Dich zu verlieren oder mich - Homeira Qaderi - E-Book

Dich zu verlieren oder mich E-Book

Homeira Qaderi

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Beschreibung

Wie weit gehst du, um dir treu zu bleiben? – Die wahre Geschichte einer afghanischen Mutter in ihrem Kampf für Gleichberechtigung Homeira ist kein gewöhnliches afghanisches Mädchen. Mit dreizehn riskiert sie ihr Leben, um andere Mädchen heimlich zu unterrichten. Sie liest jedes Buch, das sie finden kann, am liebsten die russischen Klassiker ihres Vaters, die er zum Schutz vor den Taliban unter einem Maulbeerbaum vergräbt. Als eine ihrer Kurzgeschichten in der Zeitung veröffentlicht wird, glaubt Homeira, als Frau in Afghanistan glücklich werden zu können. Doch als sich Jahre später ihr Mann nach der Geburt ihres Sohnes eine Zweitfrau nehmen will, weiß sie, dass das niemals gelingen kann. Homeira steht vor einer unmöglichen Entscheidung: Revoltiert sie und verliert ihren Sohn, oder lässt sie es geschehen und verliert sich selbst? In ihrem Buch verwebt sie Erinnerungen mit bewegenden Briefen an ihren Sohn, den sie zunächst zurücklassen musste. Homeiras Geschichte ist die einer bemerkenswerten afghanischen Frau – und die einer Mutter zwischen Liebe und dem Wunsch nach Freiheit.

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Seitenzahl: 273

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Homeira Qaderi

Dich zu verlieren oder mich

Die Geschichte einer afghanischen Mutter

Aus dem amerikanichen Englisch von Eva Kemper

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

Dancing in the Mosque bei HarperCollins Publishers, New York.

 

Die deutschsprachigen Rechte wurden nach Vereinbarung mit

Marly Rusoff & Associates, Inc. of Bronxville, NY, USA, erworben.

Deutsche Erstausgabe

© der deutschsprachigen Ausgabe 2023 Arche Literatur Verlag,

ein Imprint der Atrium Verlag AG

© 2020 by Homeira Qaderi. Vom Persischen ins Englische übersetzt von

Zaman Stanizai.

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Jürgens, Berlin

Covergestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben

Coverabbildungen: Junge: © Rangepuppies/istockimages, Frau: © Yuliagursoy/Adobe Stock, Blätter: © Makc76/Depositphotos, Bild der Autorin: © Tim Schoon

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03790-064-2

 

www.arche-verlag.com

www.facebook.com/ArcheVerlag

www.instagram.com/arche_verlag

Für alle Menschen, die Gleichberechtigung schätzen und respektieren

Anmerkung der Autorin

Dieses Buch beruht auf Tatsachen. Die Ereignisse und Erfahrungen, von denen ich darin berichte, sind alle wahr und getreu meiner Erinnerung wiedergegeben, so gut ich es vermochte. Einige Namen, Orte, Begleitumstände und Einzelheiten, die Rückschlüsse zulassen würden, wurden geändert, um die Privatsphäre und/oder Anonymität der betroffenen Personen zu schützen.

Prolog

Es war einmal zu einer Zeit, in der noch ein gütiger Gott lebte, eine Familie in einer fernen Stadt hinter den Bergen. Diese Familie hatte einen Sohn, der den Spitznamen Schah-Pesar trug, »Herrschersohn«, aber in Wirklichkeit Mushtaq hieß. Schah-Pesar war ein bildhübscher Junge. Er war der Augenstern seiner Familie. Eines Tages wollte dieser Augenstern seiner Langeweile entfliehen und durchstöberte den Abstellraum seiner Großmutter. Schah-Pesar wusste nicht, wonach er suchte, aber irgendetwas lockte ihn tiefer in die dunkle, staubige Kammer. Plötzlich schloss sich seine Hand um einen schweren Gegenstand. Es war eine alte Lampe aus Metall.

Kaum hatte er mit seinem Ärmel über die glatte Oberfläche der Lampe gewischt, da wurde sie ungeheuer schwer, und Funken sprühten aus ihrer Tülle. Überrascht ließ Schah-Pesar die Lampe fallen. Sie prallte dumpf auf den Boden, rollte im Kreis herum und blieb liegen.

Aus der Tülle kräuselte sich dichter Rauch und stieg zur Decke auf. Stämmige Beine formten sich aus dem Rauch, gefolgt von einem runden Bauch, einer breiten Brust, muskulösen Armen und einem mächtigen Kopf. Der Riese hatte einen schwarzen Bart und schwarze, lockige Haare. Unter dicken schwarzen Augenbrauen funkelten schwarze Augen, und im linken Ohr trug er einen goldenen Reif, der fast seine Schulter berührte.

Der Dschinn betrachtete den zitternden Jungen, ließ sich auf ein Knie hinab und sagte: »Hallo, junger Herr Mushtaq, ich stehe dir zu Diensten.«

Schah-Pesar wich rasch zurück und fragte mit bebender Stimme: »Warum mir?«

»Weil du der Schah-Pesar der Familie bist«, antwortete der Dschinn. »Dein Wunsch ist mir Befehl.«

»Was denn für ein Wunsch?«

»Ich bin der König aller Dschinns. Mit meiner Macht kann ich dir alles gewähren, was du dir ersehnst. Ich kann dich in einem Augenblick an jeden Ort bringen, an den du reisen möchtest, und dir genauso schnell alles herbeiholen, was du dir wünschst.«

»Bring mir ein schwarzes Pferd mit langer Mähne und glänzendem Fell.«

Der Dschinn aus der Lampe verbeugte sich im Knien.

