Die Ahnenpyramide - Ilse Tielsch - E-Book

Die Ahnenpyramide E-Book

Ilse Tielsch

0,0

Beschreibung

Schon als Mädchen hat Anni ihren Vater zum Stammbaum der Familie gelöchert, viele Jahre später spürt sie selbst deren Wurzeln nach. Ihre Vorfahren werden dabei ebenso lebendig wie die versunkene Welt Böhmens und Mährens. Sie begegnet Bauern, Handwerkern, kaiserlichen Beamten und Ärzten, berichtet von guten Zeiten, von Veränderung und Fortschritt. Über vier Jahrhunderte lang kamen die Menschen mit all ihren Besonderheiten und Eigenarten meist friedlich miteinander aus, bis der Nationalsozialismus und die Schrecken des 2. Weltkrieges Anni und ihre Eltern gewaltsam von ihren Wurzeln trennen. Ilse Tielsch ist die bedeutendste mährische Zeitzeugin einer ganzen Epoche und tritt mit ihrer Literatur für Völkerverständigung und Frieden ein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 503

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ILSE TIELSCH

DIEAHNENPYRAMIDE

ROMAN

Meinem Vater gewidmet,der am 10. Mai 1980 gestorben ist.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Ich war das Kind Anni. Ich las zuviel, dachte mir Geschichten aus und träumte mit offenen Augen. Manchmal war ich Prinzessin, manchmal das arme Kind, das sein Hemdchen verschenkte, manchmal der Held, der den Drachen erschlug. Abends holte ich mir heimlich einen ganz kleinen Stern vom Himmel, rieb ihn mit dem Taschentuch blank und lehnte ihn an den großen Kleiderschrank, der im Zimmer stand, er verbreitete ein sehr sanftes Licht und schimmerte wie die sternförmigen Perlmutterknöpfe an jenem Abendkleid, das meine Mutter zum Feuerwehrball trug.

Manchmal erfand ich seltsame Spiele. Zum Beispiel ging ich, einen Spiegel vor mir hertragend, durch alle Räume unserer Wohnung, bewegte mich, in den Spiegel blickend, über die schneeweißen Abgründe der weiß gestrichenen Zimmerdecken, aus denen Glasluster und Hängelampen an Ketten und Seidenschnüren steil emporragten, balancierte über Vorhangstangen, stürzte beinahe von der oberen Kante eines Türstocks in die mit grellbunten Arabesken bemalte Feuerschlucht des Vorzimmerplafonds, fing mich noch rechtzeitig im Fallen, schwebte, entfaltete unsichtbare Flügel, ich war ja keine Menschentochter, meine Mutter hatte mich nicht geboren, sie hatte mich im Wald gefunden, eines Tages würde sie mir gestehen, daß ich ein Elfenkind sei.

Vor den Fenstern schien die Sonne oder rauschte der Regen, klapperten die Hufe von Zugpferden, rollten die eisenbeschlagenen Räder der Bauernwagen über das Granitsteinpflaster der Straße, erklang der schaurige Ruf des Kalkbauern, WAAPNO, WAAPNO, halb gesungen, halb geschrien, ich kannte zwar die Bedeutung dieses Rufes, trotzdem stülpte ich rasch meine Tarnkappe über, sicher war sicher, so würde er mich nicht finden, so war ich unsichtbar geworden, auch für die alte Frau, deren Haus an der Straße zum Hof der Großeltern lag, die einen weißen Spitz besaß und eine Hexe war.

Ich war das Kind Anni, aber ich hatte mehrere Namen, ich hörte auf Anni genauso wie auf Anninka oder moja malinka, was soviel wie MEINE KLEINE hieß. Beim Spiel mit den Freunden zählte ich zweisprachig, EINS, ZWEI, DREI oder JEDEN, DVA, TŘI. Die Landeshymne beherrschte ich in zwei Varianten. KDE DOMOV MUJ, KDE DOMOV MUJ, oder auch WO IST MEIN HEIM, MEIN VATERLAND, WO DURCH WIESEN BÄCHE BRAUSEN, WO AUF FELSEN WÄLDER SAUSEN, WO EIN EDEN UNS ENTZÜCKT, WENN DER LENZ DIE FLUREN SCHMÜCKT. DIESES LAND, SO SCHÖN VOR ALLEN; BÖHMEN IST MEIN HEIMATLAND, BÖHMEN IST MEIN HEIMATLAND.

Als mein weißrotblaues Ansteckfähnchen zerbrach, weinte ich. Noch mehr weinte ich beim Tod des alten Präsidenten. Unsere Köchin Lischa wischte mir die Tränen energisch aus dem Gesicht und sagte: Weine nicht, unser seliger pan Präsident war ja schon sehr alt.

