Dicker Mann auf dünnen Reifen. Mein neues Leben als Rennradfahrer. - Ulf Henning - E-Book

Dicker Mann auf dünnen Reifen. Mein neues Leben als Rennradfahrer. E-Book

Ulf Henning

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Beschreibung

Kann ein zur Bequemlichkeit neigender Familienvater mit einem fatalen Hang zu den schönen und ungesunden Dingen des Lebens in acht Wochen zum Leistungssportler mutieren? Er kann, wenn man dem Zufall freie Hand lässt. So ergeht es zumindest Ulf Henning, der sich nach einem bierseligen Versprechen plötzlich auf der Startliste eines 110 Kilometer langen Radrennens wiederfindet. Nach dem Motto "Ganz oder gar nicht" mutiert der Genussmensch über Nacht zum Hansdampf auf allen Straßen, trainiert mit ungeahntem Ehrgeiz und protokolliert fortan akribisch jeden Kilometer und jede Kilokalorie. All das führt zu allerhand Komplikationen, die ihn ein ums andere Mal an den Rand des Nervenzusammenbruchs führen. Von seinen Mitmenschen ganz zu schweigen. Aber die Mühe lohnt, und es zeigen sich erste Erfolge: Der erste Rentner, der am Berg stehen gelassen wird. Die ersten Hautfetzen, die dem Straßenbelag geopfert werden. Die stetig wachsende Leserschaft seines ungemein amüsanten und offenherzigen Online-Tagebuchs auf rennrad-news.de, die inzwischen regen Anteil an den Geschicken unseres Radsport-Novizen nimmt. Doch dann platzt am großen Tag kurz nach dem Startschuss ein Reifen, und der Besenwagen holt den frischgebackenen Helden der Landstraße und seine Freunde ein. Das war's dann wohl... War's das? Natürlich nicht. Es geht weiter, aber nie so, wie man es erwartet. Das ist gelegentlich haarsträubend, hin und wieder nachdenklich, oft spannend und meistens sehr, sehr lustig. Vorausgesetzt, man kann mit trockenem Humor etwas anfangen und legt keinen Wert auf weiße Socken...

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ULF HENNING

Dicker Mann

auf dünnen Reifen

MEIN NEUES LEBEN

ALS RENNRADFAHRER

Ulf Henning:

Dicker Mann auf dünnen Reifen

Mein neues Leben als Rennradfahrer

© Ulf Henning - Covadonga Verlag, 2010

Coverillustration: Marc Locatelli

Autorenfoto auf dem Umschlag: Anne Wandlang

Covadonga Verlag, Bielefeld – 2010

ISBN 978-3-936973-58-7

ISBN-ePub 978-3-936973-62-4

Alle Rechte vorbehalten. Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Covadonga ist der Verlag für Radsportliteratur.

Besuchen Sie uns im Internet: www.covadonga.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

INHALT

STATT EINES VORWORTS:

EIN WARNHINWEIS

Teil 1

KAPITEL 1: EINROLLEN

Ines ist schuld!- Ein unbedachtes Wort -Wie man nicht sein erstes Rennrad kaufen sollte -Der heiße Atem der Fahrradnazis -EdHot geht ins Netz

KAPITEL 2: WARMWERDEN

Trolle, Trinker, Terroristen -Hügel üben -Ah! Lüdinghausen! -Havixbecker Kantsteinmeile -Trau keinem unter 30 km/h -Die Leetzenritter -Bin ich Fahrradnazi? -Der Murx, die Eiche und die Speiche

KAPITEL 3: HUNGERAST AUF HALBER STRECKE

Mach mich fertig, Leopold! -Arbeit essen Training auf- Im Frühtau zu Berge- Och, Lüdinghausen!- Unterwegs mit den Nicks

KAPITEL 4: DER GIRO, ALTER!

Zwei Eiskugeln für ein Halleluja!- Der unvergessliche Turnbeutel- Der Tunnel am Ende des Lichts

Teil 2

KAPITEL 5: AN DEN HAAREN AUS DEM SUMPF

Lauf, EdHot, lauf!- Back in the Saddle- The Horror! The Horror!

KAPITEL 6: WIEDER FAHRT AUFNEHMEN

Der gläserne Sportler- Alle Wetter!- Planlos durch die Pampa- Radsport, Hypochondersport- Orr nähhh, Lüdinghausen!

KAPITEL 7: AUF ACHSE

Ich muss weg!- Flachetappe- Bergetappe- Montage ist die schlimmsten Tage

KAPITEL 8: GIRO? WELCHER GIRO?

Tempomat are go!- Märchen vom Fliesenheini- Allein, allein- Der legendäre Lohmann- Here comes Trouble!-Jagdszenen im Münsterland- Runterkommen

Teil 3

KAPITEL 9: AUF ABWEGEN

SM in MS- Nicht leicht, aber Cross- Jauchzet, frohlocket!- Kein Sturz. Nirgends- Von den Schrecken des Einzelhandels

KAPITEL 10: EDDIE’S ON THE ROAD AGAIN

Vom Fressen und von der Moral- Infiziert- Aufs Maul von Mutti- Mann, sehen wir gut aus!

KAPITEL 11: VIVA COLONIA!

Einsatz in vier Wänden- Horch, von fern ein leiser Speichenton!- Bensberg, mon Amour!

KAPITEL 12: ZIELSPRINT

Plaudern statt Posen- Frühling lässt sein blaues Band usw.- Der Tag der reitenden Leichen- 24 Hour Party People- No Sleep 'til Nienstedt

STATT EINES NACHWORTS: DANKE! DANKE! DANKE!

GLOSSAR

Statt eines Vorworts

EIN WARNHINWEIS

Die Nutzung dieses Produkts ist folgenden Personengruppen nur eingeschränkt zu empfehlen:

Deutschlehrer

Sind Sie ein Wächter und Bewahrer unserer geliebten Muttersprache? Graust es Ihnen, wenn Sie an die Verwahrlosung der Schriftsprache in Online-Foren und Chats denken? All die lols, rofls, hdgdls? Die ganzen albernen Smileys? Wenn Sie nicht außerordentlich hartgesotten sind, empfehle ich Ihnen, dieses Buch sofort zuzuklappen und weit weg zu legen. Jetzt.

