als dessen Zweigstelle er ursprünglich gegründet worden war. Das gemeinsame, zunehmend demokratischer gestaltete Leben im Haus war anders als das »normale« Leben in der DDR-Gesellschaft. Die angehenden Diakone (und später die wenigen Diakoninnen) waren anders als die Mehrheit der jungen Menschen in der DDR, hatten andere Motive und andere Ziele. Ihre Arbeitsfelder waren anders als die der meisten anderen Menschen in der DDR, denn sie arbeiteten mit Menschen, die anders waren: mit Behinderten, mit Kranken, mit »randständigen« Jugendlichen und mit den Gliedern einer immer stärker an den Rand gedrängten christlichen Kirche. Ein plurales Anderssein zeichnete auch den kirchlich-diakonischen Innenraum des KDL aus, insofern als gerade die jungen Diakone neue Wege erprobten, dabei manchmal mit ihrer Kirchenleitung und häufiger noch mit der Brüderschaft in Konflikt gerieten. Gemeinsam war allen Lehrenden und Lernenden jedoch, dass das Anderssein die Hinwendung zu anderen Menschen beinhaltete. Die große (theologische) Linie des KDL lässt sich gut mit dem Bonhoeffer-Wort von der Kirche, die nur dann wirklich Kirche ist, wenn sie für andere da ist, beschreiben. Die diakonische Ausbildungsstätte in Berlin-Weißensee ist daher ein wichtiger, aber bislang ungeschriebener Teil der Diakoniegeschichte der DDR.

Diese Darstellung beruht auf zwei Säulen. Zum einen den schriftlichen Quellen, die im Historischen Archiv des Evangelischen Johannesstifts (HAEJS) aufbewahrt sind. Neben Sitzungsprotokollen verschiedener für den KDL zuständiger Gremien, die den Großteil des Materials ausmachen, sind das Auszüge aus Personalakten (den »Brüderakten«), Briefe, Anträge, Abrechnungen, Beschlüsse, Brüdertags-Berichte aus dem Brüderhaus, Schülerzeitungen und von Schülergruppen verfasste Chroniken.2 Zum anderen speist sich die Darstellung aus mündlichen Quellen, nämlich den in Interviews erhobenen Erinnerungen von Menschen, die in unterschiedlicher Funktion und Rolle den KDL selbst erlebt haben. Während die archivierten Quellen Daten und Fakten bereitstellen und insofern eine »objektive« Perspektive ermöglichen, bieten die Interviews die für eine geschichtliche Darstellung ebenso wichtige »subjektive« Perspektive.3 Wie haben die Beteiligten eine bestimmte Zeit, bestimmte Ereignisse und Entwicklungen erlebt und bewertet – und wie sieht ihre heutige Bewertung aus? Wie lässt sich der Alltag im KDL beschreiben? Welche Bedeutung hat die Ausbildung für die eigene Lebensgeschichte?

Insgesamt haben 46 Menschen mit ihren Erinnerungen zu diesem Buch beigetragen. Mit drei von ihnen wurde ein leitfragengestütztes schriftliches Interview geführt, zehn ließen sich schriftlich zu bestimmten Einzelthemen befragen und 33 haben in einem mündlichen Interview Auskunft gegeben. Lebenspaare wurden dabei gemeinsam interviewt. Die Gespräche wurden methodisch als offene, narrative Interviews im Gegensatz zu standardisierten konzipiert. Eine offene Frage nach dem »Weg in den KDL« eröffnete jeweils das Gespräch; ein Fragenkatalog strukturierte es, ohne die narrative Subjektivität zu sehr einzuschränken. Oft ergaben sich aus den Antworten neue Fragen, die wiederum unerwartete Einsichten hervorbrachten.4 Zum Abschluss des Gespräches erhielten die Befragten die Gelegenheit, ihr eigenes Fazit zu ziehen.5 Die mitgeschnittenen Gespräche wurden anschließend transkribiert und den Befragten zur Einsicht vorgelegt, um ihnen die Gelegenheit zur möglichen Korrektur oder Ergänzung zu geben.

Im Rahmen eines Seminars zum Thema »KDL-Geschichtswerkstatt« haben auch angehende bzw. inzwischen examinierte junge Diakoninnen und Diakone mit ehemaligen KDL-Schülern Interviews geführt. Die von ihnen aufgezeichneten Gespräche tragen den besonderen Charakter einer Kommunikation verschiedener Generationen. Aus der Perspektive heutiger Diakonenschüler haben sie ihr Erleben mit dem Erleben älterer Generationen verglichen und Unterschiede und Gemeinsamkeiten ausgelotet. Ein ganz herzlicher Dank und große Anerkennung ihrer einfühlsamen Gesprächsführung und zeitaufwendigen Transkriptionen soll an dieser Stelle Kai Borgwardt, Melanie Hübner, Linda Müller, Karsten Herper, Bettina König, Friederike Wiese, Lukas Supplieth und Linda Steinert ausgesprochen werden.

Die Auswahl der Menschen, die sich für das Projekt befragen ließen, war chronologisch-repräsentativ bestimmt: Für jede »Epoche« der Geschichte des KDL wurde eine Anzahl von ehemaligen Schülern, für den letzten Teil auch Schülerinnen befragt, zudem die Hauseltern, einige Dozenten und Dozentinnen, der ehemalige Leiter der Stephanus-Stiftung (Werner Braune), der langjährige Ausbildungsleiter Hans Kretschmann und der letzte Ausbildungsleiter Martin Kusch. Ergänzt wird diese Weißenseer Perspektive durch den ehemaligen Ausbildungsleiter des Brüderhauses in Rothenburg, Christian Petran, sowie durch zwei ehemalige Studierende und den ehemaligen Ausbildungsleiter des Wichern-Kollegs, Jochen Muhs.

Allen, die sich an dieser »KDL-Geschichtswerkstatt«, so der Arbeitstitel, beteiligt haben, gebührt großer Dank. Die Offenheit und das Vertrauen, das sie mir und den anderen Fragestellern entgegengebracht haben, sind nicht selbstverständlich. Es ist nicht immer leicht, die eigenen Worte später in Schriftform, ohne die Gesprächssituation, schwarz auf weiß zu lesen und den Mut aufzubringen, diese Erinnerungen »freizugeben«.

Große Unterstützung, Ermutigung und viel Zuspruch gaben mir während der Arbeit an diesem Buch Jutta Böhnemann-Hierse, Älteste der Schwestern- und Brüderschaft im Evangelischen Johannesstift und die Diakone Jörg Heine, Gottfried Schubert und Jürgen Schreiter. Die Auswertung der archivierten Quellen wäre nicht möglich gewesen ohne die freundliche Geduld des Archivars Helmut Bräutigam und der sorgfältigen Vorarbeit von Jürgen Schreiter. Ihnen allen bin ich sehr dankbar!

Eingang zur Stoecker-Stiftung mit Ernst-Berendt-Haus.

II VONIMPROVISATIONSTALENTEN UNDNOTLÖSUNGEN: 1952–1961

Johann Hinrich Wichern, der Begründer des Rauhen Hauses und des ersten »Brüderhauses«, war ein Mann der Widersprüche: politisch konservativ und sozial innovativ, pragmatisch und zugleich visionär, Theologe und Sozialpolitiker in einer Person.6 Seine Zeit war unruhig und voller fundamentaler Umbrüche. Wichern zeichnete sich dadurch aus, dass er für neue Situationen und Probleme neue Lösungen suchte, anstatt allein auf Hergebrachtem zu beharren. In der Geschichte des Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs in Weißensee ist viel zu spüren von Wicherns visionärer Gestaltungskraft – und schon die Gründungsgeschichte des neuen Brüderhauses in Weißensee steht insofern in guter Wichernscher Tradition, als hier etwas gedacht und gewagt wurde, das zuvor überhaupt nicht vorstellbar gewesen war: nämlich neben dem fest etablierten und angesehenen Spandauer Brüderhaus ein zweites ins Leben zu rufen.

