Karl Lost: Verstolpert - Guido Sawatzki - E-Book

Karl Lost: Verstolpert E-Book

Guido Sawatzki

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Beschreibung

Der Mensch reift am Leben. Ob er aus seinen Fehlschlägen lernt? Der Zweifel, der an unserem Protagonisten Karl nagt und neben seinem Schuld- und Mutterkomplex Teil seines Wesens zu sein scheint – selbst an seinen Zweifeln zweifelt er –, mündet geradezu schicksalshaft doch immer wieder in einer Art von Katharsis. Zwar sieht er, der Gezeichnete, der Wankelmütige, der Zerrissene, der scheinbar Lebensunfähige, am Ende sein vermeintlich wiedergewonnenes Glück zwischen den Fingern zerrinnen, aber dennoch bleibt eine gewisse Ahnung übrig, dass sich da ein Netz für Menschen wie Karl aufspannt – sie auffängt.

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Verstolpert werden kann eine Torchance.

Verstolpern, also sich die Gelegenheit zu etwas Großartigem entgehen lassen, kann aber auch eine Chance sein – nämlich diejenige Chance, die einem das Leben gibt … vielleicht sogar einmalig.

Ergreifen wir sie nicht, sind wir also unfähig, den richtigen Moment zu erkennen, dann ist alles Weitere Improvisation … Stückwerk.

So entstehen seelische Verletzungen und Wunden, die das Leben schlägt und die niemals mehr heilen.

Ist eine Tat per se ein Verbrechen, nur weil der Staat es als solches postuliert – und ist eine Tat kein Verbrechen, weil sie damit eine ebensolche sühnt, die sich lediglich auf ethische und moralische Grundsätze stützt?

Guido Sawatzki

Karl Lost: Verstolpert

Psychothriller

© 2024 Guido Sawatzki

Umschlag, Illustration: Desdemona Winkler

Lektorat, Korrektorat: Desdemona Winkler

Druck und Distribution im Auftrag von Guido Sawatzki

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

Paperback

ISBN 978-3-384-30114-7

Hardcover

ISBN 978-3-384-30115-4

e-Book

ISBN 978-3-384-30116-1

Das Werk stellt eine überarbeitete Fassung des ursprünglichen Titels „Fehltritt“ dar und ist, einschließlich seiner Teile, urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist Guido Sawatzki verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Ich stelle voran: Drei Sätze.

Einleitung Karl

Karl: Zur Person

Einführung Anwalt („ICH“)

Die drei Sätze

Buch 1

Thassos 1/1 (Notizen Karl)

Einschub (1): Isabel

Einschub (2) Gestänge, Stein, Stoff …

Buch 2

Ein Jahr Zuvor:

Marlene (1) (Notizen Karl)

Karl: Einschub

Tropfenbetrachtungen im Badezimmer (bei Karl zu Hause)

Marlene (2)

3 Sprungversuche

Marlene (3)

Schuldig: Mutter

Schuldig: Stiefvater

Ladies end (1)

Die Bank (1)

Ladies end (2)

Die Wunde – und der Reißverschluss

Mutterkomplex (1)

Die Bank (2)

Karl und die Frauen

Der Vater

Knast

Mutterkomplex (2)

Der dritte Weg / Die Lehrerin

Karl – die Frauen, die Ordnung und die Angst

Mutterkomplex (3)

Buch 3

Ladies end (4) Elke: Wie alles begann

Ladies end (5) Elke: Hass

Der Vollstrecker

Der Ausweg

Der blaue Brief (1)

Auszeit

Der blaue Brief (2)

Das Grab

Die Offenbarung

Das falsche Grab

Stephanie will es wissen

Der Tatortreiniger

Das Verhör

Stephanie gibt nicht auf

Karl macht sich unsichtbar

Buch 4

Thassos 2

Aufbruch

Katz und Maus

Crescendo

Verena

Finale

Das letzte Wort

Epilog

Karl Lost: Verstolpert

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Titelblatt

Urheberrechte

Ich stelle voran: Drei Sätze.

Epilog

Karl Lost: Verstolpert

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Ich stelle voran: Drei Sätze.

Satz 1:

Wenn eine Pflanze nicht

nach ihrer Art leben kann,

so stirbt sie.

Menschen ergeht es ebenso.

Satz 2:

Wahrheit ist immer

mit sich selbst im Einklang;

es geht ihr nicht darum,

welche rechtliche Konsequenz eine Tat hat.

Satz 3:

Letzter Grund der Möglichkeit

menschlichen Zusammenlebens

ist die Liebe

und nicht die Moral.

(C.F. von Weizsäcker)

Einleitung Karl

Weshalb solche melancholisch-pathetischen Sätze? Nun, die Antwort ist, dass ich wohl nicht mehr allzu lange zu leben habe.

Zumindest bin ich mir da ziemlich sicher. Wobei ich hinzufügen möchte, dass bei mir organisch alles in Ordnung ist. Ich brauche also nicht zu klagen. In keiner Hinsicht. Ich liebe meine Frau. Ja, eigentlich immer noch. Trotz allem – oder wegen allem(?).

Ich pflege meine Hobbys und habe, rein äußerlich betrachtet, wahrscheinlich nicht mehr Sorgen als ein Durchschnittstyp. Und finanziell schon mal gar keine, vor allem wo ich doch gerade erst durch Erbschaft in den Besitz einer größeren Summe Geldes gelangt bin.

Woher dann die Gewissheit, dass ich nicht mehr lange leben werde?

Ha! Simple Antwort: Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass ich dieses beschissene Leben noch lange weiterführen will. Denn das wäre sowohl verantwortungslos als auch ethisch und moralisch verwerflich.

Vor meinem Ende gibt es allerdings noch ein paar offene Rechnungen zu begleichen; also bevor ich nach Indianerart auf einen hohen Berg steige, mich dort mit einer Wolldecke umhülle und auf das Ende warte und warte – oder, weil ich es sowohl hasse zu warten als auch zu frieren, alternativ in die Sahara gehe und laufe und laufe, bis mich der Hitzschlag trifft. Bevor ich also diesen ganzen riesigen Aufwand betreibe, sollen alle erst noch erfahren warum.

Hätte ich gewusst oder auch nur im Entferntesten geahnt, dass Verena – für den Leser: eine frühere Freundin – selbst ganz am Ende noch die Entscheidung über Leben und Tod treffen durfte, quasi „das letzte Wort“ haben würde, dann wäre Vieles anders gelaufen. Das mit ihr und das mit Stephanie und das mit all den andern, die an diesem Drama beteiligt waren.

Und hätte ich gewusst, was da auf mich und auf die Welt zukommen würde, damals, als ich noch als verschrumpelter, unansehnlicher Fötus im Leib meiner Mutter lag – ich glaube, ich hätte derart um mich getreten, dass die Eingeweide mich mit Freuden zerfleischt oder sonstwie nach Belieben beseitigt hätten. Wie das hätte möglich sein sollen? Was weiß ich? Irgendwie halt! Irgendwie. Doch bedauerlicherweise musste die Menschheit mich hinnehmen. Und was die ganze Sache noch um einiges schlimmer machte: Ich selbst musste mich erdulden!

*

Von Anfang an habe ich mich, einem Hypochonder nicht unähnlich, selbst zernagend, beobachtet. Präzise! Habe meine Fehltritte aufs genaueste registriert; zur Kenntnis genommen, dass diese von meinem abscheulich weichen, sensitiven Gemüt herrührten. Und immer habe ich dabei gespürt, dass ich, genau genommen, nicht in diese Welt gehöre. Vielleicht war dieses ständige Sich-von-außenbetrachten aber auch ein Fluchtimpuls - raus aus dem Leben! -, der mich mein ganzes, seitheriges Erdendasein über begleitete. Der offenbar dem Menschen in die Wiege gelegte Wille zum Überleben versuchte – natürlich -, diese Regung zu überwinden. Allerdings gelang dies nur kurzzeitig. Mea culpa, mea culpa mea culpa. Ich entschuldige mich für mein Leben.

Mittlerweile jedoch, denke ich, bin ich über diesen heiklen Punkt hinweg und sehe die Dinge gelassener.

*

Dieser mich immerfort umgebende, süßliche, nach warmem menschlichem Müll stinkende Bodennebel, Abfall meiner Existenz, gleichsam wie ein Pesthauch schwebend in der Luft, für mich kaum mehr zu ertragen – in einer einzigen klaren Nacht hat er sich aufgelöst. In der Realität, nächtens zwischen ein paar Blöcken aus Beton, aufgeschichtet in einem süditalienischen Hafen als Bollwerk gegen die alles verschlingende Flut sollte der Albtraum, mein Albtraum für immer enden.

Derjenige Leser, den ich auf meine Reise - zurück in die Vergangenheit, zurück in die Zukunft und die Zeit danach - mitnehme, wird es erleben. Wird richten.

