Die achtsame Schule - Daniel Rechtschaffen - E-Book

Die achtsame Schule E-Book

Daniel Rechtschaffen

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Beschreibung

Angesichts schwindender Aufmerksamkeitsspannen und wachsender Stressbelastung sind viele Lehrende auf der Suche nach neuen Wegen, um Schülern zu helfen, besser zu lernen − und sich dabei gut konzentrieren und entwickeln zu können. Achtsamkeit hat sich als wirkungsvolles Konzept erwiesen, besser mit Stress umzugehen, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und Mitgefühl zu entwickeln. Daniel Rechtschaffen, Psychologe sowie Paar- und Familientherapeut, beschreibt in diesem praktischen Ratgeber, wie Aufmerksamkeit, Mitgefühl und Wohlbefinden bei Schülern und Lehrenden gefördert werden können. Einfache Übungen bieten den Lehrpersonen konkrete Möglichkeiten zur Selbstfürsorge und vermitteln ihnen das Rüstzeug, um einen Unterricht mit mehr Energie und Gelassenheit zu gestalten. Zahlreiche Beispiele, Übungen und Vorschläge für spezifische Altersgruppen und für unterschiedliche Bedürfnisse zeigen, wie Achtsamkeit in unserem Schulsystem angewendet und wie Kindern und Jugendlichen der Zugang zu ihr eröffnet werden kann. Die achtsame Schule lädt Lehrerinnen und Lehrer und alle, die mit jungen Menschen arbeiten, dazu ein, Verfechter einer achtsamen, mitfühlenden, ethischen und effektiven Art des Unterrichtens zu werden.

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Daniel Rechtschaffen

Die achtsame Schule

Achtsamkeit als Weg zu mehr Wohlbefindenfür Lehrer und Schüler

Mit einem Vorwort von Jon Kabat-ZinnAus dem Englischen von Maria Harpner

© 2014 by Daniel J. RechtschaffenVorwort © 2014 by Jon Kabat-Zinn© 2016 der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel:The Way of Mindful Education, Cultivating Well-Being in Teachers and Students

Alle Rechte vorbehaltenE-Book 2018

Titelbild: © 2016 aloha_17/istockphoto.comUmschlagrückseite: © 2016 stocksnapper/istockphoto.comIllustrationen im Innenteil: S. 186, 218 und 249: © 2016 MarinaMariya/istockphoto.com, S.206: © 2016 HelgaMariah/istockphoto.com,S.292: © 2016 asmakar/istockphoto.com.

Lektorat: Georg Grässlin

Hergestellt von mediengenossen.deE-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-221-4

Wichtiger HinweisDie Ratschläge zur Selbstbehandlung in diesem Buch sind vom Autor sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei ernsthafteren oder länger anhaltenden Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall einen Arzt, Psychotherapeuten, Psychologen oder Heilpraktiker Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung des Autors oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Ich widme dieses Buch meiner Mutter und meinem Vater,Stephan Rechtschaffen und Elizabeth Lesser,für Eure bedingungslose Liebe als Eltern,Eure Weisheit als Menschen und die Ehre,Euch heute als meine Freunde bezeichnen zu dürfen.

Inhalt

Vorwort von Jon Kabat-Zinn

Einleitung

Teil I Warum Achtsamkeit in der Schule wichtig ist

Der Weg der Achtsamkeit

Die achtsame Revolution des Erziehungssystems

Die Geschichte der achtsamen Erziehung

Die verschiedenen Ansätze

Die Wissenschaft der Achtsamkeit

Die Ursprünge der Achtsamkeit

Teil II Beginne bei Dir selbst

Gut für sich selbst sorgen

Das Wie, Wo und Wann der Achtsamkeit

Körpergewahrsein kultivieren

Aufmerksamkeit kultivieren

Herzlichkeit kultivieren

Verbundenheit kultivieren

Emotionale Intelligenz kultivieren

Achtsame Kommunikation kultivieren

Achtsamkeit in unserer modernen Welt

Teil III Das achtsame Klassenzimmer

Was einen achtsamen Lehrer ausmacht

Wesentliche Bestandteile eines achtsamen Klassenzimmers

Kulturelle Vielfalt und Integration bearbeiten

Stress und Traumata bearbeiten

Mit unterschiedlichen Altersgruppen arbeiten

Teil IV Ein Achtsamkeits-Curriculum

Schüler mit Achtsamkeit bekannt machen

Der Aufbau einer Achtsamkeitslektion

Achtsamkeitsbasiertes Curriculum

Körpergewahrseins-Lektionen

Die Sprache des Körpers

Achtsamkeit spielen

Achtsame Bewegung

Achtsames Essen

Aufmerksamkeitslektionen

Der Atemanker

Achtsames Hören

Achtsames Sehen

Gedankenstrom

Übungen zur Herzensöffnung

Liebevolle Sätze

Die Wurzeln unserer Emotionen

Destruktive Emotionen

Dankbarkeit hervorbringen

Verbundenheitslektionen

Achtsame Kommunikation

Die Welt der Natur

Ablenkung einüben

Achtsames Engagement in der Welt

Integration

Persönliche Praxis

Integrationsübungen

Herzenswärme aussenden

Beispielprogramme

Ressourcen

Danksagung

Quellenangaben

Literaturhinweise

Vorwortvon Jon Kabat-Zinn

Meine erste Erfahrung mit der Arbeit Daniel Rechtschaffens hatte ich, als ich einer Stunde beiwohnte, die er in einer Mittelschule im Oakland Unified School District hielt. Er arbeite damals für eine Initiative mit Namen Mindful Schools. Diese Schule galt als eine der schwierigeren in der Gegend. Als ich hereinkam, ein wenig zu spät, herrschte in der Klasse mit fünfundzwanzig Schülern bereits vollkommene Ruhe. Die Atmosphäre war gelassen und aufmerksam. Fast alle Schüler saßen aufrecht auf ihren Stühlen, ohne steif oder starr zu wirken. Die Schüler schienen sich wohl zu fühlen und auch ich fühlte mich in dieser Ruhe und Stille sofort zu Hause. Ich konnte kaum glauben, dass Mittelschüler dazu in der Lage waren. Der Klassenlehrer saß hinten und Daniel saß auf einem Stuhl vor der Klasse. Er hielt eine Messingschale in der Hand. Während ich mich hinten im Raum setzte, sah ich, wie langsam Hände nach oben gingen, zuerst nur einige wenige, dann immer mehr, alles in Stille. Was war das? Was geschah hier? Was konnte ich hier beobachten? Ich hatte so etwas nie zuvor gesehen.

Nun, es stellte sich heraus, dass die Anweisung zu dieser Übung lautete, dass die Schüler die Hand heben sollten, wenn sie den Klang der Glocke nicht mehr wahrnehmen konnten. Daniel hatte die Schale mit einem Schlegel angeschlagen, kurz bevor ich in die Klasse gekommen war. Offenbar schien es selbst Mittelschüler unglaublich aufmerksam zu machen, auf die Abwesenheit von etwas zu achten.

Am selben Tag besuchte ich eine Grundschule im selben Bezirk und sah eine andere Lehrerin von Mindful Schools, die dieselbe Übung mit einer ersten Klasse machte, wieder stand sie vorne und der Klassenlehrer saß hinten in der Klasse. Nachdem sie die Kinder aufgefordert hatte „ihren achtsamen Körper aufzuwecken“ – woraufhin alle Kinder sich aufrecht hinsetzten und sehr ruhig wurden – und ohne irgend etwas anderes zu sagen, schlug sie die Messingschale an, genau wie Daniel es getan hatte. Wieder hallte der Klang durch den Raum und während er langsam verschwand, sah ich, wie kleine Hände in die Luft gestreckt wurden, eine nach der anderen, alles in vollkommener Stille. Je länger es dauerte, desto mehr Hände gingen nach oben.