Denn als ich im August 2008 begann, im Internet ein öffentliches Trainingstagebuch mit dem Titel »Dicker Mann auf dünnen Reifen« zu führen, hätte ich mir weder träumen lassen, dass einmal ein Buch daraus entstehen könnte, noch hatte ich eine Ahnung davon, welchen Umfang mein kleines Blog erreichen sollte. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es mehr als einhunderttausend Mal aufgerufen worden und enthält fast 1.000 Einträge, mehr als 300 davon von mir, unter meinem Nick EdHot verfasst. Nun habe ich vor allem dann gepostet, wenn mir etwas unter den Nägeln brannte, und meine durchaus vorhandenen, auf dem Wege eines abgebrochenen Germanistik-Studiums erweiterten und gefestigten Kenntnisse der deutschen Sprache gelegentlich auf dem Altar der Spontaneität geopfert. Es sind zum Beispiel manche Einträge in der Vergangenheits, andere in der Gegenwartsform verfasst.

Für dieses Buch habe ich dennoch die ursprünglichen Tagebucheinträge, ohne die es nicht zustande gekommen wäre, nur behutsam redigiert, was Rechtschreibung und Zeichensetzung betrifft, aber im Wesentlichen so belassen, wie sie online zu lesen waren. Sie grundlegend zu verändern, erschien mir falsch, weil ich sie sonst ihrer Unmittelbarkeit beraubt hätte.

Konservativen Sprachästheten empfehle ich, die zitierten Tagebucheinträge mit Milde oder nach der Einnahme beruhigender Präparate wie – je nach Schwere der zu befürchtenden Symptome – Baldrian oder Valium zu betrachten.

Was die allseits beliebte Rechtschreibreform und speziell die Groß- und Kleinschreibung der Anreden betrifft: Ich bin da altmodisch und empfinde es als ausgesprochen albern, dass man nur das »Sie« und seine Verwandten noch großschreiben soll. Nennen Sie es eine altmodische Marotte, aber ich lasse denen, die ich mit »Du« anrede, gerne die gleiche Ehrerbietung zukommen und weigere mich, die Großschreibung nur als schnödes Mittel der besseren Verständlichkeit zu begreifen.

Ähnlich störrisch bin ich bei einigen neuerdings anders zu schreibenden Wörtern und Worten. Ein Adjektiv namens »aufwändig«? Nicht mit mir! Und – zum Beispiel zum Zwecke des gemeinschaftlichen Radfahrens – zusammenzukommen, ist eine feine Sache, kann aber zusammen zu kommen nicht schlagen.

Campajünger, Sturzhelm-Ultras, Rasurfetischisten etc.

Apropos Lehrer: Stellen Sie sich einen Schulhof, ca. 1985, während der großen Pause vor. Überall stehen Grüppchen von jungen Menschen mit bizarrem Modegeschmack beisammen und debattieren hitzig über existenzielle Themen. Michael Jackson oder Prince, Kiss oder AC/DC, Nike oder Adidas, Miami Vice oder Magnum, Bayern München oder der HSV? Das sind Fragen, auf die es nur eine Antwort zu geben hat. Sollte die sich nicht auf dem verbalen Weg finden lassen, werden die Argumente durch Lautstärke, Mutmaßungen über die sexuelle Orientierung des Andersdenkenden, das Androhen und schließlich die Anwendung physischer Gewalt ersetzt, bis das Aufsichtspersonal dazwischengeht.

Haben Sie das Bild vor Augen? Dann wissen Sie ziemlich genau, wie es in Radsport-Internetforen zugeht. Nur die Themen sind andere. Sie heißen beispielsweise Shimano oder Campagnolo, mit Helm oder ohne, Beinrasur oder Naturpelz, weiße oder bunte Socken (im Ernst!). Und wenn sich, angeheizt von den Diskussionsbeiträgen eines Trolls, alle die virtuellen Köpfe einschlagen, kommt der Mod und schließt den Thread. Vorhang zu, Fragen offen.

Trotzdem habe ich mich, der Not meiner Ahnungslosigkeit in radsportlichen Dingen gehorchend, schließlich hilfesuchend im Forum rennrad-news.de angemeldet, weil ich den Eindruck hatte, auf diesem Schulhof wäre die Gruppe der großen Jungs, denen Turnschuhmarken egal sind, die von einer Aura gelassener Weisheit umweht in der Raucherecke stehen, über Bukowskis Lyrik, Borussia Dortmund und Biersorten fachsimpeln und Prince, Kiss und AC/DC mögen, etwas weniger klein als auf den anderen.

Gehören Sie zu denen, die glauben, man dürfe sich nur mit weißen Socken und enthaarten Beinen auf einem Pinanchi-Renner mit italienischer Schaltgruppe als Radsportler bezeichnen? Dann lesen Sie bloß nicht dieses Buch! Sie würden sich nur aufregen, sich womöglich gezwungen sehen, einen erbosten Leserbrief zu schreiben und wertvolle Zeit zulasten einer Beinrasur oder des Katalogstudiums verschwenden. Und am Ende würden Sie mir uneinsichtigem Pragmatiker vermutlich Prügel androhen.

Oder sind Sie einer von den großen Jungs? Dann herzlich willkommen! Und das gilt auch für die Mädchen.

Damit wären wir bei den...

GleichstellungsbeauftragtInnen

Lachen Sie nicht! Ich hatte die Einführungsveranstaltung Germanistik gerade hinter mir, als mir beim ersten Mensabesuch ein AStAFlugblatt aufs Tablett gelegt wurde. Die Begrüßung lautete: »Liebe ErstsemesterInnen!«

Also ehrlich, Mädels! Habt Ihr es nötig, immer und überall darauf hinzuweisen, dass es Euch gibt? Obwohl: Wenn es immer und überall geschähe, könnte man das konsequent finden und höchstens bemängeln, dass es erstens sprachlich Unfug und zweitens der Gleichstellung nicht förderlich ist, ständig die Gedanken darauf zu richten, dass es Männlein und Weiblein gibt.

Dass diese lästige Genderisierung aber ohnehin meist nur da Verwendung findet, wo mit aufgeklärten, gebildeten Menschen kommuniziert wird, macht das Ganze vollends absurd. Da werden dann die Sensiblen sensibilisiert.