*

Als Indiz dafür, wie richtig ich mit der gleich zu Beginn zutiefst abfälligen Bewertung meiner selbst liege, werte ich den Umstand, dass ich im Laufe dieser Geschichte das Wort das eine oder andre Mal an einen Außenstehenden weitergebe - an meinen Rechtsanwalt.

Warum? Weil ich nicht mehr weiterweiß? Aus Hilflosigkeit? Aus Schwäche?

Nun ja, vielleicht eher, um in einen Dialog einzutreten, in ein Wortgefecht. Auf der Suche nach der Wahrheit.

Der Wahrheit? Ich gestehe, dass ich mir bei der Antwort, die ich mir hier selbst zu geben gestatte, etwas unsicher bin. Auf jeden Fall jedoch sehe ich jenen Dialog beziehungsweise Wortwechsel weniger als didaktischen Kunstgriff, sondern vielmehr als ehrlich gemeinten Versuch, dem Außenstehenden die Meinungsbildung - eben durch die Hinzuziehung einer zweiten Meinung - zu erleichtern.

Auch gestatte ich Pausen. Denkpausen. Sollte jemandem dabei hin und wieder der Gedanke an ein Theaterstück – gar an ein Drama - durchs Hirn schießen, so läge er gar nicht so weit daneben. Das Leben – gleicht es etwa nicht einer Aufführung? Einer mehr oder minder gelungenen? Haben wir die Bühne erst einmal betreten, verlangt das Publikum seine Show. Darin ist es unbarmherzig; ja, manchmal geradezu bösartig. Auf jeden Fall unnachgiebig.

*

Sauter heißt er übrigens - dieser Mann, der Rechtsanwalt. Mein Anwalt. Den ich gelegentlich hinzuziehe. Wegen der zweiten Meinung. Dr. Sauter. Netter Kerl. Schlaksig, trägt meist Anzug, aber einen von der weniger steifen Art … Seiden-Leinen-Gemisch. Gerade mal zehn Jahre älter als ich. Querdenker. Verstehe nicht, wie so jemand Rechtsanwalt werden konnte. Und sich dann auch noch an mich und meine spezielle Art gewöhnt hat … wie der Leser im weiteren Verlauf dieser Geschichte bemerken wird. Liegt wohl daran, dass seine Gedankenwelt der meinen ähnelt. Vielleicht sind wir deshalb in dieselbe Spur gerutscht.

Ja, er ist – wie soll ich es anders sagen – in meine Geschichte hineingeschlittert. Anfangs war er objektiv – gehört sich wohl auch so. Als Anwalt. Später nicht mehr ganz so. Objektiv. Ich entschuldige das, denn er konnte nicht anders; ich ließ ihm keine Wahl. Er konnte einfach nicht gegen mich sein.

Überhaupt hat es schon genügend Opfer gegeben. Tote und „Scheintote“ - wie mich. Er wird meine Geschichte miterzählen. Um Klarheit zu schaffen. Ich muss nur aufpassen. Ja, aufpassen. Denn auch er ist mein Richter.

*

Gibt es Hoffnung? Für eine Wende hin zum Guten? Ein Happy End gar? Vielleicht. Wenn alles offengelegt sein wird, nichts mehr zu schützen und zum Beschützen da sein wird, wenn das, Albträume gebierende Geheimnis in sanfte Träume zerfällt. Nach dem Schluss, dem tatsächlichen Ende … dieser Geschichte; und vielleicht auch dem ihrer leibhaftigen Akteure. Wie mich.

Besser, ich erzähle von Anfang an.

Karl: Zur Person

KARL:

Ach übrigens: Ich heiße Karl, bin 46, 184 groß, schlank, die Augen blau, mit einer Mischung aus Smaragd und einem Schuss Grün, leicht stechend. Augen, die sich leicht verraten, sich deshalb umso mehr verstecken wollen. Genau gesagt möchte ich nichts verstecken – eher schützen.

Empfindliche Haut, die unter UV-Strahlung rasch rot wird und Bläschen wirft. Sonnenallergie. Haare schon ziemlich angegraut, wellig. Naturlocken. Soweit mein Äußeres. Im Übrigen meint meine Frau, an mir narzisstische Züge entdeckt zu haben. Trotzdem. Egal, wie sie das meint - ich lege dies positiv für mich aus.

Mehr über mich zu wissen, glaube ich, ist im Moment nicht nötig. Nun ja, vielleicht doch noch eine Kleinigkeit: Ein Kind, eine Tochter. Stephanie. Aus einer früheren Beziehung.

Und … und?!

Nein, ich will nicht. Jetzt noch nicht.

Einführung Anwalt („ICH“)

ICH:

Nur damit jetzt auch wirklich jeder Bescheid weiß: „ICH“, das bin, zumindest in den Dialogen, ich, der Anwalt. Ja, auch Rechtsanwalt. Nein, ich denke, man muss da schon unterscheiden. Ich stehe auf der Seite des Rechts, des staatlichen. Auch. Denn schließlich bin ich auch Karls Anwalt. Natürlich bin ich das wiederum erst mit staatlichem Segen geworden, wenn ich diesen sprachlichen Ausdruck aus dem kirchlich-christlichen Umfeld ausnahmsweise adaptieren darf. Aber bin ich deshalb zuallererst dem Staat verpflichtet? Nein? Na gut, aber zumindest dem Recht, dem staatlichen. Jenem Recht, welches dieser Staat uns, seinem Volke, auf demokratische Weise verordnet hat. Weil wir es zugelassen haben. (Selber schuld!)

Der Staat hat aber auch erlaubt und es ermöglicht, dass ich jemandem wie ihm, Karl, als Anwalt diene; indem er mich studieren ließ. Dass der Bürger mich, meine Hilfe, auch kaufen kann – wenn er sie sich leisten kann. Im Normalfall jedenfalls. Als Mittler zwischen ihm und dem Staat gewissermaßen. Denn ich habe die Gesetze studiert, die dieser Staat erlassen hat. Des Weiteren helfe ich meinen Mandanten, die beschuldigt wurden, Gesetze dieses Staates verletzt zu haben, das Übel, das sie angerichtet haben, so klein wie möglich zu halten. Damit ich dies tun kann, versuche ich zu ergründen, weshalb sich beispielsweise meine Mandanten gegen den Staat gestellt haben. Jenen Staat, der, wie gesagt, Menschen wie mich in die Lage versetzt hat, Berufe wie diesen auszuüben. Ja - im Bedarfsfall auch, um gegen ihn antreten zu können. Das zeigt aber doch, dass dieser Staat a priori in der Lage ist, zu sagen, „ich habe mich geirrt“. Etwas, das wiederum in einer Diktatur vollkommen abwegig wäre.

Und – ich versuche, meine Mandanten zu verstehen.

Nun spricht natürlich nicht der Staat selbst, sondern er lässt sprechen. Richter … Menschen. Wesen mit Gefühlen, mit Erfahrungen, mit einer Geschichte. Mit einer oder sogar ganz vielen Geschichten hinter dieser Geschichte und so weiter und so fort. Menschen also, die schon allein deshalb nie, niemals absolut frei von jedwedem Einfluss werden urteilen und richten können - es wären ja sonst keine Menschen.

So und nicht anders will ich den Fall sehen – und auch selber in meinem Handeln in dieser Geschichte gesehen werden. Ich denke, das ist nur fair.

Die drei Sätze

ICH:

Natürlich haben die drei „Sätze“ ganz zu Anfang dieser Geschichte mit Karl zu tun. Was ihn und seine Persönlichkeit anbelangt, so gäbe es jede Menge darüber zu sagen. Jetzt, im Nachhinein, halte ich für eine der unausstehlichsten Eigenschaften an ihm, dass er, lapidar gesagt, polarisiert. Entweder mag man ihn oder man hasst ihn. Hinzu kommt seine Art, die viele verwirrt. Können sich die Leute nicht beherrschen und stecken ihn in eine Schublade, so erkennen sie über kurz oder lang, dass sie sich geirrt haben. Denn was ihn als Person wirklich ausmacht, das steckt sehr tief in ihm drin und kaum einen lässt er hineinsehen. Sicher ist das sehr vereinfacht ausgedrückt. An „Satz 1“ im Vorwort anknüpfend, hieße dies aber auch: Ließe man ihn nicht nach seiner Art leben, ihn also nicht seine Persönlichkeit ausleben, dann würde er zerbrechen – so zumindest meine laienhafte Ansicht.

Überdies halte ich ihn für süchtig. Süchtig nach dem Leben. Mich hat er übrigens auch schon infiziert. Sein Pech ist, dass er fast ständig an den Schranken, die einem im Leben ab und zu den Weg versperren, rüttelt - sie einfach nicht akzeptieren will. Süchtig schließt in seinem Fall also auch ein undiszipliniertes Verhalten mit ein, womit „Satz 2“ zum Tragen kommt: Karl zerrt deshalb fast ständig an unsichtbaren Fesseln, weil er nicht einsieht, dass es in unserem menschlichen Dasein eben auch Regeln gibt … geben muss (!?).

