Die 17. Informantin - James Patterson - E-Book
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Die 17. Informantin E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Eine Reihe erschossene Obdachlose, der Verdacht von Korruption in den Reihen der Polizei, ein explosiver Gerichtsfall - ein neuer Fall für die Kämpferinnen des »Women's Murder Club!«

Als eine Obdachlose sie vor dem Polizeirevier um Hilfe bittet, wird Detective Lindsay Boxer sofort hellhörig: Die Frau beklagt die Untätigkeit der Polizei in Bezug auf eine Reihe von unaufgeklärten Morden an Stadtstreichern. Obwohl die Morde nicht in Boxers Bezirk und somit in ihre Zuständigkeit fallen, beginnt sie nachzuforschen und stößt dabei auf grobe Versäumnisse. Wird Lindsay sich mit ihren Ermittlungen in den eigenen Reihen womöglich selbst in die Schusslinie begeben? Während Lindsay Boxer für ihren neuen Fall kämpft, bekommt Staatsanwältin Yuki Castellano es mit dem herausforderndsten Fall ihrer Karriere zu tun: Das Opfer Marc Christopher beschuldigt seine Vorgesetzte, ihn gefesselt und mit vorgehaltener Waffe zum Sex gezwungen zu haben ...

Sie können mit vereinten Kräften jeden Fall lösen: Detective Lindsay Boxer, Staatsanwältin Yuki Castellano, Gerichtsmedizinerin Claire Washburn und Starreporterin Cindy Thomas – der »Women’s Murder Club«! Jedes Buch erzählt einen hochspannenden Fall und kann eigenständig gelesen werden.

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Seitenzahl: 350

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Buch

Als eine Obdachlose sie vor dem Eingang der Polizeiwache um Hilfe bittet, ist Detective Lindsay Boxer sofort hellhörig. Die Frau beklagt die Untätigkeit der Polizei in Bezug auf eine Reihe von unaufgeklärten Morden an Stadtstreichern. Obwohl die Morde nicht in Boxers Bezirk begangen wurden, beschließt sie nachzuforschen und stößt auf grobe Versäumnisse. Während Lindsay Boxer dafür kämpft, dass die Ermittlungen Fahrt aufnehmen, bekommt Staatsanwältin Yuki Castellano es mit dem herausforderndsten Fall ihrer Karriere zu tun: Das Opfer Marc Christopher beschuldigt seine Vorgesetzte, ihn gefesselt und mit vorgehaltener Waffe zum Sex gezwungen zu haben …

Autor

James Patterson wurde 1947 geboren. Seine Thriller um den Profiler Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Inzwischen erreicht auch jeder Roman seiner packenden Thrillerserie um den »Women’s Murder Club« regelmäßig die Spitzenplätze der Bestsellerlisten. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N.Y..

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James Patterson

mit Maxine Paetro

Die 17. Informantin

Thriller

Deutsch von Leo Strohm

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »17th Suspect« bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York.Die Figuren und Ereignisse in diesem Buch sind fiktional. Ähnlichkeiten zu realen Personen, lebend oder verstorben, wären rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2018 by James Patterson

Excerpt from TK copyright © 2018 by James Patterson

This edition is arranged with Kaplan/DeFiore Rights through Paul und Peter Fritz AG.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Limes in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München.

Redaktion: Gerhard Seidl, text in form

Covergestaltung: © www.buerosued.de

Covermotive: © Anne Laure Jacquart/Arcangel Images; www.buerosued.de

JA · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-26677-6V002www.limes-verlag.de

Für die treuen Freundinnen und Freunde des Clubs der Ermittlerinnen

ERSTER TEIL

1 Es war kurz nach vier Uhr morgens. Kein Stern war am Himmel zu sehen, als ein Mann den Broadway überquerte und in südlicher Richtung die Front Street entlangschlenderte. Er trug einen abgenutzten Tweedmantel, dazu eine schwarze Wollmütze und summte eine leise Melodie vor sich hin, während er sich dem Sydney G. Walton Square näherte.

Der hübsche kleine Park nahm die Fläche eines Häuserblocks ein und wurde von einem niedrigen Eisenzaun umgeben. An einer Ecke ragte ein alter, aus Backsteinen gemauerter Torbogen empor – das letzte bauliche Zeugnis des ehemaligen Marktviertels. Zahlreiche Pfade durchzogen den Park, und Sitzbänke luden zum Verweilen ein. Die Blumenbeete waren jetzt, im Spätherbst, bereits zurückgeschnitten worden.

Tagsüber wurde der Walton Square von den Büroangestellten aus dem Finanzdistrikt bevölkert, die rund um den Springbrunnen ihren Mittagsimbiss verzehrten. Nachts jedoch waren die Straßen menschenleer, und der Park gehörte den Obdachlosen, die die Mülleimer durchwühlten, auf den Bänken schliefen und rund um das Backsteintor beisammenstanden.

Der Mann mit dem weiten Tweedmantel blieb vor dem Eisenzaun stehen und sah sich um, beobachtete den Park und die Umgebung. Immer noch summte er leise vor sich hin. Die rechte Hand steckte in seiner Manteltasche und umklammerte eine Neun-Millimeter-Pistole.

Der Mann namens Michael suchte eine ganz bestimmte Person. Eine ganze Weile sah er nur zu, wie die Penner durch den Park und über die umgebenden Bürgersteige schlurften. Die Frau, nach der er suchte, war zwar nirgendwo zu entdecken, aber er würde diese Nacht nicht ungenutzt verstreichen lassen.

Da bemerkte er einen in zerfetzte, schmutzige Lumpen gehüllten Mann, der den Park in östliche Richtung verließ und den Embarcadero mit den Bootsanlegern ansteuerte. Dort hatten die Mülleimer exotischere Dinge zu bieten als irgendwelche Sandwiches, die die Büroangestellten weggeworfen hatten.

Der zerlumpte Mann redete mit sich selbst, kratzte sich den Bart und schien ununterbrochen zu zählen. Jedenfalls berührte er mit dem rechten Daumen abwechselnd die Finger seiner rechten Hand und wiederholte dieses Ritual immer wieder, ganz in Gedanken.

Den Mann im Tweedmantel, der gegen den Eisenzaun gelehnt dastand, bemerkte er nicht.

Michael sprach ihn an: »He, Kumpel. Hast du was zu rauchen?«

Der Zerlumpte wandte sich dem Mann mit der Pistole in der Hand zu. Er kapierte schnell, riss die Hände in die Höhe und fing an zu erklären.

»Nein, Mann, ich hab das Geld nicht geklaut. Das war sie. Ich war bloß zufällig in der …«

Der Mann im Mantel hob die Pistole und drückte ab. Die Kugel traf den Penner mitten in die Brust. Von den benachbarten Gebäuden flatterten ein paar Tauben in die Luft.