Die Klassenlehrerin erzählte mir später, dass viele der Kinder in dieser Klasse ernste Aufmerksamkeitsprobleme hatten. Sie staunte, wie still es oft während der Achtsamkeitsübungen im Raum wurde. Diese Fähigkeit, so stellte sie fest, übertrug sich mit der Zeit auf andere Momente des Tages, die Klasse kam leichter zur Ruhe, da sie schon wussten, wie sich das anfühlte, und das machte es ihr einfacher, den geplanten Lernstoff zu unterrichten.1

Lehrer stehen heute unter starkem Druck, sich immer mehr nach außen zu orientieren und die Erfüllung von Bildungsstandards und die Vorbereitung auf standardisierte Tests in den Vordergrund zu stellen. Das Schwergewicht unseres Bildungssystems liegt in fast erdrückendem Maße auf der Vermittlung von Informationen, natürlich mit dem lobenswerten Ziel, der nächsten Generation ein größeres Wissen und mehr Verständnis mitzugeben und somit gebildete und maximal kreative Arbeitskräfte für unsere zukünftige Welt hervorzubringen. Nur dass dieser Ansatz an sich leider mit starken Mängeln behaftet ist und falschen Voraussetzungen folgt, denn mit Ausnahme einer Minderheit von Schülern, für die er durchaus passend sein mag, lässt er die Mehrzahl der Kinder gestresst, befremdet und unendlich gelangweilt zurück – und sogar dem Lernen immer ablehnender gegenüberstehend. Man könnte sagen, dass die vorherrschende Tendenz in unserem Bildungssystem zu einer Krise der öffentlichen Gesundheit beiträgt, denn die Gesundheit der nächsten Generation hängt maßgeblich von Fähigkeiten und Kompetenzen ab, für die sich die Schule bis vor kurzem überhaupt nicht zuständig fühlte.

Völlig übersehen oder ignoriert wird in dieser Atmosphäre der Bereich der Innerlichkeit – das Innenleben des heranwachsenden Lernenden – und wie es gemeinsam mit dem äußeren Wissen und den Kompetenzen berücksichtigt, genährt und weiterentwickelt werden kann und muss. Das ist unumgänglich notwendig, damit jedes Kind lernt, sich in seiner Haut wohl zu fühlen, seinen eigenen Geist und Körper zu beruhigen, Selbst-Gewahrsein, emotionale Intelligenz, Selbstvertrauen und Resilienz zu entwickeln, um angesichts der unterschiedlichsten Stressfaktoren, des Leistungsdruckes und der Vorstellung, so oder so sein zu sollen, um dazuzugehören, bestehen zu können. Meiner Erfahrung nach fördert die Wertschätzung und Pflege des Innenlebens auch die Kreativität und Vorstellungskraft.

Angesichts dieser ständigen Vernachlässigung des Innenlebens ihrer Schüler wenden sich immer mehr Lehrer der Achtsamkeit zu. Achtsamkeit fördert Qualitäten wie Handlungsbewusstsein, das Gefühl wirklich man selbst und grundsätzlich in Ordnung zu sein, so wie man ist, das Gefühl ganz zu sein und dazuzugehören, sowie bestimmte Kompetenzen, die wichtig sind, um diese „Ganzheit“ über Jahre hinweg beizubehalten und das Lernen zu verbessern. Diese Kompetenzen beinhalten die Fähigkeit, unsere eigenen Gedanken und Emotionen als „Ereignisse“ im Feld des Bewusstseins zu erkennen und das Wissen, wie wir uns von ihnen befreien können, wenn wir uns in ihrem Inhalt und den dazugehörenden Emotionen verstrickt haben. Einfache Achtsamkeitspraktiken bieten uns verlässliche Strategien, um mit den Stürmen und Turbulenzen umzugehen, die unseren Geist bisweilen heimsuchen und mit Trauer, Wut, dem Gefühl nicht dazuzugehören, nicht gut genug zu sein und nicht lernen zu wollen, einhergehen. Unter anderem fördern sie Gelassenheit, Konzentration und Fokus, Impulskontrolle, Empathie und Verständnis anderen gegenüber und verringern Aggressionen.2

Um diese Praktiken zu einem vertrauten und unverzichtbaren Teil des Unterrichts zu machen – wie es so wirkungsvoll in diesem Buch beschrieben wird – gibt man den Kindern praktische Möglichkeiten, sich selbst kennenzulernen und zu erkunden. Dazu gehören nicht nur Gedanken und Emotionen, sondern auch das Bewusstsein für das Universum unserer Körperempfindungen, unter anderem auch unser Atem, und wie diese, meist in Übereinstimmung mit unseren Gedanken und Emotionen, kontinuierlicher Veränderung unterliegen. Im weiteren beeinflussen sie auch das soziale Bewusstsein, die Landschaft unserer Beziehungen und die Fähigkeit, uns darin so zu bewegen, dass anstelle von Trennung, Missachtung und Feindseligkeit, Verbundenheit, Güte und eine Reihe von prosozialen Verhaltensweisen gefördert werden.

Parallel zu dem akademischen Lehrplan brauchen auch unser Innenleben und unser Selbstgewahrsein Schulung und Zuwendung, damit diese Qualitäten verankert und im Laufe unseres Lebens weiterentwickelt und vertieft werden können. Diese Zuwendung beginnt damit, zu erforschen, wie man zur Stille finden kann, wie es sich anfühlt, sich ganz bewusst zu bewegen und wie man maximale Präsenz entwickeln kann, wenn man es möchte oder die Situation es erfordert. Achtsamkeit liegt dem sozial-emotionalen Lernen zugrunde. Es geht darum, weisere Entscheidungen zu treffen und verschiedene Wege zu finden, um mit seinen inneren und äußeren Erfahrungen, die sich von einem Moment zum nächsten entfalten, in Beziehung zu treten. Wie wir sehen werden, ergänzt Achtsamkeit Sozial Emotionales Lernen (SEL) um das Element der Körpergewahrseinsübungen, die den Kindern dabei helfen, ausgeglichener, angemessener und effektiver auf Krisenmomente zu reagieren.

Die Grundlage der Achtsamkeit liegt in unserem Bewusstsein selbst. Achtsamkeit ist nicht etwas, das wir erlangen oder uns aneignen müssen, sondern eher etwas, das wir bereits haben und bloß entdecken müssen, eine Fähigkeit, die angeboren ist, aber zugunsten einer weiteren wunderbaren, menschlichen Fähigkeit, dem Denken, oft vernachlässigt wird. Doch während dem Denken in der Schule reichlich Zeit gewidmet wird, in der Hoffnung, die Schüler zu besseren und kritischeren Denkern zu erziehen, bleiben die anderen, genauso essentiellen Fähigkeiten, die unsere Gedanken und Emotionen regulieren können, überwiegend unbeachtet. Es ist das Gebot unserer Zeit, uns mit diesen inneren Fähigkeiten zu beschäftigen, vertraut zu machen und sie in unseren Alltag zu integrieren, um in unserem Leben mit all seinen Aufs und Abs, allen Drehungen und Wendungen, besser navigieren zu können. Welcher Ort könnte besser dafür geeignet sein, um diese Dimension zu erschließen und zu entwickeln, als die Schule?

