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Die Gefühle sind es in erster Linie, die uns als "Menschen" ausmachen und unser Wesen formen. Sie sind der Schmierstoff für unsere Seele und prägen unsere Handlungen in entscheidendem Maße mit. Sie helfen, dem Zwang der so genannten Realität zu widerstehen und uns Verhaltensweisen zu verweigern, die unserem "Selbst", also unserer eigenen Identität entgegenstehen. Die elf Kurzgeschichten spüren ganz natürlichen Regungen nach, die bei vielen von uns verschüttgegangen sind. Sie zeigen Menschen, die sich mit Zähnen und Klauen ihr Recht auf ein unverstelltes Leben erkämpfen - bringen die Dinge auf den Punkt.
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Seitenzahl: 102
Veröffentlichungsjahr: 2024
Es gibt nichts Kühneres als die Vorstellung an sich! Sie lässt unsere Gedanken fliegen … weit über den Horizont des Denkbaren hinaus. Ohne Scheu – und ohne Rücksicht.
Was bedeutet noch Freundschaft, wenn erst die Liebe ins Spiel kommt? Sie kann sein wie ein rasch wirkendes Gift, welches das Hirn blockiert und aus Händen Waffen formt.
Guido Sawatzki
Die achte Witwe
11 skurrile Kurzgeschichten
Band 2
© 2024 Guido Sawatzki
Umschlag, Illustration: Desdemona Winkler
Lektorat, Korrektorat: Desdemona Winkler
Druck und Distribution im Auftrag von Guido Sawatzki:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback
978-3-384-25776-5
Hardcover
978-3-384-25777-2
e-Book
978-3-384-25778-9
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Guido Sawatzki verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag von Guido Sawatzki, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Blindflug
Für Hartmut … für Hartmut …
Für immer dein
Gestolpert
Mutterliebe
Sayonara
Später Gruß von der Front
Steckengeblieben
Strichmännchen
Tanz der Marionetten
Die achte Witwe
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Blindflug
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Blindflug
Sie spürte, wie der Schmetterling sich auf ihrer Nase niederließ. Es hatte nur leicht gekitzelt – und sie hatte zuvor den Lufthauch gespürt … vom leisen Schlagen seiner Flügel. Er ahnte wohl, dass sie ihm nichts antun würde, so, wie sie da lag.
Ljudmila hatte in der Schule gelernt, dass genauso wie die Fühler von Schmetterlingen auch deren Beine Geschmacksorgane haben, mit denen sie eine Nahrungsquelle wahrnehmen können. Aber was für eine Art von Nahrung sollte dieses Insekt dort, auf ihrer Nase, finden? War es etwa der feine Schweiß, der sich darauf gebildet hatte? Etwa von der Vorstellung, dass der Schmetterling ebenfalls Flügel, ähnlich wie ein Flugzeug hatte – und der Angst, das von damals könnte sich wiederholen? Doch jetzt war sie ja allein. Ljudmila schlang die Decke, die sie sich mitgebracht hatte, noch fester um sich.
Sie musste daran denken, dass es schon ein paar Jahre her war, als ihr einsamer Weg sie auch schon damals wie magisch zu diesem Ort führte. Hin zum Flugplatzgelände, auf dem die Hobbyflieger mit ihren einmotorigen Maschinen bereits seit Jahrzehnten trainierten und ihre zur Erhaltung des Flugscheins notwendigen Flugstunden absolvierten. Wenn sie Glück hatten, waren die Spritkosten nach einem solchen Tag rasch wieder eingefahren; denn schließlich war der Platz hier bekannt für seine hervorragende Thermik, die vor allem Fallschirmspringer gerne nutzten und sich - gegen cash, versteht sich -, vom Flieger auf Absprunghöhe bringen ließen. Genauso hatte sie es schließlich auch gemacht – bis zu dem Unfall.
Ja, sie lag gerne hier, auf der Wiese voller Blüten am Rande der Piste, die Luft warm und voll vom Brummen der Hummeln und Summen der unzähligen Insekten. Jedes Mal, wenn eine der kleinen Maschinen wieder abhob, reckte sie erwartungsvoll den Hals. War das nun eine Cessna 182 „Super Skylane“ … oder eine Grand Caravan Ex 867 - oder vielleicht doch eine Pilatus PC-6 Porter – ihre Schicksalsmaschine? Selbst jetzt noch spürte sie manchmal im Traum die Hitze und die Flammen, die ihr entgegenschlugen. „Die Maschine war anfällig für unvermeidbare und unvorhersehbare Heißstarts, die schließlich zur vollständigen Zerstörung der Motoren führten.“ Ein Air America Pilot hatte das Statement später mal von sich gegeben … davon gehört hatte sie aber erst einige Zeit danach. Nachdem ihre Welt eine andere geworden war.