Der Penner schlug die Hände vor die Brust und öffnete in stummem Entsetzen den Mund. Aber er stand immer noch aufrecht da, starrte Michael immer noch an.

Dieser drückte erneut ab. Die Beine des Zerlumpten gaben nach, und er sank lautlos zu Boden.

Michael sagte zu dem Toten: »Du nutzloses Stück Scheiße, du hast nichts anderes verdient. Du müsstest dich eigentlich bei mir bedanken.«

Er blickte sich um und duckte sich in einen schattigen Bereich des Parks. Dann legte er die Pistole auf die Erde, zog seine Handschuhe aus, steckte sie in die Taschen und streifte den alten Mantel ab.

Darunter war er ganz in Schwarz gekleidet – Jeans, Rollkragenpullover und gefütterte Jacke. Er steckte die Pistole in seine Jackentasche, schnappte sich den Mantel und stopfte ihn in einen Mülleimer.

Irgendjemand würde ihn finden. Irgendjemand würde ihn anziehen. Und dann viel Glück damit.

Michael huschte hinter den Bäumen hervor und setzte sich auf eine Bank. Da ertönten schon die ersten Schreie. Das ganze schäbige Gesindel strömte wie die Ameisen aus dem Park und versammelte sich um die Leiche.

Niemand bemerkte ihn. Keine jaulenden Sirenen ertönten, kein »Alter, hast du gesehen, was da passiert ist?«.

Nichts.

Nachdem etliche Minuten vergangen waren, erhob sich der Killer, steckte die Hände in die Jackentaschen, verließ den Park und ging nach Hause.

Es würde noch andere Nächte geben.

Und irgendwann würde er Glück haben, das stand fest.

2 Am Montagmorgen saß die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Yuki Castellano im Konferenzzimmer der Bezirksstaatsanwaltschaft von San Francisco. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des Mahagonitisches, saß ein gut aussehender, jungenhaft wirkender Mann. Yuki befasste sich gerade mit einer Klageschrift wegen sexuellen Missbrauchs und war davon überzeugt, dass dieser Fall, sollte es tatsächlich zum Prozess kommen, enorme Auswirkungen auf die Strafverfolgung von Vergewaltigungen im ganzen Land haben würde. Eine Führungskraft von Ad Shop – einer der führenden Werbeagenturen von San Francisco – wurde beschuldigt, jemanden aus dem Kreis ihrer Untergebenen mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt zu haben, und Yuki war fest entschlossen, diesen Fall vor Gericht zu bringen. Vor einiger Zeit hatte sie ihren Job bei der Staatsanwaltschaft gekündigt, um für den gemeinnützigen Prozesshilfeverein zu arbeiten. Doch nach etwa einem Jahr hatte der Bezirksstaatsanwalt Leonard »Red Dog« Parisi sie gebeten, wieder in seine Behörde zurückzukehren, um in einem aufsehenerregenden Fall als seine Beisitzerin zu fungieren. Leider hatten sie sich dabei eine demütigende Niederlage eingefangen. Darum wünschte Yuki sich nichts sehnlicher als einen Sieg, für sich selbst, für Parisi und für die ganze Stadt.

»Marc, kann ich Ihnen etwas bringen lassen? Wasser vielleicht? Oder einen Kaffee?«, fragte sie ihr Gegenüber.

»Nein, danke.«

Marc Christopher war Produzent für Werbespots bei Ad Shop. Und außerdem … war er in diesem Fall das Opfer. Er beschuldigte Briana Hill, Leiterin der Abteilung für Fernsehproduktionen und seine unmittelbare Vorgesetzte, der sexuellen Belästigung. Die Abteilung für Sexualdelikte in der Wache des südlichen Bezirks des San Francisco Police Department hatte auf Christophers Anzeige hin ermittelt und seine Anschuldigungen für glaubwürdig genug erachtet, um die Staatsanwaltschaft einzuschalten.

Nachdem Yuki sich die Indizien angesehen und mit Christopher gesprochen hatte, hatte sie Parisi gebeten, ihr den Fall zu übertragen.

Parisi sagte: »Yuki, das Ganze könnte auch ein übler Rohrkrepierer werden. Sie müssen die Geschworenen der Grand Jury davon überzeugen, dass dieses Bürschchen mit einer geladenen Waffe am Schädel einen hochgekriegt hat. Dass diese Frau tatsächlich in der Lage war, ihn zu vergewaltigen. Wollen Sie sich das wirklich antun? Ganz egal, ob Sie gewinnen oder verlieren, der Fall wird ewig an Ihnen kleben bleiben.«

»Len, ich bin mir absolut sicher, dass er vergewaltigt worden ist, und ich kann es beweisen. Wenn die Anklage zugelassen wird, dann will ich das auch machen.«

»Also gut«, erwiderte Len skeptisch. »Hängen Sie sich rein.«

Nach Yukis fester Überzeugung war nicht einvernehmlicher Sex immer als Vergewaltigung zu betrachten, und zwar unabhängig von der Geschlechterverteilung. Dass eine Frau einen Mann vergewaltigte, kam nur selten vor, es sei denn, die Frau war Lehrerin oder in einer anderen Autoritätsstellung und das Opfer ein Kind oder ein Jugendlicher. Aber in diesen Fällen hatte das Verbrechen vor allem mit dem Alter des Opfers zu tun und weniger mit der Brutalität der Frau.

In dem hier vorliegenden Fall lagen die Dinge jedoch etwas anders. Briana Hill und Marc Christopher waren beide Ende zwanzig, und er war ihr Untergebener bei Ad Shop. Aber er hatte sie nicht wegen sexueller Belästigung am Arbeitsplatz angezeigt. Vielmehr behauptete er, dass sie gedroht hatte, ihn zu erschießen, falls er sich nicht zu einem sadistischen sexuellen Akt bereit erklärte.

Hätte sie tatsächlich geschossen? Aus juristischer Sicht spielte das keine Rolle.

Das Entscheidende war, dass Marc Christopher geglaubt hatte, dass sie ihn erschießen würde.

Und Len Parisi hatte natürlich recht: Es würde eine Herausforderung werden, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass dieser selbstbewusste junge Mann sich nicht gegen Hill hätte zur Wehr setzen können, dass er trotz der Bedrohung durch eine geladene Waffe seine Erektion behalten hatte und dass er zum Sex mit einer Frau gezwungen worden war, mit der er bereits längere Zeit eine intime Beziehung geführt hatte.

Aber Yuki würde Christophers Sicht der Dinge schildern: Er hatte »Nein« gesagt, und Hill hatte ihn dennoch zum Sex gezwungen. Dann mussten die Geschworenen entscheiden, ob es genügend Beweise gab, die seine Version stützten. Sobald dieser Fall vor Gericht kam – ganz egal, wie er ausging –, würde Marc als der Mann bekannt sein, der eine Frau der Vergewaltigung bezichtigt hatte. Und falls Briana Hill schuldig gesprochen wurde, würde sie ins Gefängnis wandern – und der Straftatbestand der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz würde ein anderes Gesicht bekommen.