1 EINRICHTUNG EINES »ZWEITBRÜDERHAUSES« INWEISSENSEE

Als der Zweite Weltkrieg beendet war, war zunächst der Wunsch nach einer Wiederaufnahme des gewohnten und vertrauten Brüderhaus-Betriebs vorherrschend. Die ersten beiden Nachkriegsjahre waren – nicht nur im Johannesstift – ganz unmittelbar vom Kriegsende, von Zusammenbruch und Befreiung, von den Flüchtlingsströmen und der Notwendigkeit der wirtschaftlich-sozialen Neuordnung geprägt.7 Dem Johannesstift war es geglückt, den Betrieb nicht nur während der Kriegsjahre, sondern auch in der Nachkriegszeit weitgehend aufrechtzuerhalten, sodass es sich als Zufluchtsort anbot. Für viele Diakone, die aus dem Krieg zurückkehrten, war das Johannesstift die erste Anlaufstelle – gerade auch für Diakone aus anderen Brüderhäusern, die hier Informationen über ihre Häuser einholen und sich in andere Brüderhäuser vermitteln lassen konnten, falls ihr eigenes Brüderhaus den Krieg nicht überstanden hatte.8

Erst 1947 begann der erste reguläre Anwärterlehrgang mit der Ausbildung im Brüderhaus. Die Brüder renovierten die Unterrichtsräume und füllten alte Traditionen wie das »Familiensystem«, das später auch in Weißensee übernommen wurde, wieder mit Leben. Der bis Frühjahr 1947 durch das Krankenhaus belegte Speisesaal wurde feierlich neu eingeweiht, Praktika und Prüfungen absolviert. 1951 fuhren erstmals seit 1939 Schüler und Lehrer auf eine gemeinsame Sommerfahrt.9 Die Situation begann sich zu normalisieren, eine sicherlich ersehnte Stabilität schien sich einzustellen.

Der beginnende Kalte Krieg und die seit 1949 manifeste deutsche Zweistaatlichkeit verhinderten jedoch eine solche Stabilität und stellten nicht nur die Deutsche Diakonenschaft insgesamt10, sondern auch das Brüderhaus im Johannesstift vor neue, unvorhergesehene Herausforderungen. Während schon seit 1949 die gemeinsame Arbeit und die persönlichen Begegnungen von Diakonen aus Ost und West deutlich erschwert und an manchen Stellen unmöglich gemacht worden waren11, stand seit dem Sommer 1952 sozusagen über Nacht die Zukunft der Ausbildungsstätten der Kirche von Berlin-Brandenburg und damit auch der Diakonenausbildung im Brüderhaus auf dem Spiel. War die sogenannte Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen von Seiten der DDR schon seit einer Verordnung vom 26.5.1952 verstärkt abgeriegelt worden, erging nun ein staatlicher Beschluss, dass jeder DDR-Bürger sein Aufenthaltsrecht verlieren würde, wenn er sich länger als einen Monat außerhalb des Staatsgebietes der DDR aufhielte. Dieser Beschluss betraf fast 80 Prozent12 der Diakonenschüler des Johannesstifts, die zwar in Spandau polizeilich gemeldet waren, aber aus dem Gebiet der DDR stammten.13 Die neue Verordnung machte de facto die Ausbildung von DDR-Bürgern im Westen unmöglich. Was tun?

Schon Ende Juni 1952 fasste die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg unter Bischof Otto Dibelius den Beschluss, bestimmte Ausbildungsstätten, darunter beispielsweise das bislang in Dahlem situierte Burckhardthaus14, nach Ostberlin zu verlagern, um den dringend benötigten Nachwuchs für Kirche und Diakonie des Ostens zu sichern. Um die Ausbildung junger Diakone für den Einsatz im Staatsgebiet der DDR zu gewährleisten, sollte in Berlin-Weißensee ein Ableger des Brüderhauses eingerichtet werden. Joachim König, der erste Hausvater des Brüderhauses in Weißensee, schreibt dazu:

Man muss sich einmal vorstellen, was es für die Kirchen und die Diakonie in der jungen DDR bedeutet hätte, wenn die Diakonenausbildung im Johannesstift geblieben wäre. 90 Prozent der jungen Männer, die in das Brüderhaus eingetreten sind, wären im Laufe der Jahre für die Kirche in der DDR verlorengegangen. Sie wären durch die Ausbildung Westberliner bzw. Westdeutsche geworden, unddie DDR hätte ihnen die Rückkehr nicht gestattet. 1952 haben wir immerhin 31 Schüler und Diakone in den Osten »zurück«geholt. Sie wären der Kirche im Osten verlorengegangen […].15

Die Entscheidung zur Errichtung eines »Zweitbrüderhauses«, die im Rückblick so folgerichtig und zwangsläufig erscheint, war in der aktuellen Situation jedoch schwierig und mit Sorgen belastet. Das Johannesstift sah seine Arbeit durch den Wegzug der jungen Brüder, die in ihren langen Praktika in den Häusern des Stifts tätig waren, gefährdet. Wie sollten diese Lücken gefüllt werden? Würde es bei der zunehmend isolierten Lage Westberlins noch gelingen, genügend neue Anwärter aus dem Westen zu finden?16 Auch in der Schüler-Chronik der Jahre Juni 1952 bis Januar 1954 wird über die Überlegungen und Anspannungen dieser Phase berichtet:

Juni 1952: […] So tauchten in diesen Tagen schwere dunkle Wolken am Himmel auf. Konnte man die Praktikantenstellen, in die man gerufen worden war, einfach so verlassen? Mußte man nicht hier seine Aufgabe erfüllen? Riefen die Gemeinden der DDR, aus denen die Brüder kamen, nicht auch nach Kräften? Wieviele Aufgaben waren auch dort zu erfüllen? Doch mußte man sich dann nicht auch wieder neu einem anderen Brüderhaus in der DDR anschließen? Da man erst hier eine Gemeinschaft und Brüderschaft gefunden hatte. Es war keine leichte Entscheidung.17

Trotz aller Bedenken überschlugen sich die Ereignisse: Innerhalb von kurzer Zeit war die damalige Adolf-Stoecker-Stiftung in Weißensee als geeigneter Ort für ein Zweitbrüderhaus18 bestimmt worden. In der Hoffnung auf eine Änderung der politischen Verhältnisse wurde die geplante Einrichtung zunächst als Zwischenlösung angesehen – Joachim König schreibt in seinen Erinnerungen, dass er selbst damals den Plan für ein Provisorium gehalten habe. Das Johannesstift, so König, wollte kein dauerhaftes Ost-Brüderhaus sein – nur wenn die politische Lage es nötig machen würde, käme eine Dauereinrichtung in Frage.19 Die Vorstellung eines »Provisoriums« scheint dabei einerseits dazu beigetragen zu haben, dass sich die Stiftsleitung zu diesem Entschluss durchringen konnte, andererseits aber dazu geführt zu haben, dass die immer deutlicher werdende Permanenz des neuen Brüderhauses nicht ohne Konflikte akzeptiert werden konnte, wie eine Erinnerung eines der ersten Diakonenschüler in Weißensee, Hans-Dietrich Spengler, erkennen lässt:

Pfarrer Becker20, also der damalige Stiftsvorsteher, hat im Herbst 53 durchsetzen wollen, dass wir in Spandau bleiben. Das heißt, dass wir in Weißensee wohnen und jeden Tag nach Spandau kommen. Und damals lief ja gerade dieser Kampf gegen die Junge Gemeinde und die »Spione aus dem Westen«. Das war eine ziemlich heikle Geschichte Mitte der 50er Jahre. Und da haben wir gesagt: Das geht nicht! Wenn wir hier in Spandau bleiben, riskieren wir, wenn wir nach dem Examen zurückkommen, dass die uns alle verhaften. Und das kapierte er nicht und da hatten wir ein Klassengespräch mit ihm. Also da sind die Fetzen geflogen! Und es ging so weit, dass wir gesagt haben: Wenn Sie darauf bestehen, dass wir hierher kommen, dann treten wir alle aus! Wir hatten schon überlegt, dass wir dann nach Moritzburg gehen würden.21

Von Seiten der DDR-Behörden wäre das Konstrukt einer dauerhaften Zweigstelle des Johannesstift-Brüderhauses sicherlich nicht geduldet worden – und der nüchtern-sachliche Name der neuen Ausbildungsstätte, »Kirchlich-Diakonischer Lehrgang«, ist als Zeichen an die Behörden zu werten, dass hier eine neue und eigene Einrichtung entstand.22 Voraussetzung dafür, dass das Zweitbrüderhaus in der damaligen Stoecker-Stiftung angesiedelt werden konnte, war zum einen, dass der Stiftung schon 1949 durch die Sowjetische Militäradministration genehmigt worden war, kirchlich-diakonische Lehrgänge zur Ausbildung künftiger Mitarbeiter durchzuführen23, zum anderen die Weitsicht der Leitung der Stiftung unter dem Kuratoriumsvorsitzenden Kirchenrat Theodor Wenzel24 und dem Geschäftsführer Pastor Willi Federlein25, denen die große Bedeutung der Ausbildung künftiger diakonischer Mitarbeiter für das Gebiet der DDR bewusst war.26