Ich war das Kind Anni, ich stand vor dem ovalen Tisch im Speisezimmer, er hatte eine Platte aus poliertem Nußholz, an den Rändern waren Girlanden aus helleren Hölzern eingelegt. Auf dem Tisch lagen weiße Blätter ausgebreitet, auf einem der Blätter waren sauber gezeichnete rechteckige Kästchen pyramidenförmig angeordnet, in die Kästchen hatte der Vater Namen und Daten geschrieben. Die Breitseite der Pyramide war nach oben gerichtet, die beiden untersten Kästchen waren durch zwei dünne, schräg zueinander laufende Linien verbunden. Wo sich die beiden dünnen, schräg zueinander laufenden Linien berührten, war noch einmal ein Kästchen gezeichnet, in dem Kästchen stand mein eigener Name.

Was ist das, fragte ich und deutete auf das Blatt.

Das sind deine Vorfahren, sagte der Vater. Er nahm einen Bleistift in die Hand, deutete auf die Kästchen und las mir die Namen vor.

Vier Großeltern hatte ich, acht Urgroßeltern, sechzehn Ururgroßeltern. Weiter oben, gegen den Blattrand hin, gab es leere Kästchen, in denen keine Namen standen. Nicht von allen Vorfahren wissen wir, wer sie waren und wie sie geheißen haben, sagte der Vater, aber wir werden es vielleicht noch erfahren.

Von den Namen, die er schon kannte, fand ich manche seltsam, ich hatte sie noch niemals nennen gehört, in unserer Gegend hieß niemand so. Andere klangen mir vertraut, aber ich hatte sie nie mit unserer Familie in Verbindung gebracht.

Die Apfelbecks waren in Kleinmariazell zu Hause, sagte der Vater, die Scheikls in der Steiermark. Die Koblischkes sind vor mehr als sechshundert Jahren nach Böhmen eingewandert, auch die Kröglers, auch jene, die so heißen wie du. Die Steurers kamen aus der Silberstadt Kremnitz, Kremnitz liegt heute in der Slowakei, früher hat es zu Ungarn gehört. Die Vorfahren des Vaters deiner Mutter stammen aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Sloup, das ist dort, wo die großen Tropfsteinhöhlen sind und die Mazocha, du weißt doch, die tiefe Schlucht, von der man sagt, daß einst eine Mutter ihr Kind hinuntergestürzt hat. Ich wußte, und was ich wußte, war tröstlich: Das in die Schlucht gestürzte Kind hatte überlebt, aber man hatte die böse Stiefmutter zur Strafe in die Tiefe gestoßen, das freute mich, ich gönnte der Stiefmutter ihren schrecklichen Tod, ihren Märchentod, meist wurde in den Märchen, die ich kannte, das Böse auf schreckliche Weise bestraft, und mein Gerechtigkeitssinn war sehr stark in jenen Jahren. Die erste Silbe des Namens, den deine Mutter getragen hat, als sie noch nicht verheiratet war, bedeutet Erde, wenn man sie ins Deutsche übersetzt, sagte der Vater.

Dann ist die Mutter früher keine Deutsche gewesen? fragte ich.

Früher, sagte der Vater, als du noch nicht geboren warst, waren wir alle Österreicher.

Das verstand ich nicht.

Ich war klein für meine sechs oder sieben Jahre, der Tisch mit der ovalen Platte war hoch. Ich sah die pyramidenförmig angeordneten Kästchen mit den Namen und Daten der Vorfahren aus nächster Nähe.