Die grundsätzliche Qualität des Gewahrseins besteht darin, dass es alles und jedes fassen kann, das in unserer Erfahrung auftaucht. Es kann die Dinge mit Klarheit und Einsicht wahrnehmen, ohne sie unmittelbar zu werten – und somit den üblichen Impuls aufheben, jeden Aspekt unserer Erfahrung sofort in die Kategorien Mögen oder Nicht-Mögen, Mehr-davon-haben-Wollen oder Weniger-davon-haben-wollen einzuteilen. Unser Bewusstsein verstärkt das Menschliche in uns und unsere Beziehung zum Leben selbst. Für mich ist es das Merkmal, das uns voll und ganz menschlich macht.

Der direkte Weg zum Gewahrsein und seiner Klarheit führt über die systematische Schulung der Aufmerksamkeit. Die Vorteile, diese Schulung und Praxis schon Schulkindern anzubieten, liegen auf der Hand. Solche Fähigkeiten und Praktiken und die potentiellen Einsichten, die daraus erwachsen können, sind, meiner Meinung nach, nicht mehr als Option im menschlichen Repertoire zu sehen. Sie sind, in unserer sich rasant verändernden, immer komplexer werdenden, oft verwirrenden Welt, in der, wie Linda Stone es ausdrückt, die „kontinuierliche, partielle Aufmerksamkeit“ in zunehmendem Maße zum Standard-Modus geworden ist, für Erwachsene wie auch für Kinder unverzichtbar geworden.3 Sie ergänzen den normalen Lehrplan und erleichtern das Unterrichten, wie die Lehrerin dieser ersten Klasse in Oakland bemerkt hat. Man braucht dafür auch nicht viel Zeit, besonders wenn sie in der Hand von erfahrenen und in Achtsamkeit gut geschulten Lehrerinnen und Lehrern liegen.

Wie dieses Buch gekonnt dokumentiert, weiß man mittlerweile, dass Stress sich schädlich auf das in Entwicklung befindliche Gehirn auswirkt.4 Insbesondere nachgewiesen wurde eine nachteilige Wirkung von Stress auf die exekutiven Funktionen des präfrontalen Cortex, die für die Problemlösung, Kreativität und das logische Denken maßgeblich sind – sowie auf den Hippocampus, der eine aktive und wichtige Rolle beim Lernen, dem Gedächtnis und der Emotionsregulation spielt. Stress beeinflusst auch die Amygdala, das Stressreaktionszentrum im Limbischen System, das sich bei dauernder Stressbelastung vergrößert und durch Achtsamkeitstraining kleiner wird. Schon deswegen ist es sinnvoll, sich einfache Achtsamkeitspraktiken anzueignen, von denen wir aus wissenschaftlichen Studien wissen, dass sie ein Gegenmittel zu toxischem Stress darstellen. Viele Kinder kommen nicht einmal in einem Zustand in die Schule, der Lernen möglich macht. Sie haben möglicherweise nicht gefrühstückt oder waren bereits am frühen Morgen Stress oder Gewalt ausgesetzt. Bevor die Lehrer nach dem geforderten Lehrplan vorgehen können, müssen sie den Kindern erst einmal das Werkzeug vermitteln, damit diese überhaupt aufmerksam sein, ihre Emotionen regulieren, Lernen lernen und ihr Lerninstrument einstimmen können, bevor es gespielt werden kann, wie ein Musiker sein Instrument stimmt, bevor er es spielt. Wenn die Praktiken, die in diesem Buch vorgestellt werden, in den Unterricht integriert werden, dann sind sie in der Lage, die Auswirkungen von schädlichem Stress auf das kindliche Gehirn zu mindern. Das ist besonders wichtig für gefährdete Jugendliche und dort, wo die Kosten eines Lernversagens besonders hoch sind.

Im Laufe der letzten zwanzig Jahre konnten andere Studien bei Kindern einen dramatischen Rückgang der kognitiven und emotionalen Kompetenzen feststellen, die wir für selbstverständlich halten, um später als Erwachsene einen Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten zu können.5 Neuere Studien betonen die Bedeutung der Fähigkeit, wirklich zuhören, effektiv kommunizieren, Konflikte lösen, kritisch denken, sich Ziele setzen und im Team arbeiten zu können, und die Rolle, die dem öffentlichen Schulsystem bei der Entwicklung dieser Eigenschaften zukommt.6 All das kann durch eine Achtsamkeitspraxis verbessert werden.

Laut Linda Lantieri,7 einer wegweisenden Pädagogin für Sozial Emotionales Lernen (SEL) und Achtsamkeit, besteht der Mehrwert von Achtsamkeit für das konventionelle SEL vorrangig in den Körpergewahrseinspraktiken, die bekanntlich die Neuroplastizität fördern; das heißt, strukturelle Veränderungen in den eben erwähnten und anderen Gehirnregionen, die in der Lage sind, Lernfähigkeit, Gedächtnis, emotionale Balance und kognitive Aspekte zu verbessern. Achtsamkeitspraktiken bilden eine solide Grundlage für das mehr konzeptuell und kognitiv basierte SEL-Curriculum. Sie erlauben jedem Kind, seinen Muskel der emotionalen Balance regelmäßig zu trainieren, indem sie üben, präsent zu sein und ein nicht wertendes Gewahrsein in relativ ruhigen Momenten zu entwickeln, und dann mit der Zeit zu lernen ein gewisses Maß an Gelassenheit selbst angesichts stressauslösender und bedrohlicher Situationen beizubehalten. Ein regelmäßig trainierter Achtsamkeitsmuskel, besonders wenn dieses Training spielerisch und mit Leichtigkeit ausgeführt wird, macht es wahrscheinlicher, dass die Kinder unter bedrohlichen und sehr emotionalen Umständen ihre SEL-Strategien abrufen und anwenden können.

Meine erste Begegnung mit Achtsamkeit im Klassenzimmer hatte ich in den frühen 90-er Jahren durch Cherry Hamrick, der Lehrerin einer fünften Klasse, an der Welby Elementary School in South Jordan, Utah. Cherry war eine unerschrockene, höchst kreative, frühe Pionierin dieser Bewegung.8 Nachdem sie an einem achtsamkeitsbasierten Stressbewältigungsprogramm (MBSR) am LDS Hospital in Salt Lake City teilgenommen hatte, beschloss sie, Achtsamkeit mit ihrer Klasse zu versuchen. Trotz meiner anfänglichen Skepsis entwickelte sich Cherrys teilweise sehr kreative Einführung von Achtsamkeit in ihrer fünften Klasse zu einem sehr erfolgreichen Experiment, das sich über einige Jahre erstreckte. Ich hatte das Privileg, die Schule zu besuchen und ihre Schüler und einige der Eltern kennenzulernen. Offensichtlich war Achtsamkeit dort sehr willkommen und hatte in diesen Jahren einen positiven Einfluss, nicht nur auf diese Klasse, sondern auf die ganze Schule. Eine Anekdote ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben: ein Elternteil beobachtete, wie ein Schüler aus Cherrys fünfter Klasse zu einem seiner Geschwister, das sich darüber beschwerte, dass seine Klassenkameraden es ärgerten, sagte: „Nur weil sein Geist flattert, heißt das nicht, dass Deiner auch flattern muss.“

Nachdem die Wirksamkeit von Achtsamkeit im Leben und der Gesundheit von Patienten mit einer Reihe von chronischen stressbedingten Krankheiten, sowie Depressionen und Ängsten wissenschaftlich mehrfach belegt werden konnte, finden achtsamkeitsbasierte Programme wie MBSR und MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) in zunehmendem Maße auch in der Medizin, dem Gesundheitssystem und bei Psychologen ihre Anwendung. Gleichzeitig halten Achtsamkeit und andere kontemplative Praktiken ihren Einzug bei normalen Studienplänen an Hochschulen und Universitäten.9 Wie wir bereits gesehen haben, bietet Achtsamkeit Schülern und Lehrern von Grund- und weiterführenden Schulen eine wirkungsvolle Antwort auf den wachsenden Stress und die vermehrten Herausforderungen, denen Kinder, Lehrer und Schulen ausgesetzt sind, und die insgesamt dem Lernen eher abträglich sind.10

Achtsamkeit ins Klassenzimmer zu bringen setzt ganz generell ein beträchtliches Maß an Kreativität und Innovation von Seiten des Klassenlehrers voraus.