Die Stiftung in Weißensee hatte zu diesem Zeitpunkt schon eine lange und bewegte Geschichte hinter sich.27 Als Bethabara-Stiftung war sie 1878 von Pfarrer Ernst Berendt (1842–1919) für die Betreuung strafentlassener Frauen und Mädchen gegründet worden. Weitere Arbeitsbereiche kamen hinzu und 1902 wurden die Bethabara-Stiftung und das Versorgungshaus »Beth-Elim« zur Bethabara-Beth-Elim-Stiftung vereint. In den nächsten Jahrzehnten wuchs die Stiftung durch den Bau weiterer Häuser und erweiterte ihre Arbeitsbereiche um die Versorgung geschlechtskranker Jugendlicher, der ärztlichen Versorgung von Müttern und Säuglingen, der Betreuung pflegebedürftiger physisch oder psychisch kranker Mädchen und der Einrichtung eines homöopathischen Krankenhauses. Seit 1933 kam es zu starken Beeinträchtigungen der sozialen Arbeit der Stiftung. Der seinem Vater in die Leitung nachgefolgte Pfarrer Ernst Berendt jun. (1878–1942) verließ Weißensee 1940, übernahm ein Pfarramt in Baden-Baden und wurde, schon seit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wegen seiner widerständigen Haltung und seiner Predigten im Visier der Gestapo, 1940 ins KZ Dachau eingeliefert, wo er 1942 starb.28 1941 wurde die Bethabara-Beth-Elim-Stiftung im Zuge der »Ausmerzung jüdischer Namen« in Adolf-Stoecker-Stiftung umbenannt. Der 1909 verstorbene evangelische Pfarrer und Hofprediger Adolf Stoecker29, seit 1877 Leiter der gerade gegründeten Berliner Stadtmission, war nicht nur theologisch, sondern vor allem auch politisch tätig gewesen und hatte in seinem Reden und Wirken anti-liberale und anti-sozialistische Positionen mit einem starken Antisemitismus verknüpft. Im Nationalsozialismus als Vorläufer und Wegbereiter rezipiert, erschien Stoecker den Verantwortlichen der Stiftung wohl als geradezu idealer Namenspatron – vereinte er in seiner Person doch eine sozial-diakonische mit einer sozusagen proto-nationalsozialistischen Haltung. Erst 1963 erfolgte eine weitere Umbenennung. Am 9. November 1963, dem 25. Jahrestag der Novemberpogrome, wurde als neuer Namensgeber der Stiftung der biblische Diakon Stephanus bekanntgegeben.30

Für den Aufbau des neuen Brüderhauses und als sein erster Hausvater wurde der Diakonenschüler Joachim König31, selbst erst im zweiten Jahr der Ausbildung, bestimmt. Warum fiel die Wahl gerade auf ihn? Seine Frau, Ilse König32, macht dafür unter anderen Gründen die Tatsache geltend, dass er durch Krieg und Gefangenschaft älter als manche andere war und schon mit der damaligen Hausmutter Frau Matho vier Monate im Brüderhaus gearbeitet hatte, während Hausvater Bruder Matho im Krankenhaus war.33 Höchstwahrscheinlich hatte er sich dabei sehr bewährt. Er selbst erzählt über die Ereignisse:

Mir ist das mitgeteilt worden von Herrn Matho, und da bin ich dann zu Pastor Eckstein34gegangen, dem Vorsteher, und habe ihm gesagt: »Das geht nicht, das kann ich nicht, bei meiner ganzen Vorbildung ist das schwierig. Ich wurde aus der Schule auch rausgerissen, das war nur ein Notabitur, also: Das geht nicht!« Und da hat er gesagt: »Das geht! Das Examen – (da lagen ja nur zwei Tage dazwischen) – das Examen machen nicht Sie, das machen die Dozenten!« Er war Urbayer, war sonst ein prima Mann, prima Unterricht, sein Hauptfach war Kirchengeschichte, er war auch ein guter Pädagoge, aber er konnte eben auch ganz stur sein, also fertig aus. Und wenn er sich sehr ärgerte, dann sprach er kein Hochdeutsch mehr, sondern bayrisch: »Und dös sag ich Ihnen, der Dozent, der Sie durchfallen lässt, der kriegt’s mit mir zu tun!« Und damit war ich entlassen. Ich hatte zum Glück in Spandau ein Einzelzimmer im Haus, da habe ich mich hingesetzt und habe mir einige Fächer vorgenommen und habe mir die Unterlagen durchgesehen, damit ich wenigstens einiges präsent hatte. So ging es. Dann habe ich bis morgens um halb vier versucht zu repetieren.35

Nach diesem vorzeitigen Examen begann Joachim König mit der Einrichtung des von der Stiftung nun so benannten »Kirchlich-Diakonischen Lehrgangs« (KDL) in Weißensee. Am 5. Oktober 1952 reiste die erste Anwärterklasse an, musste jedoch zunächst noch vier Wochen im Johannesstift untergebracht werden, weil das Haus nicht bezugsfertig war. Erst am 4. November konnten die jungen Männer endgültig einziehen, zeitgleich begann unter der Leitung des Vikars Eberhard Springer die Konzeption des Unterrichts in Weißensee. Zugleich brachen über zwanzig Diakonenschüler, die aus der DDR stammten, ihre Ausbildung im Johannesstift ab und siedelten ebenfalls nach Weißensee über.36 Johannes Arnold, der 1951 mit der Ausbildung im Johannesstift begonnen hatte, gehörte zu der Klasse, deren Schüler sich innerhalb einer kurzen Frist entscheiden mussten, ob sie im Johannesstift bleiben oder nach Weißensee ziehen wollten. Er erinnert sich an die doch furchtbar schwere Entscheidung.37 Am zweiten Advent 1952 wurde das Zweitbrüderhaus in Weißensee offiziell eröffnet.38 Die Chronik der Schüler berichtet:

Außer P. Braune39war noch die Leitung des Johannesstifts und alle Dozenten des KDL mit ihren Frauen erschienen. P. Eckstein verglich den KDL mit einem neugeborenen Kinde, das der Stoecker-Stiftung zur Pflege übergeben worden war. Zu unserer Freude bekamen wir auch an diesem Tage unsere zukünftige Hausmutter zu Gesicht. So hatte sie an diesem Tage die Gelegenheit, einen Blick in ihr »zukünftiges Reich« zu werfen.40

Das neugeborene Kind KDL begann seine Arbeit mit zehn Anwärtern und 22 jungen Männern, die hier ihre im Johannesstift begonnene Ausbildung fortsetzen wollten. Bis am 5. November 1952 der Unterricht in Weißensee beginnen konnte, fuhren die »Weißenseer« täglich nach Spandau; das neue Brüderhaus war zunächst lediglich der Wohnort der Schüler.41 Bis zum Mauerbau 1961 stand der KDL in der Verantwortung des »Kleinen Brüderrates«, einem Gremium, das sich aus Diakonen und Pastoren aus Ost und West zusammensetzte.42 Für aktuelle Fragen von Brüderhaus und Ausbildung in Weißensee waren diejenigen Glieder des Kleinen Brüderrates zuständig, die in Ostberlin ansässig waren.43 Verantwortlich für die konkrete Ausbildung und das Leben im Haus waren neben dem Hauselternpaar der Vikar und spätere Pfarrer Eberhard Springer, dem es in kurzer Zeit gelang, Dozenten und Dozentinnen für den Unterricht in Weißensee zu gewinnen.44 Untergebracht waren die Diakonenschüler und ihre Hauseltern auf einer Etage im Ernst-Berendt – Haus auf dem Stiftsgelände; die Chronik vermerkt ironisch zum Zustand des Hauses vor Einzug des KDL:

Ein Brüderhaus gab es nicht – nur eine Etage. Die Besichtigung derselben ergab, daß außer Fenstern, Türen, Dielen und einigen Wänden nichts mehr fehlte. So fing es an.45