Ich habe jedenfalls damit nichts am Hut. Wenn in diesem Buch heldenhafte Radsportler, verbrecherische Autofahrer oder schlafmützige Fahrradhändler Erwähnung finden, dürfen Sie, verehrte Leserinnen, so Sie denn Radsport treiben, Auto fahren oder mit Fahrrädern handeln, sich als genauso heldenhaft, verbrecherisch oder schlafmützig angesprochen fühlen wie der männliche Rest.

Das gilt nicht für...

Ingenieure und Terminatoren

Oder heißt es Terminologen? Gemeint sind die 110-Prozent- Bescheidwisser und Schlaumeier, die jederzeit für alles die alleinseligmachende Verfahrensweise und den korrekten Fachbegriff parat haben. Die, wenn beispielsweise ein 16-jähriger Anfänger eine schüchterne Frage zum »hinteren Umwerfer« hat, den kompletten Thread terminieren, indem sie sich gegenseitig mit Wissenshuberei dergestalt überbieten, dass es eigentlich »Umwerfer« (vorne) und »Schaltwerk« (hinten) heiße. Die so etwas tun, sind nämlich aus irgendwelchen Gründen immer und ausschließlich nur Männer.

Dabei weiß doch jeder, dass es im Englischen »front« bzw. »rear derailleur« heißt und somit »vorderer und hinterer Umwerfer« eigentlich ganz richtige Übersetzungen wären. Andererseits werden in deutschen Fachbüchern oft die Bezeichnungen »vorderes und hinteres Schaltwerk« verwendet. Und deutsche Fachbücher werden ganz sicher fast immer von Terminator-Ingenieuren geschrieben.

Wenn Sie einer sind: Nicht weiterlesen! Es sei denn, Sie wären einer mit Humor. Falls es Sie geben sollte, melden Sie sich doch bitte, wenn es geht mit Foto. Ich würde Sie dann gerne in der nächsten Auflage namentlich als Ausnahmeexemplar Ihrer Gattung würdigen.

Sinnsuchende

Haben Sie’s bemerkt? Da habe ich mich im einen Satz über vermeintliche Fachidioten mokiert, um im nächsten nahtlos selbst zum fachidiotischen Klugscheißen überzugehen. Stört Sie das? Wollen Sie von einem lesen, der konsequent zu Ende führt, was er beginnt? Der strebend ein Ziel verfolgt, bis er es erreicht hat? Der keine Irrwege beschreitet, Zufälle ausschließt und selten Fehler zulässt?

Sie müssen jetzt ganz tapfer sein: Auch Sie halten das falsche Buch in Händen.

Denn dies ist die Geschichte von einem, der im reifen Alter von 38 Jahren vollkommen ahnungslos und eher zufällig als freiwillig zum Radsport kommt und knapp zwei Jahre lang diese fremde Welt erkundet. Es ist ein Bericht über Fortschritte und Rückschläge, Geistesblitze und Irrtümer. Und es ist nicht zuletzt die Geschichte einer, jawohl: Entwicklung, unter anderem hin zu einem Ehrgeiz, den die, die mich kennen, aber auch ich selbst mir nie zugetraut hätten. Die altbekannte Trägheit ist dabei noch nicht ganz besiegt, aber die zu erwähnen, wäre nicht konsequent.

Verdammt, ich hab’s schon wieder getan! Aber immerhin wissen Sie jetzt, was ich meine. Wenn es in diesem Buch etwas zu lernen gibt, dann vielleicht dies: Suche nie einen Sinn in dem, was ein Sinnsuchender treibt. Oder, um es mit Mr. Myiagi, dem Lehrer von Karate Kid, zu sagen: »Du nix vertrauen geistige Führer, was nix kann tanzen!«

Habe ich schon erwähnt, dass Sie hier falsch sind, wenn plötzliche Albernheitsattacken Sie irritieren?

Für alle verbliebenen Leser noch ein formaler Hinweis: Sie dürfen sich einer typografischen Finesse erfreuen. Im Glossar finden Sie eine Erklärung der meisten kursiv gesetzten Wörter.

Ulf Henning

Nottuln, im August 2010

TEIL

1

Kapitel 1

EINROLLEN

April 1983 bis August 2008

Ines ist schuld!

Friesland, 19. April 1983

Es ist der erste Tag nach den Osterferien, und es ist ein guter Tag. Normalerweise sind erste Schultage nach den Ferien die Hölle, aber dieser ist anders. Die Sonne scheint, die Vöglein singen, und am liebsten würde ich dasselbe tun, aber ich kann nicht. Denn erstens bin ich nach drei Kilometern Schulweg mit Gegenwind – in Friesland kommt der Wind grundsätzlich von vorn! – und einer beherzten Sprinteinlage völlig außer Atem, und zweitens: Wenn ich jetzt singe, bemerkt mich Ines aus der Neunten. Die ist immerhin der Grund für meinen Spurt und damit meine Atemlosigkeit. Jetzt rolle ich unbemerkt hinter ihr her. Die Anstrengung von vorhin ist schon vergessen, und im Moment scheine ich dahinzuschweben.

Es ist wichtig, kurz vor dem Ziel das richtige Hinterrad zu haben. Aus taktischen Gründen. Windschatten ist superwichtig – spart mindestens 20 Prozent Energie. Doch davon habe ich nicht den blassesten Schimmer. Schließlich bin ich erst dreizehn Jahre alt, schwer verliebt und bilde mir ein, dass es Ines’ Rückansicht ist, die mich beflügelt. Sie trägt eine rot-schwarz gestreifte Stretch-Jeans, genau wie Nena bei Ronny’s Pop-Show. Und sie fährt ein Rennrad. Ich möchte auch ein Rennrad haben. Dann würde ich mich bestimmt trauen, wieder zu atmen, Ines aus der Neunten vielleicht sogar überholen, und wir könnten gemeinsam, nebeneinander (vielleicht sogar Hand in Hand – ich muss aufpassen, dass ich nicht von meinem Kettler Alu-Rad 2600 kippe!) aufs Schulgelände einbiegen. Ich muss ein Rennrad haben!

Ein unbedachtes Wort

Münster, Grevener Straße, 3. Oktober 2007

Ich habe einen dicken Kapuzenpulli an und eine gefütterte Jeansjacke darüber, und die Sonne scheint vom blauen Himmel. Trotzdem fröstele ich, denn es ist kühl an diesem frühen Morgen.