3 Eine Glaswand trennte das Konferenzzimmer von dem Flur, auf dem es vor lauten und neugierigen Kolleginnen und Kollegen nur so wimmelte.

Yuki ignorierte all jene, die dem breitschultrigen, dunkelhaarigen Werbefilmproduzenten, der da ein wenig eingesunken auf seinem Stuhl saß, verstohlene Blicke zuwarfen. Während er ihr schilderte, was sich angeblich zwei Monate zuvor abgespielt hatte, machte er einen eindeutig traumatisierten und sehr verletzlichen Eindruck.

Yuki verließ das Konferenzzimmer, um sich mit einem Kollegen zu besprechen. Als sie wieder an ihren Platz zurückkehrte, hatte Christopher seinen Stuhl umgedreht und starrte durch das Fenster im dritten Stock hinab auf die eintönige Bryant Street.

Yuki sagte: »Am besten gehen wir das Ganze noch einmal durch, einverstanden?«

Er drehte sich wieder zu ihr um. »Mir ist klar, dass ich vor der Grand Jury aussagen muss. Das schaffe ich auch. Aber was, wenn es zum Prozess kommt? Was, wenn Brianas Anwalt mich einen Lügner nennt? Genau davor habe ich Angst.«

Yuki war froh, dass Marc vorbeigekommen war, um genau darüber zu sprechen. Seine Besorgnis war absolut begründet. Briana Hills Verteidiger, James Giftos, sah aus wie ein sanftmütiger Schuhverkäufer, aber das war nichts weiter als eine irreführende Tarnung. In Wirklichkeit war er ein eiskalter Prozessanwalt und bereit, alles zu tun, was notwendig war, um Marc Christophers Glaubwürdigkeit zu erschüttern.

»Was meinen Sie denn, wie Sie reagieren würden?«, wollte Yuki wissen.

»Ich weiß auch nicht. Vielleicht werde ich so wütend, dass ich auf ihn losgehe. Vielleicht kriege ich auch einen Nervenzusammenbruch und sehe aus wie der komplette Versager.«

»Es ist gut, schon frühzeitig darüber nachzudenken«, sagte Yuki, »aber bei der Anhörung vor der Grand Jury wird Giftos gar nicht dabei sein. Wir beantragen dort ja lediglich die Zulassung der Anklage auf Basis der Fakten. Und ich gehe davon aus, dass die Geschworenen Ihnen genauso Glauben schenken werden wie ich. – Wenn die Anklage gegen Briana Hill zugelassen wird«, fuhr Yuki fort, »dann gehen wir vor Gericht. Dort wird sie Ihre Aussage in Zweifel ziehen und ihre eigene Version des Vorfalls präsentieren. James Giftos wird alles tun, was in seiner Macht steht, um Sie als Lügner oder noch Schlimmeres darzustellen.«

»Oh Gott. Wie würde er das denn anstellen?«

»Also gut, dann werden wir mal konkret. Sie und Briana waren ja einmal ein Paar, das heißt, dass Sie nicht unter das Gesetz zum Schutz von Vergewaltigungsopfern fallen. Giftos könnte Sie also sehr detailliert zu Ihrem gemeinsamen Sexleben befragen – wie oft, mit welchen Varianten, weshalb Sie sie in Ihre Wohnung eingeladen haben. Es gibt nichts, was er Sie nicht fragen kann.«

»Großartig«, erwiderte Christopher niedergeschlagen. »Das reinste Kinderspiel.«

»Die Medien werden über den Prozess berichten. Die Öffentlichkeit könnte sich auf Brianas Seite schlagen, und Sie werden unter Umständen beschimpft. Das kann sehr eklig werden, Marc. Und auch wenn wir gewinnen, ist es gut möglich, dass Ihr Leben danach nie wieder dasselbe ist.«

Der junge Mann schlug die Hände vors Gesicht.

»Marc, ich könnte sehr gut verstehen, wenn Sie sich das alles nicht zumuten wollen.«

»Vielen Dank. Aber ich bin bereit. Ich tue alles dafür, dass ich bereit bin!«

»Sie haben meine Telefonnummer. Rufen Sie mich an, jederzeit.«

Yuki begleitete Christopher noch bis zum Fahrstuhl. Sie gaben sich die Hand, und er sagte: »Mir ist noch was eingefallen.«

»Schießen Sie los.«

»Reden Sie mal mit Paul Yates. Er ist Werbetexter bei Ad Shop. Wir sind zwar nur flüchtige Bekannte, aber ich glaube, dass zwischen ihm und Briana mal was gelaufen ist.«

»Im Ernst? Etwas Sexuelles?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Christopher. »Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sie eine Weile zusammen waren. In der Firma hatte man erst den Eindruck, als seien sie befreundet, aber dann, mit einem Mal, nur noch eisige Kälte.«

»In den Akten der Sexualermittler habe ich keine Aussage von ihm gefunden.«

»Nein, ich glaube nicht, dass er mit denen oder sonst irgendjemandem darüber gesprochen hat. Das hätte ich mitbekommen.«

»Paul Yates«, sagte Yuki. »Ich setze mich mit ihm in Verbindung. Bleiben Sie stark, Marc.«

Mit einem unsicheren Lächeln im Gesicht betrat er die Fahrstuhlkabine.

Yuki blieb stehen, bis die Türen sich geschlossen hatten, dann ging sie zurück in ihr Büro. Sie war sich alles andere als sicher, dass Marc durchhalten würde, und das konnte sie ihm nicht verübeln. Sie an seiner Stelle wäre auch verunsichert und ängstlich gewesen. Doch die entscheidenden Fakten in der Anklage gegen Briana Hill waren nicht zu widerlegen: Marc hatte die Vergewaltigung aufgezeichnet, und Briana trug immer eine Waffe bei sich. Diesen Tatsachen würde Marcs Aussage vor den Geschworenen Leben einhauchen.

4 Zwei Tage nach dem Treffen mit Marc Christopher bekam Yuki einen Anruf von James Giftos, Briana Hills Verteidiger.

»Ms. Castellano, hier spricht James Giftos. Meine Mandantin würde gerne mit Ihnen sprechen. Ob Sie vielleicht in dieser Woche noch einen freien Termin hätten?«

»Ach? Worum geht es denn?«

Yukis Laptop war aufgeklappt, und sie fing sofort an, sich Notizen zu machen.