Die Renovierung und Fertigstellung des Hauses war in den ersten Monaten, bevor die Schüler überhaupt einziehen konnten, Joachim Königs Hauptaufgabe, wie er sich erinnert:

Das war damals erstmal der Aufbau des Ganzen, es musste ja alles organisiert werden, die Bauarbeiten für die zwei Etagen, dann die ganzen Anschaffungen von Mobiliar, das gab es ja nicht frei zu kaufen, da brauchte man immer Bezugsscheine, die musste man sich bei der Stadtverwaltung erkämpfen, und oft lange Verhandlungen führen und erklären, warum das nun notwendig war. Und machmal wurde auch abgelehnt. Also, das war am Anfang sehr viel.46

Die Schüler der Unterstufe wohnten ab November 1952 in Doppelzimmern in der 5. Etage des Ernst-Berendt-Hauses. Am Anfang gab es in jedem Zimmer ein Doppelstockbett, einen Tisch, zwei Stühle und zwei Kommoden. Später kamen noch Schränke hinzu, angefertigt in Herrnhut.47 Die Einrichtung war schlicht und einfach, Waschräume und Toiletten waren im Flur.48 Die Schülerchronik erzählt:

Ein Außenstehender wird sagen: »Genau so mögen die ersten Menschen gehaust haben«. Hierfür gibt es aber das schöne Wort: »Lastenausgleich«. Wenn äußerlich auch so manches fehlte, so litt aber die innere Ordnung nicht. Gerade die äußeren Schwierigkeiten haben auch dazu verholfen, enger aneinander zu rücken und doch ein weites Herz für den anderen zu bekommen.49

2 THEOLOGIE IMVOLLZUG: ZWISCHENKLASSENRAUM, PRAKTIKA UND »STIFTSEINSÄTZEN«

Von Anfang an zeichnete die Diakonenausbildung, so auch in Weißensee, die enge Verbindung von Theorie und Praxis aus. Wie das Evangelische Johannesstift war auch die damalige Stoecker- und heutige Stephanus-Stiftung gleichsam ein großes Klassenzimmer für die Diakonenschüler, die hier ihre Praxiseinsätze ableisteten und sich an den Andachten und Gottesdiensten der Stiftsgemeinde beteiligten. Die mehrmonatigen Praktika und die Gemeindefahrten wiederum führten die Diakonenschüler über die Grenzen der Stiftung hinaus und sorgten für die notwendige Vernetzung, die später in der Berufstätigkeit wichtig wurde.

2.1 UNTERRICHTSINHALTE UNDLEHRENDE

Die Grundstruktur der Ausbildung, wie sie in Weißensee bis zur Einführung der Spezialausbildung in den frühen 1970er Jahren Bestand hatte, war aus dem Johannesstift übernommen worden: Auf eine sechsmonatige »Unterstufe« (die sog. Anwärterklasse) folgte ein ein- oder eineinhalbjähriges Praktikum in einem Heim, danach die einjährige »Mittelstufe« (II. Klasse), anschließend das einjährige Gemeindepraktikum und die wiederum einjährige Oberstufe (I. Klasse), die mit dem Diakonenexamen abgeschlossen wurde.50 Schon in dieser Struktur ist die Verzahnung von Theorie und Praxis konstitutiv. Zudem wurde die Anbindung des Unterrichts an die künftige Berufspraxis dadurch erzeugt, dass ein Drittel der Dozierenden selbst Diakone waren. Insgesamt bestand das Kollegium aus zwanzig meist nebenamtlichen Dozenten. Bis 1961 kamen sechs davon regelmäßig aus dem Johannesstift (Pastor Richard Eckstein, Pastor Paul Bard, Pastor Walter Bressani51, Frau Dr.Christine Bourbeck52, Diakon Paul Schönfeld53). Sieben Dozenten waren Diakone, die in Ostberlin arbeiteten54, und zehn waren hauptamtlich als Gemeindepfarrer tätig.55 Dazu kamen Landesjugendwart Herbert Hennerstdorf und für die Elementarfächer Schulrat Hermann Ambelang und Frau Ambelang. Zusammen mit dem Diakonenexamen wurde das »Katechetenexamen B« abgelegt; seit 1955 war deswegen der frühere Rektor des Katechetenseminars aus Dahme/Mark, Pastor Johannes Schönfeld, als hauptamtlicher Dozent im KDL tätig und unterrichtete bis zum Mauerbau auch im Spandauer Brüderhaus.56

In den ersten Jahren war ein wesentliches Unterrichtsziel der Unterstufe, den durch die Kriegsjahre oft in ihrer Schullaufbahn unterbrochenen jungen Männern neben biblisch-theologischen Grundkenntnissen auch allgemeines Bildungswissen zu vermitteln. Dazu berichtet Hans-Dietrich Spengler:

[…] die Anwärterklasse war eine biblisch-theologische Grundausbildung und so ein bisschen Allgemeinwissen […], ich hatte gar keinen regulären Schulabschluss. Ich bin nach der 8. Klasse, also mit 15 Jahren, das erste Mal eingezogen worden, in den Osteinsatz. Und die anderen waren ähnlich, auch Flak-Helfer o.Ä. […] Und da hat man eben dort (im KDL, Anm. d. Verf.) dafür gesorgt, dass wir so ungefähr auf ein Bildungsniveau kamen. […] Wir haben unheimlich viel auswendig lernen müssen.57

Ähnlich äußert sich Bruno Weituschat im Interview:

Die Schwierigkeit war für mich, dass ich seit dem 9. Lebensjahr praktisch die »Kriegsschule« gemacht hatte und rundgerechnet habe ich nur 5–6 Klassen gehabt, Volksschule. Ich habe aber mit der achten abgeschlossen. Es war in der Kriegszeit so viel Ausfall […]. Jetzt sollte ich aber wieder auf einer Schulbank sitzen, seit dem 14. Lebensjahr hatte ich so etwas nicht mehr gemacht. Aber ich habe Interesse gehabt, vor allem an der Geschichte.58

Trotz der großen Herausforderung, sich wieder neu an die Schulbank-Situation gewöhnen zu müssen, erwecken die Erinnerungen der Zeitzeugen den Eindruck, dass das Lernen im KDL Freude machte und den Schülern zwar viel zugemutet, aber darin auch viel zugetraut wurde. So sagt Heinz Huth im Interview:

Altes Testament hatten wir am Anfang bei einem alten Pfarrer aus Weißensee, der uns immer die Psalmen auf Hebräisch vorlas und sagte: »Ich weiß, Sie verstehen das nicht, aber hören Sie mal den Sprachklang an!«59

Das Curriculum war, auch bedingt durch die Vielzahl der jeweils nur wenige Stunden unterrichtenden Dozenten und deren Schwerpunktsetzungen, vielfältig. Die Chronik des Jahres 1955 hält beispielsweise für den 10. Februar fest:

Schulrat Ambelang hält vor den Brüdern einen Vortrag, in dem er sie mit der modernen Naturwissenschaft und deren Verhältnis zum christlichen Glauben bekannt macht. O, es sind viele Dinge noch unbekannt und doch sind sie wichtig, das sehen viele Brüder ein.60

Als zeitgeschichtlichen Hintergrund dieses Vortrags lässt sich die in diesen Jahren von Seiten des Staates begonnene atheistische Beeinflussung der Jugendlichen erkennen – insofern könnte die Intention des erwähnten Vortrags gewesen sein, die angehenden Diakone für die Auseinandersetzung mit staatlich-atheistischer Indoktrination, die vor allem auf dem Feld der Naturwissenschaften ausgetragen wurde, vorzubereiten.61

Für den Unterricht in allgemeinbildenden Feldern wie Grammatik und Literatur konnte der oben erwähnte Schulrat a. D. Hermann Ambelang gewonnen werden, der für insgesamt zwölf Jahre (beginnend im April 195362) bis zu seinem Unfalltod im Jahr 1965 im KDL tätig war. Gottfried Schubert, der Ambelang selbst noch als Dozenten erlebt hat, schreibt in seinem Vorwort zu einem kleinen Büchlein, in dem er die von Ambelang anlässlich der Examensfeiern im KDL verfassten Gedichte zusammengestellt hat:

Uns Diakonenschülern, die er »seine lieben Jungens« nannte, war er viel mehr als ein Lehrer für Grammatik und Literatur. Er verstand es, die Weisheit seines langen Lebens an uns weiterzugeben. Wir haben unendlich viel von ihm gelernt und ihn verehrt. In Konflikten unter uns, aber auch hin zu Dozenten und Lehrgangsleitung verstand er es zu vermitteln, ohne dass ein Beteiligter um seine Würde bangen musste.63

In seinen »Abschlussworten für den Jahrgang 1960« im oben erwähnten Büchlein gesteht Ambelang humorvoll reimend die beeindruckende Stoff-Fülle ein, die den Diakonenschülern abverlangt wurde:

Ein viel geplagter Diakon kommt mit vier Fächern nicht davon.