Ich stehe am Start des Münsterland-Giros über 110 Kilometer. Als Zuschauer wohlgemerkt, denn ein Rennrad habe ich immer noch nicht. Mein Freund Ingo auch nicht, aber der sitzt jenseits des Absperrgitters, mitten im Startblock C, auf seinem stollenbereiften Mountainbike und lächelt etwas angespannt.

Irgendwo weiter vorne im Starterfeld dieses Jedermannrennens stehen Norbert und Tom und machen vermutlich gerade in Zweckoptimismus. Die haben zwar Rennräder unterm Hintern, aber dreistellige Höhenmeterzahlen kennen auch sie allenfalls vom Hörensagen. Dasselbe gilt für die Streckenlänge. Ihre weiteste Trainingsrunde führte über gerade mal die Hälfte.

Eigentlich hatten meine Kumpels bei ihrem ersten Radrennen gemeinsam starten wollen, aber dann hat bei der Anmeldung irgendetwas nicht geklappt, ein Kommunikationsproblem oder so, jedenfalls muss Ingo jetzt gleich mal drei Minuten gutmachen, wenn die drei die Bergriesen des Teutoburger Walds, die ab Kilometer 50 warten, gemeinsam bezwingen wollen. Um ihn herum stehen lauter Wochenend-Virenques, die sich um den Anschein langjähriger Routine bemühen. Ingo dagegen hat’s nicht so mit Pfeifen-im-dunklen-Wald und sagt’s, wie es ist: »Ich hab’n bisschen Bammel.«

Ich beschließe, dass ihm mit Ehrlichkeit meinerseits nicht gedient ist und sage nicht: »Solltest Du auch!« und auch nicht: »Ihr schafft das sowieso nicht. Ich sammel’ Euch dann in Tecklenburg ein und bring’ Euch mit dem Auto nach Hause.« Aber genau das ist es, was ich denke.

Zum Glück geht es dann auch bald los, und ich muss nur noch ein paar fachkundige Kommentare wie »Wird schon!« und »Kein Thema!« abgeben, bevor sich der wogende, bunte Pulk in Bewegung setzt, Ingo mitreißt und verschluckt.

Kurz darauf verteilt sich das Bodenpersonal, bestehend aus Familien, Freunden und -innen, auf zwei Transporter, und los geht’s Richtung Tecklenburg, dem höchsten Punkt der Runde, wo der knackigste Anstieg direkt in die Ortsmitte führt. Und kaum haben wir uns da hinaufgequält, Parkplätze gefunden und uns an der Strecke postiert, passiert das Unfassbare: Mit einem fröhlichen »Moin!« wedelt Norbert an uns vorbei, dicht gefolgt von Ingo und Tom.

Bald darauf sitzen wir bei Herbstsonne und Weizenbier vorm Kruse Baimken am Ufer des Aasees, und die Helden der Landstraße lassen das Renngeschehen Revue passieren. Als nach einer Weile ein Moment zufriedenen Schweigens entsteht, höre ich mich zu meinem Erstaunen sagen: »Nächstes Jahr bin ich dabei!«

Ich erschrecke, bin erleichtert, dass niemand antwortet, und nehme an, dass meine Ankündigung entweder keiner gehört hat, oder – noch wahrscheinlicher – keiner ernstnimmt.

Wie man nicht sein erstes Rennrad kaufen sollte

Oldenburg-Bürgerfelde, 26. Dezember 2007

Norbert und ich stehen, jeder mit einem schönen Glas Rotwein bewaffnet, auf dem Flur. Im Wohnzimmer geht gerade das Schrottwichteln in die letzte Runde, als Norbert mir zuraunt: »Komm doch mal mit in den Keller.«

Ich stelle mein Glas ab, um die Hände für die zu transportierenden Weinkisten frei zu haben und folge ihm treppabwärts. Als wir vor der Kellertür stehen, fällt mir ein, dass Norbert seinen Wein in der Wohnung lagert. Außerdem kommt mir ein erfolgreich verdrängtes Telefonat wieder in den Sinn. Ich denke an Flucht, aber da geht schon die Tür auf und das Licht an. Vor uns steht ein schwarzes Rennrad. Auf dem Rahmen steht »2danger« und »Crossroad Comp«.

Das sagt mir wenig, die einzigen Fahrradmarken, die ich kenne, heißen Kettler, Union, Gazelle, Raleigh, Motobécane und Peugeot. Und »Crossroad« erinnert mich höchstens an einen seltsamen Film aus den Achtzigern, in dem Karate Kid gegen Steve Vai um die Wette (und um sein Seelenheil) Gitarre spielt. So weit, so gut, aber am Ende gewinnt Karate Kid. Da wird es dann ein bisschen unrealistisch.

Genauso wenig kann ich mit dem anfangen, was Norbert gerade mit Stolz in der Stimme verkündet. Es klingt wie »Neuer Eleres Weha-Erfünffuffzig, Vittoriarubinopro, Efesäiparts, neues zweiundfünfziger Kabeh, Shimanohundertfünfzwomalneunfach.«

Ha! Shimano kenne ich schon mal. Ich setze ein wissendes Gesicht auf und kann gerade noch widerstehen, mit der Fußspitze gegen die unfassbar schmalen Reifenflanken zu treten, wie man es aus irgendwelchen Gründen bei der Inaugenscheinnahme von Gebrauchtfahrzeugen so macht.

»Topgepflegt!«, sagt Norbert jetzt, aber das sehe ich auch so. Hätte ich von ihm auch nicht anders erwartet. »Kannste haben.«

Ich bin ein bisschen überrumpelt und sage deswegen nichts. Norbert interpretiert das wohl als Verhandlungsgeschick und legt nach: »Den alten Eleres mit den zweiunddreißiger Crossschlappen und das kleine Kabeh kriegst Du natürlich auch.« Natürlich.

Etwas in mir sagt unhörbar: »Wie viel auch immer er haben will, du sagst nein!«, aber etwas anderes in mir öffnet meine Lippen und fragt hörbar: »Wie viel?« Damit ist mein Schicksal besiegelt. Auf dem Weg zurück in die Wohnung überlege ich, wie ich K. erklären werde, dass ich gerade eben 400 Euro ausgegeben habe, die wir nicht besitzen.