»Und einen starken Jagdbogen und Pfeile mit Adlerfedern«, fügte Schah-Pesar hinzu.

Der Dschinn drehte sich dreimal im Kreis und dann wieder dreimal. Er klatschte in die Hände und rief: »O schwarzes Pferd mit langer Mähne und glänzendem Fell, erscheine aus der Dunkelheit! Mein Herr will sich auf der Jagd vergnügen!«

Eine Rauchwolke nahm die Mitte des Raumes ein und verwandelte sich in ein schwarzes Pferd mit dichter Mähne und einem langen, eleganten Schweif. In seinem Maul hielt das Pferd einen Jagdbogen. Das Tier mit dem glänzenden Fell neigte den Kopf, legte Schah-Pesar den Bogen zu Füßen und sagte: »Ich gehöre ganz dir, mein Herr.«

Mein lieber Sohn,

meine Großmutter, Nanah-jan, hat mir nie solche Geschichten erzählt. In den Geschichten, die sie mir zudachte, gab es weder Dschinns noch Zauberstäbe, die meine Träume hätten wahr werden lassen. Sie waren bevölkert von wilden Monstern wie Baba Ghor-ghori, Barzanghi, Mard-azma, Dokhtar-khor und Hunderten mehr. Meine Großmutter kannte mehr Geschichten über Ungeheuer, als ihr Tasbeh Perlen hatte. Mit ihren Geschichten wollte Nanah-jan mich vor allem davon abhalten, mit Jungen zu spielen, mir die Haare abzuschneiden, kurze Röcke zu tragen, auf Bäume zu klettern, mich mit dem Nachbarmädchen über die Gartenmauer hinweg zu unterhalten, laut zu lachen und ihr jemals zu widersprechen. Tat ich doch etwas Verbotenes, warnte sie mich: Ein Monster wird aus dem Nichts auftauchen und mich an einen furchtbaren Ort verschleppen, wo es mein Fleisch frisst und meine Knochen abnagt, oder schlimmer noch, es wird mich zur Frau nehmen und mich zwingen, ihm eine ganze Brut grausiger kleiner Oger zu gebären.

Meine Großmutter war der Überzeugung, dass der Allmächtige einem Menschen kaum eine schwerere Prüfung auferlegen könne, als ein Mädchen in Afghanistan zu sein. Als Kind wollte ich kein Mädchen sein. Ich wollte nicht einmal, dass meine Puppen weiblich waren. Damals kannte ich mehr Wege, die in die Hölle führten, als Straßen zu mir nach Hause. Nanah-jan hatte mir so viele Geschichten darüber erzählt, dass ich die Hölle mit geschlossenen Augen in allen Einzelheiten hätte beschreiben können. Erst als Du auf die Welt kamst, wurde ich endlich akzeptiert und als akzeptabel betrachtet. Immerhin hatte ich meine Pflicht erfüllt: Ich war in diesem gequälten Land Mutter geworden, und ich hatte einen Sohn geboren – Dich, mein liebster Junge.

Aber ich blieb nicht lange Mutter. Durch die verfluchten Gesetze der Stadt verlor ich Dich früh, als Baby, das noch gestillt wurde, gerade einmal neunzehn Monate alt.

Es sind 985 Nächte vergangen, seit Du mir weggenommen wurdest. 985 Nächte, seit die Windwölfe mit ihrem Heulen meine Wiegenlieder übertönten. Jetzt bin ich Tausende Kilometer von Dir entfernt, von Euch allen, in diesem kleinen Zimmer in Kalifornien, und das einzige Zeugnis der Freude Deiner Geburt ist die Narbe auf meinem Bauch. Sie ist das Zeichen meiner Mutterschaft.

Ich habe erfahren, dass Du nach Deiner Mutter gefragt wurdest und dass Du weintest, als man Dir sagte, Deine Mutter sei tot. Glaub ihnen nicht! Ich bin nicht gestorben. Ich lebe im Exil, an einem Ort, der auf seine eigene Art schön ist, der seine eigenen Gesetze und auch Probleme hat. Aber es schmerzt mich unendlich, dass der wichtigste Teil meines Wesens und meiner Seele nicht hier ist. Dass Du nicht hier bist.

1Brot und Bomben

Afghanistan ist das Land unsichtbarer Kugeln und das Land des angekündigten Todes, das Land unheilvoller Schicksale und einer mutlosen, verdrossenen Jugend, die vergeblich darauf wartet, dass ihre Träume wahr werden. So beschrieben mir Madar, meine Mutter Ansari, und Nanah-jan, meine Großmutter Firozah, mein Heimatland, als ich gerade einmal vier Jahre alt war. In ihren Augen war Afghanistan gespalten zwischen den russischen Besatzern und ihren Verbündeten in der kommunistischen Regierung einerseits und den Mudschahedin andererseits. Für mich verlief die Teilung anders, nämlich zwischen der Straße vor unserem Haus, auf der ich bei Waffenruhe spielte, und der gefährlichen Welt jenseits unserer Mauern, wenn der Krieg zurückkehrte und ich im Haus festsaß.