Auf ihn reden zwanzig Dozenten ein,

entsprechend wird auch die Wirkung sein.

Da geht man mit Amos zum Erntefest,

da sucht man Jesajas heiligen Rest,

da prüft man These und Antithese,

da beachtet man Skopus und Exegese,

da liest man Dramen und Gedichte,

durchblättert im Fluge Weltgeschichte,

da labt man sich an Harmonie und Ton

und eilt dann hin zur Inneren Mission,

durchschreitet die Psychologie und Ethik

und landet zuletzt bei der Katechetik.

Etwas nüchterner drückt es die Auflistung im »Stoffplan der Anwärterklasse«, Stand von Ostern 1959, aus.64 Die Klasse hat insgesamt 27 Wochenstunden und folgende Fächer: Bibelkunde des Pentateuch, NT-Begriffe, Bibelkunde Synoptiker, Diakonische Berufskunde, Geschichte der männlichen Diakonie, Deutsch (Rechtschreibung und Literatur), Rechnen, Katechismuskunde, Erziehungskunde, Innere Mission (Lebensbilder), Andachtskunde, Kanzleikunde, Gegenwartskunde, Profangeschichte, Musik (Notenkunde, Harmonielehre), Chorsingen, Posaunenunterricht, Psychologie und eine »Paukstunde«. Die Mehrheit der Fächer wird einstündig unterrichtet, drei Fächer zweistündig. Für den Deutschunterricht sind vier Stunden vorgesehen. Erkennbar ist hier die Ausrichtung an einer christlich geprägten Allgemeinbildung, als deren Schwerpunkte Bibelkenntnis, Einführung in die Diakonik, Musik und elementare Fähigkeiten (Deutsch und Rechnen) festzustellen sind.

Die »Paukstunde« wurde vornehmlich dazu genutzt, zahlreiche Kirchenlieder und Bibelstellen auswendig zu lernen. Dazu gehörten die ersten drei Kapitel der Genesis, zahlreiche Psalmen und zentrale neutestamentliche Textstellen. Für die neutestamentliche Bibelkunde sollte eine genaue Übersicht der einzelnen Kapitel beherrscht werden. Gottfried Schubert äußert dazu rückblickend:

Ich habe Verständnis dafür, dass die Dozenten, die alle im Krieg gewesen waren, uns für ähnliche Situationen wappnen wollten, also dafür, ohne Bibel und Gesangbuch zu leben, aber doch wesentliche Inhalte parat zu haben. Heinrich Vogels »Eiserne Ration eines Christen« war der Leitfaden für den Dogmatik-Unterricht. Und eine eiserne Ration sollten wir erlernen – und haben sie tatsächlich erlernt. Ich kann in manchem Gottesdienst mein Gesangbuch zugeschlagen lassen.65

Am Curriculum derII. Klasse lässt sich eine im Vergleich zur Anwärterklasse stärkere theologische Schwerpunktsetzung bemerken. Der Stoffplan sah die exegetische Behandlung verschiedener biblischer Schriften vor, dazu Dogmatik, Ethik, Kirchengeschichte, praktisch-theologische und diakonische Themen und wie in allen Klassen des KDL reichlich Musikunterricht.66 Dass jeder Diakonenschüler singen und musizieren konnte oder zumindest bereit war es zu erlernen, wurde erwartet. Der Posaunenunterricht war fester Teil des Curriculums und an vielen Stellen der Schülerchroniken und der Zeitzeugen-Erinnerungen spielt das gemeinsame Posauneblasen eine große Rolle.

Auch im Curriculum derI. Klasse – mit insgesamt 37 Wochenstunden! – findet sich eine eindrucksvolle Fülle theologischer, aber auch praxisorientierter Inhalte. Neben Bibelkunde und Exegese wesentlicher Bereiche des Alten und Neuen Testaments sowie Bereiche der Dogmatik und Ethik treten nun die praktisch-theologischen Fächer und die Vermittlung von Kenntnissen, die zum Verständnis der konkreten gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die künftige Arbeit stattfinden würde, beitragen.

Folgende Fächer listet der Stoffplan auf: AT-Bibelkunde (Propheten), Genesis 1–11 (Auslegung), II. Jesaja und Jeremia (Auslegung), Hiob und Hohes Lied (Auslegung), Lukas-Evangelium (Auslegung), Römerbrief (Auslegung), Johannes (Bibelkunde), Glaubenslehre, CA, Ethik, Seelsorge, Kirchengeschichte, Wortverkündigung, Methodik und Katechetik, Psychologie, Kirchenkunde (Konfessions-und Sektenkunde), Jugendkunde, Verwaltungskunde, Gegenwartskunde, Christ und Umwelt, Deutsche Literatur, Chorleitung, Chorsingen, Posaunenunterricht. Die Erinnerungen Bruno Weituschats an das viele und oft anstrengende Lernen verwundern angesichts dieser Auflistung nicht:

[…] Wir waren ja den ganzen Tag voll eingesetzt. Na, erstmal Ausbildung, Schule vormittags und nachmittags und meistens wurde es auch noch spät und diese ganzen Jahre bin ich ja kaum vor Mitternacht ins Bett gekommen. Weil ich ja nun diese schulischen Dinge (wegen des Krieges) versäumt hatte, darum musste ich mir Mühe geben und musste fast jeden Tag viel pauken und lernen, studieren, lesen. Wie viel Fächer waren es? Ich weiß nicht, waren es zwanzig Fächer? Jedes Fach, jeder Dozent war so freudig, uns immer noch einige Aufgaben aufzugeben und da war dann immer noch reichlich zu tun.67

Die erste Abschlussprüfung im KDL fand Ende März 1953 statt, worüber die Schüler-Chronik nicht ganz ernsthaft berichtet:

Die Anwärter mussten nun all das von sich geben, was sie in diesem halben Jahr aufgenommen hatten. Manch einer war sich wohl noch im Zweifel darüber, ob er das ihm Anvertraute wieder preisgeben sollte oder nicht. (Das mag wohl der Grund für die große Aufregung vor der Prüfung gewesen sein). Da aber im großen und ganzen den Dozenten alles ganz stilecht und gegliedert vorgelegt wurde, waren sie mit der Prüfung zufrieden. Besonders erfreut waren die Altchen68unter uns darüber, daß die Posaunenprüfung auf dem Flur abgehalten wurde, so bekamen sie doch auch noch etwas davon mit.69

Die Chronik der Jahre 1956/1957 »verarbeitet« die Prüfungssorgen der Diakonenschüler durch die kreative Verfremdung eines wohlbekannten Textes:

Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von Herrn Pastor Springer ausging, daß alle Brüder geprüfet würden. Und diese Prüfung war die zweite und geschah in der Zeit, da Bruder König Hausvater im Brüderhaus war. Und ein jeder Bruder ging, daß er sich prüfen ließe, ein jeglicher in seine Klasse. Da machte sich auch auf die 2. Klasse aus dem 5. Stock aus dem Ernst-Berendt-Haus in den 4. Stock in den Raum, der da heißt Speisesaal, darum daß sie vom Haus die größte und schlechteste Klasse war, auf daß sie sich prüfen ließe in ihrem Wissen, das ward schwanger. Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, daß sie drankamen. Und sie gebaren ihr erstes Wissen und wickelten es in schöne Worte und legten es den Dozenten vor, denn sie hatten sonst keinen Menschen, der ihnen helfen konnte in der Herberge. Und es waren andere Dozenten in derselben Gegend an den Tischen bei den Schülern, die hüteten des Tags ihre Zensuren. Und siehe des Herrn Pastor Beckers Gestalt trat zu ihnen und die Klarheit der Antwort leuchtete um ihn; und sie fürchteten sich sehr! Und des Pastors Stimme sprach zu ihnen: »Siehe, ich verkündige euch gute Zensuren, die allen Brüdern widerfahren werden; denn Euch ist heute das Glück beschieden, welches ist die Erlösung von Eurer Prüfung. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden Eure Zensuren in einer Mappe geheftet und auf dem Schreibtisch liegen.« Und alsbald war da bei dem Pastor die Menge der jungen Hausbrüder, die lobten ihn und sprachen: Ehre sei dem Brüdervorsteher im KDL und Friede zwischen den Dozenten und den Schülern, an denen sie Wohlgefallen haben. […]70