Der heiße Atem der Fahrradnazis

Oldenburg, Dobbenviertel, 2. August 2008

Ich stehe auf einem überfüllten Balkon. Es ist windig und hat gerade noch geregnet, doch ich schwitze. Vor mir stehen drei Grills, auf denen unglaubliche Mengen an Holzfällersteaks und Würstchen vor sich hin schmurgeln. Hinter mir stehen meine radsportbegeisterten Freunde und diskutieren den letzten Ortsschildsprint. Ich gebe mich keinen Moment der Hoffnung hin, dass die Jungs in absehbarer Zeit über irgendetwas anderes als das geliebte Rennradeln sprechen werden. Immerhin bezeichnen sie sich inzwischen selbst gelegentlich grimmig als Fahrradnazis.

Ich ahne, dass sie jetzt bald auf ein wichtiges Ereignis zu sprechen kommen werden: Den jährlichen Saisonhöhepunkt. Den Münsterland-Giro, der in acht Wochen wieder stattfinden wird. Das Rennen, für das ich meine Teilnahme zugesagt, aber noch nicht einen Trainingskilometer zurückgelegt habe. Um genau zu sein: Ich habe außer einem Rennrad nichts, was dazu nötig wäre. Keinen Helm, keine Schuhe, kein schickes Trikot, keine Brille, keine Handschuhe, keine Ahnung.

Was ich habe, ist ein verhängnisvoller Hang zu gutem Essen, gutem Wein, süßem Nichtstun, Bier und Zigaretten. Dem habe ich eine miese Kondition und ungefähr 110 Kilogramm Körpermasse zu verdanken.

Hinter mir entsteht eine kurze Gesprächspause. Offenbar ist die Manöverkritik zur letzten Trainingseinheit abgeschlossen. Jetzt bin ich fällig.

»Und, wie weit bist Du?«, fragt Tom über meine Schulter.

»Die Würstchen müssten fast fertig sein«, verstehe ich ihn absichtlich falsch und überlege fieberhaft, wie groß meine Chancen sind, mit einer beherzten Hockwende Grill und Balkongeländer zu überwinden, ein Stockwerk tiefer zu landen, ohne mir die Beine zu brechen, und mich dann in die Büsche zu schlagen. Glücklicherweise fällt mir etwas noch Schlaueres ein.

»Essen ist fertig!«, rufe ich, und in Sekundenbruchteilen sind wir von hungrigen Partygästen eingekeilt, was eine Fortsetzung des Gesprächs unmöglich macht und mir Gelegenheit gibt, einen Plan für den Rest des Abends auszutüfteln: Ich gehe einem Gespräch über meine Trainingsfortschritte so lange aus dem Weg, bis ich mir genug Mut angetrunken habe, um einen Rückzieher zu machen. Raffiniert, oder?

Kaum haben alle gegessen, stehe ich auch schon wieder inmitten der Radsportler auf dem Balkon, der sich zusehends füllt, weil die Sonne herausgekommen ist. Ich habe, wie fast alle, ein Pils auf der Faust. Wer mag, bedient sich am Büffelgraswodka, der die Runde macht. Ich mag, ich habe ja einen Plan. Noch stehen zwei unserer nicht radelnden Freunde dabei, als ich beschließe, den nächsten Vorstoß abzuschmettern, indem ich in die Offensive gehe.

»Sachtma, rasiert Ihr Euch eigentlich die Beine?«, versuche ich das Gespräch in eine Richtung weg von meiner Giro-Teilnahme zu lenken. Ein voller Erfolg! Sofort reden alle durcheinander, und ich erfahre haarklein (!), wer sich die Beine und wer noch ganz andere Stellen rasiert, und dass auch gestandene Mannsbilder im Besitz einer Bikinizone sind. Ich bin baff. Darauf einen Wodka. Nein, besser zwei.

Die Freude über meine gelungene Finte erfährt allerdings einen kleinen Dämpfer, als mir auffällt, dass einer der Nichtradler sich eine Spur zu eilig von uns wegbewegt und zu einem Grüppchen weiblicher Partygäste gesellt hat. Was er dort erzählt, kann ich nicht hören, aber Blicke können ja auch vielsagend sein. Vor allem solche mit gerümpfter Nase und gerunzelter Stirn. Ich schicke ein schiefes Grinsen zurück, das sagen soll: »Eigentlich kenne ich die Jungs gar nicht!« Die Frauen antworten mit hochgezogenen Augenbrauen: »Ja nee, ist klar«, und wenden sich angewidert erfreulicheren Themen zu, während die Fahrradnazis unbeirrt die nächste Strophe im Hohelied von den Freuden der Körperenthaarung anstimmen. Ich versuche mit mäßigem Erfolg, meine roten Ohren vermittels neuen Biers und Wodkas abzukühlen.

Ein paar Stunden und Erfrischungsgetränke später sitze ich auf dem Sofa, eingekeilt zwischen Thomas und Ingo.

»Ich mache morgen die Giro-Anmeldung«, sagt Thomas. »Du fährst ja mit, oder?«

»Natürlich!« War ich das? Ich fürchte, ja.

»Na dann Prost!«

Wir stoßen an.

Es ist doch immer gut, wenn man einen Plan hat.

EdHot geht ins Netz

Nottuln, 8. August 2008

Okay, mir geht schon ein bisschen die Düse, aber wirklich bereut habe ich meine Zusage noch nicht. Allerdings drängt die Zeit, und ich habe für die nötigen Anschaffungen kein Geld übrig. Dankenswerterweise erklärt sich meine Mutter bereit, mir zu helfen. So habe ich in den vergangenen Tagen mehrere hundert Euro von ihrem Geld für Radsportbedarf ausgegeben und mit dem Training begonnen. Allerdings habe ich schnell gemerkt, dass ich Unterstützung bei der Trainingsgestaltung brauche. Zwar bin ich vor Jahren schon mal regelmäßig gelaufen, aber Radfahren ist doch ein bisschen was anderes, musste ich feststellen. Weil ich weder Zeit noch Lust habe, mich einem Verein anzuschließen, will ich mein Heil im Internet suchen.