Ich war ein aufgewecktes, verspieltes Kind, zu jung und energiegeladen, um Angst zu empfinden, sei es vor unsichtbaren Kugeln, die durch die Luft pfiffen, oder vor den rumpelnden russischen Panzern in der Straße vor unserem Haus. Innerhalb der Mauern gab es einen Garten mit Apfel- und Maulbeerbäumen, und an den Weinreben wuchsen rote und grüne Trauben. Drei Generationen lebten dort: Baba-jan und Nanah-jan, ihre vier Töchter, meine Tanten Kurbra, Hajar, Zahra und Azizah, meine Onkel Naseer und Basheer, Agha und Madar und dazu mein kleiner Bruder Mushtaq und ich.

Nanah-jan sagte immer: »In den Augen eines Mädchens sollte man Angst erkennen.«

Ich stand oft vor dem Spiegel im Flur und versuchte zu erkennen, wo sich in meinen Augen die Angst verbarg.

Tante Zahra sagte zu mir: »Mädchen liegt die Angst direkt auf den Augenlidern.«

Ich zog meine Lider nach oben und hoffte, ich könnte die Form oder Farbe der Angst erkennen.

Madar sagte oft: »In der Nacht, in der dieses Mädchen zur Welt kam, waren wir von Feuer umringt. Es fühlte sich an, als würde die ganze Stadt ein Kind gebären. Homeira hörte die Schreie anderer Menschen, bevor sie ihre eigenen hörte. Kein Wunder, dass sie vor nichts Angst hat.«

Zahra war siebzehn, als sie von einer dieser unsichtbaren Kugeln getroffen wurde, während sie mich aus den Weinreben zerren und in den Keller in Sicherheit bringen wollte. Meine arme Tante fiel bäuchlings zu Boden. Ich hörte, wie sie nach Luft rang. Aus ihren Augen floss Blut. Ich gab meine Suche nach den Kätzchen auf und versuchte, die unsichtbare Kugel in ihrem Auge zu finden, an dem Ort, an dem sich die Angst von Mädchen versteckt.

Ich kann mich an keine Zeit erinnern, in der in meiner Heimat kein Krieg geherrscht hätte. Meine Kindheit begann mit Düsenjägern, mit Bomben, die vom Himmel fielen, und unsichtbaren Kugeln, die ich zu zählen versuchte. Krieg und Hunger prägen meine frühesten Erinnerungen. Ich weiß noch, wie Madar meinen Bruder stillen wollte, als er schon gut zwei Jahre alt war, weil es nichts zu essen gab. Mushtaq biss meine Mutter und kaute auf ihrer Brust herum. Wenn sie merkte, dass sie keine Milch mehr hatte, wimmerte sie leise.

Bei jedem Angriff sah ich, wie Nanah-jan ihren Hidschab enger zog, damit sie nicht ohne ihren Schleier sterben und im Jenseits in der Hölle landen würde. Sie war Analphabetin, gab aber oft vor, sie würde den Heiligen Koran lesen, indem sie mit dem Finger über die Zeilen der Schrift fuhr. Sie wollte als Muslimin sterben, das Heilige Buch an ihre Brust gedrückt. Und wenn ich hörte, wie Baba-Jan die Sure Ya-Sin las, in der es um Gottes Allmacht, den Tag des Gerichts und eine Warnung an Ungläubige ging, wusste ich, dass der nächste Bombenangriff bevorstand.

Die Welt meiner Kindheit wurde von einem niedrigen kleinen Fenster in der Wand unseres Hauses eingefasst, von dem meine Mutter mich immer fernhalten wollte. Sie wusste, dass Kugeln Glas durchschlagen konnten. Wäre es nach ihr gegangen, hätte ich immer vier massive Betonwände um mich gehabt. Meine Mutter glich einer Spinne, die mich in ihrem Netz beschützen wollte. Aber ich war ein wildes, dickköpfiges Spinnenkind. Immer wieder zerriss ich ihr Netz, um mich zu befreien. Unermüdlich kämpfte ich darum, nach draußen zu kommen. Ich suchte immer nach einer Möglichkeit, mich in unseren ummauerten Garten zu schleichen. Ich wollte als Erste die neuen Einschusslöcher in den Wänden entdeckten. Als Erste die beschädigten Bäume und das verbrannte Holz berühren. Ich wollte die Kätzchen unter unseren Weinreben suchen. Diese unsichtbaren Kugeln zu finden war mein geheimster Wunsch. Ich fragte meine Mutter: »Woher kommen diese ganzen unsichtbaren Kugeln?«

»Homeira«, sagte sie und strich mein Haar glatt, »wir können nicht sehen, woher sie kommen, und wir sehen nie, wohin sie fliegen, es sei denn, sie treffen einen Baum oder eine Mauer oder, Gott bewahre, einen Menschen.«

 

Aber es gab auch schöne Momente. Ich erinnere mich noch, wie ich einmal an einem Tag, an dem nicht geschossen wurde, mit Azizah aus dem Haus schlich. Die Sonne schien, und es wehte ein sanfter Wind. Ich lehnte mich an die sonnengewärmte Hauswand, spielte auf der Erde und beobachtete die Leute, die vorbeigingen. Von den russischen Panzern, die sich wenige Straßen entfernt näherten, ahnte ich nichts.

Wenn Waffenstillstand herrschte, ging ich oft zu den qualmenden Überresten der zerbombten Häuser und begutachtete die neuen Trümmer und die zerstörten Gärten. Ich wollte die eingefallenen Wände sehen, die geborstenen Fenster, die kaputten Schränke und das zerschlagene Geschirr.