Etliche Absprünge hatte sie zu jenem Zeitpunkt schon hinter sich gebracht … ein paar hundert mochten es sicher gewesen sein. Ein solcher Sprung – das war wirklich immer wieder ein Augenblick für die Ewigkeit. So etwas noch einmal zu erleben, erneut in dieses berauschende, süchtig machende Gefühl einzutauchen – das war seitdem ihr ständiger Wunsch gewesen. Deshalb kam in den Folgejahren auf die immer wiederkehrende Frage, „Was wünschst du dir denn zum Geburtstag?“ denn auch immer dieselbe Antwort: „Ich möchte springen!“. Irgendwann hörte das Fragen auf. Nachdem ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, baute sie das Haus, in dem sie nun allein lebte, endlich so um, wie sie es wollte – und auch brauchte.
Heute, etwa zehn Jahre später, war der lang ersehnte Tag gekommen. Als sie sich dem Flugfeld näherte und die ehemals vertrauten Geräusche wieder da waren, wusste sie, dass sie nichts vergessen hatte – und niemals vergessen würde. Auch jetzt noch, nach so langer Zeit konnte sie beispielsweise eine Maschine an ihrem speziellen Ton erkennen … das Geräusch kurz nach dem Anlassen – aber auch, wenn sich die Maschine bereits in der Luft befand. Nein, ihr Gehör hatte sie da noch selten getäuscht.
Sie hatte einen Tandemsprung gebucht. Dabei hängt man in einem speziellen Gurtzeug vor dem so genannten Tandemmaster, einem speziell ausgebildeten Fallschirmlehrer. Vorsichtshalber hatte sie vor Ort nochmal gefragt, mit welcher Maschine sie fliegen würden, da sie wusste, dass die Flugschule, die auf diesem kleinen Flugplatz stationiert war, neben der Pilatus auch eine Cessna 182 stehen hatte. Auf jeden Fall könne sie mit der Cessna mitfliegen, war die klare Auskunft, nachdem sie ausführlich ihre Bedenken wegen der Pilatus‘ dargelegt hatte. Noch während sie, auf dem Platz angekommen, im Büro die Formalitäten hinter sich brachte, erkannte sie ihn, der ihr diese Zusage gemacht hatte, sofort an seiner Stimme wieder. Sie war beruhigt.
Dieses Gefühl währte allerdings nur kurz, denn spätestens nach dem Abheben hatte sie „ihre“ Maschine wiedererkannt. Panik ergriff sie, sie zitterte am ganzen Körper und ihr Tandempilot – es war der aus dem Büro – hatte allergrößte Mühe, ihre Ängste zu zerstreuen. Die Situation wäre wohl eskaliert, wenn da nicht noch ein junges Pärchen mit im Flugzeug gesessen hätte. Der Mann hatte eine solch beruhigende, vertrauenserweckende Stimme, dass sich ihre Angst schließlich legte.
Ihr Tandemmaster dagegen war rundum eine Enttäuschung. Was quasselte der nicht alles von dem tollen Ausblick auf die wunderschöne Alpenlandschaft … . Erst als sie etwa 50 Sekunden lang in freiem Fall mit 200 km/h der Erde entgegenrasten und nachdem der Fallschirm ausgelöst hatte, schien ihm ein Licht aufzugehen. Denn aus irgendeinem Grund war ihre getönte Schutzbrille verrutscht, die sie von Beginn an getragen hatte und er wollte ihr dabei helfen, sie wieder geradezurücken - und sah dabei ihre Augen.
„Oh …“, murmelte er, um dann betroffen zu schweigen. Dasselbe sagte er etwa zwei Stunden später; da dann allerdings eher überrascht darüber, wie selbstsicher und unbefangen sie sich bewegte. Zu diesem Zeitpunkt lagen sie bereits zu zweit im Gras. Zuvor hatten beide sich eine Weinschorle genehmigt - möglicherweise waren es auch zwei. Er hatte sich damit wohl bei ihr entschuldigen wollen; außerdem war es sein letzter Sprung an diesem Tag gewesen – …; jedenfalls waren sie beide an einem der im Hangar aufgestellten Klapptische gesessen und hatten geredet und geredet …. Vor allem sie. Sie hatte von ihren Gefühlen erzählt, die sie gerade noch überwältigten … und von ihrer Erinnerung, die hochkam … an das alles, was damals und überhaupt seitdem in und mit ihrem Leben passiert war.