Und da in meinem kleinen Weinladen gerade nicht viel los ist, habe ich Gelegenheit, die einschlägigen Internetforen zu durchforsten in der Hoffnung, eins zu finden, in dem ein übergewichtiger, untrainierter Genussmensch, der sich aus Gründen, die er selbst nicht so ganz versteht, zu einem Radrennen angemeldet hat, nicht sofort ausgelacht oder beschimpft wird. Doch Radsportler scheinen noch sonderbarer zu sein, als ich befürchtet habe. Ich meine: Hallo? Was soll man schließlich von Leuten halten, die sich freiwillig in zu enge, zu bunte Klamotten zwängen, um in orthopädisch bedenklicher Körperhaltung ihre Zeit auf der Straße zu verbringen? Jedenfalls wird mir klar, dass in diesen Kreisen Dinge als Provokation empfunden werden, die im wahren Leben ganz normal wären. Und so gut kenne ich mich dann doch: Auf lange Sicht könnte ich es sowieso nicht lassen, also fange ich direkt mit dem Provozieren an.

18.08.2008 14:04

EdHot

Trainingstagebuch: Dicker Mann auf dünnen Reifen

Moin,

ich stelle mich am besten einfach mal vor. Erst mal meine technischen Daten:

Bj. 1969

192 cm

~ 108 kg

< 250 km Rennrad-Erfahrung

Raucher

Trinker

Zuseltensporttreiber (wenn, dann Joggen)

fauler Sack

Mein gebraucht gekauftes, bisher nur für die 10 km zur Arbeit und zurück genutztes, seit einem halben Jahr auf seinen sportlichen Einsatz wartendes Fahrrad ist ein ca. 2 Jahre altes, sehr gut gepflegtes 2danger Crossroad Comp (Alu, 60 cm RH) mit Shimano 105 Komponenten (Schaltung, Bremsen, LRS). Das wiegt zwar ca. eine Tonne, aber in Anbetracht der Tatsachen, dass ich nicht gerade leicht bin, auch mal abseits der Hauptstraßen unterwegs sein will und gerade erst mit dem Radsport anfange, eine ganz okaye, weil stabile Wahl, glaube ich.

Sonst bin ich meistens mit meinem Trekkingrad unterwegs, mit Tochter im Kindersitz hinten drauf.

Am letzten Wochenende haben meine Kumpels und ich beschlossen, mich für den Münsterland-Giro am 3.10. fitzumachen. Vor ein paar Tagen hat Rose meine Fahrradklamotten geliefert. Alles passt, und wir haben vor, mein Equipment auf einer kleinen, landschaftlich reizvollen, mit unzähligen Hors-Catégorie-Bergwertungen gespickten 40km-Tour einzuweihen. Da die Gefahr besteht, dass ich schon nach der ersten mörderischen Steigung, dem Zippenberg (200m Anstieg, 10 Höhenmeter!), aus dem letzten Loch pfeife (wenn überhaupt noch), bin ich natürlich froh, mehrere erfahrene Edelhelfer dabeizuhaben, die mich entweder mitschleppen, Erste Hilfe leisten oder den Notarzt rufen können.

Um mich noch ein bisschen mehr unter Druck zu setzen und vielleicht den einen oder anderen Tipp abzustauben, habe ich mir überlegt, Euch per Trainingstagebuch auf dem Laufenden zu halten. Hier also mal die letzten Tage:

Sa., 2.8. – 108,0 kg

Beim Grillen den Oldenburger Fahrradnazis zugesagt, beim Münsterland-Giro mitzumachen. Noch 2 Monate Zeit! Sofort Muffensausen.

Unmengen Bier, Wodka u. Zigaretten.

So., 3.8.

Bereue wider Erwarten meine Zusage nicht. Leichte Erkältung. Groben Ernährungs- u. Trainingsplan gemacht. Ab sofort: 3 kleinere Mahlzeiten statt nur Abendessen, Obst ad libitum, Kaffeekonsum runterfahren, so viel Wasser und Schorle wie reingeht. 4 Trainingstage/Woche, zuerst nur GA1+2 (ca. 75:25 %).

0 Zigaretten, 0,5 l Rotwein.

Mo., 4.8.

Tagsüber ausgesucht, abends bestellt: Helm (weiß, Übergröße wg. Dickschädel), Trägerhose, Trikot, Handschuhe, Socken, Schuhe (knallrot), Brille – alles Sonderangebote, Auslaufmodelle, Restposten etc. Gesamtkosten unter 200 EUR. 20 Zigaretten, 0,3 l Rotwein.

Di., 5.8.

Morgens bei Rose angerufen u. gefragt, ob alles lieferbar ist. Antwort positiv. Nachmittags gleich noch ein Kontrollanruf: Paket schon unterwegs.

Immer noch leicht erkältet. Strecke für Wochenendtour ausbaldowert und Fahrradnazis per E-Mail eingeladen.

25 Zigaretten, 0,75 l Rotwein.

Mi., 6.8.

Paket ist angekommen. Vormittags 3-Weg-Cleats gekauft. Nach Feierabend neue Klamotten getestet. Sehe aus wie Michelinmännchen, das als Rose-Werksfahrer verpflichtet wurde. Egal, wer leiden will, muss nicht schön sein. Keine Probleme bei erster Fahrt mit Klickpedalen, aber mit der Kondition. Selbst schuld – hungrig und kalt 15%-Steigung gefahren, Bergtechnik mangelhaft bis nicht vorhanden. Ergebnis: Gesichtsfarbe passend zu den schicken neuen Schuhen, Gehörverlust wg. Blutrauschen in den Ohren und eingeschränkte Sicht wg. bunter Punkte, die vor meinen Augen tanzen. Brauche ca. 5 km, bis ich wieder daran glaube, das zu überleben.

Antwort der Fahrradnazis: Sind Samstag zu viert, können aber erst ab 18 Uhr fahren.

25 Zigaretten, 0,5 l Rotwein.

Do., 7.8. – Ruhepuls 62 bpm, 107,0 kg

K. behauptet, die Wampe wäre straffer geworden. Muss Liebe sein! Erkältung vorbei. Abends erste GA1-Fahrt über flache 27 km: 1h10m, 23er Schnitt, Puls 133. Muss mich noch gewöhnen, Schmerzen v.a. in Händen, Rücken und Gesäß. Aber sonst: Überraschend gut, ziemlich euphorisiert! Wie konnte ich nur vergessen, wie gut man sich durch ein bisschen Sport fühlen kann? Kann schlecht einschlafen, fahre im Bett immer weiter.