Einmal entdeckte ich in einem Haus, das drei oder vier Tage zuvor zerstört worden war, einen russischen Soldaten mit heruntergelassener Hose; mit einer Hand hielt er einer Nachbarstochter den Mund zu. Hinter der Mauer verborgen, lachte ich über das nackte Gesäß des Soldaten. Er hörte mich. Er sprang sofort auf, hielt sich eine Hand zwischen die Beine und schlug mir mit der anderen ins Gesicht, bis meine Wangen brannten. Dann spuckte er vor mir aus. Das Mädchen nutzte den Moment, um aufzustehen, das Kopftuch umzulegen und fortzulaufen.

Später erzählte ich allen lachend, was für einen roten Hintern der russische Soldat gehabt hatte. Als mein Onkel Basheer die Geschichte hörte, schlug er vor Wut mit den Fäusten gegen die Wand. Auch Baba-jan lachte nicht darüber. Er wischte sich nur Tränen weg.

Damals war Herat eine ganz eigentümliche Mischung aus Himmel und Hölle. Wenn in der Stadt Frieden herrschte, kehrten die Vögel zurück und zwitscherten in den Bäumen. Manchmal hörte ich liebliche Töne, wenn Shuaib, der Sohn unserer Nachbarn, auf der Mauer saß und auf einer Rohrflöte spielte. Ich tanzte auf unserer Terrasse zu seiner Musik, aber Nanah-jan fürchtete seine Melodie, weil sie glaubte, der Klang seiner Flöte würde einen frühen Tod ankündigen. Und tatsächlich starb Shuaib, als sein Haus niederbrannte.

Nanah-jan sagte einmal: »Ich wünschte, wir wären alle Vögel, damit wir von hier fortfliegen könnten.«

Fast jeden Morgen stand eine lange Reihe olivgrüner russischer Panzer vor dem Krankenhaus in unserer Nähe, neben den hohen Kiefern entlang der Straße erfüllten ihre laufenden Motoren die Luft mit dröhnendem Lärm. Im Dunst der Abenddämmerung verschwanden sie wieder. Ich fragte meinen Großvater: »Baba-jan, sag mir, woher kommen die Panzer morgens, und wohin fahren sie abends?«

Baba-jan sah sich um und raunte: »Sie kommen aus der Hölle, und dorthin fahren sie auch zurück.«

Ich schlug Azizah vor, wir sollten den russischen Panzern folgen, um den Weg in die Hölle zu finden.

»Das ist zu weit, Homeira«, sagte sie mit Nachdruck. »Es wäre zu anstrengend.«

Sie habe nur Angst vor den russischen Panzern, sagte ich.

Wenn Nanah-jan keine Nüsse mehr in ihren Taschen hatte, konnte sie Azizah und mich nicht bestechen, im Haus zu bleiben. Sobald in der Stadt Ruhe eingekehrt war, verdrückten wir uns auf die Straße, wenn Madar und Nanah-jan nicht hinsahen. Einmal schenkte ein Soldat mir eine Konservendose. Weil wir ständig hungrig waren, brachte ich sie mit nach Hause. Nanah-jan war entsetzt. »Haram! Haram! In diesen Dosen sind Frösche«, rief sie. »So was essen die roten Soldaten.«

Als Azizah und ich das hörten, liefen wir hinaus in den Garten und übergaben uns.

In einem kleinen Bach in unserem Garten lebten ein paar Frösche; tagsüber sprangen sie herum, und abends quakten sie ihre eigenen Lieder. Wenn es nachts still war, brach mir wegen dieser armen kleinen Frösche das Herz. Ich war ganz sicher, dass die Russen sie gegessen hatten. Unter meiner Decke versteckt weinte ich um sie.

Während der Waffenstillstände vertrieben wir uns die Zeit damit, Pinienzapfen zu sammeln oder zwischen den Panzern herumzulaufen und mit den Jungen Verstecken zu spielen. Wenn die Jungen sich versteckten und ich sie nicht finden konnte, zeigten die russischen Soldaten, die auf den Panzertürmen saßen, auf die Verstecke der Jungen. Wenn ich einen Jungen fand, klatschten und jubelten die Soldaten, und vor Lachen wurden ihre Gesichter rot. Da begriff ich, warum wir die Sowjetarmee die »Rote Armee« nannten.

Als ich mich einmal verstecken wollte, winkte mich einer dieser roten Soldaten mit einem breiten Lächeln auf dem runden Gesicht zu sich. Er beugte sich von seinem Panzer herunter und streckte die Arme aus. Ich reckte mich ihm entgegen. An den Händen zog er mich in den Panzer, dabei schrammte ich mit der Schulter über das heiße Eisen. Es tat weh, aber ich vergaß den Schmerz sofort, als ich mich umsah. Staunend betrachtete ich die vielen Knöpfe und blinkenden Lichter. Es war stickig und sehr heiß in dem Panzer. Auf einem Metallsitz war ein zweiter Soldat. Als er mich entdeckte, beugte er sich zu mir und sagte etwas zum ersten Soldaten, der sofort antwortete. Beide lachten. Dann drückte der Mann auf dem Sitz das Gesicht gegen eine runde Öffnung.

