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Der neue Roman des Buchautors Guido Sawatzki spielt am Puls der Zeit. Ein junger Migrant erfährt darin am eigenen Leib die ganze Brutalität und Menschenverachtung, zu der unsere Zivilisation fähig sein kann. Geblendet von falschen Versprechungen gelingt es ihm, nach Deutschland zu fliehen. Dass er dabei auch zu fragwürdigen Mitteln greift, wird ihm nun zum Verhängnis. Eingebettet ist die Geschichte in das zeitgleiche, dramatische Geschehen bei einer Heilbronner Tageszeitung. Der machtgeile Chefredakteur Karl Lost und sein Kontrapart, der nicht minder ehrgeizige Fotoprofi Arne, dem Vorschriften ein rotes Tuch sind, liefern sich einen erbitterten Machtkampf. Beide sehen sich als Nabel der Welt und halten sich für entsetzlich wichtig. In der Wahl ihrer Mittel sind sie nicht gerade zimperlich – vor allem wenn es um die Frau geht, die von beiden geliebt wird. Im zweiten Handlungsstrang zeigt der Autor am Beispiel des farbigen Migranten unter anderem auf, wie psychotische Täter versuchen, die eigene Ohnmacht durch Gewaltausübung in das Gefühl von Allmacht zu verwandeln; für sie sind die Opfer nur ein Instrument zum Machtmissbrauch. Einfühlsam und mit viel Empathie wird zum einen dargestellt, wie Anonymität in der Gesellschaft oftmals erst den Nährboden für Gewaltausübung bereitet, aber auch, dass jeder Mensch das Recht hat, als Individuum respektiert und entsprechend behandelt zu werden. Neben Intrigen, Machtgier und Fremdenhass bilden Liebe und Verzeihen die emotionalen Eckpfeiler dieses vielschichtigen, spannenden Thrillers.
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Seitenzahl: 617
Veröffentlichungsjahr: 2024
EMPATHIE ist der Anfang jeder Vernunft.
Sie ist das Tor und der Schlüssel zu einer anderen, oftmals fremden Welt; einer Welt, der sich unsere Gedanken oftmals verschlossen haben im Bemühen, UNSER Leben zu führen – mit dem Ergebnis, dass wir hierbei den ANDEREN, unseren NÄCHSTEN hintanstellen.
Dabei können wir doch ohne den ANDEREN überhaupt nicht SEIN … .
Mit dem Urteil, „schwere Kost …“ sind wir manchmal schnell bei der Hand,
wenn sich uns ein neuer Roman nicht unmittelbar erschließt …
wenn er sich nicht beim ersten Hinschauen auf den ersten Seiten öffnet,
seine Geheimnisse, die er manchmal auch nur vorgibt zu besitzen, nicht sofort preisgibt.
Die nachfolgende Geschichte, die auf authentischen Ereignissen beruht, verlangt danach, genau hinzuschauen –
verlangt den ganzen Menschen!
Guido Sawatzki
KARL LOST: IM SCHATTEN
Thriller
© 2024 Guido Sawatzki
Umschlag, Illustration: Desdemona Winkler
Lektorat, Korrektorat: Desdemona Winkler
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland
ISBN
Paperback ISBN 978-3-384-30549-7
Hardcover ISBN 978-3-384-30550-3
e-Book ISBN 978-3-384-30551-0
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Personen:
Texterläuterungen (Abkürzungen):
Prolog
"Flüchtlingspack … Medienpack …"
Karls Traum
Said
14. November
Zirka drei Monate vorher
Arne (1)
Weber (1)
Arne (2)
Weber (2)
Arne (3)
Der Kommissar und die neue Kollegin
Arne in der Zwickmühle
CH riecht Blut
Arne und das Barmädchen
Britta am Scheideweg
Kathi Schmid Lässt nicht locker
Karl: Die Vergangenheit ist niemals tot
Karl Lost: Arne
Der Neuanfang
Arne glaubt zu träumen
Karl: Rückkehr mit Hindernissen
Eine Leiche zuviel
Karl: Im Abseits
Ungewohnte Töne – alte Zeiten, neue Zeiten
Den Dreck loswerden
Der Bundespräsident und das Schmieren-Gesocks
Britta und die Nebenbuhlerin
Nadja kann nicht nur „schön“
Arne macht klar Schiff
9. November
10. November
11. November
Der Anschlag
12. November
13. November: Britta
14. November, 9.30 Uhr
14. November, 15 Uhr: Alexander Weber
14. November, 15.20 Uhr
Epilog
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Personen:
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Karl Lost; Chefredakteur der Tageszeitung „Heilbronner Gäubote“, 54 Jahre.
Arne Fährmann, Fotograf beim Heilbronner Gäuboten, 49 Jahre.
Britta Jungbluth, Karls Lebensabschnittsgefährtin; vormals Ehefrau von Arne Fährmann, 43 Jahre.
Bruno Armseher, Kulturchef beim Heilbronner Gäuboten, 56 Jahre.
Alexander Weber, Abteilungsleiter Fotoabteilung des Heilbronner Gäuboten, 39 Jahre.
Said, Flüchtling und Asylant, aus Mali, 16 Jahre.
Erich Pfeiffer, Erster Kriminalhauptkommissar (EKHK), 45 Jahre.
Kathi Schmid, Polizeihauptmeisterin (PHM) mit Amtszulage, 38 Jahre.
Werner König, Ex-Bundespräsident, 69 Jahre.
Joseph Schladerer, Leiter der Stadtredaktion und interimsmäßiger Chefredakteur des Heilbronner Gäuboten, 61 Jahre.
Timo Hasselmann, Verleger des Heilbronner Gäuboten, 58 Jahre.
Wilfried Zäch, Leiter des Einkaufs und Prokurist des Heilbronner Gäuboten, 63 Jahre.
Karl Dompansky, Krankenpfleger, schwul, 64 Jahre.
Nadja Bausch, Kellnerin im Badman (Bistro) und Hobbyfotografin, 28 Jahre.
Charlotte Stein, frühere Empfangsdame beim Heilbronner Gäuboten, 62 Jahre.
Jens Haberkorn, Unfallarzt und Notarzt, 49 Jahre.
Manfred, Kurzname Manni, kellnernder Student im Badman, 22 Jahre.
Mike Wendelin, Chef des Cherio, 42 Jahre.
Luitpold Maurer, Fuhrparkleiter beim Heilbronner Gäuboten, 43 Jahre.
Erik Wolf, Fotograf beim Heilbronner Gäuboten, 24 Jahre.
Leo Heuschmiedl, Personenschützer bei Werner König, 35 Jahre.
Prolog
Was der Stimme des Mannes einen verstörenden Nachhall gab und das Schaurige dieser Szene noch verstärkte, daran trug wohl auch der gruftartige Charakter des Unterschlupfes eine gehörige Portion Mitschuld.
Vor ihm lag, ausgestreckt auf dem Boden, ein Mann, noch recht jung, Arme und Beine an fest ins Erdreich gerammte, stabile Holzpflöcke mit Kabelbindern gefesselt, nackt, die Brust an etlichen Stellen zerkratzt, aufgerissen, überall frische Wunden, Blut.
(Ich träume doch, ich träume doch … oder? Lasst mich doch endlich erwachen. Das kann doch nicht wahr sein, meine Wirklichkeit sein! Das hier. Geh weg, geh weg!)
Der sich jetzt über ihn beugte, war ihm unheimlich: Knapp 160 groß, in einem weißen Schutzanzug, wie man sie in Laboratorien trägt - seine Leibesfülle drängte sich etwas in den Falten des Gewands -, die Augen mit einer Schutzbrille mit dunklen Gläsern verdeckt, in den Händen ein Taschenbuch, leinengebunden, fast neu, an einigen wenigen Stellen allerdings ziemlich zerfleddert.
Breitbeinig stellte ER sich in Pose. ER fühlte sich hier an diesem Ort sehr groß, richtig bedeutend; deshalb auch "ER" und nicht bloß "Er". Dennoch - seine Selbstsicherheit wirkte aufgesetzt; und dessen war er sich bewusst … und das ärgerte ihn, stachelte deshalb auch seinen Ehrgeiz zusätzlich an. Doch er - pardon, ER - wollte nicht nur wahrgenommen werden; so nebenbei. Nein. Denn schließlich war ER jetzt hier der Einzige, der bestimmen durfte. Und wehe, jemandem würde einfallen, ihn zu reizen!
Seine Stimme hörte sich heiser an, als ER vorlas; schließlich war es auch für ihn eine ungewohnte Situation.