20 Zig., 0,4 l Weiß-, 0,3 l Rotwein.

Kapitel 2

WARMWERDEN

August 2008

Trolle, Trinker, Terroristen

Darup, 8. August 2008

Nachdem ich meine kleine Vorstellung an mehreren Stellen im Forum von rennrad-news.de veröffentlicht habe, kümmere ich mich ums Geschäft. Erst nach Feierabend werfe ich wieder einen Blick in mein neues Trainingstagebuch, allerdings ohne zu erwarten, dass die Radsportgemeinde davon großartig Notiz genommen haben könnte.

Ich werde rasch eines Besseren belehrt. Es sind keine sieben Minuten vergangen, bis ich die erste Antwort bekommen habe: User anazi will wissen, ob es Fotos von mir gibt und bezeichnet mich – vermutlich für den Fall, dass es keine gibt – vorsorglich schon mal als Troll. Später soll ich herausfinden, dass anazi selbst so etwas wie ein Meta-Troll ist, nämlich einer, der nichts anderes tut, als andere des Trollseins zu bezichtigen.

Außerdem melden sich, zum Teil auch per E-Mail oder persönlicher, nichtöffentlicher Nachricht, eine Menge »ernsthafter« Sportler zu Wort, deren Reaktionen von »Blödsinn, aber nicht zu verhindern«, verbunden mit ein paar wohlgemeinten Tipps zur Vorbereitung, bis zu unverhohlen feindseligen Kommentaren reichen.

Vor allem ein User tut sich dadurch hervor, dass er offen zugibt, gerne »Neulinge anzupupen« und das auch gleich in die Tat umsetzt: Leute wie ich, die mit ihren Saufkumpanen beschlössen, ohne jedes Training ein Rennen zu fahren, gefährdeten sich und andere, indem sie ständig schwerste Massenstürze verursachten, und überhaupt packe ihn beim Lesen das nackte Grauen.

Das packt mich allerdings genauso, als er seine Renntaktik beschreibt: Er wolle sich ganz vorne in den ersten Startblock stellen und gleich lossprinten, um vor den lästigen Anfängern zu fliehen, die unfähig sind, in ihre Klickpedale zu kommen, sich dann einer schnellen Gruppe anschließen, dort aber nicht führen, denn schließlich gebe es genug Deppen, die mal vorne fahren wollen. Auf der Zielgeraden brauche er nämlich noch Reserven, um zurückzurempeln oder auch zuzuschlagen, wenn es gelte, die Position im Feld zu verteidigen oder zu verbessern. Der Sprint gehöre ihm, und wenn es mit Hilfe der zum Schlagstock umfunktionierten Luftpumpe sein sollte!

Von anderen bekomme ich noch zu lesen, ich solle mich ja nicht für die Zukunft des deutschen Radsports halten und sei eine Gefahrenquelle für alle. Der Münsterland-Giro sei schließlich keine muckelige Pättkestour und beim Wort »Jedermannrennen« läge die Betonung auf »Rennen«.

Jungejunge, habe ich da ein paar völlig durchgeknallte Straßenkrieger aus der Deckung gelockt, oder sind alle Rennradler so? Ich versuche mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass »Sportler« dieses Kalibers wohl kaum in den Regionen des Pelotons unterwegs sind, in denen ich mich aufhalten werde.

Zu meiner Erleichterung verzieht sich der Pulverdampf bald, und friedliebendere Charaktere teilen mir ihre Meinung mit. Allerdings beschränken sich die Trainingstipps vor allem darauf, dass ich weniger – oder besser noch: gar nicht mehr – trinken und rauchen soll. Ein User weiß Erschütterndes zu berichten: Als kleines Kind habe er miterlebt, wie ein naher Verwandter am Alkohol zugrundegegangen sei, weswegen er selbst seit Kurzem nichts mehr trinke. Offenbar eine im Lauf vieler Jahre gründlichst gereifte Entscheidung.

Einige machen sich Gedanken über die ganzen Kalorien, die es wieder abzutrainieren gelte, und eine Ärztin teilt mir besorgt mit, dass ich mit nur einer allabendlich genossenen Flasche Bier schon Alkoholiker sei.

(Das erinnert mich daran, dass mein Vater mir dasselbe vor Jahrzehnten auch schon einmal erzählt hat. Wenn ich mich recht entsinne, schaute er, während er so sprach, versonnen auf sein Weinglas.)

Jedenfalls sei mein zügelloser Lebenswandel der reinste Raubbau an meinem Körper und vernünftiges Training ein Ding der Unmöglichkeit.

Das macht mich schon ein bisschen nachdenklich. Eigentlich hatte ich erwartet, für das Rauchen ausgeschimpft zu werden, aber das spielt gegenüber dem Thema Alkohol nur eine untergeordnete Rolle. Ähnliches gilt leider auch für konkrete Trainingstipps, wo mir doch vor allem die Berge Sorgen machen. Und dabei sind die Erhebungen rund um mich herum in Radsportleraugen nicht mal richtige Berge, sondern mit knapp 200 Metern Höhe allenfalls Hügel, oder, wie die alten Häsinnen und Hasen sagen: Teerblasen. Andererseits weisen meine beiden »Hausberge« Anstiege von bis zu 15 Prozent auf, und momentan muss ich da noch 108 Kilo heraufwuchten. Aus den Kommentaren lese ich bisher nur heraus, dass man das Bergauffahren am besten trainiert, in dem man oft und viel bergauffährt. Naja, es war ja auch kaum zu erwarten, dass es mit Bergabfahren zum Einstieg getan sein würde. Trotzdem: Ein paar Hinweise technischer Natur, zum Beispiel zu Übersetzung oder Trittfrequenz, hätte ich mir schon gewünscht.