Wahrheit ist für ihn gleichbedeutend mit dem Sein; und das Sein, das Leben, geht wiederum nicht ohne die Wahrheit. Ohne sie könnte es gar nicht existieren – seiner Meinung nach. Auch denkt er, dass Recht und Gerechtigkeit so etwas wie eine Assonanz verbindet, Blutsbrüder im Geiste sozusagen - ebenfalls einer seiner vielen Irrtümer, die sein Leben so unsäglich kompliziert machen. Und auch hierbei glaubt er an einen Gleichklang; wo in Wirklichkeit gar keiner ist. Zumindest nicht vor Gericht. Und eine etwaige Einsicht in rechtliche Konsequenzen, die eine Tat nach sich ziehen kann, ist ihm sowieso fremd. Und beide Regeln - nennen wir sie hier besser Leitfäden - wurzeln, um den Bogen um die drei Sätze zu schlagen, in „Satz 3“: Eine Moral sieht er auf sich nicht anwendbar, ohnehin hält er diesen Begriff für nicht mehr zeitgemäß. Sie ludert jenseits dessen, was seiner Meinung nach wirklich zählt: Die Liebe. Und die in allen ihren Erscheinungsformen. Und alles, was damit zu tun hat, sei nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig. Zum Überleben.

Ganz einfach zu verstehen – für Karl.

*

Aus der Verzweiflung seines Daseins heraus – er hält dieses, wie er selber am Anfang meinte, geradezu für nichtswürdig – durchstreift er innerhalb dieser Geschichte ein Labyrinth, an dessen Verzweigungen er, wenn er Glück hat, all die Bruchstücke einsammeln kann, die ihm und dem Betrachter zwar zu Beginn noch als ein einziges Rätsel – eben weil konfus und unzusammenhängend – erscheinen mögen, als Ganzes betrachtet am Ende jedoch in eine Katharsis münden. Erleben wir zu Beginn dieser Geschichte, wie Selbstglorifizierung, Verdrängung und Schuldzuweisungen sein Handeln bestimmen, so zwingen ihn die Ereignisse wie auch seine persönliche Weiterentwicklung - oder vielleicht doch nur das Schicksal (?) - dazu, die Dinge so zu sehen, wie sie nun mal sind.

Doch treten wir jetzt heraus aus all dem Theoretisieren und begeben wir uns eiligen Schrittes hinaus auf die reale Bühne: An unseren ersten, wahrhaftigen Tatort.

BUCH 1

THASSOS

1/1

(Notizen Karl)

 

Es …

… war nur ein Tropfen. Er trug möglicherweise Schuld daran, dass an einem sonnigen Morgen, übrigens dem ersten nach zwei Tagen, an denen man kaum das Hotel verlassen konnte, ohne bis auf die Knochen nass zu werden, Panagiotis Varounas, der deutschsprachige Besitzer des Hotels Nisteri auf Thassos mit einer, wie es so treffend im kriminalistischen Jargon heißt, offenen Wunde an der Schläfe, bäuchlings liegend unter meinem, respektive unserem Balkon aufgefunden wurde. Tot natürlich. Dass ich nicht träumte, bewies die Anwesenheit gleich einer ganzen Meute von Polizisten.

Das heißt, ich bemerkte ihn bereits lange zuvor. Dies sollte jetzt aber nicht zu der Feststellung verleiten, dass ich ihm stundenlang in diesem Zustand zugeschaut oder mich gar an seinem Anblick geweidet hätte. Nein. Er lag eben nur da, und ich schaute ihn an … etwa so, wie man seinem Hamster zuschaut, wenn er mal wieder in die Tretmühle steigt - Sie kennen doch dieses, nach Art einer Wäschetrommel funktionierende Speichenrad? – und man insgeheim nicht überrascht ist, ihn darin irgendwann wegen Herzinsuffizienz zusammengebrochen aufzufinden.

Zu dem Mann hingeschaut habe ich auch nur deshalb, weil die Geräusche außerhalb unseres Zimmers sich verändert hatten. Bis dahin hatte ich, mit halb geöffnetem Mund, teils röchelnd, teils schnarchend, woran meine Gattin leider immer wieder heftig – aber nutzlos - Anstoß nimmt, die ersten Stunden nach Sonnenaufgang zu nutzen versucht, die Erschöpfung - als unmittelbare Folge einer weitgehend durchwachten Nacht - loszuwerden. Es ist wohl meinen sensiblen Nerven zuzuschreiben, dass ich dennoch vorzeitig aufschreckte. Ich lauschte. Ja, die Tropfen klangen weicher, ausgefüllter, wie wenn sie auf einen weichen Körper treffen, beispielsweise den von Panagiotis - zumindest bei weitem nicht so platt wie vorhin auf unserem Balkongeländer … „Klock … klock-klick“;

So ein Ton, der entsteht, wenn ein Wassertropfen beschlossen hat, sich von seinem Träger abzulösen, hinunterzufallen - und zu sterben. Doch schweifen wir noch für einen Moment zu unserem Toten ab.

Um Panagiotis herum – ich hoffe, er verzeiht mir, dass ich ihn jetzt, da er nicht mehr unter uns weilt, bei seinem Vornamen nenne, was mir zugegebenermaßen früher niemals in den Sinn gekommen wäre, wo ich ihn doch nicht mal mit seinem Familiennamen angeredet hatte, um so wenigstens ein Mittel in der Hand zu haben, ihm meine Abneigung zu demonstrieren - lagen unendlich viele Kiesel. Ein besonders schöner, großer, weißer war auch darunter; von der Sorte, wie meine Frau sie mag.

Keiner sah ihm mehr an, dass vor Stunden noch dickes, warmes Blut seine Schönheit überdeckt hatte - welches sich aber alsbald mit der, für diese Gegend und diese Jahreszeit ungewöhnlichen Wasserflut, die vom Himmel herniederrauschte, vermengen sollte. Selbst zwanzigjährige Söhne, so erzählte man mir später, können sich nicht erinnern, dass es irgendwann im September so lange durchgeregnet hatte.

Doch jetzt war dieser große, marmorne Kiesel wieder rein. Lediglich ein schmaler, blutroter Streifen auf seiner Unterseite trübte das Bild. Dass hier auf Thassos der reinste, schönste Marmor abgebaut wird, das Wissen darüber zählt ja wohl zum Allgemeingut - oder? Hmmm – ich korrigiere mich: der zweitschönste, nach dem aus Carrara. Doch dieser hier war reingewaschen vom Zorn, gereinigt von der Sünde. Das Werk, welches zu vollbringen sein Meister sich vorgenommen hatte, war offenkundig getan; dieser wunderschöne Stein - ein williges Werkzeug in der Faust von jemandem, der Rache will, dessen aufgestauter Zorn nach einem Ventil suchte.

Wasser reinigt fast alles, es ist nur eine Frage der Zeit. Doch hatte der nächtliche, sintflutartige Regen dafür offensichtlich schon ausgereicht. Es war für den Täter – dass dies ein menschliches Werk gewesen war, daran bestand ja wohl kein Zweifel - Anlass und Anstoß zugleich gewesen, um einen, zunächst noch im Zustand der Unsicherheit gefassten Beschluss zu planen und durchzuführen. Spurenlos.

Als Tatwerkzeug, als mögliches, musste der Kiesel, der glatte, ovale, Faustkeil große, so wie er vor mir lag, auch jedem noch so Unbedarften gleich aus zweierlei Gründen geradezu ins Auge stechen. Zum einen lag er gerade mal eine Handbreit neben dem Kopf des Opfers; und außerdem hob er sich schon wegen seiner Größe von dem mit unendlich vielen, kleinen Teilchen gebrochenen Marmors ausgelegten Kiesweg, der rund um das in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts erbaute Hotel herumführte, deutlich ab.

Ich hob ihn also auf, den Stein, unseren Stein, den wunderschönen Kieselstein meiner Frau Isabel. Stunden hatte sie die Tage zuvor am Strand verbracht, um einige wenige, dafür aber ganz besondere Kiesel aus dem weißen Marmormeer herauszuklauben - darunter diesen. Zu Hause wollte sie die Steine bemalen und für ein neues Kunstwerk verwenden – man muss wissen, seit etwa zwei Jahren betätigt sich meine Frau auch künstlerisch.

In einer separaten Schublade des Birke-natur-Ikea-Wandschranks-erstes-Produktionsjahr unseres Hotelzimmers hatte sie fünf davon verwahrt. Wie Edelsteine; für die Heimreise. In der ersten Regennacht hatte ich drei von ihnen schon als Tropfenfänger hernehmen müssen, damit ich angesichts dieses ständigen „Klöck … klöck-klöck“ auf der Balkonbrüstung aus hohlem Aluminium nicht wahnsinnig wurde. Zum Glück waren die Kiesel groß genug, sodass sie kein Wind so schnell herunterwehen konnte. Und außerdem, wer hatte schon nachts etwas unter unserem Balkon verloren?