"Man zündete den Schwefel an, aber das Feuer war so schwach, dass die Haut der Hand kaum verletzt wurde. Dann nahm ein Scharfrichter, die Ärmel bis über die Ellenbogen hinaufgestreift, eine etwa anderthalb Fuß lange, zu diesem Zweck hergestellte Zange aus Stahl, zwickte ihn damit zuerst an der Wade des rechten Beines, dann am Oberschenkel, darauf am rechten Ober- und Unterarm und schließlich an den Brustwarzen. Obwohl dieser Scharfrichter kräftig und robust war, hatte er große Mühe, die Fleischstücke mit seiner Zange loszureißen; er musste jeweils zwei- oder dreimal ansetzen und drehen und winden; die zugefügten Wunden waren so groß wie Laubtaler." 1
Großartig belesen war ER nicht - im Gegenteil -, aber an Stellen wie diesen saugte ER sich fest. Jedes einzelne Wort floss wie zähflüssiger, stinkender Teer von seinen Lippen. In seiner Phantasie sah ER das Blut spritzen, wenn der Scharfrichter aus dem lebendigen, hilflosen Menschen vor sich mit einer glühenden Zange Fleischstücke herausdrehte und die Pferde dem Verurteilten anschließend Arme und Beine einzeln aus dem Körper rissen.
Als ER die Stelle über Foltermethoden im Mittelalter zum ersten Mal las, hatte es ihn regelrecht geschüttelt, ihm wurde schlecht und ihm fiel beinahe das Buch aus der Hand.
„Überwachen und Strafen“ war der Titel des Werkes, der Philosoph Foucault sein Verfasser. Den schmalen Buchband hatte ER sich in der Stadtbibliothek ausgeliehen - um vor den Anderen nicht doof dazustehen. Einer aus der Runde der Redakteure hatte beim ersten Meeting des Tages das Gespräch auf dieses Thema gelenkt; richtig, es war im Zusammenhang mit einer Radiomeldung über die Zahl zunehmender Folterungen in China gewesen.
Das Buch hatte ihn sozusagen auf die Spur gebracht. Es hatte ihn so angemacht, dass ER beim ersten Lesen regelrecht zitterte. Vor Erregung. Das war eine Eingebung – nichts anderes! Die Vorhersehung hatte ihn zu diesem Buch hingeführt – das konnte kein Zufall sein! Ha! Jetzt würde ihm niemand mehr im Wege stehen und seinen Aufstieg verhindern. Jetzt nicht mehr. Denn jetzt war ER an der Reihe, jetzt würde ER sich rächen; so, wie ER sich das vorgenommen hatte. Für all die Demütigungen, die Bevormundungen. Dass dieser Tag kommen würde, das hatte für ihn schon lange festgestanden.
Dass ER jetzt, ausgerechnet jetzt auf dieses philosophische Werk gestoßen war, das ja eigentlich mit Philosophie respektive Moralphilosophie wenig gemein hatte - na ja, ER hatte mit Philosophie ohnehin nicht viel am Hut -, das war Bestimmung. Und dann noch dieser Nigger … dieser Blacky … ausgerechnet jetzt. Das war die klare Aufforderung an ihn, zu handeln. Eindeutig!
Und es war ganz offensichtlich diese legitime, originäre Autorität, das gesunde Volksempfinden, worauf ER sich berufen konnte. Und einer Autorität gegenüber musste man folgsam sein. Da gab es keine Ausflüchte. Natürlich war dieses Quälen, dieses Schmerzen zufügen - möglicherweise sehr große Schmerzen - eine grausame, eine schlimme Sache. Es war nicht richtig, den Leuten so etwas anzutun, es waren schließlich Menschen, lebendige Wesen. Aber was sein muss, muss sein! Die Autorität - und die Bestimmung - wollten es so. ER als Privatperson war da außen vor. Da war eine andere, höhere Macht am Werk. Und somit konnte ER auch nicht verantwortlich gemacht werden.
ER atmete tief durch. Nein, Keiner konnte, kein Einziger durfte sich der Autorität widersetzen.
ER nahm die Sonnenbrille ab. ER hatte jetzt nichts und niemanden mehr zu fürchten. Und ER war im Recht.
Hatten die dunklen, blitzenden Augengläser gerade noch eine gewisse Lebendigkeit vorgetäuscht, so sprachen nun aus den Augen des Mannes lediglich Arroganz und Verachtung für den, der da vor ihm lag. Starr, unheimlich, maskenhaft - so wirkte sein Gesicht.
***
"Ja und? Was haben wir von der Kripo damit zu tun?" Kommissar Erich Pfeiffer verlor die Geduld. Immer diese Telefonate, die sich im Nachhinein meist als sinnlos herausstellten. Und nochmal: Was hatten sie von der Kripo mit einem verschwundenen Flüchtling zu schaffen? Waren sie denn die Heilsarmee? Schließlich konnte der hier, wie viele andere Wirtschaftsflüchtlinge auch, längst in ein anderes Bundesland abgedüst sein, um dort ein zweites Mal zu kassieren!
Möglicherweise war es so - vielleicht aber auch nicht. Man musste sich hierzulande inzwischen hüten, seine Meinung laut kundzutun, vor allem, wenn sie nicht der des Mainstreams entsprach - vor allem als Beamter, der er war.
"Beamter" - das hieß doch, dem Staate treu ergeben zu sein; und weiter: Im Notfall auch den Affen für seinen obersten Dienstherrn, den Herrn Innenminister, zu machen; hieß weiter: dessen persönliche, also private Meinung, die - selbstverständlich - auf ordentlichen Erkenntnissen der exekutiven Organe des Staates beruhte, kritiklos zu übernehmen.
Hm … . Wenn es aber nun vollkommen anders wäre, dachte Pfeiffer ketzerisch; wenn es also dem Herrn Innenminister bei all seinen Aktivitäten im Grunde nur darauf ankam, seine Allmacht zu legitimieren und der Frau Gemahlin das neue Nerzcape für den Opernbesuch zu sichern und die Reitstunden für die Tochter und das Praktikum seines Sohnes bei einem befreundeten Botschafter in den Arabischen Emiraten et cetera? Aber nein, rief sich Kommissar Pfeiffer zur Ordnung. Der Herr Innenminister arbeitet genauso hart für sein Geld wie du … . Hm … .
Pfeiffer spürte, wie etwas in ihm krampfte - Stichwort "Gerechtigkeit".
Trotzdem … den rechten Rattenfängern brauchte man deswegen nicht unbedingt nachzulaufen. Selbstkritisch wie er war, ließ er sich von keiner Gruppierung, egal aus welcher Richtung – auch nicht von Vater Staat – vereinnahmen. Es gab auch andere Wege, mit dieser Politik klarzukommen.
***
Erich Pfeiffer stand auf. Er dehnte und streckte sich. Ach ja, sein wunder Punkt: Diese verflixten Lendenwirbel; der nächste Hexenschuss war vorprogrammiert. Hatte heute seinen Hintern mal wieder zu lange auf dem Bürostuhl plattgedrückt. Während er zum Kaffeeautomaten schlappte, drehten sich seine Gedanken weiter.
Wer geduldet wird und sich "eingerichtet" hat, der verspürt zunächst mal nicht das Verlangen in sich, aufzubegehren. Erst wenn er eines Tages nach "oben" schaut und den Versuch unternimmt, ebenfalls dorthin zu gelangen, also vom Parmaschinken statt vom Bauernspeck zu naschen und dieser Versuch missglückt - dann entsteht Ohnmacht. Und Ohnmacht gebiert Zorn.
Ohnmacht - das verspürten sicher auch die Flüchtlinge … die Asylbewerber, die notgedrungen monate-, ja, unter Umständen jahrelang herumsaßen, dachte Pfeiffer, während er die Telefonnummer der Flüchtlingsunterkunft eintippte; auch das erzeugte eine ungute Stimmung.
Der habe aber einen so guten Eindruck gemacht, meinte sein Gegenüber in der Leitung. Ha, gab es immer noch solche Volldeppen, die alles nur durch die rosa Brille sahen? Sozialarbeiter eben. Okay, okay. Vielleicht tat er ihm auch unrecht. Er wollte sich lieber nicht in die Lage dieser Flüchtlinge versetzen.
Aber etwas warten müsse er schon, beschied er den Betreuer aus der Flüchtlingsunterkunft. Als ob er an dem Verschwinden dieses …, na, wie hieß er doch gleich nochmal, egal, schuld wäre. Schließlich habe er noch andere wichtige Fälle.
Aber eine Frage habe er schon noch: "Hatte der Mann vielleicht extreme Ansichten oder stand er in Kontakt mit solchen Leuten?".
Was er damit andeuten wolle?
"Nichts - war nur so 'ne Frage. Sie wissen doch selbst auch, was schon alles passiert ist oder auch was passieren kann, wenn so ein junger Nordafrikaner nicht länger warten will und sich Leuten ausliefert, die ihn letztendlich radikalisieren."
"Habe ich mich klar genug ausgedrückt?!", setzte der Kommissar nach.
Pfeiffer spürte, er wurde dünnhäutiger, unduldsamer, brauste schnell mal auf. Schneller jedenfalls als früher. Aber wahrscheinlich kam das vom Alter.