Es ist nicht im geringsten ein 08/15-Universalkonzept. Noch ist es eine verdeckte Strategie zur Verhaltensmodifikation, obwohl ein Nebeneffekt durchaus eine wesentlich effizientere Lernatmosphäre sein kann. Was Daniel Rechtschaffen hier anbietet, ist ein effektiver, benutzerfreundlicher Zugang für Klassenlehrer, der betont, dass es den einen, richtigen Weg, Achtsamkeit zu unterrichten, nicht gibt und dass es am besten funktioniert, wenn der Lehrer experimentiert und sein eigenes Leben als Versuchslabor heranzieht, um seine Achtsamkeitspraxis zu erkunden und zu vertiefen. Das Buch bietet eine Reihe von kreativen Optionen und Zugangsweisen für Lehrer jeder Klassenstufe, die den Wunsch haben, diesen Ansatz mit Sorgfalt und Spielfreude in ihr Klassenzimmer zu bringen. Es ist eine Fundgrube der Perspektiven und Übungen, die Lehrer und Administratoren über Jahre hinweg bei ihren Versuchen, Achtsamkeit in die verschiedenen Aspekte des Lehrplans – vom Kindergarten bis zur Oberstufe – zu integrieren, Inspiration und Unterstützung bietet.

Im November 2012 ging ich über einen Fußballplatz, den die Mittelschule und die High School in Camp Zama, dem ausgedehnten Hauptsitz der US-Army in Japan, gemeinsam nützen. Aus dem Nichts hörte ich eine Stimme aus dem Lautsprecher, die vollkommen selbstverständlich verkündete: „Die Glocke läutet nun den Beginn einer achtsamen Minute ein.“ Ich traute meinen Ohren nicht. Scheinbar wussten alle Schüler, was das bedeutete – sie erhielten bereits Achtsamkeitsunterricht – und fielen eine Minute lang in ein stilles Gewahrsein. Später erfuhr ich, dass der Direktor der Mittelschule selbst diese Ansage gemacht hatte. All dies geschah, weil ein Schulbeirat, Jason Kuttner, der Meinung war, dass es hilfreich sein könnte, Achtsamkeit in den Unterricht einzubauen. Nun wird es in der gesamten Mittelschule eingesetzt und wurde in Teilen der High School ebenfalls vorgestellt. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Intention einer einzigen Person Veränderungen in einer ganzen Schule bewirken kann, genau wie Cherry Hamrick es in ihrer Schule tat und so viele andere Lehrer, deren Geschichten in diesem Buch zu finden sind.

Im Dezember 2013 hielt Chris Ruane, ein Parlamentsmitglied Großbritanniens und langjähriger Lehrer in Wales, eine mitreißende Rede im Parlament, die an den Bildungsminister gerichtet war, der direkt vor ihm saß. In seiner Rede, deren Titel „Achtsamkeit in der Schule“ war, betonte er die Notwendigkeit, Achtsamkeit in Grund- und weiterführende Schulen in England einzuführen und erklärte, warum alle Klassenlehrer die Möglichkeit haben sollten, eine qualifizierte Schulung in Achtsamkeit zu erhalten.11 Er nannte einige Programme als Beispiele, darunter auch das „.b“ Programm von Mindfulness in Schools, einem Projekt der Lehrer Chris Cullen und Richard Burnett. Sie haben einen sehr fantasievollen und äußerst beliebten Zugang entwickelt, um Achtsamkeit in Grundschulen und weiterführenden Schulen in Großbritannien zu unterrichten. Zu ihrer Gruppe gehört auch ein Forschungsprogramm, das mit dem Oxford University Centre for Mindfulness zusammenarbeitet. Es ist nur eines von vielen inspirierenden Achtsamkeitsprogrammen, die Daniel Rechtschaffen vorstellt.

Ob Sie Lehrerin sind oder Erzieher, in der Schuladministration oder der Lehrplanentwicklung arbeiten, das Buch, das Sie in Händen halten, hat das Potential, Ihr Leben, das Leben Ihrer Schüler, das Leben der ganzen Schule sowie das gesamte Bildungssystem nicht nur in Amerika zu verändern. Ich begrüße diese zeitgerechte Veröffentlichung. Möge es eine nützliche und wertvolle Ressource für alle Lehrerinnen und Lehrer sein, denen es ein Anliegen ist, sowohl das innere wie das äußere Lernen zu optimieren und das einzigartige Potential und die Schönheit jedes einzelnen ihrer Schüler zu fördern.

JON KABAT-ZINNBERKELEY, KALIFORNIEN31. JANUAR 2014

Belege

1 Mindful Schools hat seine Arbeitsweise mittlerweile verändert und bietet nun Trainingsprogramme für Achtsamkeit für Lehrer von Grund- und weiterführenden Schulen an, statt Spezialisten in die Klassen zu schicken.

2 Siehe zum Beispiel: http://www.mindfulschools.org/about-mindfulness/stories/-students

3 Siehe: http://lindastone.net/

4 Sonja J. Lupien, Bruce S. McEwen, Megan R. Gunnar und Christine Heim, Effects of stress throughout the lifespan on the brain, behavior and cognition. In: Nature Reviews Neuroscience, 2009: 10, 434–445.

5 Goleman, D., Emotional Intelligence. New York: Bantam, 1995; siehe auch: http://www.cfchildren.org/advocacy/social-emotional-learning/the-cost-of-emotional-illiteracy-part-1.aspx; vgl. dt. Ders., Emotionale Intelligenz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 19: 2007.

6 Siehe: http://www.cfchildren.org/advocacy/social-emotional-learning/21st-century-skills-vital-for-future-wirkforce.aspx

7 Linda Lantieri, persönliche Kommunikation; siehe auch: Dies., Building Emotional Intelligence: Technics to Cultivate Inner Strength in Children. Boulder, CO: Sounds True, 2008. vgl. dt. Dies., Emotionale Intelligenz für Kinder und Jugendliche. München: Ariana Verlag, 2009.

8 Siehe: Mindfulness in the Classroom. In: Kabat-Zinn, M. und Kabat-Zinn, J., Everyday Blessings: The Inner Work of Mindful Parenting, Hyperion, New York, 1997; 2014 (vgl. dt. Dies., Mit Kindern wachsen, Arbor-Verlag, Freiburg, 2015). Siehe auch: http://mindfuleducation.org/Mindfulnessintheclassroom-JKZ.pdf

9 Barbezat, D.P. und Bush, M., Contemplative Practices in Higher Eduation: Powerful Methods to Transform Teaching and Learning. New York: Jossey-Bass, 2014.