Er sagte: »Ms. Castellano, äh, Yuki … meine Mandantin möchte Ihnen gern ihre eigene Version dieser Geschichte schildern. Sie hofft, dass Sie, nachdem Sie erfahren haben, was wirklich passiert ist, erkennen, dass Mr. Christophers Anschuldigungen jeglicher Grundlage entbehren. Sie ist auch bereit, sich zu entschuldigen, falls es sich um ein Missverständnis gehandelt haben sollte, und hofft, dass Marc anschließend dieses ganze Drama beenden und, genau wie sie selbst, sein Leben wieder weiterführen kann.«

James Giftos wollte also ein Vorgespräch zwischen der Staatsanwaltschaft und seiner Mandantin arrangieren, mit dem Ziel, Yuki davon zu überzeugen, dass die Beweise nicht ausreichend waren und sie die Anklage fallen lassen sollte.

Für ein solches Gespräch galten eindeutig festgelegte Regeln. Briana Hill und ihr Anwalt würden Yuki in ihrem Büro aufsuchen. Hill würde vereidigt werden und sich Yukis Fragen stellen. Ihre Antworten würden von einer amtlichen Protokollführerin aufgezeichnet werden. Das Aussageverweigerungsrecht für den Fall, dass sie sich selbst belasten könnte, war in einem solchen Fall außer Kraft gesetzt. Aber das Wichtigste für Yuki war, dass sie Hills Aussagen, für den Fall, dass die Staatsanwaltschaft tatsächlich Anklage erheben sollte, vor Gericht nicht verwenden durfte.

Falls Hill allerdings – und das war ein ziemlich schwerwiegendes Allerdings – vor Gericht aussagen sollte und ihre Aussagen von dem abwichen, was sie unter Eid gegenüber Yuki geäußert hatte, dann galt diese Einschränkung nicht mehr. Dann war alle Vertraulichkeit aufgehoben und Yuki konnte jedes Wort, das in ihrem Büro gefallen war, vor Gericht gegen Briana Hill verwenden.

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war das ein gutes Angebot.

Briana Hill würde ihr ihre Sicht der Dinge schildern, sodass Yuki erste Bekanntschaft mit den Grundzügen ihrer Verteidigungsstrategie machen konnte.

Sie sagte zu Giftos: »Zufällig habe ich heute um 14.00 Uhr noch etwas frei.«

»Gekauft«, erwiderte er.

Yuki legte auf, fügte der Akte noch ein paar Notizen hinzu und ging dann den Flur entlang, um sich mit Len zu besprechen.

5 Um 14.00 Uhr an diesem Nachmittag nahm Yuki Briana Hill und James Giftos in Empfang und brachte sie in das Konferenzzimmer, in dem bereits die Protokollführerin wartete.

Hill war eine zierliche Frau mit dunklen, exakt auf Schulterlänge geschnittenen Haaren. Sie trug eine schlichte Seidenbluse und einen eleganten grauen Anzug.

Sie war sehr hübsch, und Yuki wusste, dass sie außerdem ausgesprochen intelligent war. Geboren und aufgewachsen in Dallas, Texas, hatte sie zunächst an der University of Southern California ein Filmstudium absolviert und anschließend an der New York University ihren Master in Betriebswirtschaft und Management gemacht. Ihren ersten Job hatte sie bei einer Filmproduktionsgesellschaft bekommen, war wenige Jahre später von Ad Shop abgeworben worden und dort schnell zur Abteilungsleiterin für Fernsehproduktionen aufgestiegen.

In dieser Funktion war sie direkt dem Vorstandsvorsitzenden der Werbeagentur unterstellt und trug die Verantwortung für millionenschwere Werbeetats zahlreicher angesehener Kunden.

Briana sah genau so aus, wie man sich eine hochrangige, junge Managerin vorstellte. Auf den ersten Blick wirkte sie cool und selbstbewusst, aber Yuki registrierte auch die dunklen Ringe unter ihren Augen sowie die Tatsache, dass sie ununterbrochen das silberne Kreuz an ihrer langen Halskette befingerte.

Giftos schaltete sein Handy stumm, Hill wurde vereidigt, und die Protokollführerin in der Zimmerecke fing an zu tippen.

Yuki begann. »Ms. Hill, ist Ihnen klar, dass dieses Gespräch gleichbedeutend ist mit einer verbindlichen Übereinkunft? Sie sind verpflichtet, all meine Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, anderenfalls ist unsere Vereinbarung null und nichtig.«

»Das ist mir klar«, erwiderte Hill. »Ich habe ja selbst um dieses Gespräch gebeten. Ich möchte Ihnen erzählen, was wirklich passiert ist. Ich schwöre, dass ich die Wahrheit sagen werde.«

Die Tür des Konferenzzimmers wurde geöffnet, und Len Parisi trat ein. Mit seinen rund hundertvierzig Kilogramm und den dicken roten Haaren war der Bezirksstaatsanwalt eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung. Sein scharfer, juristischer Verstand, seine Beharrlichkeit und seine beeindruckende Prozessbilanz waren allgemein bekannt.

Parisi trug die Verantwortung für Hunderte von laufenden Verfahren, aber an diesem Fall zeigte er ein besonderes Interesse, weil feststand, dass Das Volk gegen Hill ein riesiges Medieninteresse hervorrufen würde: ein Sexskandal mit gewaltigen gesellschaftlichen Auswirkungen. Darum wollte Parisi sich persönlich ein Bild von Briana Hill verschaffen, und zwar noch bevor seine Behörde Anklage erhob.

Er gab Hill und Giftos die Hand und setzte sich auf den Stuhl neben Yuki, ließ mit seinem dicken Daumen mehrfach einen Kugelschreiber klicken und tippte mit der Spitze der Mine auf den Schreibblock, der vor ihm auf dem Tisch lag. Dann hob er den Blick, lächelte und sagte: »Ms. Hill, Sie haben um dieses Gespräch gebeten. Solange Sie die Wahrheit sagen, kann nichts, was Sie hier äußern, gegen Sie verwendet werden.«

»Das ist mir klar«, erwiderte Briana Hill.

Yuki hatte ihre Pokermiene aufgesetzt, aber sie freute sich unbändig auf die Konfrontation mit James Giftos, noch dazu in einem so bedeutenden Fall. Genau darum liebte sie ihre Arbeit bei der Staatsanwaltschaft.