1 Michel Foucault, in: Überwachen und Strafen, S. 10, Frankfurt a.M., 1989.
"Flüchtlingspack … Medienpack …"
… sein Meinungsbeitrag zur Problematik der Flüchtlingskrise in Europa und speziell in Deutschland. Das musste hier, in der Redaktionsrunde reichen. Ihm reichte es schon lang. Überhaupt war ihm dieses Thema lang wie breit.
Nicht, dass seine Worte den Kollegen sonderlich zu Herzen gegangen wären, hätten sie als gutverdienende und, vor allem, verdiente Mitarbeiter des Heilbronner Gäuboten - auf letzteres legten sie großen Wert -, allen Grund gehabt, sich als zumindest indirekt Beteiligte, wenn nicht gar Betroffene beleidigt zu fühlen. Nein, sie wunderten sich nur. Auch, weil dieser Kollege sich überhaupt und bei diesem Thema im speziellen bisher auffallend zurückgehalten hatte.
Und jetzt das. Ein wahrer Ausbruch!
Beachtlich. Und beachtlich einsilbig, befand auch einer, der unmittelbar nach der Konferenzrunde neben ihm im Cherio, eine der immer noch angesagten Heilbronner Kneipen beim Heilbronner Gäuboten gleich um die Ecke am Bartresen lehnte. Etwas unbequem allerdings, denn der gut gepolsterte Kollege lehnte sich gerade mit seinem ganzen Gewicht gegen ihn. Notgedrungen musste er dies aushalten - nach dem fünften Bier war das ganz offensichtlich notwendig. Mit seinen ausgestreckten Wurstfingern stieß der ihn gegen die Brust. "Ich Oberkollege - du Kollege … verstehst?"
Warum man dem Personal auch immer alles zweimal herbeten musste! Ja, ja, manchmal lastete eben die ganze Schwere seines Berufsstandes auf ihm; ihm, der doch die schreibende Zunft mit repräsentierte. Natürlich an entscheidender Stelle - notabene … oder zumindest das von sich behauptete.
Dass jemand wie er an vorderster Stelle stand, war eigentlich selbstverständlich; deshalb brauchte er es nicht immer zu erwähnen - "hab' ich recht, Kollege?"
Dieser, der an seiner momentanen Rolle als 'Stütze' des besagten Kollegen genug zu tragen hatte, hörte zwar nur mit halbem Ohr zu, befleißigte sich aber, "ja … aber sicher doch", zu sagen; um anschließend einige wenige ergänzende Bemerkungen dazu abzugeben. Dies jedoch in gedämpfter Stimmlage und einem leicht sarkastischen, aber dennoch distanzierten Unterton - man konnte ja nie wissen, wer hier am gut besetzten Tresen seine Ohren besonders spitzte. Meinungsfreiheit hin oder her.
Andererseits war dies eine Aussage, die seine, des Oberkollegen ureigenste Meinung auf den Punkt brachte. Und die galt - und zwar nüchtern als auch besoffen - mindestens seit Beginn dieser so genannten Flüchtlingskrise und vor allem seitdem dieses ganze Geschmeiß, wie er "die von da unten" gerne nannte, ins Land gekommen war. Doch heute klang es nach dem Eindruck seiner 'Stütze' ganz anders als sonst. Direkter. Fast könnte man sagen, bedrohlich; wenn da nicht inzwischen fünf leere Biergläser zurückgegangen wären.
Spätestens nach diesem fünften Strich auf dem Deckel, und das innerhalb von nur neunzehn Minuten - sein Kollege, den er hatte überreden können, ihn zur Mittagspause ins Cherio zu begleiten; "Komm, hab' dich nicht so, lass uns mal wieder reden …"; hatte beim Hereinkommen vorsichtshalber auf die Uhr geschaut -, war klar, dass ihn etwas ganz, ganz heftig in Rage gebracht haben musste; etwas, das mit Flüchtlingen und Medien zu tun hatte. Und es war auch ersichtlich, dass er überzeugt war, seinen großen Ärger in diesem Moment wirklich nur mit Alkohol im Zaum halten zu können. Doch dazu brauchte es eben auch die Schulter des Kollegen.
Ja, wir sind doch alles Kollegen, dachte der, der sich mit seiner Aufgabe als physische Stütze zunehmend überfordert fühlte, und verdrehte die Augen.
"Du, …" brabbelte der Oberkollege und durchstieß mit starr ausgestrecktem Zeigefinger die Luft, nicht darauf achtend, dass er sich durchaus ins eigene Auge stechen könnte, "du, wenn du meinst, ich lass mich von denen verarschen, dann … ."
Er musste erst mal tief durchschnaufen. "Du, wie würdest du dich fühlen, wenn dir so ein hergelaufener Nafri oder egal Syrer oder Afghane mit einer Eisenstange über den Schädel fährt? Passiert an der griechisch-türkischen Grenze. Da staunst du, was?"
"Da, ich hab' das Material dabei. Und bei mir daheim hab' ich ein ganzes Archiv davon."
Er taumelte, da er für einen Moment seine 'Stütze' hatte aufgeben müssen, um erstens seinem Gegenüber den Umfang seines Archivs mithilfe einer weit ausholenden Bewegung zu veranschaulichen, und außerdem um in seiner Jacke nach etwas offensichtlich Wichtigem zu suchen. Doch wozu hat man Kollegen, die einen auffangen können? Seine Hände zitterten, als er endlich den gesuchten Zeitungsartikel aus der Gesäßtasche gefingert hatte. Der Zustand des Papierfetzens ließ darauf schließen, dass er ihn schon mehrfach herausgezogen und wieder hineingestopft hatte.
Jetzt war der Kollege doch neugierig geworden. Auf dem Foto erkannte er eine aufgebrachte Menschenmenge, augenscheinlich Flüchtlinge aus Nordafrika, von denen einige deutlich erkennbar Grenzbeamte mit Eisenstangen traktierten. In geraumer Entfernung zu ihnen schwenkten überwiegend junge Menschen Plakate hin und her mit Willkommen und Welcome und so.
Die 'Stütze' schaute genau hin. Der Oberkollege, zunehmend erregt, packte ihn am Arm. "Da, schau her - alles Hosenscheißer. Tja, sicher ist sicher. Wer von diesen Jüngelchen will schon gern eins aufs Maul kriegen? Und da - die Kameraleute, wie sie unsere tapferen deutschen Sympathisanten heranzoomen, die dort mit aufgerissenen Mäulern ihre Wut auf die Staatsmacht rausschreien. Später im Beitrag hat das dann so ausgesehen, als stünden unsere Möchtegern-Demonstranten todesmutig dicht hinter den Flüchtlingen. Soviel zum Thema 'Medienpack' und 'Lügenpresse'. Von nichts kommt nichts!“
Der Herr Oberkollege, der jetzt hellwach wirkte, tippte mit dem Finger darauf; fast hätte er noch ein Loch in das dünne Zeitungspapier gebohrt. "Diese Schreihälse oder Gutmenschlein oder weiß nicht was sehen doch immer nur die eine Seite der Medaille. Ab ins Lager mit denen. Zahlen!"
Er löste sich von seiner 'Stütze', drehte sich unerwartet geschmeidig um die eigene Achse, blieb dann aber, wohl um einen Moment lang nachzudenken, stocksteif stehen. Mit todernstem Gesicht presste er zwischen halb geschlossenen Lippen und vorgeschobenem Doppelkinn hervor: "Ich habe eine Mission zu erfüllen, ich muss dem Ruf folgen. Ich werde es tun … ." Er blickte seiner 'Stütze' direkt in die Augen, wippte dabei wie eine Strandkiefer im böigen Abendwind und verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Fast widerlich nah schob sich sein Mund an das Ohr seines Gegenübers und er flüsterte: "Und übrigens … ich hab ihn schon … hab ihn ja schon."
Abrupt wandte er sich ab und strebte dem Ausgang zu. Allein. Die 'Stütze' verdrehte nur wieder mal die Augen. Spinner, dachte er noch. Endlich war er ihn los.
Ach ja - sein Name … . Tut nichts zur Sache. Noch nicht.
Karls Traum
In Karls Gesicht zuckte es. Und zwar oberhalb des rechten Wangenknochens. Es hatte sich angefühlt wie ein verspäteter Tropfen in der Dusche. Diese Anmerkung sei dem Beobachter erlaubt. Exaktheit und Wahrhaftigkeit beziehungsweise Seriosität in der Aussage sind ihm nämlich wichtig. Anmerkung 2: Dies soll jetzt aber nicht Grund dafür sein, ihm zu unterstellen, dass ihm die Seriosität wichtiger sei als die Wahrhaftigkeit. Sie genießt für ihn lediglich in diesem Moment einen gewissen Vorrang. Sonst nicht. Auch einen philosophischen Diskurs, der an dieser Stelle durchaus möglich wäre, erspart er sich. Außerdem würde es den Toten nichts mehr nützen.