10 Davidson, R., Dunne, J., Eccles, J.S., Engle, A., Greenberg, M., Jennings, P., Jha, A., Jinpa, T., Lantieri, L., Meyer, D., Roeser, R.W. und Vago, D., Contemplative Practices and Mental Trainings: Prospects for American Education. In: Child Development Perspectives, 6 (2), 2012, 146–153. Roeser, R.W., Schonert-Reichl, K.A., Jha, A., Cullen, M., Wallace, L., Wilensky, R., Oberle, E., Thomson, K., Taylor, C. und Harrison, J., Mindfulness Training and Reductions in Teacher Stress and Burnout: Results From Two Randomized, Waitlist-Control Field Trials. In: Journal of Educational Psychology, 2013, Abstract. Frank, J. L., Jennings, P. A. und Greenberg, M. T., Mindfulness-Based Interventions in School Settings: An Introduction to the Special Issue. In: Research in Human Development, 2013, 10:3, 205–210 (DOI:10.1080/15427609.2013.818480; http://dx.doi.org/10.1080/15427609.2013.818480).

11 Siehe: http://theyworkforyou.com/whall/?id=2013–12–10a66.0

Einleitung

Aus irgend einem Grund sah diese eine E-Mail aus dem Weißen Haus anders aus, als der übliche politische Junk, der sonst immer in meinem Posteingang landete. Meine Entscheidung, sie nicht umgehend im Papierkorb zu versenken, sollte sich als durchaus bedeutsam herausstellen. Die Nachricht begann folgendermaßen: „Wir freuen uns, Sie zu einem Runden Tisch mit Mitgliedern der Obama-Administration einzuladen.“ Sie hatten mich als Vertreter einer Bewegung eingeladen, die sich für „Mindfulness in Education“, für „Achtsamkeit in der Schule“ einsetzte, um von den erstaunlichen Auswirkungen zu berichten, die wir bei den jungen Menschen durch die Anwendung dieser Praktiken beobachten konnten.

Ehe ich mich versah, wurde ich durch den Eingang des Weißen Hauses geschleust und hatte meinen Platz an einem Tisch zusammen mit strammen Generälen, Beamten des Heimatschutzministeriums, des Gesundheitsministeriums und einer Reihe von anderen Ministerien eingenommen. Schon 20 Jahre zuvor, als ich meine ersten Erfahrungen mit der süßen inneren Stille der Achtsamkeit machen durfte, war ich zu dem Schluss gelangt, dass wir unsere Gesellschaft grundlegend wandeln könnten, wenn es uns gelänge, diese Praxis an kleine Kinder, Patienten und – ja, warum eigentlich nicht? – Politiker weiterzugeben, doch der Gedanke, dass unsere Regierung diesen Schritt wagen könnte, war mir nie gekommen.

Als Familientherapeut und Schulpsychologe begann ich 2006 die transformierende Praxis der Achtsamkeit zu unterrichten, um Kindern mit Ängsten, Impulsivität, Aufmerksamkeitsschwäche und Depressionen zu helfen und sie dabei zu unterstützen, ein glückliches und erfüllendes Leben zu leben. Ich hatte keine Ahnung, dass es bereits eine Bewegung für die achtsame Schule gab. Später hörte ich dann von Projekten wie „Mindful Schools“, die in Schulen in der Nähe der California Bay Area unterrichteten, dem „Mind Body Awareness Project“, einem Projekt für inhaftierte Jugendliche und „Mindfulness without Borders“, die sich an Studenten auf der ganzen Welt richtete. Begeistert davon, dass ich mit meinem Anliegen offensichtlich nicht alleine war, begann ich Achtsamkeit an Schulen in Kalifornien zu unterrichten und half verschiedenen Organisationen dabei, einen auf Achtsamkeit basierten Lehrplan zu entwickeln.

Und nun habe ich einen Job, den ich noch vor zehn Jahren für undenkbar gehalten hätte. Ich fliege um die Welt und berate Verantwortliche diverser Schulsysteme bezüglich der Schaffung achtsamer, emphatischer und inspirierender Lernbedingungen. In der einen Woche bin ich in Thailand und leite eine internationale Konferenz für Lehrer, die Achtsamkeit und sozial-emotionales Lernen in ihr Heimatland bringen wollen; die Woche darauf bin ich bereits in Atlanta an einer K-12 Schule* und trainiere dort mit dem örtlichen Baseballteam Achtsamkeit, Embodiment und Team-Kommunikation; die Woche danach bin ich wieder in Kalifornien, wo ich ein Retreat für Pädagogen leite, die Teilnehmer des einjährigen Lehrgangs am Mindful Education-Institut sind. Glücklicherweise unterrichte ich selbst Achtsamkeit und weiß, dass die kontinuierliche eigene Arbeit an Präsenz, Herzensöffnung und Aufmerksamkeit unabdingbar ist, um gut unterrichten zu können, denn sonst würde meine jetzige Lebensweise doch sehr an mir zehren. Wenn man mich am Flughafen fragt, ob ich geschäftlich oder zum Vergnügen unterwegs bin, antworte ich in der Regel mit einem nachdrücklichen: „Ja!“

Ich unterrichte Pädagogen, administratives Personal und Kinder in den grundlegenden Prinzipien der Achtsamkeitspraxis. Wenn man jemandem beibringen will, wie man Auto fährt, dann setzt man ihn hinters Lenkrad und stellt sicher, dass ihm die wesentlichen Verkehrsregeln bekannt sind. In der Kindererziehung vermitteln wir zwar, wie man sich in dieser Welt bewegt, doch meist überspringen wir dabei die Bedienungsanleitung. Wie funktioniert unser Geist, unser Herz und unser Körper? Wie schulen wir unsere Aufmerksamkeit? Wie gehen wir liebevoll mit uns und anderen um? Selten werden Kindern von Eltern oder in der Schule angeleitet, wie sie die von ihnen vertretenen ethischen Grundhaltungen tatsächlich entwickeln können, denn in der Regel hat auch uns niemand mit dieser unbezahlbaren Praxis vertraut gemacht. So könnten wir den Schluss ziehen, dass unser Glücklichsein ein Zustand ist, der im Großen und Ganzen dem Zufall überlassen bleibt, und nicht etwas, das man wie einen Muskel trainieren und kräftigen kann. Sobald wir selbst zu dieser Einsicht gelangt sind, können wir unsere Schüler in ihrer Aufmerksamkeit, Zufriedenheit und ihren ethischen Werten wirkungsvoll trainieren.

Im Jahre 2008 entschied ich mich, die Mindfulness in Education-Konferenz am Omega-Institut, einem ganzheitlichen Bildungszentrum in Rhinebeck, New York, ins Leben zu rufen. Diese einmal im Jahr stattfindende Konferenz bringt Lehrer wie Daniel Siegel, Jon Kabat-Zinn, Linda Lantieri, Goldie Hawn, Danny Goleman, Susan Kaiser-Greenland und viele andere führenden Persönlichkeiten im Bereich Achtsamkeit und Bildungswesen an einen Tisch. Für mich hat diese Konferenz am Omega-Institut eine besondere Bedeutung, denn ich selbst habe dort meine Achtsamkeits-Lehrzeit verbracht.