6 Briana Hill legte die gefalteten Hände auf den Tisch und sagte: »Was jetzt kommt, ist eine ziemlich düstere Geschichte, aber was sein muss, muss sein. Wo soll ich anfangen, James? Bei dem sogenannten Vorfall … oder wie es dazu gekommen ist?«

Ihr Rechtsanwalt sagte: »Machen Sie uns zunächst mit den Hintergründen vertraut.«

»Also gut. Mr. Parisi, Ms. Castellano. Zunächst sollten Sie wissen, dass Marc rund sechs Monate lang in meiner Abteilung beschäftigt war, bevor er mir erstmals sein persönliches Interesse signalisiert hat. Er hat mir zum Beispiel zum Geburtstag einen Blumenstrauß nach Hause geschickt, und ich möchte zwar nicht behaupten, dass er mich gestalkt hat, aber zufälligerweise war er immer in der Nähe, wenn ich gerade mein Büro verlassen habe oder rüber zu Starbucks wollte, solche Dinge eben. Er hat mir einen Kaffee ausgegeben, und beim nächsten Mal habe ich ihm einen ausgegeben. Nur zum Mitnehmen. – Und dann hat er mich zu einem Date eingeladen. Ich habe abgelehnt. Das wollte ich nicht. Selbst wenn ich mich zu ihm hingezogen gefühlt hätte, hätte ich mich nicht darauf eingelassen. Das hätte womöglich die Hierarchie in der Abteilung durcheinandergebracht und Unruhe unter den anderen Mitarbeitern verursacht, und das wollte ich nicht riskieren.«

»Und warum haben Sie Ihre Meinung dann geändert?«, wollte Yuki wissen.

»Dazu komme ich gleich. Kleinen Moment noch. Jedenfalls habe ich Marc einen Korb gegeben, aber er hat nicht lockergelassen, bis mir irgendwann klar geworden ist, dass ich ihn mag. Er war witzig. Sehr charmant und außerdem auch noch ein guter Produzent. Also habe ich ihm ein Mittagessen zugestanden. Ein Mittagessen ist schließlich kein großes Ding, oder?«

Während Briana Hills Bericht waren Yuki mehrere Dinge aufgefallen. Erstens war sie eine versierte Rednerin. Zweitens war, zumindest nach ihrer Schilderung, Christopher auf sie zugekommen. Das hatte zwar hinsichtlich ihrer Schuld oder Unschuld nichts zu bedeuten, stützte aber die Version der Verteidigung in Bezug auf den Tathergang.

»Ich mochte Marc gern«, fuhr Hill fort, »aber es war nicht mehr als ein Flirt, bis – ab hier jetzt dramatische Hintergrundmusik – zu unserem Dreh für den Chronos-Bier-Spot in Phoenix vor vier Monaten. Der Dreh lief von Anfang bis Ende super – großer Etat, Spitzenregisseur, und das Produktionsteam war zusammen mit den Leuten von der Agentur in einem sehr schönen Hotel untergebracht. Also sind wir nach Abschluss der Dreharbeiten gemeinsam ins Hotelrestaurant gegangen. – Ich war sehr zufrieden«, sagte Hill. »Und die anderen auch. Wir haben kräftig gefeiert, und Marc und ich waren die Letzten. Es war, als wären wir alleine auf einer verlassenen Insel. Er hat mich auf sein Zimmer eingeladen, und ich bin mitgekommen.«

Hill kniff die Lippen zusammen. Schluckte trocken. Sie schien sich an die Ereignisse jener Nacht zu erinnern, und Yuki gewann den Eindruck, als seien ihr die Erinnerungen unangenehm.

Giftos sagte: »Fahren Sie fort, Briana. Was ist passiert, nachdem Sie wieder zurück waren und in Ihr Alltagsleben eingetaucht sind?«

Hill seufzte, als müsste sie sich gegen die düstere Schilderung ihrer frischen Beziehung mit Marc Christopher wappnen.

7 Briana Hill hatte bereits eine halbe Stunde gesprochen, und ihre selbstbewusste Haltung zeigte erste Risse. In resigniertem Tonfall sagte sie: »Von da an waren Marc und ich zusammen. – Ich war nicht in ihn verliebt, aber ich hatte auch sonst niemanden. Irgendwann habe ich das Interesse an ihm verloren, und Marc hat das gespürt. Er ist immer aufdringlicher geworden, fast aggressiv. Eines Tages stand er am Feierabend vor meiner Bürotür und sagte: ›Wollen wir was essen gehen?‹ Ich habe ›Ja‹ gesagt, weil ich dachte, wir könnten über unsere festgefahrene Beziehung reden und uns letztendlich darauf einigen, sie zu beenden.

Aber dann kann alles ganz anders.

Wir sind wie üblich ins Panacea gegangen, das ist ein kleines Restaurant in der Nähe von Marcs Wohnung. Ich habe mir einen Aperitif bestellt. Ehrlich gesagt, ich habe vor, während und nach dem Essen Alkohol getrunken.

Ich glaube, Marc hat über Politik geredet, aber ich habe gar nicht richtig zugehört. Stattdessen habe ich ständig hin und her überlegt, ob ich an diesem Abend mit ihm Schluss machen oder lieber noch ein bisschen warten soll. Nach dem Essen haben wir uns dann an die Bar gesetzt, und da ist Marc dann mit seiner tollen Idee rausgerückt.«

»Es war seine tolle Idee?«, schaltete Len sich ein.

»Ja, genau. Er hat gewusst, dass ich nie ohne Waffe das Haus verlasse, und er hat gesagt, dass ihn das echt scharf macht. Er wollte, dass ich … dass ich so tue, als würde ich ihn vergewaltigen. Ich sollte mit meiner Pistole auf ihn zielen und ihm befehlen, sich ans Bett zu fesseln und meine Anweisungen zu befolgen. Und falls er nicht gehorchte, sollte ich ihm drohen, ihn zu erschießen. So was in der Art. – Es war absolut lächerlich, aber andererseits … so ein Rollenspiel hatte ich noch nie zuvor gemacht. Er hat immer wieder betont, dass das Spaß machen würde, und dabei ständig dieses breite Grinsen im Gesicht gehabt. Und er hat gesagt, dass es unserer Beziehung guttun würde … er wollte, dass ich ›bis in meine Eingeweide‹ spüre, wie sehr ich ihn begehre. Ich glaube, das waren seine Worte. – Wir sind also in seine Wohnung gegangen, so wie immer«, fuhr Hill fort. »Ich habe meine Waffe entladen und die Patronen in meine Tasche gesteckt, aber dann habe ich ihm den Gefallen getan und versucht, in meine Rolle zu schlüpfen. Es war irgendwie ganz witzig, aber auch ziemlich merkwürdig, daran kann ich mich noch erinnern. – Nach dem Sex bin ich dann eingeschlafen. Er auch, obwohl … wahrscheinlich sind wir eher bewusstlos geworden. Gegen fünf Uhr morgens bin ich aufgewacht und habe seine Handfesseln gelöst. Er hat geschlafen, darum bin ich nach Hause gegangen. Ich habe mich richtig mies gefühlt, und für Marc habe ich überhaupt nichts Positives mehr empfunden. Mir war klar, dass wir eine Grenze überschritten hatten und dass es kein Zurück mehr geben kann. – Also bin ich ihm von da an aus dem Weg gegangen. Er hat mich ständig angerufen und mir Nachrichten hinterlassen, wollte mich unbedingt sehen. Aber ich habe abgelehnt. ›Tut mir leid, Marc‹, habe ich gesagt, ›aber es ist vorbei.‹ Das hat ihm zwar nicht gepasst, aber ich dachte, er würde sich schon wieder berappeln. Stattdessen ist er einige Tage später zu mir ins Büro gekommen und hat die Tür zugemacht. Und dann hat er gesagt, dass er unser Sexspiel gefilmt hat. Er hat es gefilmt! Und dass er eine Viertelmillion Dollar haben will oder das Video online stellt.«