Nun denn - das Zucken auf der Haut des Schläfers deutete lediglich auf die Tatsache hin, dass hiermit eigentlich keiner mehr gerechnet hatte: Dass nämlich ein Tropfen Baumharz sich löste. Anmerkung 3: Wohlgemerkt, in Karls Traum. Was wiederum - ja, trauen wir es uns zu sagen - an ein Wunder grenzte, sich also gleichsam niemals hätte ereignen dürfen. Und doch tat es genau das: Es EREIGNETE sich. (Letzte) Anmerkung 4: Deshalb der Gebrauch des Wörtchens "Wunder".
Selbst der alte Baum, sein Ziehvater also, hatte wohl schon lange mit ihm abgeschlossen, denn es strömte, durch umfassende, intensive Beobachtung erwiesen, also nachprüfbar, bereits geraume Zeit keinerlei Leben mehr durch die Kapillaren dieses abgeknickten Zweiges. Insbesondere an seinen Ausläufern schien er ausgefranst, ja regelrecht strohig. Er hing sprichwörtlich am seidenen Faden. Lediglich noch zwei oder auch, seien wir großzügig, drei Fasern warteten sehnsüchtig darauf, dass der aller Wahrscheinlichkeit nach durch irgendeine unverzeihliche, brutale Ungeschicklichkeit hervorgerufene und deshalb umso bemitleidenswertere jetzige Zustand - näher kann der Beobachter nun wirklich nicht darauf eingehen - endlich beendet würde. Stattdessen umschloss die zähe, gelbliche Masse diese wenigen Fasern und gab ihnen in einer überraschenden, ja geradezu schockierenden und deshalb schon fast ungehörig zu nennenden Art und Weise wie selbstverständlich ein Korsett, das, so die Vermutung, selbst dann noch hielte, wenn der große, ehrwürdige alte Baum selber, mittlerweile morsch geworden, mit Mutter Erde schon längst wieder verschmolzen sein würde.
Soweit der Traum. Karls Traum. "Puuuh“, war alles, was er in diesem Augenblick sagen konnte. Er schlug die Augen auf.
Diese Augen! Myriaden von Sonnenstrahlen versprühten sich geradezu in ihrem Blau, einer Mischung aus Smaragd und einem Schuss Grün, der die Iris umgab. Beinahe unwirklich. Verhexend. Auf jeden Fall prägend. Anders als man jedoch annehmen sollte, schmeichelte diese Besonderheit keineswegs seinem Ego. Im Gegenteil. Dieses ständige Angestarrtwerden, insbesondere von Frauen, übrigens unabhängig von deren Alter, hatte Karl schon immer als lästig empfunden. Doch es war nichts zu machen. Auf privaten Partys bei Freundinnen warfen dem jungen Mann mit den gelockten Haaren und den männlichen, leicht kantigen Gesichtszügen selbst deren Mütter heiße Blicke zu.
Später lernte er, solche Dinge gleichgültiger zu betrachten. Auch fand er irgendwann dieses Gekichere und Gegackere hinter seinem Rücken einfach lächerlich. Zudem lenkten solche Äußerlichkeiten ihn von dem ab, was ihm tatsächlich etwas bedeutete. Allein Leistung zählte. Das hatten ihm seine Eltern schon früh beigebracht. Und allein das zählte, verdiente Anerkennung - und nicht das Schönaussehen.
Und noch einmal, "Puuuh!". Karl Lost schwang die Beine aus dem Bett, blieb aber noch einen Moment auf dem Bettrand sitzen. Gestern Abend wohl mal wieder zu kräftig zugelangt, was?! Belgischer Ziegenkäse auf heißem Toast. Schon allein die verführerische Art und Weise, wie das kesse Blondchen mit seinen graziösen Fingerchen ein Stück aus dem Laib herausschnitt - da floss einem die duftende Köstlichkeit doch fast direkt auf die Zunge.
Einfach seine Leibspeise. Dazu ein Glas Barolo. Gut, für manchen waren das Perlen vor die Säue geworfen, aber ein Glas von diesem kräftigen Roten, davon war er fest überzeugt, konnte man für einen solchen Leckerbissen ruhig opfern. Außerdem hatte ihm keiner bei diesem kulinarischen Ausrutscher zugeschaut. Außer dem Blondchen; und das zählte nicht.
Komisch, das mit dem Traum und dem Baumharztropfen. Auf Karls Stirn bildete sich eine typische Denkerfalte. Am Panoramafenster seines Bücherzimmers, das den Blick auf die idyllischen Heilbronner Weinberge freigab, suchte eine fette Fleischfliege vergebens nach Rettung. Karl stellte sich vor, wie sie in ein Honigglas geriet und wie sie daraus zu entkommen suchte, jedoch durch ihr heftiges Strampeln tiefer und tiefer in der zähen gelben Masse versank. Wie im wahren Leben - oder? In seinem Leben?
Karl hatte plötzlich das Gefühl zu schwanken. Als ob sein schlaksiger Körper gerade so wie diese Fliege von einem - angenommenen - kräftigen Sog nach unten gezogen würde. Um ein Haar wäre er rücklings wieder ins Bett gefallen … einfach durch die Kraft der Suggestion. Unglaublich.
Träume sind Bilder. Also beliebig austauschbar. Klingt banal, ist aber trotzdem gut, fand er.
Said
Said, 16 Jahre alt, mit einem deutschen Auskunftsnachweis ausgestattet, der ihn als syrischen Flüchtling mit derzeitigem Wohnsitz Heilbronn, Flüchtlingsunterkunft Austraße auswies, träumte anders. Nicht ganz so philosophisch wie Karl … eher existenzieller. Hätte er von Karl gewusst - unter uns gesagt, bestand weder zu diesem Zeitpunkt die Chance dazu noch würde er wohl irgendwann später die Gelegenheit bekommen, diesen kennenzulernen -, er hätte ihn beneidet. Kein Wunder, denn anders als bei Karl war seine, Saids Gegenwart zu einem einzigen, hässlichen Albtraum geworden.
Gedemütigt, ohne Hoffnung presste er seine nackten Füße auf den kalten Lehmboden. Und das mitten in Deutschland. Seinem Traumland. Traurige Begleitmusik auch das Klirren der fleckigen Handschellen, die schon seit Tagen schmerzhaft seine Gelenke einquetschten.
Wenigstens gelang es ihm noch manchmal, sich in einen Traum, seinen Traum, zu flüchten. Dorthin, wo er glücklich gewesen war. Vor allem dann, wenn jegliches Licht in diesem kahlen, irgendwie schon jenseitigen Raum erloschen war, kein Lufthauch mehr so etwas wie Leben anzeigte. Manchmal schob er das Kinn vor und blies sich warmen Atem übers Gesicht; nur um sich zu spüren. Das aber machte die Einsamkeit nur noch unerträglicher.
Er sah sich, die Beine verschränkt, völlig entspannt, auf dem Kamm einer riesigen Wanderdüne hocken, direkt am Südufer des Euphrat. Schon morgens kauerte er oft dort, schirmte mit der knochigen Hand die grelle Sonne ab. Seine Mutter musste sich keine Sorgen machen, sie wusste, dass er sich nicht irgendwo herumtrieb und Dummheiten machte; sie kannte seinen Lieblingsplatz.
Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er auf der einen Seite den breiten, in der Morgensonne wie eine Speckschwarte glänzenden bräunlichen Fluss beobachten, der an dieser Stelle mehr als 100 Meter breit war. Und er sah an dessen Ufer das Dörfchen Afeeth liegen, in dem er mit seinen Eltern und seinen Brüdern unweit der irakisch-syrischen Grenze lebte, welche die einstigen kolonialen Besatzer ohne Rücksicht auf die Einwohner oftmals schnurgerade mit dem Bleistift quer durch die Dörfer auf hunderte von Kilometern gezogen hatten.
Wohl wegen seiner häufigen Windungen dümpelte der Euphrat fast gemächlich, leise vor sich hin glucksend durch das Flussbett, an dessen Rändern er immer so viel Schlamm ablagerte, dass die Fischer ihre kleinen Boote manchmal im Frühjahr bis fast in die Mitte des Stroms steuern mussten. Auch in Dürreperioden, wie sie in den letzten Jahren häufiger auftraten, war dies der Fall.
Auf der anderen Seite der Düne konnte der Junge das ganze Leben in dem 100-Seelen-Nest mitverfolgen. Nichts blieb verborgen, jede Veränderung war sofort wahrnehmbar; gefühlt anders als in Al Obaidy, der angrenzenden Neustadt, wie man sie hier nannte, eine auf dem Reißbrett entworfene, moderne Siedlung mit bestimmt mehr als zwanzigmal so vielen Einwohnern wie Afeeth.