Nachdem wir infolge dieser stürmischen Nacht ziemlich spät aufgestanden waren und auch den Frühstücksraum als eine der letzten betreten hatten, war nach unserer Rückkehr ins Zimmer dieses schon wieder von den Zimmermädchen hergerichtet. Erst am späten Nachmittag entdeckte ich, dass jemand zwei der großen Kiesel vom Geländer heruntergenommen und auf den Boden gelegt hatte, der dritte jedoch, ausgerechnet der größte und schönste – das Herz verkrampfte sich mir – fehlte. Ich malte mir die riesige Enttäuschung im Gesicht meiner Frau aus. Entsetzlich. Ich erzählte ihr nichts davon. Ich liebe meine Frau. Sehr.

Einschub (1): Isabel

Ach, Isabel. Ich sollte mehr über sie erzählen. Ich habe sie bisher nur in Verbindung mit ihren Steinen erwähnt - stimmts? Ein Fehler. Schlimmer noch: Eine unverzeihliche Entgleisung. Denn genau genommen ist sie mein innerer Halt, meine innere Stärke, meine Kraft. Sozusagen mein Ambrosia, der Göttertrank, der in der griechischen Sage die Götter unsterblich macht. Übertrieben? Vielleicht, ein wenig. Auch ist mir bewusst, dass ein solches Geständnis kein besonders positives Licht auf mich wirft. Jeder, der das liest, wird denken, was für eine Nulpe!

Klar ist jedoch auch, dass sie einen großen Einfluss auf mich hat. Fürs Protokoll und zu meiner Entlastung sei vermerkt, dass ich mich dem wiederum ständig zu entziehen versuche. Warum? Nun, ich schätze, weil ich realisiert habe, dass wir zu gegensätzlich sind. Damit möchte ich aber nicht sagen, dass wir nicht zueinander passen würden. Unterm Strich.

Jedenfalls ist sie in der Regel die Vernünftigere von uns beiden. Wie ich sie beschreiben würde? Eine junge Frau von 42 – sie sieht jünger aus –, schlank, brünett, lustige, lockige Haare über einer hohen Stirn, fast schulterlang. Ihrem äußerst geschärften, analytischen Verstand kann - dessen bin ich mir sicher - kaum jemand auch nur annähernd das Wasser reichen; und – tja, sie ist sehr lieb anzusehen.

In ihren blauen Augen kann man ertrinken – ohne dabei zu sterben; will sagen: du kannst dich ihr nähern, dich ihr öffnen, ohne befürchten zu müssen, dass sie ihr Wissen irgendwann gegen dich verwendet. Sie war, beziehungsweise ist ein durch und durch lieber und deshalb besonders liebenswerter Mensch; einer mit sehr viel sozialer Empathie. Auch ist Isabel niemand, die einem Mann den Kopf verdreht und ihn dann hängen lässt. Wenn sie sich einem Menschen zuwendet, dann kann dieser sich verdammt geehrt fühlen.

Ich habe sie kennengelernt, noch während ich mit Marlene zusammen war, eine Frau, die mich zugegebenermaßen vollkommen in ihren Bann geschlagen hatte. Wenn ich es recht bedenke, war Isabel schon damals der vollkommene Gegenpol zu ihr. Während Marlene eine enorme erotische Anziehungskraft auf mich ausübte – ich konnte in ihrer Gegenwart fast an nichts anderes mehr denken als an das eine; sie hatte mich sozusagen im sexuellen Würgegriff –, fühlte ich mich bei Isabel immer frei. Regelrecht leicht. Nicht dass ich sie etwa unattraktiv gefunden hätte. Gewiss nicht. Aber bei ihr habe ich nie die Hitze gespürt, die mich bei Frauen wie Marlene regelrecht um den Verstand brachte. Ihr einfach folgen musste! Da zählte dann nur noch das Animalische. Es legte Fesseln an, konnte süchtig machen.

Ja, es war tatsächlich so, ich gebe es freiwillig zu: Ich habe die eine mit der anderen betrogen. Das habe ich auch in den Jahren davor schon öfter so gehalten – ich gestehe es als im Sternzeichen des Zwillings Geborener frank und frei. Mir ist aber auch klar gewesen, dass das vor allem Isabel gegenüber mehr als unfair war.

Was sie trotzdem dazu gebracht hat, an mir festzuhalten, so einen wie mich gar noch zu lieben? Ich weiß es, aufrichtig gesprochen, bis heute nicht. Vielleicht war es ja das Chaotische, das da mit mir in ihre Welt einbrach. Obwohl sie eigentlich zu intelligent und zu hellsichtig ist, als dass sie das nicht abwehren könnte. Vielleicht hat sie dahinter, hinter mich, geschaut und gemeint, das Rätsel meiner Person irgendwann in ferner Zukunft lösen zu können.

Ich glaube fast, sie hat uns beide, bis heute, mit einem Schotstek umschlungen – und nicht mehr zugelassen, dass jemand (von uns beiden oder von außerhalb) ihn aufzulösen versucht. (Für Nicht-Schiffer: In der Seemannssprache ist ein Schotstek ein Knoten, der zwei unterschiedlich starke Leinenenden miteinander verbindet.) In unserem Fall muss Isabel schon einen doppelten Schotstek geknüpft haben, so unterschiedlich geflochten und so ungleich stark waren, ja, sind wir beide.

Ich denke, sie war von Anfang an die Stärkere. Doch da solche Kräfte nicht ewig reichen – ich würde sie körperlich eher als zart bezeichnen –, darf ich sie nicht endlos erschöpfen, sonst wird diese Kraftquelle eines Tages versiegen. Meine Aufgabe ist es, rechtzeitig zurückzuweichen und ihr die Kraft zum Durchatmen zu geben. Ich muss das tun, denn schließlich ist sie der bessere Mensch von uns beiden. Eindeutig der bessere Charakter. Ich sage das, obwohl ich mit meinen Fähigkeiten nicht hinterm Berg halten will. Wäre auch töricht, zumal in der heutigen Zeit … Stichwort: „Der gläserne Mensch“. Der Leser soll durchaus erkennen können, was er, was die Welt an mir hat.

Soviel fürs erste über meine Isabel. Ja, sie soll später auch für mich sprechen. Ich hoffe, sie wird es tun – trotz allem. Abhängen wird dies davon, was sie dann noch für mich fühlt. Ihr Status als Ehefrau spielt dabei dann sicherlich keine Rolle mehr. Hat jedenfalls bei ihr noch nie eine gespielt. Soweit ich weiß.

*

Nachdem sich das stürmische Wetter wieder beruhigt hatte – auch das Meer bewegte sich nur noch schwach, eine fast sanfte Dünung mit Kuschelwellen –, kam mit dem böigen Abendwind erneut Schlechtwetter auf.

Mittlerweile weiß ich nur zu gut, wie es klingt, wenn schwere Wassertropfen auf metallenes Gestänge, oder auf Stein oder auch auf Stoff treffen.

DIESE REIHENFOLGE,

SIE HABEN ES GEMERKT,

ABER JA DOCH,

SIE MÜSSEN ES GEMERKT HABEN,

IST JETZT NICHT ZUFÄLLIG –

SIE KANN, SIE DARF ES AUCH NICHT SEIN.

NIEMALS.

SIE STELLT GEWISSERMAßEN

EINEN TEIL DER HANDLUNG DAR;

EINE HANDLUNG,

IN DIE AUCH ICH EINGEBUNDEN WAR.

BIN.

ICH WEIß NUR NOCH NICHT, WIE.

Einschub (2) Gestänge, Stein, Stoff …

Mit ersterem berichte ich von dem besagten Geländer aus Alu. In den acht Urlaubstagen unter extrem blauem Himmel, aus dem die griechische Sonne wie ein gleißender Spot auf der Bühne eines Amphitheaters auf uns herniederstach, fand es jedoch meine Aufmerksamkeit höchstens am Rande; wer in aller Welt käme denn auch nur im Entferntesten auf den Gedanken, ein stinknormales Geländer als außergewöhnlich zu betrachten? Es schmiegte sich mir einfach nur angenehm in die Hand, ja, regelrecht weich, würde ich sagen. Der einsetzende Regen aber machte es mir zum erbitterten Feind. Warum? Sie werden es erfahren.

Schon davor, draußen beim Abendessen zusammen mit etwa zwanzig weiteren Gästen hatten die ersten schweren Tropfen begonnen, sich durch das, nur oberflächlich feste, nur scheinbar undurchlässige Blätterdach aus Olivenbaum und Weinlaub hindurchzuwinden und in den Weingläsern auf den Tischen eine kleine Springflut auszulösen, während die meisten Gäste, allen voran die Deutschen, ihrem Auftreten nach zu urteilen unmissverständlich der proletarischen Mischpoke zuzuordnen, zur zerkochten Schinkenroulade mit zermanschtem Tsatsiki noch genussvoll ihren harzigen Retsina-Wein süffelten. Auf den, von den Pauschalgästen daraufhin panikartig zurückgelassenen, überwiegend noch halb gefüllten Tellern vereinigten sich die Essensreste mit den gefräßigen Wassermassen und bäumten sich zu schleimigen Pampen auf.