Yuki hakte nach: »Haben Sie diese Drohung ernst genommen?«

Hills Miene fiel in sich zusammen. »Ja«, lautete ihre Antwort. »Ich konnte mir durchaus vorstellen, dass er eine versteckte Kamera installiert hatte. Er ist schließlich Filmproduzent. Er hat gewusst, dass meine verstorbene Großmutter mir vor Kurzem eine größere Summe hinterlassen hatte. Ich habe zwar gesagt, dass er sich zum Teufel scheren soll, aber gleichzeitig hatte ich auch Angst. Und ich war geschockt. Ich bin immer noch geschockt!«

Auf Yuki machte Briana einen überaus glaubwürdigen Eindruck. War sie eine erstklassige Schauspielerin? Oder entsprach ihre Geschichte der Wahrheit? Klar war nur, dass entweder sie oder Marc Christopher Lügen erzählte.

Giftos legte seiner Mandantin eine Hand auf die Schulter und riet ihr, eine kurze Pause einzulegen.

Nach einiger Zeit hatte sie sich wieder gefangen, auch wenn sie immer noch sichtlich aufgewühlt war, und fuhr fort: »Ich konnte mich an das eine oder andere erinnern, was wir in seinem Schlafzimmer gemacht haben, aber kaum an das, was gesprochen wurde. Trotzdem bin ich mir hundertprozentig sicher, dass Marc mir alles, was ich getan und gesagt habe, genau vorgegeben hat. Jedenfalls hat mich die Vorstellung einer Vergewaltigung noch nie irgendwie angeturnt. Und ich habe ganz bestimmt nicht gewusst, dass er dieses … dieses Spiel aufgezeichnet hat.«

Hill fuhr fort. »Mir war schon immer klar, dass man Fieslinge nur loswerden kann, wenn man sich zur Wehr setzt. Marc Christopher ist ein Fiesling. Außerdem ist er unsicher und rachsüchtig, und das sind noch freundliche Umschreibungen. Ich habe ihn nicht vergewaltigt. Das Ganze war seine Idee. Er hat mir eine Falle gestellt. Und das ist die Wahrheit.«

8 Yuki hatte Fragen. Viele Fragen.

Sie und Len saßen Briana Hill und ihrem Rechtsbeistand am Konferenztisch gegenüber und legten los.

Yuki wandte sich zunächst dem Verhältnis zwischen Hill und Christopher am Arbeitsplatz zu.

Waren Beziehungen zwischen Mitarbeitern bei Ad Shop vonseiten der Geschäftsleitung untersagt? Hatte Ms. Hill aufgrund ihrer Stellung Einfluss auf Mr. Christophers Gehalt oder eine eventuelle Beförderung? Warum war seine interne Beurteilung nach dem Vorfall in Mr. Christophers Wohnung so schlecht ausgefallen?

Hill antwortete, dass Liebesbeziehungen in der Agentur nicht ausdrücklich verboten seien. Ja, sie hatte durchaus Einfluss auf seine Gehaltszahlungen, aber sie fügte erläuternd hinzu, dass Marc sich nach der sogenannten Vergewaltigung »aufsässig und bedrohlich verhalten hat. Er hat sich bei einem Auftrag ohne erkennbaren Anlass vom Drehort entfernt und dadurch nicht nur das Team im Stich gelassen, sondern auch den gesamten Etat gefährdet. Natürlich haben sich seine renitente Haltung und seine Aufsässigkeit dann auch in der einzigen Beurteilung niedergeschlagen, die ich für ihn verfasst habe.«

Lens Fragen drehten sich um den Revolver und den Sex. War die Waffe registriert? Besaß sie eine Genehmigung zum verdeckten Tragen? Wo genau bewahrte sie sie auf? Hatte sie sie jemals vor dem hier infrage stehenden Vorfall beim Sex mit Christopher – oder mit sonst jemandem – offen zur Schau gestellt? Würde sie ihre sexuellen Vorlieben als experimentierfreudig oder gar »pervers« bezeichnen?

Hill erwiderte, dass sie allein lebte und beruflich viel unterwegs war, dass sie eine Genehmigung zum verdeckten Tragen einer Waffe besaß und das den Großteil ihres Erwachsenenlebens über auch getan hatte. Der Revolver war registriert, und sie bewahrte ihn immer in ihrer Handtasche auf, zu ihrem persönlichen Schutz.

Dann fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, was Sie unter pervers verstehen, Mr. Parisi, aber dieser eine Abend mit Marc Christopher war meine allererste Erfahrung mit aggressiven, sexuellen Rollenspielen.«

Len erwiderte: »Und Sie können sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern, was Sie im Verlauf dieses sexuellen Aktes gesagt oder getan haben?«

»Das, was ich noch weiß, reicht mir völlig«, sagte sie. »Ich weiß noch, dass wir in dieser Bar gesessen haben und er mir den Vorschlag gemacht hat, aber was ich dann währenddessen gesagt habe oder was er gesagt hat? Nur noch Bruchstücke. Wir haben ein Rollenspiel gespielt. Wir hatten Sex. Ich hatte jede Menge getrunken. Ich habe auch gar nicht versucht, mir irgendwas einzuprägen. Wäre das nicht ziemlich verrückt gewesen? Wenn ich daran denke, dann sehe ich Lichtblitze vor mir, als hätte das Bett unter einem Stroboskop gestanden. Und als es vorbei war, wollte ich das Ganze so schnell wie möglich vergessen. – Aber jetzt möchte ich Ihnen ein paar Fragen stellen Mr. Parisi. Wieso hat Marc sich nicht einfach meine Waffe geschnappt? Wieso ist er nicht weggelaufen? Wieso hat er nicht die Polizei geholt? Haben Sie ihn das mal gefragt?«

Parisi erwiderte sanftmütig: »Sie wissen doch sicherlich, dass Marc auch getrunken hatte, oder?«

»Na klar. Ich weiß aber nicht mehr, was oder wie viel.«

Parisi machte weiter: »Hat Marc Sie vor oder während dem Sex gebeten aufzuhören? Hat er irgendwann einmal Nein gesagt?«

»Das kann schon sein«, entgegnete Hill. »Aber das war ja der Sinn seines Drehbuchs. Er sollte ja das Opfer sein und ich die Gewalttäterin. Das war ja gerade das Spiel.«

»Ms. Hill, können Sie beweisen, dass Mr. Christopher dieses Spiel bewusst so eingefädelt hat?«

»Wie denn? Wir haben nur in der Bar darüber gesprochen.«

»Ich habe die Aufnahme, die Mr. Christopher von Ihrer sexuellen Begegnung gemacht hat, hier«, sagte Yuki. »Wir lassen Mr. Giftos noch diese Woche eine Kopie davon zukommen. Eine Videoaufnahme mit Ton, Ms. Hill. Da können Sie alles sehen und hören.«

Nachdem Briana Hill und James Giftos gegangen waren, begleitete Yuki Len in sein Büro. Sie saßen im rechten Winkel zueinander in der Sitzecke, umgeben von Bücherregalen und mit Blick auf die Uhr mit dem roten Bulldoggenkopf, die an der Wand hinter seinem Schreibtisch hing.