Das Omega-Institut wurde 1977 von meinen Eltern Elizabeth Lesser und Stephan Rechtschaffen gegründet. Meine Mutter und mein Vater leisteten Pionierarbeit und machten Meister der Meditation, des Yoga und anderer kontemplativer Traditionen der amerikanischen Öffentlichkeit zugänglich. Meine frühen Kindheitserinnerungen beinhalten Shaolin-Mönche, die auf Schwertklingen balancierten, Yogis, die ihren Körper zu einem Knoten verbiegen konnten, Meditationsmeister, die stundenlang vollkommen regungslos dasaßen, und Lehrer, die in Trance versetzt irgendwelche Aliens channelten. Das alles schien mir völlig normal. Ich befand mich in der Regel mit Freunden hinter der Bühne, wo wir aus Meditationskissen Burgen bauten, und doch muss ich auf irgendeiner Ebene dem, was da gelehrt wurde, zugehört haben.

Ich erinnere mich daran, wie ich mit etwa vier Jahren in das Zimmer meines Vaters spazierte und ihn bewegungslos, mit überkreuzten Beinen auf seinem Bett sitzen sah. Einen Augenblick lang stand ich da, verwirrt. Ich nahm eine Stille wahr, die ich nicht kannte. Obwohl er bloß dasaß und nichts tat, war hier offensichtlich gerade etwas Bedeutsames im Gange.

Ich stand da wie angewurzelt, bis er seine Augen öffnete und mir bedeutete, zu ihm zu kommen. Ich kletterte auf sein Bett und bekam meine erste Lektion in Achtsamkeit. Ich lernte zu beobachten, wie der Atem in mich hinein und aus mir heraus strömte. Bei jedem Einatmen sollte ich zählen: „eins, zwei, drei…“ Jedes Mal, wenn meine Aufmerksamkeit sich auf und davon machte, sollte ich zu meinem Atem zurückkehren und wieder von vorne zu zählen beginnen.

Mein Bruder und ich versuchten einen Wettkampf daraus zu machen, um herauszufinden wer länger durchhalten konnte, ohne zu denken. „Ich bin bis 23 gekommen“, sagte ich. „Unmöglich, Du lügst!“ erwiderte er. Wir merkten schnell, dass es nicht möglich war, die innere Erfahrung des anderen zu überprüfen und es daher vollkommen sinnlos war, um die Wette zu meditieren. Schon bald gaben wir auf und spielten lieber wieder Baseball oder Dame, doch diese erste Berührung mit der Funktionsweise meines Geistes sollte der Beginn einer lebenslangen Forschungsreise sein.

Schon früh fesselten mich grundlegende existenzielle Fragen. Warum war ich hier? Was erwartete mich, wenn ich starb? Ich war eines dieser Kinder, deren Wissensdurst die großen Fragen des Lebens betraf, und die Umgebung, in der ich aufwuchs, schätzte und nährte diesen Forschergeist. Ich hatte das große Glück, dass meine Eltern und die Lehrer am Omega-Institut, diesen frühen, kosmischen Fragen aufmerksam und verständnisvoll begegneten. Doch wenn ich meinen zehnjährigen Schulfreunden Fragen stellte, wie: „Was glaubst du, passiert mit unserem Geist, wenn wir sterben?“, erntete ich bloß starre, erschrockene Blicke.

Da ich nicht wusste, wie ich mit meinen Altersgenossen und Lehrern über meine Erfahrungen sprechen konnte, begann ich mich in zwei Persönlichkeitsteile zu spalten. Da gab es mein „soziales Selbst“, das mit meinen Freunden spielte, Samstag Morgens Cartoons schaute und an meinem kleinen Schreibtisch qualvolle Tabellen auswendig lernte. Ich versuchte ein möglichst normales amerikanisches Kind zu sein. Ich setzte mich mit Stift und Papier vor MTV und machte Notizen, was man tun musste, um cool zu sein. In der dritten Klasse gründete ich eine Rap-Gruppe und trug Air Jordan Turnschuhe und Hip-Hop Klamotten, die mir zehn Nummern zu groß waren. Obwohl es meinem sozialen Selbst gelang, in dieser Kultur des Coolseins akzeptiert zu werden, lechzte mein „authentisches Selbst“ danach, integriert zu werden. Die Schule war in jedem Fall ein Ort, an dem mein authentisches Selbst sich wie ein Fremder fühlte, der versucht als Einheimischer durchzugehen. Ich verstand nicht, warum sich kein Mensch in der Schule über die großen Fragen Gedanken machte.

Ich musste mir die ganzheitliche Bildung, nach der sich mein Körper, mein Geist und mein Herz sehnte, aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammensuchen. Das Studium der westlichen Philosophie auf dem College nährte meinen Geist, ließen mein Herz und meinen Körper jedoch leer und unbefriedigt zurück. Mein Aufbaustudium in Psychologie erfüllte mein Bedürfnis nach emotionaler und sozialer Weiterentwicklung, vernachlässigte jedoch meinen Körper. Als ich viel Zeit mit indigenen Lehrern in der freien Natur verbrachte, Tai Chi praktizierte und tanzte (sehr viel tanzte), verhalf mir das zu einem vertieften Körpergewahrsein. In dieser ganzen Zeit war meine Achtsamkeitspraxis der Leitstern, der meinen Weg durch Selbst-Gewahrsein erhellte. Mein bisheriges Leben war ein Pfad der Integration, auf dem mein authentisches Ich und mein soziales Ich allmählich zueinander fanden.

Als ich zum Omega-Institut zurückkehrte, um die Mindfulness in Education-Konferenz zu leiten, wurde mir klar, dass ich dieselbe empathische Erziehung, die ich selbst genossen hatte, anderen zugänglich machen wollte. Normalerweise laden wir etwa 300 Lehrer zu einem Wochenende voll inspirierender Vorträge, Übungen und Gemeinschaftsarbeit ein. Bald wurde mir klar, dass ein Wochenende bei Weitem nicht ausreichte, um Lehrern eine profunde Achtsamkeitspraxis zu vermitteln, sie verinnerlichen und unterrichten zu können. Schließlich leitete ich fünftägige Retreats, die uns ein intensiveres Eintauchen ermöglichten, doch immer noch schien es, die Teilnehmer bräuchten mehr. 2011 rief ich das Mindful Education-Institut ins Leben, eine Lehrerfortbildung, die ein Jahr lang dauerte. So konnte man ein einwöchiges Schweige-Retreat unterbringen und die Teilnehmer hatten die Möglichkeit, ein ganzes Jahr als Gemeinschaft zu verbringen, um das, was sie zusammen gelernt hatten, in ihre Welt zu tragen.

Man kann diese Bewegung weder in einer Wochenendkonferenz, noch in einer einjährigen Ausbildung und auch nicht in diesem Buch zusammenfassen. Ich lade Sie ein auf eine Reise zu einem neuen Paradigma; eines bei dem wir mit unseren Schülern zusammen lernen und lehren, was es erforderlich macht, sich einzugestehen, dass wir alle „work in progress“, also in Entwicklung befindlich und unfertig sind. Wie kleine Kinder, die Laufen lernen, indem sie immer und immer wieder hinfallen, biete ich Ihnen meine eigenen unbeholfenen Versuche an, ein Lehrer zu sein, der diesen Namen verdient hat, und lade Sie ein, mit mir in eine Zukunft zu stolpern, die unvorstellbar inspirierend ist. Ich habe in Hunderten von Klassenzimmern auf der ganzen Welt unterrichtet, und doch hatte ich noch nie eine Vollzeitstelle als Klassenlehrer; ich erkenne immer wieder voll Demut, wie viel ich nicht weiß. Ich möchte ein Autor sein ohne autoritär zu sein. In diesem Sinn lade ich auch Sie ein, ein Art Lernkumpan zu werden, statt von oben herab zu unterrichten. Dieses Buch ist eine gemeinsame Reise. Ihr Wissen und Ihre Erfahrung ist etwas, von dem wir alle lernen können. Die Weisheit einer Gruppe ist stets größer als die eines Einzelnen.