Nun gut, mochte es ruhig einmal regnen, nachts, dachten wir. Doch entscheidend auch für den Ausgang unserer Geschichte ist, dass diese, jene Nacht für uns zum Tag wurde - in unserem zweieinhalb mal drei Meter kleinen Pauschal-Ferien-mit-Halbpension-Hotelzimmer.

Dass es in jener Nacht lediglich unzusammenhängend regnete, deuteten wir anfangs für uns als gutes Omen. Eine gewaltige Täuschung, wie wir bald, sehr bald, feststellten. Haben Sie schon einmal Tropfen gezählt? Auch dann, wenn diese zu einem stakkatoartigen Getrommel anschwellen? Meine, unsere Tropfen fielen zudem recht launenhaft. Vergebens wartete ich auf einen irgendwie sich wiederholenden, wiederzuerkennenden Rhythmus dieses „Klöck … klöck-klöck“. Wenn ich glaubte, einen solchen entdeckt zu haben, lauschte ich glücklich in Erwartung seiner Wiederkehr; doch erst Sequenzen später, erheblich später, fast immer dann, wenn ich schon nicht mehr darauf gefasst war, kehrte er auf entnervende Art zurück: „Klöck … klöck-klöck“. Sein Ausbleiben hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt schon derart frustriert, dass ich sein erneutes Eintreffen bereits als äußerst heimtückisch empfand, was mich dann nur noch mehr nervte, mich noch tiefer hinabzerrte – ja, ich bin ehrlich: mich erniedrigte, mich regelrecht demoralisierte. Wie zuvor schon angekündigt: Eine erbitterte Fehde bahnte sich an.

Erschwerend hinzu kam der Umstand, dass das Geländer unseres Balkons nicht, wie zu früheren Zeiten und wie in älteren Hotels gang und gäbe, aus purem, durchgängigem Eisen gegossen war, sondern aus billigen, hohlen Aluminiumschalen zusammengesteckt – ich erwähne dieses Detail hier extra noch einmal; mit der Folge, dass jedes Mal, wenn es von einem Tropfen getroffen wurde, es nicht sachlich kurz und beruhigend „Klick“ – oder so – machte, sondern geradezu schallend laut „Klöck“. Das irgendwie Vertrauen einflößende Eisen-„Klick“ hätten meine Nerven, dessen bin ich mir sicher, vortrefflich toleriert, ja, sie hätten den Ball sogar zurückgespielt, hätten mit diesem Ton Ping Pong gespielt, sich also durchaus auf ihn eingelassen; aber nicht so bei diesem stumpfen, schreiendbanalen, tumben, in seiner Primitivität meinen unabdingbaren und allergrößten Widerstand herausfordernden „Klöck“.

Die Nacht in einem Liegewagen der Bahn zu verbringen, mit der Tonmelodie von gleichmäßigen, mit einer unendlichen Sanftheit in den Schlaf wiegenden, verlässlichen, fast an eine Symphonie erinnernden Geräuschen, mit den Schienen sozusagen auf du und du, eins mit dem Widerhall - so etwas kann geradezu schön sein. Es suggeriert im weitesten Sinne eine immerwährende Wiederkehr, etwas, das nie aufhört. Ja, nie aufhören soll. Eine Wiederkehr à la Nietzsche, à la Jahwe, à la Buddha; so wie das sanfte Wiegen der Wellen, die unentwegt auf den Hotelstrand zurollen, was Regelmäßigkeit verspricht, für Kontinuität steht, an den Zusammenhang von Erdanziehung, Mond und Gestirnen glauben lässt.

So - wir hatten das Alu, jetzt kommt der Stein.

Es mussten erst noch Stunden voller „Klöck … klöck-klöck“, in der ersten Nacht verstreichen, ehe ich, in das Dunkel eines gesichtslosen Hotelzimmers gepresst, hellwach, auf die Notlösung mit den Marmorkieseln verfiel; diesen Steinen, die sich, ohne sichtbaren Widerstand, ohne jedwede schroffe, störende Erhebung formvollendet in die Hand schmiegen. Vor ihrem Transport tausende Kilometer in Richtung Nordwesten heim nach Deutschland mussten sie aber alle noch, jeder auf seine Weise, eine Mission erfüllen.

Bestimmt hatte ich mehr als dreißig Minuten fröstelnd, im Pyjama auf dem Balkon zugebracht; hatte versucht, die Auswirkungen auch kleinster Windböen vorauszuberechnen, damit sich auch tatsächlich jede Möglichkeit verbot, dass die Maschinengewehrgarben von Regentropfen etwa weiterwanderten und so dem Alugeländer erneut diese, mich bis aufs Blut quälenden Töne abringen konnten.

Ich legte also drei oder vier Steine auf den Handlauf der Balkonbrüstung … die genaue Zahl ist mir entfallen; sogar damals, als ich unmittelbar nach dem tragischen Vorfall – keine Sorge, auch dazu komme ich noch – von den Polizisten vernommen wurde, war ich mir schon unsicher gewesen. Präzise in Erinnerung ist mir aber noch, dass die Steine ziemlich exakt liegen mussten: der Handlauf war nämlich auf der Oberseite leicht gerundet. Das Ganze ließ sich also nicht so einfach an, wenn ich allein daran denke, wie mir währenddessen die Augen von Stunden unbefriedigter Müdigkeit in den Höhlen brannten.

Es war halb fünf, glaube ich, bis es schließlich nicht mehr „Klöck … klöck-klöck“ machte, sondern ein angenehmes und heiteres „Klick … klick-klick“. Teilweise – muss ich sofort einschränken. Immerhin, einige wenige Stunden unsicheren Schlafes waren uns vergönnt, weil der Regen in unregelmäßigem, unberechenbarem Tempo mal zunahm, mal abnahm, und so die Tropfen, zusätzlich getrieben von Windböen, durch den Wasserspeier über unseren Köpfen den Ort ihres Ablebens trotz all meiner getroffenen Vorkehrungen mal vor, mal hinter den Steinen auf der Balkonbrüstung suchten und damit gelegentlich, als sei der Heimtücke noch lange nicht genug, genau zwischendrin wieder und wieder mit einem deutlichen „Klöck …“ genussvoll auf dem Alublech zerplatzten.

Es gab für mich aber noch einen weiteren Grund, weshalb mein Hass auf dieses Hotel und seinen Besitzer von Stunde zu Stunde wuchs. Ich hatte ihn noch nicht genannt, weil ich nicht ablenken wollte vom Hauptmotiv, vom vermutlichen, möglichen, für die verruchte Tat. Also, hier Grund Nummer zwei: Trat ich morgens auf unseren Balkon hinaus, dann sogen meine hochsensiblen Geruchsknospen als erstes den bitter-stumpfen Laugengeruch aus der Wäschekammer des Hotels ein; diese befand sich nämlich exakt unter unserem Balkon. An diesen zwei Tagen war der Geruch noch weit durchdringender als sonst, vermutlich wegen der nasskalten Regenluft, die schwer über dem Boden hing. Und war das Wetter morgens schön, dann hatten zu der Zeit, in der wir uns normalerweise zu regen begannen und uns der Gedanke an Sonne, Sand und Meer dazu trieb, die Balkontüren weit aufzustoßen und die klare, helle Luft in die Lungen zu lassen, die thassischen Frauen bereits die Tisch- und Bettwäsche, knapp vier Meter vor unserer Nase, auf dem provisorischen Trockenplatz zwischen den Olivenbäumen aufgehängt.

Zu Anfang machte mir das nichts aus, im Gegenteil: Ich erfreute mich sogar an dem überaus grafischen, schachbrettartigen Bild der akkurat aufgehängten Wäschestücke, das sich meinem ästhetisch verwöhnten Auge darbot. Nach wenigen Minuten allerdings war es bei mir vorbei mit der Harmonie: Der ätzende Laugengestank drang mir so tief in die Nase, dass ich Angst hatte, zu kollabieren. Wäschekammer und aufgehängte Wäsche zwangen mich geistig in die Nähe einer Abstellkammer - unser teures Zimmer: Eine Abstellkammer! Ein längst vergessen geglaubtes Gefühl von Ausgestoßensein und eigener Minderwertigkeit drängte sich mir unweigerlich ins Bewusstsein.

In meinem Job hatte ich, wie beinahe jeder Berufstätige, Vorgesetzte zu ertragen; im Urlaub aber, wenn ich frei war, verlangte es mich, wie wohl jedermann, endlich wieder dieses Gefühl der eigenen Persönlichkeit, richtiger: des Wertes der eigenen Person in vollen Zügen zu genießen. Ich wollte durchatmen, physisch wie psychisch. Wenn ich dagegen hier auf dem Balkon durchatmete – was sogen meine Lungenflügel da ein? Na, was? Ekligen Laugengestank statt frischer Meeresbrise!