»Was halten Sie davon?«, erkundigte sich Yuki.

»Hill macht einen glaubwürdigen Eindruck«, meinte Len, »und sie ist eine sehr gute Rednerin. Aber was die Sache mit der Vergewaltigung angeht, also, dass sie behauptet, dass Marc ihr das Drehbuch vorgegeben hat und sie nur seinen Regieanweisungen gefolgt sei, da steht sein Wort gegen ihres. Auf dem Video ist von einem Gespräch oder einer Diskussion jedenfalls nichts zu hören. Da sieht man nur das, was im Schlafzimmer passiert ist, und zwar nur den eigentlichen Akt.«

»Ob es ihm schadet, dass die beiden vor der Vergewaltigung regelmäßig miteinander geschlafen haben?«, wollte Yuki wissen.

»Juristisch gesehen nicht, aber vielleicht fragt sich der eine oder andere Geschworene, worüber er sich eigentlich beschwert. Solange Sie nicht noch andere Beweise auftreiben können, sind wir ganz von diesem Video abhängig. Er sagt ›Nein‹, und sie richtet trotzdem die Waffe auf ihn. Er behauptet, dass sie geladen war. Sie behauptet, dass sie nicht geladen war. Sein Wort gegen ihres. – Aber sie hat ein paar gute Fragen gestellt«, fuhr Parisi fort. »Warum hat er nach dem Aufwachen nicht die Polizei gerufen? Warum hat er zwei Wochen lang damit gewartet? Damit müssen wir uns beschäftigen. Und dass er angeblich versucht hat, sie zu erpressen, passt mir überhaupt nicht in den Kram. Fanden Sie das glaubwürdig?«

Yuki meinte: »Davon habe ich heute zum ersten Mal gehört. Ich werde ihn fragen.«

»Und dann steht schon wieder sein Wort gegen ihres, es sei denn, er legt uns etwas Schriftliches vor.«

Yuki nickte zustimmend. »Die beiden haben ja gemeinsame Arbeitskollegen. Ich habe schon mit drei Leuten bei Ad Shop gesprochen. Ich gehe gleich die Protokolle noch mal durch.«

Yuki ging zurück in ihr Büro und fügte der Akte einige Notizen zu dem Treffen mit Briana Hill hinzu. Hill hatte glaubwürdig gewirkt, aber Yuki hatte das Video gesehen. Marc Christopher hatte Nein gesagt, aber Briana Hill hatte nicht aufgehört. Und das war in den Augen des Gesetzes das Entscheidende.

9 An einem dunstverhangenen Freitagmorgen um Viertel vor acht stellte ich meinen Explorer auf dem Vierundzwanzig-Stunden-Parkplatz in der Bryant Street ab, schräg gegenüber der Hall of Justice. Dort befindet sich unter anderem das Büro der Mordkommission, wo ich arbeite.

Ich nutzte eine Lücke im Verkehrsstrom, huschte über die Straße und joggte die Stufen zum Haupteingang des grauen Granitgebäudes hinauf, das nicht nur die Wache des Südlichen Bezirks und das Präsidium des San Francisco Police Department beherbergt, sondern auch die Bezirksstaatsanwaltschaft, die kommunalen Gerichte, ein Gefängnis sowie die Motorradstaffel. Als ich gerade die Hand an den Griff der schweren Eingangstür aus Glas und Stahl legen wollte, hörte ich eine Stimme: »Sergeant? Sergeant Lindsay Boxer.«

Ich drehte mich um und sah, wie eine Frau im mittleren Alter mit ergrauenden blonden Haaren die Treppe herauf eilte. Sie trug einen schmutzigen Faserpelz-Kapuzenpulli und eine Schlabberjeans. Es wunderte mich nicht, dass sie mich erkannt hatte. Mein letzter Fall hatte für großes Aufsehen gesorgt. Ein durchgeknallter Irrer hatte ein Museum in die Luft gejagt und dabei Dutzende Menschen getötet oder schwer verletzt. Einer der Schwerverletzten war mein Ehemann gewesen. Noch Wochen nach dem Attentat und während des gesamten Prozesses gegen den Bombenleger war ich immer wieder auf den Titelseiten der Tageszeitungen und bei den lokalen Fernsehsendern zu sehen gewesen. Auch wenn seither etliche Monate vergangen waren, die Öffentlichkeit hatte dieses unfassbare Verbrechen noch längst nicht vergessen.

Nach ihrem Äußeren zu urteilen, lebte die Frau auf der Straße. Ich hatte ein bisschen Kleingeld in meiner Jackentasche und wollte ihr ein paar Dollar in die Hand drücken, doch sie winkte ab.

»Ich brauche kein Geld. Trotzdem, danke. Aber ich brauche Ihre Hilfe, Sergeant. Ich möchte einen Mord melden.«

Ich musterte sie eindringlich. Dieser Satz wirkte zwar wie die erste Szene einer alten Folge der Fernsehserie Mord ist ihr Hobby, aber ich musste die Frau ernst nehmen. Sie war in Not, und ich bin Polizeibeamtin.

Wir standen direkt vor dem Eingang der Hall of Justice. Rechtsanwälte, Justizbeamte und andere Polizisten drängten sich an mir vorbei, manche rüpelhaft, manche nur hastig. Ich trat beiseite.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich die Frau.

»Millie Cushing. Ich bin Steuerzahlerin.«

Ich ging nicht darauf ein. Solange sie in San Francisco lebte, hatte sie das Recht, mich um Hilfe zu bitten.

»Der Mord, von dem Sie gesprochen haben«, sagte ich. »Was können Sie mir darüber sagen?«

»Also, ich hab nicht gesehen, wie es passiert ist, und ich hab auch den Toten nicht gesehen, aber ich hab ihn gekannt. Jimmy Dolan war nicht der Erste, der auf offener Straße erschossen worden ist, und er wird auch nicht der Letzte sein.«

War Millie Cushing bei klarem Verstand? Das konnte ich nicht beurteilen.