Ich krabbelte hinüber und berührte einige der Knöpfe neben ihm. Er warf mir einen Blick zu und sagte: »Nyet. Na, na.«

Ich zeigte auf die Röhre. Er lehnte sich zurück und winkte, ich solle mich vor ihn stellen. Mit einem Auge blickte ich in das Rohr. Darin sah ich eine kleine, runde Stadt. Als der Soldat einen Drehknopf verstellte, wurde die Stadt kleiner. Er drehte den Knopf weiter, und die Stadt wurde winzig und rückte in weite Ferne. Ich bekam Angst und löste mich von dem Rohr. Ich schaute mich um. Im Panzer waren wir alle so groß wie zuvor. Der Soldat lachte und drehte wieder an dem Knopf. Mit einer Kopfbewegung forderte er mich auf, noch einmal durch das Rohr zu sehen. Die Stadt kam näher. Die Bäume wuchsen. Die Menschen, die weinend vor dem Krankenhaus standen, wurden größer. Ich entdeckte Azizah, die mich immer noch suchte. In dem Rohr erschien ihr Gesicht so groß, dass ich die Angst in ihren Augen erkennen konnte. Ich sah Mädchen in Kleidern mit Blumenmustern, die Pinienzapfen sammelten. Die Jungen hatten das Spiel verloren; sie konnten mich nicht finden.

Ich war fünf, als ich meine Stadt durch das Visier eines russischen Panzers sah, meine kleine Stadt, meine große Stadt, die weit von mir entfernt und dann wieder ganz nah war. Der Soldat schenkte mir Schokolade. Ich schaute ihn an und schämte mich.

Eines Tages schoss einer dieser Panzer auf unser Viertel und legte unsere Straße zur Hälfte in Schutt und Asche. Ein anderer traf unsere Weinreben. Da zogen wir in den Keller und blieben eine ganze Weile lang dort unten. Wir breiteten zwei große Teppiche auf dem Boden aus, brachten Decken hinunter und schliefen nachts dort.

Ich spielte stundenlang mit einer Puppe, die Nanah-jan für mich gemacht hatte. »Kannst du meiner Puppe ein neues Kleid nähen, damit sie wieder fröhlich wird?«, fragte ich Nanah-jan.

Das werde sie, versprach Nanah-jan, sobald sie schönen Stoff gefunden habe.

Deshalb freute ich mich richtig, als die Schneiderei in unserer Straße direkt getroffen wurde. Sobald die Düsenjäger vom Himmel verschwunden waren, lief ich nach draußen und durchsuchte die Trümmer nach schönem Stoff für meine Puppe. Zwischen dem Schutt fand ich ein paar hübsche Stoffstücke, die nur leicht staubig waren.

Ich lief nach Hause und zeigte sie Nanah-jan. Aus lauter Vorfreude auf mein neues Puppenkleid vergaß ich, ihr von der Hand zu erzählen, die sich in den Trümmern bewegt hatte. Meine Großmutter warf einen Blick auf die Stoffe und riss die Augen weit auf. »Bring sie zurück! Sie sind haram!«

»Sie sind doch keine Frösche!«, sagte ich.

Ich brachte die Stoffe nicht zu der sich bewegenden Hand zurück, sondern versteckte sie unter den Weinreben.

Im Krieg gab es kein Mehl, deshalb konnte Nanah-jan kein Brot mehr backen, nicht einmal die beiden Küchlein, die Azizah und ich sonst bekamen. Es wurde noch schlimmer, als die Straßen nach Herat durch die Kämpfe blockiert wurden und wir nicht einmal mehr Kartoffeln hatten.

Nanah-jan sagte, die Mudschahedin würden auch hungern.

»Die können Frösche essen«, sagte ich. »Oder diese dicken russischen Pralinen mit dem Honig drin.«

»Homeira«, sagte Nanah-jan erschrocken. »Woher weißt du, womit russische Pralinen gefüllt sind?«

Um den russischen Ansturm zu überleben, hatten die Leute gelernt, Sympathie für die Russen zu heucheln, indem sie an ihren Haustüren oder Dächern rote Fahnen anbrachten. Tante Hajar hängte ein feuerrotes Tuch an unsere Wäscheleine im Garten, um den russischen Piloten in ihren Düsenjägern über der Stadt zu zeigen, dass die Menschen in diesem Haus auf ihrer Seite standen, damit sie uns nicht bombardierten. Meine Großmutter, für die jedes Sympathisieren mit den Kommunisten als Sünde galt, verfluchte sie und sagte, wir würden alle als Kaffir sterben, als Ungläubige, und in der Hölle landen. »Wir sind keine Kommunisten! Nimm das rote Tuch von der Leine«, verlangte sie.

»Hängt es von einem roten Tuch ab, ob man Muslim oder Kaffir ist? Sie betrachtet das rote Tuch auf der Leine als Gotteslästerung und versteht nicht, dass es um die mordlustigen Russen geht. Glaubt sie wirklich, Gott wäre so unbarmherzig?«, fragte Hajar. »Ich will einfach nicht umgebracht werden.«

Nachts waren die Mudschahedin an der Reihe. Sie durchsuchten Haus um Haus nach Kommunisten und Kollaborateuren, kletterten über Mauern und sprangen in Gärten und Höfe. Tante Hajar tauschte dann das Tuch auf der Wäscheleine gegen ein grünes. Ich zog sie auf: »Soll ich den Mudschahedin erzählen, dass du tagsüber ein rotes Tuch aufhängst?«

»Homeira! Dann sage ich ihnen, dass du russische Schokolade isst«, drohte sie.