Entschuldigung, ich merke, ich werde aggressiv. Aber welcher, auch nur einigermaßen sensible Mensch könnte bei so etwas schon ruhig bleiben? Ich bin schließlich nicht Jesus.

Hatte ich übrigens schon von der Begebenheit mit den Sonnenschirmen erzählt, am Morgen nach unserer Ankunft auf der Insel? Nein? Nun, das war Ärgernis Nummer drei: Wir hatten uns zugegebenermaßen etwas Zeit gelassen mit dem Frühstück – schließlich war dies unser erster richtiger Ferientag. Kurz nach neun betraten wir die, dem Hotel vorgelagerte, mit grünem Efeu berankte hübsche Terrasse. Natürlich fiel mir sofort unangenehm auf, dass irgendwelche Hotelgäste bereits frühzeitig einige Sonnenliegen am Strand mit einem Badetuch verziert hatten; was wohl soviel wie „Hier ist belegt!“ bedeuten sollte.

Nun zähle ich mich selbst nicht zu jener Sorte Menschen, die, nur um eine Sonnenliege zu ergattern, dazu bereits im verblassenden Mondlicht und ausgerechnet im Urlaub aufstehen – ha, das wäre ja noch mal so schön –; auch fehlt mir das Verständnis für derlei Vorratswirtschaft, und überhaupt finde ich es egoistisch und rücksichtslos. Deshalb offenbart für mich solch ein Vorgehen bloß die Unfähigkeit, sich in humaner, sprich: der eigenen Kultur gemäßen, also in kommunikativer und fairer Weise mit den Mitmenschen zivilisiert auseinanderzusetzen.

Sie fragen, wie ich persönlich es denn damit halten würde? Nun, Kultur, meine ich, wozu für mich zu einem großen Teil auch die Verhaltens- und Benimmkultur zählen, hängt nicht vom Geldbeutel ab. Sprüche wie „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ sind jedenfalls meine Sache nicht. Vielmehr entlarven sie meiner Ansicht nach ihren Redner als Angehörigen des Plebs und offenbaren damit jenen marktschreierischen Charakter, der zuallererst die Ellenbogen einsetzt, bevor er sich die Mühe macht, seinen Verstand zu gebrauchen und erst dann versucht, zu einem Konsens mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen zu gelangen.

Andererseits gestehe ich ein, dass wenn ich irgendwo eintrete, ich es eigentlich gewohnt bin, Beachtung zu finden – und, wenn ich dabei nicht allein bin, zuallererst jedoch meiner Person Beachtung zuteilwird. Ganz abgesehen davon, dass man mir spontan Hilfsbereitschaft und Entgegenkommen zu gewähren bereit ist - vom Respekt, den ich meiner Person gegenüber erwarte, möchte ich gleich gar nicht reden. Den nehme ich als selbstverständlich hin.

Wer in aller Welt möchte das überheblich finden und mir jetzt entgegenhalten wollen, alle Menschen seien schließlich gleich? Gegenfrage: Wie halten Sie’s mit der Queen? Würden Sie ihr nicht auch den Vortritt lassen, gewissermaßen automatisch, weil Sie glauben, das gehört sich so - quasi wie ein Naturgesetz?

Was? Sie meinen, ich könne mich nicht mit der Queen vergleichen? Das sei anmaßend? Na gut. Sei’s drum. Ich sehe, wir treten auf der Stelle. Immerhin bin ich in Streitfällen immer an einem Dialog interessiert und nicht daran, das Problem mit der proletarischen Brechstange zu lösen.

Jedenfalls gehörten wir an diesem, unserem ersten Morgen auf Thassos offensichtlich mit zu den letzten Gästen, die, das Badetuch lässig über die Schulter gehängt, zum hoteleigenen Badestrand hinunterschlenderten. Auch standen zu diesem Zeitpunkt noch genügend Liegestühle aufeinandergestapelt hinter dem blauweißen Schild mit der Aufschrift – in Deutsch; man beachte (!) - „LIEGESTUEHLE UND SONNENSCHIRME KOSTENLOS“. Die korrekte Rechtschreibung, hier, ein ganzes Stück weit vom griechischen Festland und noch viel weiter von der Heimat entfernt, versetzte mich denn doch in respektvolles Erstaunen. Vielleicht, muss ich da einräumen, liegt es ja auch an meiner möglicherweise etwas tradierten, heutzutage vielleicht schon als etwas eigenwillig, wenn nicht gar verschroben anmutenden Vorstellung von einer Insel. Na gut, Thassos hat nichts mit einer Insel à la Robinson Crusoe gemein; trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb erwartete ich natürlich – so, wie bei einem aufrichtig gemeinten Versprechen –, dass das, was auf solch einem Schild steht, auch eingehalten wird.

Bevor ich jedoch zur Tat schritt, gönnte ich mir den Luxus – man hat ja schließlich im Urlaub alle Zeit der Welt -, für einen Moment meinem Wonnegefühl freien Lauf zu lassen. Zum ersten Mal in meinem Leben weißen, weichen, warmen Sand auf einer griechischen Insel spüren - die Sandkörner schmiegten sich bereitwillig an die, vom glatten Fußbett verwöhnten, unbedarften Fußsohlen. Herrlich! Die Zehen gruben sich tief in den hellgelben Sand, auf einem Bein balancierend ließ ich ihn zwischen den Zehen durchrieseln.

Zwar merkte ich, wie meine Frau, die leichtfüßig und froher Erwartung ein paar Meter vorausgeeilt war, um für uns ein schönes Plätzchen für den Sonnenschirm zu finden, meinem kindlich anmutenden Herumgehüpfe amüsiert zuschaute. Doch ließ ich mich nicht im Geringsten beirren. „Stell dir vor, dass ein Grieche in der Zeit der Antike vor rund zweitausend Jahren vielleicht sogar noch exakt an derselben Stelle den Sand durchkämmte!“, rief ich ihr begeistert entgegen. Ihr Einwand, „vielleicht hat er aber auch exakt an dieser Stelle seinen Hund Pipi machen lassen“, ließ mich ihr demonstrativ die kalte Schulter zeigen. Ein Schauer von Grandiosität durchlief mich angesichts der Vergangenheit dieses Eilandes. Was für Geschichten mochten sich an dieser Stelle wohl schon zugetragen haben?

Nun, auf jeden Fall war da überhaupt an die Existenz eines Hotels „Nisteri“ noch gar nicht zu denken gewesen. Ich trödelte hinüber zu den Plastikliegen, die gleich am Fuße der Treppe ordentlich aufeinandergestapelt lagen. Daneben, teils an die weiß getünchte Mauer gelehnt oder achtlos auf Betonreste geworfen, die vermutlich noch aus der Bauzeit dieses Hotels herumlagen – was mich zwar grundsätzlich störte, als Urlauber jedoch ignorierte ich dies geflissentlich -, fand ich noch sieben oder gar acht Sonnenschirme vor. Ich griff mir wahllos einen, klappte ihn probehalber auf – und stutzte: „Nanu, der hat ja tausend Löcher“, murmelte ich überrascht vor mich hin. Beim zweiten war es nicht viel anders und bei den Restlichen ebenso.

Ich war empört, fühlte mich ungerecht behandelt, ja regelrecht getäuscht – in was für eine Absteige waren wir denn da geraten? Wenn man als Hotelier schon Liegestühle und Sonnenschirme anbietet – ganz egal, ob nun kostenlos oder nicht –, dann hat man, meine ich, gefälligst darauf zu achten, dass zumindest für jedes Hotelzimmer wenigstens ein Sonnenschirm bereitsteht - und zwar ohne solcherart offenkundige Schäden.

Aber vielleicht war auch alles nur ein Irrtum und möglicherweise hatte ich am falschen Ort geschaut. Ich ging also, meinen Zorn mühsam unterdrückend, zu dem Hotelier, der mit wohlgefälliger Miene auf der oberen Terrasse von einem bequemen Korbsessel aus auf das Treiben am Strand herniederschaute.

„Sie haben doch sicherlich noch Sonnenschirme, die nicht so verlottert sind wie die, die am Fuße der Mauer vor sich hingammeln – oder sind die gar nicht von Ihnen?“, sprach ich ihn direkt an. Er versuchte erst gar nicht, die Tatsachen zu beschönigen, machte aber auch keine Anstalten, sich etwa für den blamablen Zustand seiner Schirme zu entschuldigen, sondern verwies mit einer läppischen, mich zusätzlich in Rage bringenden Geste à la „du kannst mich mal“ darauf, dass es auf dem Strandabschnitt nebenan, wenn auch außerhalb unserer Hotelanlage, schließlich genügende Sonnenschirme zu mieten gäbe. Doch am meisten wütend machte mich seine dahingeworfene Bemerkung, womit er wohl sein Missfallen über meine Anmaßung ausdrücken wollte: „Saison sein vorbei, wozu Schirme reparieren – wozu aufregen?“.