»Wissen Sie was? Die Frühschicht fängt gerade erst an, und im Bereitschaftsraum geht es vermutlich ziemlich unruhig zu. Am besten gehen wir irgendwo hin, wo wir uns unterhalten können.«

10 Ich brachte Millie ins Café Roma, eine Filiale einer größeren Kaffeehauskette. Es liegt in der Bryant Street am Ende des ungewöhnlich langen Häuserblocks gegenüber dem Präsidium. Wir suchten uns eine kleine Nische neben dem großen Schaufenster, und die Kellnerin nahm unsere Bestellung auf: Kaffee für Millie. Tee und eine Scheibe trockenes Toastbrot für mich.

Ich sagte: »Suchen Sie sich alles aus, was Sie wollen.«

Sie nahm mich beim Wort und bestellte Eier, Toast, Bratkartoffeln, Würstchen und Speck. Dann lachte sie. »Ich schätze mal, das hält fürs ganze Wochenende.«

Nachdem die Kellnerin uns allein gelassen hatte, bat ich Millie, mir alles zu erzählen, was sie über den Mord wusste, der sie veranlasst hatte, zur Hall of Justice zu kommen und mich anzusprechen.

Sie beugte sich über den kleinen Tisch in meine Richtung und begann mit ihrer Geschichte.

»Es ist beim Walton Square passiert«, sagte sie.

Ich kannte den Park gut. Er liegt im Bankenviertel, unweit der Grenze unseres Reviers.

»Es war am Montag, in aller Frühe. Jimmy Dolan war ein netter Mensch, und er ist auf dem Bürgersteig der Front Street erschossen worden. Da rein …« Sie tippte sich auf die Brust. »Zweimal und fertig.«

»Woher wissen Sie das?«, wollte ich wissen.

»Sie glauben das vielleicht nicht, aber wir haben eine sehr gute Gemeinschaft. Jimmy ist so gegen Viertel nach vier erschossen worden, und drei Stunden später haben es schon alle auf der Straße gewusst. Nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda. Von uns hat fast niemand ein Handy, verstehen Sie?«

»Von uns?«

»Obdachlose«, erwiderte sie. »Manche nur vorübergehend. Andere leben immer auf der Straße. Aber das Entscheidende ist, dass wir einander kennen. Wir passen aufeinander auf. Wir tauschen uns aus, in den Unterkünften und an bestimmten Treffpunkten.«

Die Kellnerin brachte unser Frühstück, und Millie machte sich über ihren Teller her.

Ich entschuldigte mich und rief, während sie mit Essen beschäftigt war, meinen Partner Rich Conklin an, um ihm zu sagen, dass ich mich ein wenig verspäten würde. Dann setzte ich mich wieder an meinen Platz und süßte meinen Tee. Millie hatte ihr Rührei schon fast ganz aufgegessen.

»Millie, hat irgendjemand die Polizei verständigt?«, wollte ich wissen.

»Soweit ich gehört habe, sind sie tatsächlich irgendwann gekommen, aber sie haben niemanden befragt und letztendlich nichts anderes gemacht, als auf den Leichenwagen zu warten. Aber Jimmy hat was Besseres verdient, als einfach nur in eine Kiste gesteckt und verscharrt zu werden. Er verdient Gerechtigkeit. Der Mann war ein Poet, und zwar ein guter. Bevor die Stimmen ihn in Besitz genommen haben, war er ein College-Professor. Aber für die Bullen ist er nichts weiter als Abschaum.«

»Das tut mir wirklich leid«, murmelte ich und bat Millie weiterzusprechen.

»Wie gesagt, da werden überall Leute erschossen. Jimmy war bloß einer von ich weiß nicht wie vielen von uns, und, ganz ehrlich, Sergeant, seit einem Jahr habe ich mich nicht mehr so sicher gefühlt wie jetzt, in Ihrer Nähe.«

»Seit einem Jahr?«

Ich widerstand dem Impuls, über den Tisch hinweg ihre Hand zu ergreifen. Falls sie geistig verwirrt war, ließ ich mich gerade ungebremst mitreißen.

Nachdem der Tisch abgeräumt war, ließ Millie sich dankbar eine zweite Tasse Kaffee nachschenken und setzte ihre Erzählung fort. Es kam mir vor, als wartete sie schon lange darauf, dass ihr jemand zuhörte. Dass ihr jemand half.

»Es ist wirklich entsetzlich«, sagte sie. »Ich habe keine genaue Zahl im Kopf, aber ich weiß von mindestens drei weiteren Morden, Sergeant Boxer. Und von denen ist kein einziger vernünftig untersucht worden. Ich habe nach dem Bombenattentat ein Bild von Ihnen in der Zeitung gesehen, und irgendwie habe ich da was gespürt. So eine Art Verbindung zu Ihnen.«

Wir standen auf, und ich versicherte Millie, dass ich mich der Sache annehmen würde. Dann gab ich ihr meine Karte.

»Haben Sie ein Handy?«

»Manchmal vergesse ich das Aufladen«, sagte sie und zog ein altes Klapphandy aus der Tasche.

Ich drängte ihr ein paar kleine Scheine auf und versprach, dass ich mich um den Mord an Jimmy Dolan kümmern würde. Dann bezahlte ich und machte mich auf den Weg in die Wache.

Unterwegs dachte ich an Millie. Sie konnte sich gut ausdrücken. Sie wirkte gebildet und vernünftig. Ihre Geschichte war ebenso glaubwürdig wie sie selbst.

Wie war sie bloß auf der Straße gelandet?

Als ich die Stufen zum Haupteingang der Hall of Justice hinaufging, wurde mir leicht schwindelig. Ich hatte zu Millie gesagt, dass ich schon gefrühstückt hatte, aber das war eine Lüge gewesen. Ich hatte nur eine Tasse Kaffee hinuntergestürzt und mich dann von meiner Familie verabschiedet, in der Erwartung, dass ich eine zweite bekommen würde, sobald ich an meinem Schreibtisch saß. Ehrlich gesagt, ich hatte keinen Hunger gehabt, und das war nicht normal. Ich nahm den Fahrstuhl in den dritten Stock und betrat den Bereitschaftsraum der Mordkommission.

Nachdem ich Conklin ein kurzes »Hallo« zugeworfen hatte, ging in den Pausenraum und sicherte mir den letzten Donut aus der Schachtel. Irgendjemand hatte schon ein Stück davon abgebissen, aber das war aus meiner bescheidenen Sicht nichts weiter als ein unbedeutendes Detail.

Ein Schokoladen-Donut mit Schokoladenguss, besser geht’s nicht. Ich nahm einen Bissen. Er schmeckte gut.

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