Ja, wenn sich hier etwas veränderte, dann stimmte etwas in der gesamten Linienführung nicht mehr, dann verrückte sich das komplette Ganze. Said brauchte da gar nicht lange zu rechnen - obwohl er gerade im Rechnen in der Schule immer gut war -; er fühlte das einfach. Es verschob sich nach links oder nach rechts, wie ein Parallelogramm. Oder, im schlimmsten Fall, geriet es noch stärker in Schieflage. Genauso - zumindest erklärte sich Said so seine kleine Welt - gerieten dann vielleicht auch die Bewohner von Al Obaidy aus dem Gleichgewicht. Es war wie der Unterschied zwischen einem Betonbau und einem Fachwerkhaus – ja, er hatte durchaus schon mal Filme über Deutschland gesehen -; ein Jahrhunderte altes Fachwerkhaus konnte sich eben anpassen.
Said verzog etwas unschlüssig das Gesicht. Will sagen, es gab hier keine Möglichkeit, dass sich etwas organisch verändern konnte, ohne dass es der Nachbar nebenan bemerkte. Und reagieren musste.
Weil es dann ja auch ihn mittelbar betraf. Das komplette Gefüge war dann irgendwie aus dem Lot. Da ließ sich dann auch nichts mehr flicken. So ganz anders also wie in seinem Dorf, in Afeeth.
Said überlegte. Fiel dort beispielsweise ein altersschwacher Schuppen in sich zusammen, dann wurde er entweder wiederaufgebaut, solider und prächtiger als vorher - oder seine Trümmer dienten den Echsen und Vipern als Lagerstatt. Und keinen im Dorf kümmerte das. Außer, wenn anstelle des alten ein neuer Schuppen gebaut wurde, dann konnte es sein, dass alle, oder fast alle - na gut, manchmal auch nur der Nachbar - mithalfen. Der Schuppen, oder auch das Haus, je nachdem, wurde dann so gebaut, wie sein Besitzer dies wünschte. Und keiner hätte daran gedacht, ihm irgendwelche Vorschriften zu machen. Und so, sinnierte Said vor sich hin, entstand Vielfalt. Und das fand er gut.
An dieser Stelle wachte Said meistens auf. Er schüttelte sich, soweit seine Fesseln dies zuließen. Nie hätte er gedacht, dass diese Erinnerungen ihm einmal so wichtig sein würden. Doch waren sie jetzt, wo sie in seinen Träumen auftauchten, für ihn gleichsam ein Strohhalm, der mithalf, die Hoffnung auf ein Weiterleben nicht vollständig erlöschen zu lassen.
Sein, Saids, seidener Faden.
Ja, Gedanken hatte er, Sohn von Bauern, deren Väter auch schon Bauern waren, sich schon immer gemacht. Und anders als all seine Freunde und auch als der Erste in seiner Familie überhaupt hatte er die Schule besucht. Wenn auch nur zwei Jahre lang, denn dann wurde er auf dem Feld gebraucht. Immerhin hatte das gereicht, um Lesen und auch ein bisschen Schreiben und Rechnen zu lernen. Später hatte ihm ein Freund seines Vaters ein Buch geschenkt.
"Lies, Said, lies!"
Der Freund hatte gut reden. Wie mühsam das gewesen war. Und keiner half ihm. Beinahe jeden Satz hatte er sich erkämpfen müssen. Er kam denn auch über die ersten 20 Seiten des Buches nicht hinaus.
Nicht etwa weil er faul war. Nein, es lag wohl auch an dem Buch selbst, denn es war eine Liebesgeschichte, noch dazu handelte sie von zwei Menschen um die 40, also für ihn schon steinalt. Beide fand er total langweilig. Und dann spielte die Handlung auch noch 100 Jahre vor seiner Zeit. Wie sollte er, als damals Achtjähriger, sich für solch ein Buch begeistern können? Und dann war da auch niemand, der ihn ermutigte. Ihn unterstützte. Und das war's dann auch für lange Zeit mit der Bildung.
14. November
Erich Pfeiffer schätzte ihn auf knappe 60. Allein der Anzug, in dem der ausgemergelte Körper steckte, ockergrün, ausgebeulte Taschen, abgetragen, darüber der zerschlissene und mehrfach geflickte Parka, ließ intuitiv an einen Landstreicher denken. Sein Gesicht - wegen der tief gezogenen Kapuze war nur die untere Hälfte zu sehen - schien von Dutzenden von Runzeln durchzogen. Typische Pennervisage … musste der Kommissar unwillkürlich denken.
Klar war das ein Penner. Quasi der Penner per se! Im selben Atemzug - er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht - schämte sich Erich Pfeiffer auch schon dafür.
Trotzdem. Irgendetwas war komisch an ihm. Etwas passte nicht zusammen! Doch was war es, das den Kriminalisten in ihm weckte? Erich Pfeiffer hatte keine Erklärung dafür.
Vielleicht war es die Sonnenbrille, die er die ganze Zeit über in der Metzgerei trug, eine von der Art, die fast ein Viertel des Gesichts verdeckt. Und noch etwas fiel ihm auf: Falls das kleine Typenschild an dem einen Bügel echt war, dann war es eine Prada. Also nicht gerade das billigste Modell. Und das bei einem Penner?
Die Augen? Wie gesagt, Fehlanzeige. Nur einmal, als die Kapuze leicht verrutschte, fielen ihm die buschigen Augenbrauen auf, die, so erschien es Pfeiffer zumindest, eigentümlich unecht wirkten. Mann, du bist nicht im Dienst, schalt sich Pfeiffer. Und sofern die Leute nichts anstellen, kann jeder leben, wie er lustig ist. Schon seine Frau - pardon: Seine "Ex"; ja, auch er hatte so eine - war daran verzweifelt, dass er eigentlich nie abschalten konnte.
Aber denken wird ja wohl erlaubt sein, hatte Pfeiffer dann immer als Antwort parat. Apropos denken - man ging wohl recht in der Annahme, wenn man hinter dem seltsamen Pennerkopf vor allem den einen Gedanken vermutete: Den zu überleben.
Abgesehen von diesem gewiss nicht ganz unwichtigen Detail lag man wohl ebenfalls mit der Vermutung richtig, ihn dem Kreis derer zuzurechnen, die mehr als einmal auf einer abgeschabten Plastikbank in einer U-Bahn-Station oder in einer Ecke zwischen den als Schmutzfänger herhaltenden Ziersträuchern neben fleckig-grauen Betonbrückenpfeilern ihr Lager aufschlugen. Wenn man es sich recht überlegte, glich so ein Penner auf fatale Weise diesen Stützen: Abgeschabt, fleckig-grau und überhaupt wie eine bröckelnde Säule, an der die Hundepisse herunterlief.
Unter seinem Parka schien dieser Mensch klein und schmächtig, zudem war das gute Stück, das offensichtlich schon viel hatte aushalten müssen, auch ziemlich weit geschnitten. Darunter schien er sich einigermaßen flüssig, um nicht zu sagen sportlich, zu bewegen.
Pfeiffer kam aus dem Grübeln nicht heraus. Nein, dieser Mann da war nicht echt. Wenn Pfeiffer nicht irrte, dann war hier außerdem viel Schminke im Spiel. Sehr viel. Aber stopp - er war ja nicht im Dienst. Basta.
Wie dem auch sei, jedenfalls drängte sich der Typ in ziemlich rüder Manier, unter Einsatz seiner Ellbogen, zwischen den Wartenden bis unmittelbar zur Verkaufstheke vor und baute sich schon fast provozierend neben Pfeiffer auf.
Fast zur gleichen Zeit, so schien es ihm, huschte eine der Kundinnen, eine Blondine mit rosarotem Kopftuch, durch die noch halb offene Ladentür ins Freie. Aber hallo, war das eben nicht Britta gewesen? Die „Ex“ von seinem, wenn er ehrlich war, eigentlich besten Freund Arne? Komisch. Aber wenn sie ihn erkannt hätte, wäre sie ihm doch sicher nicht ausgewichen; eher schien es ihm noch, als ob sie vor etwas flüchtete. Doch verscheuchte er diesen Gedanken rasch wieder. Lächerlich. Musste er denn immer und überall gleich Gespenster sehen? Derlei Regungen waren wohl berufsbedingt; „geradezu krankhaft“, hätte seine "Ex" in diesem Moment sicherlich losgebäfft.
Von dieser Erinnerung unangenehm berührt, blickte Pfeiffer jetzt stur geradeaus. Zugleich spürte er die bohrenden Blicke, mit denen ihn der Unbekannte offenbar taxierte. Zugegeben, so, wie er selber dastand, reichlicher Bauchansatz - viel zu viel für seine ein Meter sechzig -, abgetragene Klamotten am Leib, schmuddelige Tennisschuhe, wirre Haare, schien er auf der sozialen Leiter allgemein und in dessen hierarchischem System im Besonderen keinen sehr hohen Stellenwert einzunehmen; und auf den Gedanken gekommen, neben ihm stünde ein Erster Kriminalhauptkommissar von der PD (Polizeidirektion) Heilbronn, wäre der vermutlich schon gar nicht.