Schon da spürte ich, dass dieser Urlaub nicht so verlaufen würde, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.

*

Ich starrte auf die Kiesel. Je länger sich mein Blick an ihnen festsaugte, desto intensiver war das Gefühl, dass mich mit ihnen Schicksalhaftes verband. Wo aber war der große weiße, glatte? Ich weiß nicht mehr, wie lange ich darüber grübelte; jedenfalls schreckte ich wie aus einem tiefen Traum auf, als ich meinen Namen rufen hörte. „Nils, wo bleibst du so lange?“ Nils? Ja, mein neues, genau genommen mein zweites Ich. Nils Boysen. Eigentlich komisch. Beide hatten wir uns so schnell an diesen Namen gewöhnt, ihn fast wie eine neue Haut übergestreift, und später, als einmal - ich weiß nicht wie – die Sprache darauf kam, stellten wir erstaunt, ja fast ein bisschen beschämt fest, dass dieser Namenswechsel uns gar nichts mehr ausmachte. Wir blieben jedoch, fast trotzig, dabei – fast so, als ob wir damit etwas vergessen machen wollten. Eine abgelegte Identität, etwas Böses gar aus der Vergangenheit? Vielleicht. Doch - tatsächlich. Genauso verhielt es sich.

Ich legte den Kopf in den Nacken, sah nach oben und erblickte meine Frau, die sich gerade offenbar Hilfe suchend weit übers Balkongeländer lehnte. Von dem, was passiert war, schien sie noch gar nichts mitbekommen zu haben.

„Wo ist mein Stein?“, wollte sie wissen. Ich suchte schon insgeheim nach einer Ausrede, da hörte ich sie, diesmal etwas leiser, sagen: „Was für ein Glück! Dort hinten liegt er ja.“ Erschreckt wandte ich meinen Blick in die Richtung, in die ihr Finger deutete.

Tatsächlich. Wenn ich ebenfalls, intelligenterweise, auf den Gedanken gekommen wäre, ihn vom Balkon aus zu suchen, wäre er mir wohl kaum verborgen geblieben. Neben dem Eingang zur Wäschekammer, etwas vom Balkon entfernt, lag er unschuldig zwischen seinen Artgenossen. „Ich hol ihn schon, eine Windbö wird ihn vom Geländer heruntergeweht haben. Bei dem abgerundeten Geländer ist das leicht möglich“, rief ich eilig und etwas vorschnell, in Gedanken noch unschlüssig, welche Schlussfolgerungen sie wohl aus einem solcherart dahingeworfenen Satz – noch dazu aus meinem Munde - ziehen würde. Doch da war sie zum Glück bereits ins Zimmer zurückgegangen.

Natürlich beeilte ich mich, den Stein zu holen, könnte er mich doch der Lösung meines Problems, wie ich zu diesem Zeitpunkt noch dachte, eventuell näherbringen. Vorher sah ich mich sicherheitshalber noch nach den Polizisten um, denen die Sache mit dem toten Hotelier nach meinem Eindruck ebenso rätselhaft vorkam wie allen anderen – außer mir.

In unschuldigem Weiß lag er da, flach, von Mutter Natur wie ein Teigfladen geformt, marmorn schimmernd. Je nachdem, von welcher Seite aus man ihn betrachtete, schien er seinem stillen Verehrer zuzublinzeln; ganz unschuldsvoll, wie gesagt. Er zog mich wie magisch an. Die Polizisten waren gerade um die Ecke herum verschwunden, die Gelegenheit somit günstig. Ich beugte mich hinunter, meine Finger streckten sich nach ihm aus; doch seltsamerweise bekam ich ihn nicht gleich zu fassen. Es war fast so, als ob er sich meinem Zugriff entziehen wollte.

Bevor dann aber mit buchstäblich einem Schlag alles um mich herum dunkel wurde, vermeinte ich noch einen langen, blutroten Strich an seiner Unterseite zu bemerken.

*

„Hallo! Wachen Sie auf, Herr Boysen“, drang es in einem Tonfall, wie ihn auch bei uns zu Hause eigentümlicherweise nur Polizisten haben, an mein Ohr – so herrisch, staatsbeflissen …; es war übrigens das rechte. Woher ich das weiß, das mit den Polizisten und ihrem Tonfall? Ich habe es selbst erlebt. Eine schon etwas angestaubte Geschichte. Ich komme darauf zurück. Später. Zwangsläufig.

Ich weiß nicht, ob es Ihnen ähnlich geht, aber ich finde schon, dass es einen Unterschied macht, ob man rechts- oder linksliegend aufwacht. Gut, daheim sind mir in jedem Raum alle Seiten gleich vertraut, aber unterwegs, in der Fremde, finde ich die Seite nicht ganz unwichtig – vor allem, wenn man aus einer solchen Art von Schlaf, wie ich ihn gerade zwangsweise hatte erleben müssen, wieder an die Oberfläche auftaucht. Rechts ist mir angenehmer; von links hingegen drücken die Eingeweide. Noch nie bemerkt? Ich wachte jedenfalls links liegend auf, weshalb ich auch sogleich ein dringendes Bedürfnis verspürte. Doch weil ich dachte, dass ich es allein nicht schaffen würde, so benommen wie ich noch war, drehte ich meinen Körper, den ich irgendwie noch wie ein fremdes Organ wahrnahm, zuerst nach rechts.

„Was ist passiert?“ fragte der Polizist, ein zivil gekleideter, für einen Griechen ziemlich hochaufgeschossener Typ mit Strohhut – offenbar ein sogenannter Leitender. Es war mir unmöglich, ihm spontan zu antworten; ich war noch zu sehr damit beschäftigt, in mich hineinzuhorchen; und überhaupt, was ich wusste oder zu wissen glaubte, ging die Polizei nichts an. Dafür hatte ich schon zu viel auf diesem Gebiet erlebt. Eines jedoch schien klar: Irgendjemand musste mich vor ein paar Minuten mit einem gezielten Schlag niedergestreckt haben, genauso wie vielleicht auch unseren Hotelier – mit dem einen Unterschied, dass der sich jetzt keine Gedanken mehr um das Warum und Wieso machen musste. Nie mehr.

Jedenfalls spürte ich beim spontanen Versuch, aufzustehen am Hinterkopf einen stechenden Schmerz, der mich fast gleich noch einmal in die Bewusstlosigkeit sinken ließ. Im letzten Moment vermochten mich zwei Polizisten aufzufangen - gerade als ich nach vorn zu kippen drohte. Sie setzten mich an die Hauswand neben der Tür zur Wäschekammer – und, wie ich mit einem Blick zur Seite sofort bemerkte, in direkter Sichtweite zu unserem flachen, handtellergroßen Kiesel. Ja, da war er wieder: Unser Kiesel. Isabels Kiesel.

Sie hatten ihm einfach keine Bedeutung geschenkt, diese schlichten Gemüter; lag er, das mutmaßliche Mordwerkzeug, doch zwischen einer Vielzahl ähnlicher, aber bedeutend kleinerer Steine. Sie erkannten nicht, dass er etwas Besonderes war und dass er eben nicht zufällig wie die anderen da herumlag, sondern dass es einen Grund dafür gab, dass er genau hier lag. Und mir war eines vollkommen klar: Dass ich ihn finden sollte.

Dass mir zwei Polizisten halfen, damit ich mich an die Wand lehnen konnte, hatte natürlich seinen Grund: Ich war nur dann für sie von Nutzen, wenn ich wach und damit vernehmungsfähig blieb. Sie bohrten denn auch, vordergründig um Verständnis buhlend, sofort weiter – außerdem läge es ja nur in meinem eigenen Interesse. Sie wunderten sich etwas, weil ich schwieg, waren aber immerhin bereit, dies dem Schlag auf den Hinterkopf zuzuschieben. Wichtig war mir in diesem Augenblick nur, dass sie bald verschwanden.

Kaum ließen sie mich in Ruhe, suchten meine Augen sofort wieder nach unserem Kieselstein; inzwischen hatte er auch für mich um einiges mehr an Bedeutung gewonnen. Wer, so fragte ich mich, hatte außer Isabel und mir sonst noch Interesse an ihm? Doch seltsam, er war wie vom Erdboden verschluckt. Ich suchte vergebens.

In diesem Moment tauchte meine Frau auf. Mit halb geöffnetem Mund und schreckgeweiteten Augen versuchte sie mit der unerwarteten Situation einigermaßen fertig zu werden. Doch war nur allzu offensichtlich, dass sie sich, so wie ich aussah, sehr zusammenreißen musste, um nicht aufzuschreien. Grund genug hätte sie dazu gehabt, wie ich hernach beim Blick in den Spiegel feststellte. Doch hatten ihr die Polizisten mittlerweile erzählt, was dem Hotelier zugestoßen war.