Ich beschließe, ab morgen weniger zu trinken. Auf diesen guten Vorsatz stoße ich erst mal mit einem hervorragenden Kaiserstuhler Riesling und mir selbst an und widme mich dann bei einer Zigarette den jetzt immer häufiger eintreffenden Kommentaren derjenigen, die sich sowohl zu meinem Vorhaben als auch zu meiner Offenheit wohlwollend äußern. Viele scheinen erleichtert zu sein, dass ich die Sache ein bisschen lockerer angehe, und drücken mir die virtuellen Daumen, dass ich das mit dem Giro in den verbleibenden acht Wochen schaffe. Und am Ende meines ersten Tages als öffentlicher Nachwuchsradler erhalte ich eine Nachricht von Rob aus Münster: Er lädt mich ein, demnächst mit ihm und seinen »Leetzenrittern« ein paar Runden in den Baumbergen zu drehen. Das freut mich sehr, aber ich muss das Angebot vorerst ablehnen, weil ich an den vorgeschlagenen Terminen keine Zeit habe. Das ist nicht mal gelogen, kommt mir als Ausrede aber auch nicht ganz ungelegen, denn wer weiß schon, wie so ein Leetzenritter tickt? Nachher bekomme ich noch als Strafe dafür, dass am Berg alle auf mich warten mussten, beim ersten Ortsschildsprint einen mit der Luftpumpe verplättet. Bevor ich mich auf die erste Fahrt mit Fremden einlasse, möchte ich doch lieber noch ein paar Kilometer alleine oder mit meinen Freunden radeln. Und dazu ist ja immerhin schon übermorgen, nein, morgen Gelegenheit.

Na, so was – schon nach Mitternacht! Kurz vor dem Zubettgehen befällt mich ein seltsam leeres Gefühl, das ich zunächst nicht einordnen kann. Kurz darauf finde ich mich statt im Schlafzimmer im Gartenhäuschen wieder, wo ich bei einem letzten Glas Wein in stiller, leicht sehnsüchtiger Kontemplation mein Rad betrachte. Nachdem ich mich mühsam losgerissen habe, setze ich mich noch ein letztes Mal für heute an den Computer.

Fr, 8.8.

Verdammte Hacke, ich will fahren! Ruhetag sucks. Aber so was von! Ich glaub, ich werd Fahradnazi... Hat mich schon genervt, dass ich wg. Straßennnässe mit dem Trekker zur Arbeit fahren musste. Memo an mich: Schutzbleche für Renner und Regenjacke kaufen. Freue mich auf morgen u. die Nazis. Dr. Nob kommt auch mit. 24 Zigaretten, 0,5 l Weißwein.

Hügel üben

Baumberge, 9. -13. August 2008

Ingo, Norbert und Thomas sind am späten Samstagnachmittag aus Oldenburg angereist, wir haben die Räder auf der Terrasse noch einmal kurz durchgecheckt, die Reifen aufgepumpt, uns in Schale geschmissen und stehen jetzt in der strahlenden Abendsonne auf dem Wendehammer vor dem Haus. Ingo kaut noch, weil er den ganzen Tag nichts gegessen und das gerade erst nachgeholt hat, beziehungsweise im Moment noch nachholt. Um uns herum wuseln seine und meine Kinder, während unsere Frauen in respektvoller Entfernung stehen und uns unerschrockene Sportsmänner fotografieren. Vermutlich keine schlechte Idee, das jetzt zu tun und nicht direkt nach unserer Rückkehr, denn die Strecke, die ich ausgeklügelt habe, führt über ein paar dieser »Teerblasen«, die, als ich sie mit dem Auto abgefahren habe, halb so wild wirkten, mir jetzt aber den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Wäre es eventuell klug gewesen, die Route auch schon mal mit dem Fahrrad probezufahren? Wahrscheinlich ja, aber der Gedanke ist jetzt auch müßig, denn es ist schon halb sieben, und wir rollen los. Meine erste Gruppenfahrt auf dem Rennrad hat begonnen.

Die ersten Minuten verbringe ich damit, die Gänge zu sortieren, nervös auf dem Sattel herumzurutschen, Thomas, der vorn fährt, die Fahrtrichtung zuzurufen und Norberts Anweisungen umzusetzen, für dessen Geschmack ich nicht dicht genug auffahre.

»Komma ran hier!«, ruft er, mehr zu mir nach hinten als nach vorn schauend, wo sein vorderes beinahe Ingos hinteres Rad zu berühren scheint, und: »Da darf gerade mal ein Blatt Papier dazwischenpassen!«

Ich verkneife mir die Frage, ob quer oder längs. Einerseits befürchte ich, Norbert brüllt dann: »Flach, du Dödel!«, andererseits habe ich auch kaum die Luft, etwas zu sagen. Geschweige denn gegen den Fahrtwind zu rufen, denn die Jungs legen ein Tempo vor, dass mir angst und bange wird. Ich schimpfe mich schon bald einen dummen Hund, dass ich die Zigaretten am Vormittag nicht weggelassen habe, wie ich es mir eigentlich vorgenommen hatte.

Ich war naiv genug zu glauben, wir würden halbwegs gemütlich – womöglich plaudernd – in Zweierreihe fahren, so wie anscheinend all die anderen Rennradler, über die ich mich als Autofahrer bisher immer geärgert habe, muss jedoch jetzt erkennen, dass ich Teil einer Zeitfahrmannschaft bin: Alle zwei Kilometer geht der Führende links raus, lässt sich nach hinten fallen, und der Nächste ist dran. Nach sechs Kilometern bin ich das. Wir haben gerade den Ortsausgang von Nottuln passiert, als mir die Kette abspringt. Zum Glück, denn vorher waren wir knappe 35 Sachen gefahren, und ich hatte Sorge, das Tempo nicht halten zu können, aber nach einer kurzen Reparaturpause bin ich wieder einigermaßen bei Atem und kann unauffällig mit 30 Stundenkilometern meine Führungsarbeit leisten. Dann kommen auch schon die ersten Hügel, und ich lerne, dass im Anstieg jeder sich selbst der Nächste ist und oben auf den Langsamsten – also mich – gewartet wird.

So kann ich ganz gut mit den anderen mithalten und muss mir nicht die Blöße geben, hinten zu bleiben oder gar »Kürzer!« zu rufen. Glaube ich. Noch.

Nach einer guten Stunde Fahrtzeit absolvieren wir Kilometer Nummer 30 von 45, und bis gerade eben gab es zwei Dinge, die mir immer wieder gesagt wurden, die man ständig hört, die aber auch wirklich jeder weiß, die ich dennoch nie wirklich glauben mochte.

Erstens: Im Radsport ist Windschatten ziemlich wichtig.

Zweitens: Jeder Radsportler stellt sich relativ oft die Frage nach dem Warum.

In diesem Moment – ich quäle mich gerade auf den Coesfelder Berg hinauf – möchte ich diese Aussagen präzisieren.