Herausfordernd war der Unterricht jedoch nicht nur der Stoff-Fülle wegen, sondern auch deshalb, weil eigene Überzeugungen und Glaubenssätze manchmal in Frage gestellt wurden. Dies klingt in einigen Zeitzeugen-Gesprächen an, so auch im Interview mit Bruno Weituschat:

Zuweilen wurde der Glaube auch schon ganz schön schockiert, es wurde auch viel, viel wissenschaftlich da geboten und diskutiert […]. Der eine sagt so und der andere sagt so und das war natürlich nicht so sehr förderlich manchmal. Aber letzten Endes musste ja auch sowas geschehen; denn wenn man nachher auf die Leute losgelassen wird, wird man ja mit solchen Fragen von außen auch konfrontiert und da muss man dann schon wissen, wie man dazu stehen kann.71

Insgesamt scheint die theologische Prägung der Diakonenschüler von Anfang an vielfältig gewesen zu sein, wie beispielsweise Heinz Huth darlegt:

Viele Schüler, so wie ich ja auch, kamen aus dem Bereich des Jungmännerwerkes mit einer pietistischen Prägung. Aber es kamen auch viele Leute aus Mecklenburg, weil es dort keine Ausbildungsstätte gab. Die kamen mit einer genau anderen theologischen Prägung und so habe ich gemerkt, dass es auch andere theologische Richtungen gibt. Und dann habe ich mich auch so ein bisschen aus diesem Jungmännerwerk-Stil heraus entwickelt. Das war für den damaligen Landeswart, Fritz Hoffmann, durch den ich in die Ausbildung gekommen war, mitunter etwas schwierig zu ertragen, dass ich gar nicht mehr so der Jungmännerwerks-Jüngling war, sondern so ein bisschen infiziert war von der Theologie des Mecklenburger Nordens. Die Dozenten waren ja ebenfalls unterschiedlich in ihrem theologischen Ansatz. Mancher Schüler hat das für sich manchmal als Glaubenskrise empfunden, um es mal hart zu sagen. Einzelne gab es, die gesagt haben: Mensch, hier in der Ausbildung wird einem ja der Kinderglaube zerstört.72

Die gemeinsame Basis, ein gemeinsamer Nenner trotz aller unterschiedlichen Prägungen, war jedoch die Einbindung in eine Gemeinde und das kirchliche Engagement aller Anwärter vor Antritt der Ausbildung. Ihre Fortsetzung fand diese gemeindliche Verortung während der Ausbildungszeit in der Gemeinde der Stiftung73, nicht nur durch gemeinsame Morgenandachten, Abendandachten und Sonntagsgottesdienste, sondern auch durch gemeinsame Aktivitäten und »Stiftseinsätze«, wovon im folgenden Kapitel die Rede sein wird.

Unterricht 1955

2.2 BEWÄHRUNG IN DERPRAXIS: ENGAGEMENT IN DERSTIFTUNG, ARBEITSEINSÄTZE UNDPRAKTIKA

Die KDL-Chroniken, die bis zum März 1957 geführt wurden74, berichten immer wieder von Aktivitäten, die die Diakonenschüler für die Stiftsbewohner bzw. mit den Stiftsbewohnern durchführten. Regelmäßig gab es »bunte Nachmittage« oder Abende, wie im folgenden Auszug beschrieben wird:

Einen bunten Nachmittag haben wir zur Freude der Alten unserer Stiftung dargeboten. Dabei haben wir unter uns schlummernde Talente entdeckt. Jedoch sei um der Wahrheit willen gesagt, daß wir es nicht allein waren, die den Nachmittag ausgestalteten, sondern auch die Kinder aus dem Kinderheim. So war vom 3- bis zum 80-Jährigen alles ein Herz und eine Seele.75

Bei größeren kirchlichen Treffen und Veranstaltungen, die häufig auf dem Gelände der Stoecker-Stiftung stattfanden, verrichteten die jungen Brüder Hilfsdienste, wie beispielsweise ein humorvoller Abschnitt aus der ersten Chronik zeigt:

Winter 1953: Bevor es an die Weihnachtsvorbereitungen ging […], wurde der KDL noch einmal in Ereignisse von fast weltgeschichtlicher Bedeutung hineingezogen. Die Synode der APU tagte im Stoecker-Stift. Und was wäre eine Synode ohne angehende Diakone? Ein Torso! Weniger noch. Ein Nichts! Man stelle sich vor, die Synodalen müßten mit ungeputzten Schuhen umherlaufen, bekämen nichts zu rauchen, müßten den ganzen Tag ihre Mäntel anbehalten, würden sich ständig verlaufen und was der Pannen mehr wären. Die Katastrophe wäre nicht auszudenken. Es käme zu keinen Beschlüssen mehr und was noch schlimmer wäre: In die Stoecker-Stiftung käme keine Synode mehr. Daß es zu dem allen nicht kommt, wem verdankt man das? Dem KDL! Und sehen Sie, wir bilden uns darauf gar nichts ein. Wir sind ja so bescheiden. Das ist eben wahrhaft diakonische Haltung.76

Die Praxiseinsätze waren bunt und vielfältig, wie die folgende Auflistung der Aktivitäten der Jahre 1953–1955 erkennen lässt: So führten angehende Diakone ein Puppenspiel auf (Dr.Faust), das laut Chronik beim höheren Klerus von Weißensee etwas Staub aufwirbelte. Es gab einen Ausflug nach Sanssouci, das Pfingstfest in der Stiftung mit traditioneller Bootsfahrt auf dem Weißensee, inklusive Schlacht der See- oder Weißenseepiraten, einen Sommereinsatz bei der Ernte in Lobetal oder im Kinderheim, Teilnahme und Mitarbeit bei der Jungmännerrüstzeit in Mötzow, Teilnahme an der Zeltmission im Kreise Teltow, Erziehungsdienst in den Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg, eine Fahrt zum Kirchentag in Hamburg (drei Brüder), eine Fahrt der Examenskandidaten nach Schierke zum Wandern und Bergsteigen plus Posaunenblasen vom dortigen Kirchturm aus, einen Ausflug mit der gesamten Stiftung nach Schwanenwerder, Singen im St. Josephs-Krankenhaus, Ausrichtung einer Weihnachtsfeier für die Senioren der Stiftung (in der Chronik liebevoll »Altchen« genannt) mit lustigem Programm, die Gestaltung eines Gemeindeabends in der Eliasgemeinde mit Aufführung einer »Spielmotette« über die Jahreslosung, sowie die Mitwirkung einiger KDL-Brüder an der Ausgestaltung der Rundfunkgottesdienste unter Leitung von Frau Pfarrer Krummacher.77

Die Wege auf dem Stiftsgelände waren kurz, Begegnungen häufig und sozusagen »unausweichlich«. Eine lustige Erinnerung an eine eher informelle Begegnung schildert Hans-Dietrich Spengler im Interview:

Es lebte auch noch im Stift der Vater des damaligen Vorstehers, Pfarrer Federleins. Die Familie kam aus Ostpreußen. Der Vater war dort Schmied gewesen. An seinem Geburtstag wollten wir ihm ein Ständchen bringen. Er freute sich sehr. […] Da kriegten wir jeder ein Glas in die Hand gedrückt, […] Schnaps oder Likör oder so etwas. »Das habe ich zum Geburtstag bekommen! Zum Wohl bitte!« »Ja«, sagten wir, »nun müssen wir aber gehen.« »Nein, nein, auf einem Bein kann man nicht stehen!« – jetzt kriegten wir einen Zweiten. Aber es ging nun so langsam auf den Unterricht zu. »Jetzt müssen wir weg!« – »Nee, geht nicht. Ich habe hier noch eine Flasche gekriegt. Die müssen Sie auch noch probieren.« – da kriegten wir einen Dritten. »Und ja, nun wird es aber Zeit!« – »Nee, nee. Bei uns in Ostpreußen, wenn ich Geburtstag hatte und der Briefträger kam, der wollte auch immer ein paar haben. Und der hat immer gesagt, eine gute Sau steht auf vier Beinen.« – kriegten wir den Vierten eingekloppt. Im Unterricht […] legte einer dann plötzlich den Kopf auf den Tisch und fing an zu singen – zum Glück was Frommes!78