Vor lauter Schreck lief ich zu meiner Großmutter. »Sag Tante Hajar, sie soll mir keine Angst machen, Nanah-jan.«

Meine Tante lachte und streckte mir die Zunge heraus.

Onkel Naseer war ein Mudschahed, ein Widerstandskämpfer gegen die russische Invasion. Mudschahedin wurden von der Regierung als Rebellen bezeichnet, aber die Bevölkerung mochte und unterstützte sie und nannte sie »die Verteidiger des Glaubens«. Sie bekämpften die Russen und mussten dafür viel Leid erdulden, aber schließlich gelang es ihnen, die sowjetischen Invasionskräfte aus Afghanistan zu vertreiben. Danach galten sie auch als Verteidiger der Heimat.

Onkel Naseer kam und ging wie ein Geist, er sprang nach Einbruch der Dunkelheit in unseren Garten und versteckte sich mit seiner Kalaschnikow auf dem Dach. Ich hörte seine Schritte über uns und dann, wie er im Garten landete. Jede Nacht brachte mein Großvater eine Matratze, ein Kissen und Decken hinauf aufs Dach. Er wirkte immer besorgt, wenn mein Onkel in der Nähe war. »Wohin ist Onkel Naseer gegangen, Baba-jan?« »Sei still, Kind; er ist draußen und zählt die Sterne.«

»Wo schläft er, Baba-jan?«

»Onkel Naseers Haus ist auf dem Mond, Homeira.«

»Kann man auf dem Mond besser schlafen, Baba-jan?«

Mein Großvater seufzte. »Ja, Homeira, aber man muss aufwachen, bevor der Mond untergeht, sonst verschluckt er einen.«

Wenn ich nachts den Mond betrachtete, hatte ich immer Angst, Onkel Naseer könnte verschlafen und vom Mond verschlungen werden.

In dieser Nacht stürmten Agenten des KhAD, des afghanischen Geheimdienstes, auf der Suche nach Onkel Naseer unser Haus. Verängstigt zeigte ich zum Dach und sagte: »Sterne! Sterne!«

Mein lieber Siawash,

wenn Du irgendwann erfährst, dass Deine Mutter all die Jahre gelebt hat, wirst Du sicher wütend werden. Du wirst Dich fragen: »Wie kann eine Mutter einfach fortgehen und ihr Kind zurücklassen?« Das wollte ich nie.

Ich wünschte, wir beide würden nicht einer Gesellschaft angehören, in der Mutterschaft und mütterliche Fürsorge keinen Schutz genießen. Bis Du erwachsen bist, wird sich diese Einstellung hoffentlich geändert haben oder verschwunden sein. Ich, meine Mutter, die Mutter meiner Mutter und auch deren Mutter haben unser Leben lang auf diesen Wandel gehofft. Bitte glaub nicht, meine Sehnsucht nach Dir und auch nach Deinem Vater sei völlig abgeklungen. So ist es nicht … aber ich habe gelernt, dass ich meine Ziele teuer erkaufen muss. Die Opfer, die ich gebracht habe, bereue ich nicht, weil ich weiß, weil ich hoffe, dass mein Leiden etwas für andere Frauen verändern wird, für die Frauen, die nach mir kommen.

Vertrau mir und versteh bitte, dass die Veränderungen, die ich bewirken will, wichtig sind. Versuch, wegen unserer Trennung nicht wütend auf mich zu sein. Glaube stattdessen an Dich selbst, denn wir beide, Du und ich, müssen zusammen ein neues Afghanistan erschaffen. Ich sehne den Tag herbei, an dem wir in einer gleichberechtigten Gesellschaft leben können. Selbst in der Dunkelheit dieses Kerkers sehe ich freudig dem Tag entgegen, an dem sich ein strahlend blauer Himmel bis zum wunderschönen Horizont erstreckt. Diesen blauen Himmel wird uns niemand schenken. Wir müssen ihn uns nehmen.

2Ziehende Schwalben

Die Jahreszeiten kamen und gingen, aber der Krieg dauerte endlos an.

Im siebten Sommer der russischen Invasion hing unser halb verbrannter Maulbeerbaum voller Früchte. Die Spatzen plünderten ihn und verstreuten überall Beeren. Ich stand am Fenster und zeigte auf die heruntergefallenen Früchte, damit die Vögel sie leichter finden konnten, aber sie beachteten mich nicht. Sie stritten sich mit den Hirtenstaren, die zeternd im Baum saßen.

Zwei Nächte lang blieb der Himmel friedlich, nur Sterne und ein schmaler Mond waren zu sehen. Onkel Basheer kam spät nach Hause, nachdem er fast die ganze Nacht unterwegs gewesen war. »Warst du auf dem Mond bei Onkel Naseer?«, fragte ich.

»Nein, ich habe bei Wali vor dem Fenster gestanden, vor dem Zimmer mit dem Fernseher. Gehört habe ich nichts, aber ich habe gesehen, wie russische Männer und Frauen miteinander getanzt haben. Und dann kamen Bilder von unseren Mudschahedin, die getötet wurden …«

»Onkel Basheer, was ist ein Fernseher?«, fragte ich.

»Ein Kasten, in dem man viele verschiedene Leute sehen kann.«

»Aber, Onkel Basheer, wie passen denn die ganzen Leute in einen Kasten?«

Nanah-jan rief quer durchs Zimmer: »In dem Kasten sind nur kleine Menschen, Homeira.«

Nach dem Abendessen fiel mir auf, dass Onkel Basheer wieder verschwunden war. Ich nahm meine Schuhe und schlich aus dem Haus. Diesen Kasten wollte ich selbst sehen, und auch die Frauen, die darin tanzten.