Ergo sähe Pfeiffer es jedem außenstehenden Betrachter großzügig nach, wenn sich diesem der Eindruck einer Amts- und damit einer Respektsperson nicht gerade spontan erschließen würde. Andererseits gab es auch Frauen, die gerade auf Halbglatze und erste graue Härchen standen, überlegte Pfeiffer und strich sich beinahe zärtlich über die Reste seiner kärglichen Haartracht. Alles keine großen Sachen also und außerdem lächerliche Äußerlichkeiten.
"Entschuldigung …!" Wirklich eine typische Situation: Er, ausgerechnet er entschuldigte sich dafür, dass ihn eine Kundin, eine Frau, deren besten Jahre offensichtlich schon lange zurücklagen, aber dennoch mit einer übergroßen Körbchengröße zu beeindrucken versuchte und der es offenbar nicht schnell genug gehen konnte, in den Rücken stupste - ihm war nicht ganz klar, ob mit ihrem spitzen Brustkorsett oder mit ihrem extrem knochigen Ellenbogen -; was wohl so viel bedeuten sollte wie "Beweg endlich deinen Hintern!". Aber schließlich war Pfeiffer ja noch nicht an der Reihe und beanspruchte für sich deshalb jedes Recht der Welt, seine Gedanken in reichlich verschwenderischer Manier hin- und her stromern zu lassen.
Ignorieren oder zusammenscheißen? Er blickte sie lediglich scharf an und setzte sein Bulldoggengesicht auf.
Er hatte immer etwas verändern wollen, was bewirken. Ja, zum Beispiel Gerechtigkeit schaffen.
Kurz und gut, wer mit Erich Pfeiffer zusammenarbeitete, der erkannte in aller Regel sehr rasch, dass dieser in demselben Maße, wie er Leistung schätzte – und sich auch selbst abverlangte -, Kriecherei und Lobhudelei verabscheute; was, das war auch Erich Pfeiffer klar, die Kommunikation im Alltag nicht gerade erleichterte.
Hielten es Frauen deshalb nicht besonders lange bei ihm aus? Vielleicht weil er zu selbstgerecht war? Tja, und dann noch dieser Beruf! Doch das jetzt mit Kathi, glaubte er, das könnte klappen - zumal sie beide ihre Brötchen beim selben Arbeitgeber verdienten.
So richtig wohl fühlte sich Pfeiffer im Moment dennoch nicht. Er rechtfertigte sich jedoch damit, dass er erstens nicht dienstlich unterwegs und es außerdem kurz vor Ladenschluss und darüber hinaus an einem Samstag war, als er sich, noch halb verschlafen, die nächstbesten Sachen gegriffen und sich ungewaschen und unrasiert auf den Weg zum Fleischerladen eine Straße weiter gemacht hatte.
Seine Frau - also seine Ex -, die hätte sowas nie im Leben zugelassen; dass er so auf die Straße ging. Zu seiner Entschuldigung führte er ins Feld, dass er, berufsbedingt, ohnehin selten zum Einkaufen kam. Höchstens am Wochenende hatte er mal Lust, sich selber was in der Pfanne zu brutzeln. Seit allerdings Kathi Schmid in sein Leben getreten war, überlegte er schon ab und zu, wie es wäre, gemeinsam mit ihr vor dem Backofen zu stehen und Hand in Hand … ja, eben das zu tun, was man da oder überhaupt so in der Küche tat. Oder so.
In seine Überlegungen hinein fiel der Klang einer Handvoll Münzen, die der Penner auf die marmorne Ladentheke geworfen hatte, unter der, penibel ausgelegt und fürs Auge äußerst verlockend dekoriert, schwäbische Spezialitäten wie beispielsweise Maultaschen oder Wurstsalat auslagen.
Aaah, Pfeiffer liefen die Augen über und das Wasser im Mund zusammen. Wurstsalat, schön scharf, mit viel, sehr viel Zwiebeln!
Indes machte die Frau auf der anderen Seite der Verkaufstheke nicht den Eindruck, als ob sie das Gebaren des Penners sonderlich schockierte. Sie hatte jetzt, überlegte Pfeiffer, zwei Möglichkeiten: Entweder ihn so lange zu ignorieren, bis dieser freiwillig das Weite suchte oder aber ihn ganz schnell abzufertigen, damit alle ihn endlich los wären.
Pfeiffer wartete gespannt. Zu seiner Überraschung wandte sie sich mit festem Blick dem Penner zu. Pfeiffer war sie bisher noch nicht aufgefallen; also musste die Verkäuferin neu hier sein.
Als der besagte Kunde den Mund auftat, wich der Kommissar unwillkürlich zur Seite und ließ dem zweibeinigen Brustkorsett den Vortritt. Denn selbst auf diese Distanz hin musste er den Atem anhalten. Zu intensiv roch dieser Mensch nach Fusel, nach Nächtigen unter Brücken, nach Weiß-nicht-was.
Auch säumten bis zu dieser Stunde ganz bestimmt schon etliche Bierflaschen mit seinem Speichel seinen mehr oder minder schwankend zurückgelegten Weg. Dabei konnte Heilbronn doch bereits mehrfach Urkunden und Preise für sein properes Erscheinungsbild vorweisen, wofür – das wusste Pfeiffer allerdings nur vom Hörensagen - einige Sponsoren dieser Wettbewerbe ordentlich in die Taschen gegriffen hatten.
Der Kommissar biss sich auf die Lippen. Ja, er ärgerte sich. Na gut, man konnte sich über jede Stadt aufregen - doch nicht jede brachte es fertig, hunderttausende Euro für die Schaffung von Ausgleichsflächen für Eidechsen wegen eines geplanten Neubaugebiets auszugeben.
"Herrgott, schmeiß‘ Hirn 'ra!".
Für dieses Geld hätten sie beispielsweise eine würdige Bleibe für Obdachlose bauen können. Pfeiffer konnte sich da mächtig aufregen.
Der Penner nuschelte so stark, dass man sich seine unzusammenhängend herausgespuckten Worte irgendwie selbst zusammenreimen musste – wenn man das denn überhaupt wollte. Sein umherfuchtelnder Zeigefinger deutete auf die Theke, auf der seine hingeworfenen Münzen noch verstreut herumlagen. Laut krächzend stieß er hervor: „Ein Bier, aber a bissle … .“ Die letzten Worte gingen in einem unverständlichen Gebrabbel unter. Er wiederholte sie auch nicht. Sinnlos. Maßgebend für ihn war nur das Lautstarke, und dies wiederum schien für ihn gleichbedeutend zu sein mit „Recht bekommen gleich recht haben!“.
Das Bier wurde gebracht und er schnappte sich die Flasche auch gleich aus den Händen der Frau – der Betrachter der Szene mochte eher meinen, er entriss sie ihr. „A weng fixer hätt’s au geha könna!“, meckerte er. Seine Stimme klang schrill, direkt triumphierend-kreischend, so, als wolle er damit Jedem, mangels größerem Auditorium doch wenigstens den Anwesenden klarmachen, dass auch er noch „Jemand“ sei, dass er sogar Anweisungen geben konnte; dass er über Geld verfügte – und damit über Macht.
Mann, warum machst du dir eigentlich so viel Gedanken um diesen komischen Typ, grübelte Pfeiffer vor sich hin. Du hättest Schriftsteller werden sollen, oder Pfarrer.
Die Frau hinter der Theke schien die aggressive Sprache des Penners nicht zu schockieren, nein. Im Gegenteil. „Geben Sie die Flasche nochmal her, ich mach sie Ihnen auf“, bot sie ihm sogar noch an. Zur Antwort bekam sie zunächst nur ein Feixen; er hatte wohl Angst, dass sie ihm die Flasche wieder wegnehmen könnte. „Geben Sie sie mir ruhig, Sie bekommen sie ja gleich wieder zurück – ich will sie doch nur aufmachen“, wiederholte sie mit Engelsgeduld.
Hinter seinem Rücken fingen zwei herausgeputzte Frauen zu zischeln an.
Widerwillig gab er sie der Verkäuferin zurück, ließ seine Hände währenddessen aber fordernd auf der Verkaufstheke liegen. Mit einem leichten Zischen löste sich der Kronkorken. Was den Polizisten in Pfeiffer dabei instinktiv aufmerken ließ: Er zwinkerte ihr dabei zu; gerade so, als ob er sie näher kannte. He?! Was war das denn?
Erneut misstrauisch geworden, sah Pfeiffer genauer hin. Der Kerl hatte doch irgendwie Ähnlichkeit mit seinem Freund Arne. Diese Stimme! Na klar - sie war ihm gleich bekannt vorgekommen. Trotzdem, das konnte doch nicht sein. Und wenn ja, was hatte er vor? Weshalb die Verkleidung? Gestern hatten sie noch miteinander telefoniert. Und warum hatte er ihn dann nicht angesprochen, wo er ihn doch sicher schon längst erkannt hatte?