Die Quellen bestätigen die Aussagen Joachim Königs, der rückblickend die Bilanz zog, dass der KDL fest in der Stiftung verankert war, ein gutes Ansehen hatte und dass viele Beziehungen zwischen den jungen Brüdern und den Stiftsbewohnerinnen und -bewohnern gewachsen waren – nicht nur durch die zahlreichen Arbeitseinsätze der Brüder auf dem Gelände, sondern auch durch die Brüderhausfeste, die allgemein als Höhepunkte galten.79

Der Vollzug der Theologie in verschiedenen Arbeitsfeldern, die Bewährung der Theorie in der Praxis, war für die Ausbildung im Brüderhaus konstitutiv. Während sich den Vormittagen im Klassenzimmer häufig nachmittägliche Arbeitseinsätze in der Stiftung anschlossen, waren die langen Praktika, die den Unterrichtsjahren »zwischengeschaltet« waren, vollständig der praktischen Arbeit gewidmet. Aus den Quellen und den Erinnerungen der Zeitzeugen entsteht der Eindruck, dass diese Praktika fordernd, manchmal auch überfordernd waren und weit über das gewöhnliche Profil eines Praktikums, nämlich das Beobachten und sich Erproben, hinausgingen.80 Hans-Dietrich Spengler erinnert sich an sein erstes Praktikum, in dem er – ohne Vorbereitung und Ausbildung – die herausfordernde Arbeit eines Erziehers übernehmen musste:

Ja, und dort in dem Heim kriegte ich eine Gruppe von 20 Jungs in die Hand gedrückt, um die ich mich zu kümmern hatte. Ja, das ging also früh mit dem Wecken los, Frühstück, dann dass sie, soweit sie Arbeit hatten oder Schule, dass sie rechtzeitig weg kamen. Und die, die nicht weg kamen, […] die waren vier Gruppen dort und hatten dann so bestimmte Tagesdienste. Also einen Tag waren wir zuständig für den Dienst im Haus. Dass wir die einteilen mussten: Hausordnung, Hausreinigung und und und. Reparaturen, was dort so anfiel. Einen Tag in der Woche hatten wir Büro, […] und einen Tag hatten wir frei. Ja, und mit denen mussten wir irgendwie klarkommen. In der Rückschau sage ich, ich halte es für ein Unding, was man dort mit uns gemacht hat. Und der Chef stand leider nicht immer zu uns, sondern machte dann auch noch Schwierigkeiten. Als ich das Jahr rum hatte, sagte ich, na also schlimmer kann es nicht werden.81

An eine Überforderung erinnert sich auch Johannes Arnold, der 1951 seine Ausbildung noch im Johannesstift begonnen hatte und 1952 zu den ersten Schülern in Weißensee gehörte. Er erlebte auf seiner ersten Praktikumsstelle, wie »nicht schulfähige« Kinder und Jugendliche von der Polizei abgeholt wurden. Sein zweiter Einsatzort waren die Pfeifferschen Stiftungen, wo er gemeinsam mit einem anderen Diakonenschüler den dort angestellten Diakon vertreten sollte – dieser war verhaftet worden. Ihre Aufgabe sollte sein, die dort sehr aktive FDJ zurückzudrängen, wobei sie, wie Johannes Arnold sagte, keine Chance hatten.82

Andere Erinnerungen zeigen, dass nach dem ersten Erschrecken vor der unbekannten Aufgabe durchaus Freude an der Tätigkeit wachsen konnte – vermutet werden kann, dass die Anleitung, die die jungen Brüder erhielten, jeweils eine große Rolle spielte. Bruno Weituschat berichtet über sein Praktikum in Lobetal:

Wir haben ja dann nach der ersten Anwärterklasse ein Praktikum gemacht, ein Anstaltspraktikum. Ich war in Lobetal bei den Epileptikern, das war für mich ganz neu und ganz erschreckend, denn ich hatte sowas überhaupt noch nicht gesehen. Ich bin da reingekommen, es war niemand da, die waren auf dem Felde arbeiten. Und ich saß im Büro und kein Mensch hat mich da irgendwie empfangen, ich saß da ganz allein. Ich hörte bloß hinter den Türen diese wilden Stimmen, also durch ihre Krankheit ist ja die Stimme der Leute verändert. Und für einen, der damit überhaupt noch nie was zu tun gehabt hat, für mich klang das fürchterlich. Ich hab mich in die Nähe vom Fenster gesetzt, damit ich, wenn es notwendig ist, rausspringen kann. Vor Schreck und Angst. Aber das war eine sehr schöne Arbeit nachher, als man das nachher gewöhnt war, da war alles ganz wunderbar.83

In den frühen Jahren galt in Weißensee wie auch im Brüderhaus des Johannesstifts das sogenannte Entsendungsprinzip. Die Praktikumsstellen wie auch die späteren Anstellungen wurden nicht selbst ausgewählt, sondern von der Leitung bestimmt. In der heutigen Zeit nicht mehr denkbar, konnte die Entsendung von den Entsandten durchaus positiv gesehen werden. So zieht Heinz Huth im Rückblick folgendes Fazit:

Also ich muss sagen, ich war zunächst ein bisschen schockiert, aber ich fand es nachher so toll. Das Jahr im Taubblindenheim hat mir für die weitere Ausbildung und überhaupt später für den Dienst unwahrscheinlich geholfen. Insofern fand ich das im Nachhinein gut, dass die Hausleitung über die Praktikumsstelle entschieden hat und nicht nach Wünschen gefragt hat, weil man dann ja immer in dem Bereich bleibt, den man gerne mag.84

Im Idealfall wurden die angehenden Diakone durch die beiden großen Praktika, von denen eines in einer diakonischen »Anstalt«, das andere in einer Gemeinde abgeleistet wurde, auf die beiden Arbeitsfelder der künftigen Berufstätigkeit vorbereitet, wie Jürgen Schreiter es Mitte der 1960er Jahre, noch vor der Einführung der Spezialausbildung, erlebte:

Das Praktikum war in der Regel eine große Herausforderung und mit viel Verantwortung verbunden. Ich war zum Beispiel im Oberlin-Haus Taubblindenheim neben den Diakonissen und zwei Mitarbeiterinnen, die alle mit im Haus wohnten, der einzige Mann als Mitarbeiter. Ich wohnte auch mit im Haus, Tür an Tür mit dem Schlafsaal der Männer. Es war eine sehr harmonische, familiäre Arbeitsatmosphäre unter der Leitung der Hausmutter, praktisch eine Lebensgemeinschaft von Diakonissen, freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zusammen mit den Kindern, Frauen und Männern in den Wohngruppen mit gemeinsamen Mahlzeiten im Speiseraum und Geburtstagsfeiern. In diesem Jahr habe ich ganz praktisch Diakonie gelernt. […] Als Praktikant in der Johannisgemeinde hatte ich eine Diakonenstelle zu vertreten, die zuvor jahrelang von einem erfahrenen Diakon ausgefüllt worden war. Das war eine ganz andere Herausforderung, dort war ich viel mehr auf mich allein gestellt, obwohl einer der Gemeindepfarrer mein Mentor war und es weitere Diakone in Rostock gab, mit denen ich in guter Verbindung stand. Ich lebte in der ehemaligen Dienstwohnung dieses Diakons und war praktisch mit fast allen Aufgaben dieser Diakonenstelle konfrontiert, und ich war ehrgeizig genug, möglichst allen Anforderungen gerecht zu werden. Da bin ich natürlich oft an meine Grenzen gestoßen, aber danach wusste ich recht gut, was von einem Diakon in einer Großstadtgemeinde erwartet wurde und welche Fähigkeiten und Fertigkeiten ich noch brauchen würde.85

3 GEMEINSAMES LEBEN

Das gemeinsame Leben war in allen Brüderhäusern ein elementarer Aspekt der Diakonenausbildung; es stärkte, schulte und bereitete die jungen Brüder auf die menschlich und sozial fordernden künftigen Arbeitsfelder vor. Während in den ersten Jahren des KDL das gemeinsame Leben wenig hinterfragt und als selbstverständlicher und weitgehend harmonischer Teil der Ausbildung erlebt wurde, wurde es in den späteren Jahren konfliktträchtiger. Für die Aufbaujahre des KDL aber sprechen die Quellen und Zeitzeugen-Erinnerungen übereinstimmend davon, dass die Gemeinschaft eng und tragfähig war.