„Komm – geh ein bisschen mit mir“, hatte sie ihn neckisch aufgefordert. „Die Sonne scheint doch … oder tut sie das etwa nicht? Hast du Lust?“ Und ob er Lust hatte! Als sie irgendwann unter ihm lag, schien sie seine Männlichkeit überall zu spüren. Dabei hatte sie bis dahin alles so wunderschön, so großartig empfunden – sich wie im siebten Himmel gefühlt. Oh, wie hatte sie es genossen, zuerst dieser herrliche Flug, bei dem sie letztendlich ihre angestauten, gewaltigen Ängste hatte überwinden können und dann ihr Tandemmaster, der sich auch noch mit ihr gemeinsam an einen Tisch setzte und mit dem sie sich unterhalten konnte, als ob sie sich schon ewig kennen würden und - das Wichtigste - mit dem sie lachen konnte. Wann hatte sie eigentlich zuletzt gelacht? Es musste schon Jahre her sein - sie konnte sich schon gar nicht mehr erinnern. Nun, bei einem Handicap wie ihrem flogen einem die Freunde nicht gerade zu.
Und deshalb fühlte sie sich auch total überrumpelt, als er, kaum dass sie auf ihrer Decke lagen, an ihr herumzufummeln begann. „Langsam, langsam,“ hatte sie ihn gebeten, „ich habe das schon lange nicht mehr gemacht. … Nein, ich will das nicht!“ Aber er gab nicht nach und irgendwie fühlte es sich ja auch gut an, nach so langer Zeit wieder begehrt zu werden, sodass sie sich dann doch freiwillig auszog. Zum Glück stand das Gras sehr hoch – mindestens einen Meter -; sie hatte sich schon gewundert, dass es noch nicht gemäht war, hatte aber den langen Spaziergang quer über die Wiese mit ihm, diesem starken Mann an ihrer Seite, von dem sie sich gerne führen ließ, sehr genossen.
Und jetzt das. „Also ‘ne Blinde hatte ich auch noch nie“, keuchte er und lachte. „Ich heiße Ljudmila!“, rief sie tief gekränkt; tat aber weiter so, als ob es ihr mit ihm Spaß machen würde – stöhnte, schrie und lachte, so laut sie konnte; insbesondere, als sie merkte, dass da ein Traktor oder etwas Ähnliches in der Nähe seine Kreise drehte und sie insgeheim noch hoffte, dass man sie bemerken und er von ihr ablassen würde. Doch dann, urplötzlich, war das Gefühl da, als ob sich ein Schalter in ihr umlegen würde – nein, sie wollte nicht länger Opfer sein. Sie umschlang seinen Nacken fest mit beiden Händen und als das Geräusch der Erntemaschine näherkam, drückte sie diesem unerbittlichen, rasenden Stück Mensch über sich, welches nichts mehr wahrnahm außer seiner Lust, die es unbedingt zu befriedigen galt, mit ihren Unterarmen rasch die Ohren zu und lachte und schrie dabei immer lauter. Als sie dann spürte, wie die Erde vibrierte und erahnte, dass das tonnenschwere Gefährt mit den sicherlich riesigen Reifen sie in wenigen Augenblicken streifen musste, zog sie ihre Beine an und stieß ihn, so fest sie nur konnte, in Richtung der Räder.
„Woher sollte ich auch wissen, dass da ausgerechnet jetzt einer in meiner Wiese rumliegt - bei dem wahnsinnig hohen Gras?“, meinte der noch junge Landwirt mit der Punkerfrisur, noch völlig geschockt vom Anblick der schreienden jungen Frau und dem nackten Mann, dem der Traktor den Brustkorb zerdrückt hatte, später zur Polizei.
Dass er währenddessen Kopfhörer getragen und so laut es ging „Lady in black“ der Hardrock-Band Uriah Heep gehört hatte, verschwieg er - selbstredend.
Irgendwie passend – ein Tauber trifft auf eine Blinde -, dachte Ljudmila bei sich, als er es ihr irgendwann später, nachdem die Polizei die Akte geschlossen hatte, beichtete.
Für Hartmut … für Hartmut …