Pfeiffer fiel es wie Schuppen von den Augen. Mensch, wo hatte er nur seinen Verstand gelassen, schließlich hatte ihm Arne selbst doch ein solches Versteckspiel angedeutet. Nun ja, wenn man schon polizeilich gesucht wird, dann sollte wenigstens die Tarnung passen.
Bevor Pfeiffer sich schlüssig war, was er nun unternehmen sollte, verließ Arne – oder zumindest der seltsame Kunde -, die Bierflasche fest in der Hand den Laden, nicht ohne zuvor laut und vernehmlich „Auf Wiedersehen!“ zu sagen. Ein Grund mehr für die Kunden, sich über ihn zu wundern.
„Hat der Strolch tatsächlich ‚Auf Wiedersehen’ gesagt?“, regte sich eine der tuschelnden Frauen - ihre stark geschminkten Lippen waren dünn wie ein Strich - auf und drehte sich zu der Verkäuferin hin, um von ihr vielleicht mehr über diesen kauzigen Penner zu erfahren.
Die sah ihr offenbar an, dass sie zu jenen gehörte, denen es ohne Rücksicht auf Andere nur darauf ankam, ihre Neugier zu befriedigen; deshalb unterband sie, indem sie Pfeiffer als Erstes bediente, rasch das zu erwartende Geplappere.
"Was wünschen Sie?". Der war sich noch unschlüssig, ob er dem vermeintlichen Penner sofort hinterher sollte, um zu sehen, ob es tatsächlich Arne war; aber er entschied sich dann doch für die höflichere Variante und blieb.
Er war gerade im Begriff, seinen Einkauf zu verstauen, als durch die offenstehende Ladentür das durchdringende Geräusch quietschender Reifen zu hören war, begleitet von einem harten Knall und dem Splittern von Glas. Ein Auto gab so stark Vollgas, dass es sogar das 3-Uhr-Läuten der Kilianskirche übertönte.
Der Kommissar drängte sich ziemlich unsanft zwischen den phlegmatischen Körpern der Wartenden nach draußen; doch konnte er nur noch einen weißen Lieferwagen davonrasen sehen. Mehr nicht. Um jedoch das Kennzeichen zu erkennen - dafür war das Fahrzeug einfach schon zu weit entfernt. Ansonsten war bis auf die links und rechts parkenden Autos nichts zu sehen.
Doch was war das für ein Knall gewesen? Aber eins nach dem andern.
Pfeiffer lief zur Metzgerei zurück. "Es ist nichts zu sehen", rief er wahrheitsgetreu und warf die Tür hinter sich zu. Er schaute in die Gesichter der Kunden. Die glotzten ihn jedoch nur fragend an.
Der Kommissar versuchte in ihren Augen zu lesen – doch konnte er dort nur eine sonderbare Mischung aus Gleichgültigkeit, Geltungssucht und Sensationsgier erkennen. Ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit ergriff von ihm Besitz. Dabei begegnete ihm diese Sorte Mensch in seinem Beruf tagtäglich. Dennoch würde er sich nie daran gewöhnen können. Dessen war er sich sicher.
Außergewöhnlich schien ihm dagegen die Reaktion der Verkäuferin. Ihre Augen weiteten sich, sie starrte ihn voller Entsetzen an.
"Aber da war doch was - da war ein Aufprall. Ich hab' es doch ganz genau gehört!". Pfeiffer zuckte mit den Achseln. Sie kam hinter ihrer Theke hervorgeeilt, schubste die Schmallippige etwas unsanft beiseite und riss die Ladentür auf.
„Aber das ist doch kein Benehmen!“, keifte beleidigt die beiseite Gedrängte. "Ich werde mich beschweren!". "Recht hat sie. Die Neue gehört weg!", stärkten ihr andere den Rücken.
"Arne!" Charlotte Stein stieß einen lauten Schrei aus. Pfeiffer eilte ihr nach; er kam gerade noch rechtzeitig, bevor ihre Kräfte sie verließen und sie zusammensackte. Er konnte sie jedoch noch packen, bevor sie sich beim Aufprall aufs Straßenpflaster unter Umständen stärker verletzte.
***
Mensch, wo waren seine Augen nur gewesen?! Auf der Straße unweit der Metzgerei, hinter den parkenden Autos, zeichnete sich eine zehn Meter lange Blutspur ab. An deren Ende lag ein verrenktes Bündel. Offenbar der vermeintliche Penner. Also Arne. Womöglich.
Der Wagen hatte ihn augenscheinlich noch ein Stück weit mitgeschleift. Der Kommissar eilte zu ihm hin, schaute sich dabei aufmerksam um; könnte ja sein, dass der Fahrer nach einem möglichen Schock wegen des Unfalls wieder zu Verstand gekommen war und umkehrte.
Doch weit und breit war nichts von dem Unfallfahrzeug zu sehen. Schockiert registrierte Pfeiffer, dass der Mann mit der klaffenden Kopfwunde tatsächlich Arne war. Das gab's doch nicht - sein Freund Arne!
Verdammt! Warum hatte er nicht schneller reagiert? Aber wenn man schon mal frei hat …? Pfeiffer fühlte sich schuldig.
"Hallo! Hallo!" Die Frau aus dem Metzgerladen hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Pfeiffer kehrte rasch zu der Frau zurück. „Mein Name ist Pfeiffer, ich bin Polizist – wie geht es Ihnen?" Er beugte sich zu der Frau hinunter.
„Wo ist er? Wo ist Arne?“. „Meinen Sie Arne Fährmann?“, fragte er zurück, obwohl ihm klar war, wen sie meinte. Einen seiner besten Freunde nämlich - der allerdings, wie er wusste, im Moment bis zum Kehlkopf in der Schei… steckte.
Pfeiffer kam nicht dazu, weiter darüber zu grübeln, denn in diesem Moment kamen Krankenwagen und Notarzt. „Nanu, was machst du denn hier, Erich?“, sprach ihn der Arzt an. Sie kannten sich gut.
„Hallo Jens. Ich bin nur zufällig da.“
„Was für eine Tragik! Ich lebe seit ewigen Zeiten notgedrungen ein Eremitenleben und dir liegen die Frauen gleich reihenweise zu Füßen“, zog Jens seinen Freund mal wieder auf.
„Lassen Sie mich jetzt wieder aufstehen? Bitte!“ Pfeiffer half der Frau, die sich unter ihrer wallenden weißen Schürze doch auffallend kräftig anfühlte, wieder auf die Füße. Sofort lief sie, obgleich noch wacklig auf den Beinen, zu dem Verunglückten.
„Sie kennen den Mann? Er hat keinerlei Papiere bei sich“, fragte sie einer von der Besatzung des Rettungswagens.
„Ja. Ich kenne ihn. Es ist Arne Fährmann. Wenn man jemanden fast jeden Tag sieht, und das über gut zehn Jahre hinweg, dann kann der sich noch so gut verkleiden. Ich habe ihn jedenfalls sofort wiedererkannt.“
Der Kommissar, immer noch geschockt, ging wieder zu dem wie leblos daliegenden Körper. Arne. Warum nur immer wieder diese Alleingänge?
Auch der ältere der beiden Sanitäter wurde aufmerksam. „Meinen Sie DEN Arne Fährmann, den Fotografen? Wird der nicht von der Polizei ge…“ - der Sanitäter schlug sich mit der Hand auf den Mund, als wolle er sich selber am Weitersprechen hindern.
Die Verkäuferin hatte es nicht mitbekommen. „Ja. Ja, das ist er, das war er. Ein ganz toller Fotograf. Und ein guter Mensch. Er kam heute zum ersten Mal in mein Geschäft." Sie lief etwas rot an. "Na gut, heute ist ja genau genommen auch mein erster Tag hier.“ Müde und matt stieß sie es hervor. „Ach herrje, der Laden. Ich habe ihn offengelassen … .“
„Lassen Sie, ich kümmere mich darum“, bot Pfeiffer seine Hilfe an und zeigte ihr vorsorglich seinen Dienstausweis. Noch bevor sie etwas sagen konnte, war er aufgesprungen und zur Metzgerei gelaufen. In der Ladentür standen immer noch dieselben Leute und gafften.
„Polizei“, sagte er nur und hob seinen Dienstausweis hoch, in der Hoffnung, trotz angesichts seines etwas schlampigen Äußeren noch etwas Respekt zu ergattern.
„Hier hat keiner etwas angefasst,“ bemühte sich sogleich einer der männlichen Kunden beflissen festzustellen, „nein, es ist nichts angerührt worden. Ich habe aufgepasst.“ Oh je, musste Pfeiffer denken, schon wieder einer, der sich als Hilfssheriff anbiedern will.
„Schön, schön, aber verlassen Sie jetzt bitte alle diesen Laden - außer, jemand könnte genauere Angaben über den Unfallhergang machen. Und so wie es aussieht, bleibt die Metzgerei zumindest heute geschlossen.“
***
Inzwischen war Arne Fährmann in das Rettungsfahrzeug verfrachtet worden. „Darf ich mitfahren?“ bat die Frau aus dem Metzgerladen.