Die Nacht breitete einen dunklen Schleier über die Straßen. Eigentlich durften wir im Dunkeln nicht hinausgehen. Nanah-jan hatte uns gewarnt: »Wenn es dunkel wird, sind die Ungläubigen gierig auf Blut.«

Ich schaute mich nach Onkel Basheer um, aber ich konnte ihn nirgends entdecken. In beiden Richtungen sah ich nach, ob irgendwo blutdürstige Ungläubige lauerten. Nanah-jans Flüstern klang mir in den Ohren: »Die Ungläubigen beißen die Ader in deinem Hals durch und saugen dir das Blut bis zum letzten Tropfen aus. Sie schnappen sich gern einen ganzen Schwung Kinder auf einmal. Und das Blut von Mädchen mögen sie am liebsten, Homeira!«

Ich hörte, wie ein Mann die Straße entlangrannte, und drückte mich an die Mauer. War das einer dieser blutdürstigen Ungläubigen oder ein Nachbar, der vor ihnen weglief?

Das Herz schlug mir bis zum Hals. Konnten die Ungläubigen das hören? Ich wollte keine Vampire anlocken. Als ich Wasser plätschern hörte, fiel mir der Durchlass in Walis Wand ein, durch den ein Bach aus seinem Garten in den Straßengraben floss. Nach den Regenfällen im Herbst stand das Wasser immer hoch, aber jetzt war er nur ein schmales Rinnsal. Ich krabbelte in den Durchlass.

Mit einer Hand bedeckte ich meinen Mund, falls mir ein Frosch ins Gesicht springen sollte. Ich kroch weiter. Der Durchlass führte in eine Ecke des Gartens. Ich rappelte mich auf und sah mich um. Onkel Basheer stand im Garten, seine Silhouette zeichnete sich vor einem Fenster ab, in dem mattes blaues Licht flackerte. Ich schlich zu ihm. »Onkel?«

Erschrocken wirbelte er herum. »Homeira! Was machst du denn hier?«

»Ich will mir den Fernseher anschauen, Onkel.«

»Du bist zu klein, du kannst nicht durchs Fenster sehen. Du gehst jetzt sofort nach Hause!«

Ich klammerte mich an sein Bein. »Bitte, ein Mal nur! Nur ein Mal!«

Onkel Basheer drehte den Kopf in meine Richtung, ohne den Fernseher aus den Augen zu lassen. Aus dem Haus drang der Gesang einer Frau zu uns. Mein Onkel bückte sich und hob mich auf seine Schultern. Eine sanfte Brise strich mit ihrem kühlen Atem über meinen verschwitzten Hals.

»Vorsicht, Homeira. Wir wollen nicht, dass Walis Vater uns sieht.«

Onkel Basheer richtete sich auf, bis ich durchs Fenster sehen konnte. In der Zimmerecke entdeckte ich etwas Helles. Ich kniff die Augen zusammen … ich konnte es kaum glauben … die Stimme der Frau kam aus diesem Kasten, einer Frau mit nackten Beinen, die einen kurzen Rock trug statt einer Hose. Ich drückte Onkel Basheers Hals. Die Kastenfrau sah ganz anders aus als Nanah-jan. Sie sah aus wie Samiras Mutter, eine Lehrerin, die ohne Hidschab in die Schule ging und Röcke und ärmellose Blusen trug.

Plötzlich explodierte die Nacht. Stotternde Schüsse durchschlugen die Stille.

Onkel Basheers Freund Wali tauchte vor uns auf, hielt einen Finger an die Lippen und schloss das Fenster. Etwas zischte beängstigend nah an meinem Ohr vorbei – ein heißer Windstoß. Ich hörte Glas splittern. Wali war noch da, er stand am Fenster, direkt vor mir, und starrte mich an, seine Augen wurden immer größer. Und dann fiel er plötzlich um.

Mein Onkel sah es und sackte auf die Knie. Mein Gesicht brannte an hundert Stellen, als wäre ein Schwarm Bienen über mich hergefallen. Meine Hände waren nass und klebrig. Im Haus schrien Walis Mutter und seine Schwester.

»Onkel?«, fragte ich.

Basheer antwortete nicht.

Ich sprang von seinen Schultern und starrte ihn an. Onkel Basheer hatte die Augen aufgerissen, ohne zu blinzeln.

Ich zerrte an seinem Arm. »Wir müssen nach Hause, Onkel.«

Er stand auf. Ich zog ihn zum Durchlass. Ich kroch hinein, er folgte. Wir wanden uns unter der Mauer hindurch. Baba-jans Stimme schallte die Straße herunter.

»Wir sind hier, Baba-jan!«, rief ich.

Baba-jan lief uns entgegen, dicht gefolgt von Madar und Nanah-jan. Als Onkel Basheer hinfiel, zog Baba-jan ihn hoch und trug ihn ins Haus. Sobald wir drinnen waren, kniete Agha sich neben mich und untersuchte meine Hände und mein Gesicht. »Es ist Onkel Basheers Blut«, sagte ich. »Die Kugel ist ganz dicht an uns vorbeigeflogen. Sie hat Wali in den Bauch getroffen.«

Schreiend sprang Onkel Basheer auf und lief zur Tür. Baba-jan hielt ihn auf und drückte ihn fest an sich, während Onkel Basheer schrie und schrie. Madar wusch mir das Blut von den Händen, säuberte mein Gesicht und zog mir mit einer Pinzette Glassplitter heraus. Der Himmel erstrahlte hell, dann wurde er dunkel … hell … dunkel. Ich spürte das Rumpeln der Panzer auf der Straße.