3.1 HAUS- UNDLEBENSGEMEINSCHAFT

Es ist anzunehmen, dass mit Joachim König bewusst ein junger Hausvater gewählt wurde, dem man den Aufbau einer Gemeinschaft zutraute. Und tatsächlich zeigen die Erinnerungen der befragten ehemaligen Schüler der ersten Jahre, dass das gemeinsame Leben als bereichernd und schön empfunden wurde. Auch in den Jahreschroniken der Schüler ist deutlich erkennbar, wie schnell sich offenbar eine Hausgemeinschaft herausbildete und wie eng die Schüler mit ihren Hauseltern, Ilse und Joachim König, verbunden waren. So berichtet die erste Chronik über die Eheschließung und den Einzug des Brautpaares im Brüderhaus:

Wir gedachten unserer Hauseltern ganz besonders an diesem Tage und beurkundeten es mit einem Glückwunschtelegramm. Unterzeichnet war das Telegramm »Die Weißenseer Waisenknaben«. Es zog, denn nach einer Woche kehrten unsere lieben Hauseltern schon zurück. […] Ein aufgestellter Posten meldete die Ankunft unserer Hauseltern.[…] Mit der Übergabe des Schlüssels war nun der Weg zur Wohnung frei und sie konnte durch eine Girlandenpforte betreten werden. Dann kam die Begrüßungsrede, verbunden mit der Enthüllung unseres Geschenkes. Wir hatten sehr praktisch gedacht und ein »Backwunder« dazu auserlesen.86

Bei allem Humor könnte die Telegramm-Unterschrift doch auch ein Hinweis darauf sein, wie gerne sich diese Jahrgänge von jungen Männern, die als Kinder und Jugendliche die »vaterlosen« Kriegsjahre erlebt hatten, in das Familienmodell des Brüderhauses einordneten – und nicht nur Brüder, sondern auch einen (Haus-)Vater und eine Mutter wünschten und akzeptierten. Heinz Huth, der im Oktober 1953 mit der Ausbildung begonnen hatte, erzählt über Joachim König:

Der war sehr brüderlich zu uns, das war ein richtiger Kumpel. Er war eine Respektsperson für uns, sein Sagen galt, wenn es nötig war, aber er hat nicht den Leiter rausgekehrt. Er war unser Bruder, unser Bruder König. Und er war ja auch jung verheiratet, seine Frau war noch fünf Jahre jünger als er, die war ja nun wirklich nicht viel älter als wir. Manche Schüler, die später zu uns in die Ausbildung kamen, waren ja älter als die Hausmutter, aber das lief wunderbar. Ja, das war eine herrliche Atmosphäre.87

Für die Hauseltern, die mit ihrer bald größer werdenden Familie im Haus lebten, war die Grenze zwischen Familien- und Gemeinschaftsleben fließend. Die Mahlzeiten nahm die Familie, auch die Kinder, gemeinsam mit den Kandidaten ein; erst als die Kinder zur Schule kamen, ließ sich das nicht mehr durchgehend einrichten.88 Ab und zu wurden die Klassen in die Wohnung der Hauseltern eingeladen, wie die Schülerchronik beispielsweise für den 8. März 1957 vermerkt:

Bruder König hat die 2. Klasse zu einem gemütlichen Beisammensein eingeladen. Kartoffelsalat und Bockwurst, Erdbeeren und Schlagsahne, sowie belegte Brote munden vorzüglich. Die Brüder bewundern die Kochkünste der Hausmutter.89

Familienfeste wie beispielsweise die Taufe des Sohnes Martin am 12. Dezember 1954 wurden im Haus begangen, gemeinsam mit den Hausbrüdern, wie die Chronik des Jahres 1954 erzählt: Die Taufe des Kronprinzen »Martin« findet statt. Alle im Haus befindlichen Brüder nehmen an der Feier am Nachmittag teil.90 Zu Weihnachten wurden die jungen Brüder wie Kinder von ihren Eltern beschenkt und konnten sich über Hosen, Füllfederhalter, Sporthemd, Blockflöte mit Noten, Wischer und Öl, Buchstützen, Schuhe, Oberhemden, Bücher, Reisewecker, Koffer, Kollegtaschen, Aktentaschen, Jacke, Schreibtischgarnitur, gefütterte Lederhandschuhe, Nachthemd und Unterwäsche, Armbanduhr, Reisewecker und Reiseuhr, Schlips, Skihose, Farbfilm, Belichtungsmesser und Mantel freuen.91

Das »Familienmodell« des Brüderhauses gestaltete sich auch darin, dass alle »Familienglieder« an den Familienaufgaben mitwirken sollten. Wie im Brüderhaus im Johannesstift waren auch in Weißensee die Diakonenschüler an der Hauswirtschaft beteiligt. Drei aus dem Kreise der Schüler gewählte »Konviktmeister« organisierten die Mithilfe der Schüler und assistierten damit den Hauseltern:

Und noch zu den Konviktmeistern: Die gab es schon früher (im Johannesstift, Anm. d. Verf.), schon vor Mathos Zeiten, das waren Schüler, gewählt für drei Aufgabenbereiche. Konviktmeister 1 war verantwortlich für das gemeinsame, auch geistliche Leben im Hause und die Vorbereitung von Feiern und Festen. Der war in der Regel aus der Oberstufe. Dann gab es den zweiten Konviktmeister,der war für die Hausreinigung verantwortlich, dass da Leute eingeteilt wurden, wir hatten ja damals noch keine Reinigungskräfte, das musste alles selber gemacht werden. Der dritte war für Wäsche zuständig und ein bisschen für Küche.92

In den ersten Monaten im neuen Brüderhaus, als die Jahrgänge noch nicht alle vorhanden waren, war die Hausmutter allerdings zunächst ganz alleine für die Hauswirtschaft zuständig – solange, bis sich das System etabliert hatte, wie sich Ilse König erinnert:

Bis unser zweites Kind geboren wurde, war ich der Konviktmeister von allen. Da gab es noch keinen, aber ohne Kinder ging das einigermaßen. Meine Aufgabe war alles, was Gestaltung betraf; wie war der Tisch gedeckt, alle Feiern, ein Mal im Monat Geburtstag bei uns im Wohnzimmer, einmal im Jahr Dozentenabend mit sechzig Leuten, das war immer eine große Sache, Vorweihnachtsfeier, Vorbereitung der Rüstzeit, Beginn des Schuljahres, da sind wir immer drei Tage in Buckow gewesen, die mussten vorbereitet werden. Jeden Tag gemeinsame Mahlzeiten. Als die Kinder größer waren, haben wir die Mahlzeiten etwas geteilt, weil sie früher zur Schule mussten.93

Während in den späteren Jahren das Thema »Mitbeteiligung an der Hauswirtschaft« konfliktreich wurde, scheint die Mitarbeit für die ersten Jahrgänge noch recht selbstverständlich gewesen zu sein, so Ilse König: Ja, sie waren in ihren Studienjahrgängen voll drin und hatten dann diese Zusatzaufgaben. Dass einer gesagt hätte, das kommt für mich nicht in Frage, ich mach das nicht, das gab’s nicht.94 Auch die Gemeinschaft von Schülern und Dozenten war eng und vertraut, wie Bruno Weituschat im Interview berichtet:

Das war durchweg gut das Verhältnis. Es war wirklich schön, man konnte mit allen Fragen zu jedem kommen. Das war eine schöne Sache und das Lernen hat mir auch viel Spaß gemacht. […] Springer, der Studienleiter, ist mit uns auch ins Kino gegangen, das war immer so schön.95

Ähnlich auch die Erinnerungen Heinz Huths, der im Oktober 1953 in Weißensee mit der Ausbildung begann:

Mit den Dozenten hatten wir ein sehr offenes und freundschaftliches Verhältnis. Die Dozenten waren alle lieb zu uns in der Regel.96