„Ich lasse sofort einen Arzt holen.“ Ich winkte müde ab: „Bitte, nicht.“ Durch den vorbeistreichenden Wind spürte ich die Feuchtigkeit von Blut auf meinem Gesicht. Mein Schädel brummte; wie nach einer versoffenen Nacht. Das Tageslicht blendete mich. Ich schloss die Augen. Mein Kopf fuhr Karussell … wollte mich hinlegen. Einfach nur hinlegen. Isabel versuchte mich noch zu stützen. Doch aller Selbstbeherrschung zum Trotz - ich kippte einfach um. Als ich aus meiner zum Glück nur kurzen Ohnmacht erwachte, berührte etwas Warmes, Weiches meine Wangen. Ich blinzelte. Isabel hatte einen feucht-warmen Lappen, so, wie ich sie von nächtlichen Langstreckenflügen her kenne, besorgt und fuhr mir damit zärtlich übers Gesicht. Trotzdem fühlte es sich mir weniger liebevoll denn unangenehm an, wahrscheinlich wegen der Schmerzen.

In diesem Augenblick fiel mir ein, dass ich in meiner Jugend – ich war damals so um die 20 – immer wieder im Geiste bevorzugt in Opferrollen schlüpfte; das heißt, dass ich in meiner Fantasie irgendwie hilflos dalag und mich gleichzeitig ein hübsches Wesen - meistens eine Frau - im Arm hielt, mich umsorgte, mir die Wange streichelte. Eine Form von Masochismus? Oder verlangte ich bereits damals derart heftig nach diesem Gefühl von Zuwendung und Anerkennung, was dann in späteren Jahren mein Unterbewusstsein mit vielerlei neurotischen Vorstellungen zu kompensieren suchte?

Diese, zumindest momentan wenig hilfreichen Überlegungen beiseiteschiebend fiel mir auf, dass Isabel mich noch nicht wieder nach dem Stein gefragt hatte, den ich doch vorhin hatte holen wollen, nachdem sie ihn vom Balkon aus entdeckt hatte. Entweder sie maß ihm nicht dieselbe Bedeutung bei wie ich – was logischerweise dann der Fall war, wenn sie ihn nicht in die Geschehnisse der vergangenen drei Stunden mit einbezog - oder aber – mein Gedankenfluss stockte da etwas – sie dachte einfach, wohl mit Rücksicht auf mich und zu Recht, es gäbe jetzt Wichtigeres. Ich hatte die entsprechende Frage schon auf der Zunge, ließ es dann aber doch bleiben.

Der Grund hierfür war ein, wie soll ich es sagen, sehr "offensichtlicher". Und zwar trug sie an diesem Morgen eine Bluse mit einem zwar schmalen, dafür aber ziemlich tief gezogenen Ausschnitt; und als sie sich in diesem Moment weit zu mir hinunter beugte, offenbarte sie mir einen enormen Einblick in ihre fantastische Körperwelt. Das brachte mich, offen gestanden, ziemlich aus der Fassung; selbst noch nach zwei Ehejahren. Alle Gedanken an Steine oder ähnliches waren erst mal ad acta gelegt.

Ihr war mein Blick in den Ausschnitt ihrer Bluse nicht entgangen. Sie lächelte. Ein sanftes, verständiges Lächeln. Keines, das gleichzeitig bevormundet. Ich liebe dieses Lächeln. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.

„Na, Dir scheint es ja wieder viel besser zu gehen“, flüsterte sie und drückte meinen Kopf gegen ihre Bluse. Ich spürte ihre irre steifen Nippel und mir wurde ganz anders – bei sowas ging wohl mit jedem Mann die Phantasie durch. Vorsichtig zog ich mich an ihr in die Höhe. Ich stand jetzt zwar noch ein bisschen wacklig herum, aber immerhin aufrecht. Was ging mich überhaupt dieser Stein an, verflucht noch mal? Und was der verdammte Hotelbesitzer? Zwei scheußliche Regennächte lagen hinter uns; nun gut, das kann in jedem Urlaub passieren. Nein - die noch vor uns liegenden zwei Wochen, egal ob mit oder ohne Hotelbesitzer, würden wir uns von niemandem stehlen lassen. Ganz sicher!

*

Bei Gott waren wir naiv, vor allem ich. Zu glauben, ich könnte meine Vergangenheit so mir nichts dir nichts abstreifen und die Geschehnisse, die vor kurzem erst mein Leben radikal veränderten, auf immer verdrängen. Absurd. Weshalb ich trotzdem so dachte? Das liegt wahrscheinlich in meinem Streben nach Harmonie, nach äußerer wie innerer gleichermaßen. Von dieser Warte aus lassen sich manche Entscheidungen im Nachhinein viel besser nachvollziehen und verstehen. Es gibt zwar Phasen im Leben, da strebt der Mensch nach kompromissloser Absolutheit, Selbstbestimmung und Erfüllung. Im Allgemeinen jedoch sucht er den Ausgleich - denke ich zumindest.

Übrigens – noch vor nicht allzu langer Zeit nannte ich mich Lost, Karl Lost; nicht Boysen. Und ich hatte gemordet, zwei Mal. Glaube ich zumindest. Zweifel habe ich hierbei weniger wegen der Zahl meiner Opfer, eher frage ich mich bisweilen, ob es überhaupt stimmt – oder aber nur eine Annahme ist. Es scheint zu stimmen, manchmal; ein andermal wiederum nicht und ich meine dann zu träumen.

Ja, wirklich, es ist eine ziemlich verzwickte Geschichte. Doch Sie müssen sie noch ein Weilchen ertragen, sie begleiten. Sie amüsiert mich selbst. Ich weiß, das klingt verrückt. Ein bisschen wenigstens. Nein, ich selber halte mich nicht für verrückt. Auch nehme ich zu Ihrem Vorteil an, dass Sie das nicht ernst meinen – ich meine das Verrücktsein. Es ist nur zum verrückt werden, verstehen Sie? Nein? Ich kann es Ihnen nachfühlen. Es scheint ziemlich kompliziert. Doch indem Sie versuchen mich zu verstehen, helfen Sie irgendwie auch sich selbst. Habe ich recht? Verrückt.

*

Nun, jedenfalls stimmten wir uns, also Herr und Frau Boysen in unserem Hotelzimmer auf diese, wie wir hofften, wunderbare Zeit schon mal ein, machten uns keinerlei Kopf darüber, was sich wohl das Zimmermädchen angesichts der frisch zerwühlten Betten wohl denken mochte und gingen frühstücken.

Kaum hatte ich meiner Frau äußerst geräuschvoll den Stuhl zurechtgerückt - ich erwartete schon fast einen Rüffel von ihr, sie ist sehr empfindsam, was solcherart Lärm angeht, aber Holz auf Fliesenboden geschoben quietscht nun mal ganz fürchterlich -, da stürzte sich das Serviermädchen regelrecht auf uns. Fast so, als ob es speziell auf uns gewartet hätte. Wahrscheinlich war dieser Gedanke nun doch etwas zu fantasievoll - obschon er voll und ganz in mein Egoschema gepasst hätte. Ich halte zwar sehr viel von mir und denke, wie bereits erwähnt, dass andere einem bedeutsamen Menschen wie mir per se den entsprechenden Respekt zollen sollten. Aber dass ich auf derlei Ergebenheitsbezeugungen ausgerechnet von einem Zimmer- oder meinetwegen auch Serviermädchen aus sei geschweige denn angewiesen wäre – das erscheint mir nun doch etwas zu weit hergeholt.

Immerhin, hübsch ist sie, dachte ich so bei mir. Nur eins machte mich irre: ihre Augen. Diese etwas ungleichen Augen. Irgendetwas an ihnen ließ mich innehalten. Es war, als ob eine Wolke über mir kreiste und immerfort ihren Schatten auf mich warf. Mich fröstelte plötzlich. Meine Schultern zogen sich beinahe schmerzhaft zusammen. Ich ahnte es: Jemand oder zumindest etwas längst vergessen Geglaubtes würde wieder an die Oberfläche kommen. Und zwar so gewaltig wie eine riesige Luftblase, kurz bevor sie platzt.

Blödsinn.

Blödsinn?

Die Fantasie ging mit mir durch. Wahrscheinlich hing das mit dem griechischen Hotelier, der jetzt nicht mehr unter uns weilte, zusammen. Aber diese Augen! Die Eindrücke hielten mich in dem Moment so derart gefangen, dass ich innerlich regelrecht erbebte. Konnte etwas so sehr in der Erinnerung versteckt sein, ja, so derart tief vergraben, dass es nie wieder an die Oberfläche, ins Bewusstsein dringen wollte (was es wohl auch nicht sollte) - dringen würde? Eine absolut totale Verdrängung also? Ach was, vielleicht sollte ich das Mädchen einfach fragen. Was oder wonach jedoch - das war mir in diesem Moment auch nicht klar. Noch nicht. Aber wir wollten ja schließlich noch ein paar Tage hierbleiben, ich hatte also genügend Zeit, auch dieses vermeintliche Rätsel zu lösen.