Ich kann mit Sicherheit sagen, dass all das, was wir für eine mitfühlende Gesellschaft brauchen, bereits da ist. So, als ob wir uns ein wunderschönes Haus wünschen und neben einem Riesenstapel von Holz und Werkzeug ständen. Ich habe von meiner Tätigkeit als Achtsamkeitslehrer gelernt, dass selbst Vorschulkinder Impulskontrolle, Mitgefühl, Aufmerksamkeit, kommunikative Fähigkeiten und Spannungsabbau erlernen können – alles nötiges Baumaterial für ein gesundes, glückliches und verantwortungsbewusstes Leben. Wir haben die Materialien. Nun liegt es an uns, das Haus zu bauen.

Wie dieses Buch aufgebaut ist

Teil I ist: Warum Achtsamkeit in der Schule wichtig ist. Achtsamkeit in der Schule ist nichts vollkommen Neues. Wir beginnen diese Reise mit einer Einführung in die großartige Arbeit, die auf diesem Gebiet bereits geleistet wird und in den unterschiedlichsten Formen an die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen weitergegeben wird. Dazu müssen wir zunächst einmal die Frage stellen, was Achtsamkeit eigentlich ist. Achtsamkeit hat trotz all ihren modernen Anwendungsformen uralte Wurzeln. Wir haben große Bemühungen unternommen, um die Auswirkungen dieser Praxis auf unseren Geist, unseren Körper und unser Herz durch neueste wissenschaftliche Untersuchungen zu beleuchten. Wir befassen uns damit, wie Achtsamkeit sowohl unsere Schüler als auch uns als Lehrer unterstützen kann.

In Teil II, Beginne bei Dir selbst, lernen wir, dass die eigene Achtsamkeit unumgänglich ist, wenn man Achtsamkeit lehren möchte. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn Sie Vater, Mutter, Lehrer, Therapeut und einfach ein Mensch sind, in dessen Leben Kinder eine Rolle spielen, ist das größte Geschenk, das Sie ihnen machen können, Ihre eigene authentische Präsenz. In diesem Sinn ist dieser Abschnitt des Buches dazu gedacht, Ihnen die Kunst der Achtsamkeit nahezubringen, so dass Sie sie dann bei Ihren Schülern anwenden können. Selbst wenn Sie nur diesen Teil des Buches lesen, haben Sie die Möglichkeit Ihr Klassenzimmer zu wandeln. Wir beschäftigen uns auch mit einigen psychologischen Grundlagen, wie wir uns unser selbst bewusst wahrnehmen und Projektionen auf unsere Schüler vermeiden können. Danach lernen wir unseren Körper bewusst zu spüren, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, Mitgefühl zu entwickeln und achtsam durch den Alltag zu gehen.

In Teil III, Ein achtsames Klassenzimmer schaffen, geht es darum, wie wir diese Lehre von einem inneren Ort des Mitgefühls und der achtsamen Präsenz aus in unser Klassenzimmer bringen können. Wir besprechen, was einen achtsamen Lehrer ausmacht und auf welche Weise wir unsere Praxis mit unseren Schülern anwenden können. Wir betrachten einige essentielle Bestandteile eines achtsamen Klassenzimmers, wie den Gesprächskreis, die Friedensecke und das gemeinsame Treffen von Klassenvereinbarungen.

Wir untersuchen verschiedene Herangehensweisen und die beste sprachliche Umsetzung, um die Inhalte für unterschiedliche Altersgruppen zugänglich zu machen. Wir beschäftigen uns mit der kulturellen Diversität und Integration und wie man Achtsamkeit in einer angemessenen und förderlichen Weise unterrichtet. Wir untersuchen, welche Auswirkungen Stress und Trauma auf die Schüler hat und wie man damit umgehen kann.

Im letzten Abschnitt, Teil IV, Ein Achtsamkeits-Curriculum, stelle ich eine Reihe von Stunden vor, die für unterschiedliche Settings geeignet sind. Wir lernen, wie man den Kindern verständlich macht, was Achtsamkeit ist und wie man die Stunden gestaltet. Diese Lektionen behandeln vier verschiedene Bereiche: Körperbewusstsein, Aufmerksamkeit, Herzensöffnung* und Verbundenheit – und können je nach Alters- und Bevölkerungsgruppe abgewandelt werden. Und schließlich lernen wir, wie man den Schülern dabei hilft, Achtsamkeit in ihren Alltag zu integrieren. Indem wir der Welt unsere Achtsamkeit und unser Mitgefühl entgegenbringen, leisten wir einen Beitrag zu der friedlichen Gesellschaft, nach der wir uns alle sehnen.

Dieses Buch ist eine Einladung zur Selbst-Erkundung; damit wir mit einem weit geöffneten Herzen erwachen für die Welt um uns und zum Wegbereiter für eine völlig neue Art des Seins werden. Ich lade Sie ein, sich mit mir zusammen mutig und engagiert auf den Weg der Hoffnung zu begeben.

* In den USA ist „K-12“ eine weit verbreitete, zusammenfassende Bezeichnung für den primären und sekundären Bildungsbereich Sie wird als „K through 12“ oder „K 12“ ausgesprochen und ist die Abkürzung für „Kindergarten bis 12. Schuljahr“ (Anm.d. Übers.).

* Orig. „heartfulness“ parallel zu „mindfulness“ – „Achtsamkeit“, leider lässt das Dt. diese schöne Parallelbildung nicht zu (Anm.d.Verl.).

Die achtsame Schule

Teil I

Warum Achtsamkeit in der Schule wichtig ist

Der Weg der Achtsamkeit

Beginnen wir unsere Erkundung der Achtsamkeit mit einem kleinen Experiment. Beobachten Sie einmal, wie Ihre Augen mit den Buchstaben dieses Textes beschäftigt sind, während Sie lesen. Halten Sie am Ende dieses Absatzes inne und versuchen Sie, die Buchstaben als einfache Formen wahrzunehmen, wie ein Baby, das die verschiedenen Formen voll Staunen durch seine Augen fließen lässt. Entspannen Sie Ihre Augen und Ihren Körper, nehmen Sie den Text wie ein Kunstwerk in sich auf und lösen Sie sich von dem Bedürfnis, den Worten eine Bedeutung beizumessen.

Machen Sie eine kleine Pause, sobald Sie diesen Absatz fertig gelesen haben und achten Sie auf die Geräusche, die Gerüche, die Temperatur um Sie herum, nehmen Sie das Pulsieren Ihres Körpers wahr, ohne diese Erfahrung auf irgendeine Weise zu benennen. Das Geräusch muss nicht als „Heizung“, der Geruch nicht mit „Pfannkuchen“ benannt werden. Schauen Sie, ob Sie die Sinneswelt um Sie herum ein paar Minuten lang einfach wie eine wunderschöne Sinfonie in sich aufnehmen können.