 

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, saß Onkel Basheer mit den Händen vor dem Gesicht in einer Ecke und weinte. Ich krabbelte zu ihm.

»Onkel Basheer, was ist mit Wali passiert?«

Onkel Basheer weinte lauter. Mir brannte wieder das Gesicht.

Weder mein Großvater noch meine Großmutter nahmen an Walis Beerdigung teil. »Sie sind Kommunisten«, sagte Baba-jan. »Es würde ihnen nicht gefallen, wenn wir bei der Beerdigung die Fâteha sprächen.«

Weinend sagte Onkel Basheer: »Aber Wali war kein Kommunist!«

Madar sagte: »Einer Kugel ist es egal, ob du ein Mudschahed oder ein Kommunist bist. Der Rauch der Feuer, die in diesem Land gelegt wurden, versengt allen die Augen.«

Wali wurde in seinem Garten unter einem verbrannten Granatapfelbaum begraben. Seine Familie konnte ihn nicht zum Friedhof bringen, weil die Straßen voll waren von Kommunisten und von Mudschahedin.

 

Baba-jan sagte zu Agha: »Wakil Ahmad, nimm deine Frau und deine Kinder bei der Hand und geh. Euch werden sie als Nächste holen. Dieses Land gehört nicht mehr dir oder mir.«

An diesem Abend drückte Baba-jan mich fest an sich. »Komm her, Homeira.«

Ich schlief in seiner Umarmung ein. An seine Worte kann ich mich nicht erinnern, ich weiß nur noch, dass er sich immer wieder mit dem Zipfel seines Turbans die Augen trocknete.

Als ich aufwachte, war es sehr warm. Mein Mund war voller Staub. Mein Gesicht brannte. Ich drehte mich herum und setzte mich auf. Direkt über mir strahlte die Sonne heiß vom Himmel. Ich schaute mich um. Flache, leere Wüste ohne einen einzigen Schatten umgab mich – eine farblose Landschaft mit vereinzelten Dornenbüschen bis zum gleißenden Horizont.

Ich dachte, eine Rakete müsse unser Haus dem Erdboden gleichgemacht haben, unser ganzes Wohnviertel sei zerstört. Aber ich konnte nicht einmal einen Lehmziegel oder einen verbrannten Ast entdecken.

»Wo sind Baba-jan, Tante Azizah, Nanah-jan …?«

Agha legte einen Finger an die Lippen. »Wir emigrieren.«

Dieses Wort hörte ich zum ersten Mal. Ich krabbelte zu Madar hinüber. Sie beschattete ihre Augen mit einer Hand und betrachtete die kleinen Dornenbüsche in der Ferne. »Madar, was bedeutet ›emigrieren‹?«

Madar suchte weiter den Horizont ab und sagte: »Es bedeutet, in einem anderen Land als Fremde zu leben … Es bedeutet, allein zu sterben.«

Ich hatte tausend Fragen, aber meine Eltern sahen mich nicht an. »Madar, wenn wir emigrieren, kann ich dann immer noch neben Baba-jan schlafen?«

Madars Blick war auf die ferne steinige Ebene am Fuß der Berge gerichtet. Heißer Wind fegte über den weichen Boden, wirbelte Staub auf und ließ ihn als hohen Trichter über die Erde tanzen.

In der Ferne sah ich ein Motorrad, nicht mehr als ein winziger Punkt, der eine große Staubwolke hinter sich herzog; es wurde immer größer und riss der Ebene mit seinem Dröhnen das Herz heraus.

Die beiden Boghcha über der Schulter, lief Agha schneller. »Agha! Warum hast du Baba-jan nicht mitgenommen?« Ich rannte ihm nach.

Madar versuchte, uns einzuholen. Ich rief: »Madar, was ist mit Nanah-jan passiert?«

Der Wind pustete mir Sand ins Gesicht und füllte meinen Mund mit Staub. Er schmeckte nach nichts.

Das Motorrad erreichte uns. Der Fahrer rief: »Beeilt euch! Beeilt euch!«

Ich hob die Hand und winkte unserem unsichtbaren Haus zum Abschied zu. Der Fahrer fuhr, so schnell er konnte.

Große und kleine Dornenbüsche rauschten vorbei.

Ich wünschte, ich hätte Baba-jans Gesicht geküsst, bevor wir aufgebrochen waren. Ich dachte: Die Kriege waren nicht so schlimm wie das hier. Da waren wir wenigstens zusammen.

Ich beschloss, die Schritte zu zählen, mit denen wir uns immer weiter von allem entfernten, was ich kannte. Eins, zwei, drei … Schneller! Eins, zwei, drei … Eins, zwei.

 

Ein Jahr später, nachdem die Russen Afghanistan verlassen hatten, kehrten wir in tiefem Winter nach Herat zurück. Wir warteten sehnlichst auf den Frühling und auf die Rückkehr des Friedens. Die Jahreszeiten kannte ich, aber was Frieden war, wusste ich nicht. Mir reichte es schon, wieder Baba-jans Umarmung zu spüren. Es war nicht wichtig, wie wenig vom Haus und vom Garten noch intakt war.

Mein lieber Siawash,