„Sind Sie eine Angehörige?“ fragte der Fahrer des Krankenwagens.
„Nein, aber ich kenne ihn sehr gut und könnte Ihnen Auskunft geben; außerdem hat er, soviel ich weiß, keine Verwandten mehr. Er hat zumindest nie welche erwähnt.“
„Gut, aber steigen Sie bitte vorne ein.“ Charlotte Stein zögerte etwas, nahm dann aber doch auf dem ihr zugewiesenen Rücksitz Platz. Der Krankenwagen fuhr los.
Pfeiffer rief und winkte und lief noch vier, fünf Schritte hinter dem Fahrzeug her, in der Hoffnung, der Fahrer würde ihn sehen und anhalten. Aber umsonst. Na gut, er würde die Frau ja gleich im Krankenhaus befragen können.
Immer noch fassungslos beim Gedanken an das Erlebte schüttelte Erich Pfeiffer erneut den Kopf; allerdings nicht ohne sich zu fragen: "Was in aller Welt hatte Arne da getrieben?"
***
Genau dieselbe Frage stellte sich zur selben Zeit noch jemand anders. Eine sportlich gekleidete junge Frau mit Sonnenbrille - die aus der Metzgerei: Britta Jungbluth.
Verdammt, schlotterten ihr die Knie. Natürlich hatte sie Arne trotz seiner lächerlichen Verkleidung sofort erkannt. Sie hatte sich gleich in eine Ecke gedrückt und war nach außen entwischt, ohne dass er sie bemerkt hatte. Klar machte sie sich Sorgen, aber ihn in seinen Plänen stören - das ging gar nicht. Nicht jetzt. Aber was für ein unglaublicher Zufall, ihn zur selben Zeit am selben Ort zu treffen. Vorsehung? Quatsch, an sowas glaubte sie nicht.
Gegenüber war ein kleiner Park mit einer Telefonzelle. Dort wollte sie warten, bis Arne wieder herauskam.
Obwohl er ihr doch hoch und heilig versprochen hatte, nichts Unüberlegtes zu unternehmen. Mist. Hatte er also doch wieder einen Alleingang geplant. Typisch. Kam noch dazu, dass ihm die Polizei immer noch im Nacken saß. Ganz schön riskant. Da war sein Freund Pfeiffer direkt ein Geschenk des Himmels. Was war schiefgegangen?
Sie war bereits im Begriff zu gehen - schließlich wollte sie ja nicht seine Pläne durchkreuzen -, als sie hörte, wie Arne sich mit einer Frau, deren Stimme ihr bekannt vorkam, laut stritt. Und dann das Quietschen von Bremsen, einen dumpfen Aufprall - und danach diese entsetzliche Stille … bis eine Frau zu schreien anfing. Und "Arne" rief. Das war das Schrecklichste für sie. Nicht zu wissen, was ihm zugestoßen war.
Es dauerte etwas, bis Britta sich wieder gefangen hatte. Aus der Ferne konnte sie beobachten, wie Sanitäter sich um Arne kümmerten.
Als sie sah, wie der Kommissar in Richtung der Telefonzelle deutete, hinter der sie in Deckung gegangen war, schien es ihr höchste Zeit zu verschwinden. Sie wollte jetzt keine großartigen Erklärungen abgeben müssen.
"Arne, mein lieber dummer Arne … ." Still sagte sie dies vor sich her. Mehrfach. Ja, sie liebte ihn. Mehr als jemals zuvor. Sie erhob sich. Sie schwankte. Na - weiche Knie? Es war einfach zu viel passiert in letzter Zeit. Sie biss sich auf die Zähne. Mensch, reiß dich zusammen, Britta.
***
Arne Fährmann bekam von alledem nichts mit. Der Rettungswagen schwankte wie ein Schiff in schwerer See. "Na, dann woll'n wir mal!" Ungerührt schnitten die beiden Sanitäter Arne Fährmann noch im Krankenwagen die übelriechenden Klamotten vom Leib und bereiteten ihn für eine Not-OP vor. Den Blutdruck hatten sie stabilisieren können, nachdem der bei ihrem Eintreffen bereits total abgesackt war. Sorgen bereitete ihnen zwar auch der Blutverlust, Schlimmeres ließ jedoch die klaffende Wunde oberhalb der linken Schläfe befürchten. "Sind das hier nicht Knochensplitter?". Der ältere der beiden Sanitäter war sich nicht sicher. Er informierte gleich die Klinik.
Ihr Patient indessen fühlte sich nicht richtig wach, war aber auch nicht völlig ohne Bewusstsein.
Mein Gott, es wird doch noch nicht so weit sein! Zugegeben - er hatte sich gehen lassen die letzten Jahre, aber dass sein Leben mal so enden würde, das hatte nicht mal er verdient. In einem stinkenden Pennerfetzen! Vielleicht ließ der liebe Gott sich ja auf einen Kuhhandel ein. Schließlich hatte er nichts Schlimmes geplant gehabt. Im Gegenteil. Sobald er okay war, würde er wieder helfen, den berühmten Teppich zu lüften, unter den die so genannte ehrenwerte Gesellschaft seit ewigen Zeiten so viel kehrte, dass es zum Himmel stank - im Vergleich dazu rückte sein Pennerkostüm geruchsmäßig schon fast wieder in die Nähe von Chanel No 5.
„Drei-zwo-eins … jetzt!“ Sie hatten den Defibrillator angesetzt – das Herz hatte zu stark geflimmert.
„Bitte, bitte retten Sie ihn. Er darf noch nicht sterben," flehte Charlotte Stein mit weit aufgerissenen Augen den Notarzt an. Jens Haberkorn sah sie von der Seite fragend an. Charlotte Stein sah an ihm vorbei.
„Er ist doch noch so jung.“
Jahrelang war er tagein, tagaus an ihrer Pförtnerloge beim Heilbronner Gäuboten vorbeigelaufen und sie hatte für ihn den Türöffner bedient. Und auch sonst war er einer der wenigen Netten im Haus gewesen. Eigentlich der einzige, den sie so richtig gut leiden konnte.
***
Der Krankenwagen bog in die Einfahrt zum Hospital ein. Gleich, so dachte Charlotte Stein, würde Arne geholfen werden. Plötzlich wurde es draußen dunkel. "Keine Bange," beruhigte sie einer der Sanitäter, "wir sind nur in der Schleuse." Die hinteren Türen öffneten sich.
Was sie dann freilich sahen, ließ sie erstarren. Vor ihnen die Mündung eines Gewehrs, dahinter eine maskierte Gestalt.
"Umladen!", befahl der Vermummte barsch. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schoss der Unbekannte in die Decke des Krankenwagens. Charlotte Stein stieß einen spitzen Schrei aus, alle Farbe wich aus ihrem Gesicht - und mit einem Seufzer kippte sie ohnmächtig zur Seite.
Der Kidnapper zwang die Sanitäter, Arne in seinen Lieferwagen zu legen, mit dem er unmittelbar hinter dem Krankenwagen in die Schleuse eingefahren war. Die Sanitäter fesselte er an die Krankenliege. Mit einem breiten Klebeband über Mund und Augen verhinderte er, dass sie sich frühzeitig bemerkbar machen konnten. Charlotte Stein ließ er in Ruhe. Die würde sich nicht so schnell wieder aufrappeln.
Der Maskierte klappte die Türen des Krankenwagens wieder zu, spazierte zum Führerhaus, zog den Schlüssel ab und schloss den Transporter sorgfältig ab. In aller Ruhe stieg er in seinen weißen Lieferwagen und fuhr davon.
***
"Frau Stein, hören Sie mich? Frau Stein! Ich brauche Sie, Arne braucht sie, bitte wachen sie auf! Frau Stein!" Noch etwas benommen rappelte sich Charlotte Stein hoch. Erschrocken wich sie zurück. Das Gesicht von Kommissar Pfeiffer war keine zehn Zentimeter von ihrem entfernt. Neben ihm ein Mann im Arztkittel.
Verängstigt sah sie sich um. Erst allmählich begriff sie, was geschehen war.
"Sie sind hier in der Notaufnahme. Ich musste Ihnen ein kreislaufstabilisierendes Mittel spritzen. Sie werden gleich wieder fit wie ein Turnschuh sein", klärte der Arzt sie auf.
„Darf ich Ihnen jetzt schon ein paar Fragen stellen, Frau Stein?“ Pfeiffer war klar, dass er unter den vorliegenden Umständen auf ihre Hilfe angewiesen war. Jetzt zählte jede Minute. Zwar hatte er die Aussagen der Sanitäter, aber die hatten nur etwas von den abscheulich stinkenden Klebebändern gefaselt, mit denen der Entführer ihnen den Mund zugeklebt hatte. Doch was sollte er mit einem solchen Hinweis anfangen? Und so blieb ihm als einzige Hoffnung die Stein. Immerhin kannte sie Arne.