Um zu verstehen, was Achtsamkeit ist, muss man sie zunächst einmal am eigenen Leib erfahren. Wenn ich das erste Mal vor einer Klasse stehe, frage ich immer, ob irgend jemand schon von dieser „Achtsamkeit“ gehört hat. Ich möchte wissen, welche Vorstellung die Schüler davon haben. Früher hatten meine Studenten keine Ahnung, was Achtsamkeit ist. Wenn ich diese Frage heute stelle, gehen fast alle Hände nach oben. Die Antworten, die ich dann zu hören bekomme, reichen von Definitionen, die gut und gerne von einem Gelehrten stammen könnten bis zu: „Ist das nicht das, was Oprah macht?“*

Nachdem ich mich vorgestellt habe und im Gegenzug ein wenig über meine Schüler erfahren habe, lade ich die Klasse ein, eine Minute lang in aufmerksamer Stille zu sitzen. Oft sind die Schüler danach erstaunt, sie sagen Dinge wie „Es war so still, ich glaube ich habe das Summen der Lampen gehört.“ Sie sind begeistert. Sie verbringen das ganze Jahr in diesem Klassenzimmer und haben dieses Geräusch direkt über ihren Köpfen noch nie wahrgenommen. Eine Minute Achtsamkeit und da ist es. Eine meiner Lieblingsübungen besteht darin, mit den Schülern zusammen, achtsam Rosinen zu essen. Die Kinder sagen, dass in diesem kleinen Bissen, so viel Geschmack steckt, wie in einer ganzen Wassermelone. Manchmal fragen sie: „Ist das Zauberei?“ Und das ist es in der Tat. Es ist ein Zauber, der nicht versucht unseren Verstand mit etwas Mysteriösem aber Unwirklichen zu täuschen, sondern uns erfahren lässt, wie ungeheuer mysteriös unsere Realität bereits ist. Ich sage meinen Schülern oft: „Es ist, als ob wir in der Muggelwelt von Harry Potter leben würden und uns plötzlich – durch unsere Achtsamkeit – bewusst wird, dass wir uns eigentlich in der magischen Welt von Hogwarts befinden.“

Eine Reihe von Forschungsarbeiten über Achtsamkeit bestätigen, was Praktizierende bereits seit Tausenden von Jahren wissen. Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis verbessert das Immunsystem, die kognitive Entwicklung, die Aufmerksamkeitsfähigkeit und die Emotionsregulation; sie macht uns zufriedener und mitfühlender. Achtsamkeit ist zu einem Begriff geworden, in Kliniken genau wie in den Vorstandsetagen führender Unternehmen, ja sogar bei den Olympischen Spielen, bei denen wir beobachten können, wie die Sportler sich mit einigen ruhigen, achtsamen Atemzügen, für ihren großen Wettkampf bereit machen. Einige andere Beispiele für den Einsatz von Achtsamkeit in unserem Kulturkreis sind z. B. die wöchentliche Kongress-Meditationsgruppe des Kongressabgeordneten Tim Ryan, das „Resource Center for Mindful Spending“ („Kompetenzzentrum für achtsames Geldausgeben“) der Großbank JPMorgan Chase und das Weltwirtschaftsforum in Davos, das vor Kurzem mit dem Thema „Mindful Leadership“ („Achtsames Führen“) eröffnet wurde. Die Zeit für Achtsamkeit ist jetzt.

Wenn Achtsamkeit bei Erwachsenen so gut funktioniert, um wie viel einfacher müsste es dann sein, junge Menschen zu Beginn ihres Lebens in den Prinzipien der Selbstliebe, der inneren Widerstandskraft und der wertfreien Aufmerksamkeit zu schulen, bevor sie einen Panzer des Selbstschutzes um sich herum aufgebaut haben. Wie würde unsere Welt aussehen, wenn jedes Kind die Möglichkeit hätte, zu lernen, wie es gut für sein Herz, seinen Körper und seinen Geist sorgen kann? Die bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Thema bestätigen unsere Hoffnungen: Achtsamkeit verringert bei Jugendlichen die Impulsivität, verbessert ihre schulischen Leistungen und ihre exekutiven Funktionen und steigert ganz allgemein das Wohlbefinden.

Vielleicht denken Sie jetzt, Achtsamkeit sei die neue Wunderdroge. Schließlich wird sie ja als Heilmittel für ADHS, chronische Schmerzzustände, Depressionen, ja für das menschliche Leiden selbst angepriesen. Doch obwohl selbst wissenschaftliche Untersuchungen sie wie eine Wunderpille aussehen lassen, so bleibt doch die Schwierigkeit, dass sich Achtsamkeit nicht ganz einfach mit einem Glas Wasser herunterschlucken lässt; es bedarf regelmäßiger und gewissenhafter Übung, um diese Ergebnisse ernten zu können. Achtsamkeit ist auch kein Betäubungsmittel; wir werden mehr fühlen, nicht weniger. Vielleicht beginnen wir mit einer Achtsamkeitspraxis in der Hoffnung, uns damit im Handumdrehen glücklich und zufrieden zu fühlen. Sehr oft jedoch zwingt sie uns zunächst noch tiefer in unser Unbehagen, unsere Sorgen und Ängste hinein. Achtsamkeit fordert uns auf, das Boot unserer Aufmerksamkeit direkt in den Sturm zu lenken. Wenn wir dann den Muskel unseres Widerstands entspannen und uns dem gegenüber öffnen, was wahr, was hier und jetzt ist, dann eröffnet sich eine völlig neue Art des Lebens und Lehrens.

Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, dann geht es nicht darum, etwas nachzubeten, was andere vor uns herausgefunden haben, sondern darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir ganz bewusst unsere eigenen Erfahrungen in Herz, Körper und Geist beobachten können. Achtsamkeit zu definieren, ist in etwa so, wie einem Kind zu erläutern, was Spaß bedeutet. Es ist unvergleichlich einfacher, mit ihm ein Spiel zu spielen, und ihm dann – wenn es vergnügt herumtanzt – zu sagen: „Das nennt man Spaß haben.“ Anstatt Ihnen also zu erklären, was Achtsamkeit ist, werde ich ihnen einige Fragen stellen.

Erinnern Sie sich…

• wie es sich anfühlt, vollkommen in einer Tätigkeit aufzugehen, so dass all Ihre Gedanken in den Hintergrund treten – vielleicht während Sie Sport betreiben, Musik machen oder einer anderen kreativen Tätigkeit nachgehen?

• an eine gefährliche Situation, in der Ihre Sinne geschärft und Ihre Aufmerksamkeit wie ein Laser fokussiert war?

• wie der Blick in die Augen eines Babys, Sie völlig sprachlos vor Liebe und Staunen zurückgelassen hat?

• so tief in eine Geschichte eingetaucht zu sein, dass die Erfolge, das Elend und die Freude eines vollkommen Fremden Ihnen vorkamen wie Ihre eigenen?

In solchen Momenten ist unsere Aufmerksamkeit tief im gegenwärtigen Augenblick verankert, ohne dass unser Geist sich in Vergleichen und Bewertungen verliert. Diese Momente geschärften Gewahrseins entstehen oft spontan, doch wir praktizieren Achtsamkeit, damit wir sie nicht bloß in Ausnahmesituation, sondern auch in unseren alltäglichen Momenten genießen können. Wenn Sie gehen und die Berührung Ihrer Füße auf dem Boden und das Einströmen der audiovisuellen Reize bewusst wahrnehmen, dann gehen Sie achtsam. Wenn Sie autofahren und sich der vorbeiflitzenden Straßenschilder und des Gefühls des Lenkrads in Ihrer Hand bewusst sind, dann fahren Sie achtsam Auto. Das mag einfach klingen, doch überlegen Sie einmal, wie oft Sie schon Ihren Wagen quer durch die Stadt gelenkt haben und die ganze Fahrt über in irgendwelche Gedanken vertieft waren. Achtsam zu sein, könnte Ihnen das Leben retten.