Hier, sagte der Vater und deutete mit dem Stift auf das unterste Kästchen, dies ist dein eigener Name, das bist du. Ich dachte mich in das Kästchen hinein, ich sah mich eingeschlossen in das Kästchen, die beiden schräg zu dem Kästchen gezogenen Linien liefen auf mich zu, sie waren mit den Kästchen der Eltern verbunden, ich dachte mir Vater und Mutter eingeschlossen in diese Kästchen, die wiederum durch schräg auseinanderlaufende Linien mit vier weiteren Kästchen verbunden waren, die Großeltern waren noch alle vier am Leben, ich dachte sie mir in die für sie bestimmten Kästchen hinein, sah weitere Linien auf weitere Kästchen zulaufen, in diesen Kästchen lagen die schon Verstorbenen, also die Toten, ich bekam Angst vor der Pyramide, die auf das Blatt gezeichnet war, ich hatte das Gefühl, die Pyramide auf meinen Schultern tragen zu müssen, alle die noch Lebenden und die schon Verstorbenen, die vor mir gelebt hatten, ich fühlte plötzlich ihr furchtbares Gewicht auf meinen Schultern, ich versuchte, meine unsichtbaren Flügel zu entfalten, es gelang mir nicht, ich war kein Elfenkind mehr, ich war ein ganz gewöhnliches Kind, von Menschen geboren, die von Menschen zur Welt gebracht worden waren, die wiederum menschliche Eltern gehabt hatten und so fort. Ich fühlte die Gewichte der Vergangenheit auf meinen Schultern, einer Vergangenheit, die aus Menschen bestand, die Menschen hatten in mir unbekannten Gegenden gelebt, vielleicht in unheimlichen Tropfsteinhöhlen, vielleicht in Schluchten, ich fürchtete mich, mir blieb nur die Möglichkeit, meine Tarnkappe überzustreifen, mich unbemerkt fortzuschleichen, aus dem Zimmer zu laufen, aber auch die Tarnkappe rettete mich nicht, ich war nicht unsichtbar geworden, meine Mutter sah mich trotzdem, ich hörte, wie sie zum Vater sagte: Laß das Kind, belaste es nicht mit dem, was gewesen ist.

Dann hörte ich noch, wie sie sagte: Später einmal wird sie sich vielleicht dafür interessieren.

1

Wir wissen nicht, woher sie gekommen sind und wann sie ins Land zogen, was sie mitbrachten an Hausrat, Geräten, Kleidung und vielleicht Sämereien, Tieren. Wahrscheinlich hatten sie, was sie besaßen, auf Wagen gepackt, einfache Bauernwagen mit eisenbeschlagenen Holzrädern, wahrscheinlich sind diese Wagen von Pferden gezogen worden, vielleicht waren sie von Stoffplanen überspannt, die sie über eiserne Reifen gebreitet hatten, die ein Dach bildeten, einen primitiven Schutz gegen den Regen und gegen die Kälte der Nächte, vielleicht lagen unter diesem Dach ihre Kinder auf einem Häufchen Stroh, saßen die Frauen vorne auf einem als Sitz quergelegten, mit Eisennägeln befestigten Brett, hielten die Zügel in den Händen, gingen die Männer neben dem Wagen her, um die Zugpferde zu entlasten.

Als man sie geworben hatte, als man sie überredete, das Land, in dem sie gelebt hatten, zu verlassen, Hab und Gut, alles, was beweglich war und was sich mitnehmen ließ, aufzuladen, mit Stricken festzubinden an Karren, als man sie dazu brachte, nach dem fernen, fremden Land Böhmen aufzubrechen, das sie nicht kannten, dessen Sprache sie nicht sprachen, was hat man ihnen damals versprochen? Reiches Bauernland, fruchtbare Erde, guten Absatz für im Handwerk gefertigte Waren, eine sorgenfreie Zukunft für ihre Kinder? Hat man Werber in ihr Land geschickt, Männer, die der überzeugenden Rede fähig waren, die die anfangs Zögernden überredeten, den Unentschlossenen Mut machten, MENSCHENFÄNGER, die von Haus zu Haus gingen, auf den Marktplätzen sprachen? Waren es einzelne, die aufbrachen, aus den Dörfern und Städten, die sich zu Trecks zusammenschlossen, oder sind miteinander verwandte, befreundete Familien aufgebrochen, halbe Dorfgemeinschaften, ganze Straßenzüge? Wir wissen es nicht.

Sie könnten aus Sachsen gekommen sein, wo heute noch Familien ihres Namens leben. Wahrscheinlich sind sie lange unterwegs gewesen auf holprigen Straßen, schlechten Wegen, auf denen die Wagenräder einsanken, wenn es regnete, die Pferde strauchelten, die Wagen kippten, nur mit viel Mühe sich wieder aufrichten ließen, durch Wälder, in denen habgieriges Gesindel lauerte, Räuber ihr Unwesen trieben, Durchreisende überfielen und um ihren geringen Besitz brachten. Sie müssen unter den letzten gewesen sein, die kamen, als das fruchtbare Bauernland schon vergeben war, als in den offenen, dem Handel freundlichen Tälern schon andere, Mutigere, Entschlossenere saßen. Für sie blieb ein Stückchen Land in einem hochgelegenen Tal, felsiges Hügelland, Grasland, Urwald, von Felskoppen umgeben, karge Erde, auf der nur dünnhalmiges Korn und Gebirgshafer gediehen, später die genügsame Kartoffel. In den Wäldern wuchsen die wilden Erdbeeren und Heidelbeeren, die Kirschen reiften erst im August und wurden nicht groß, die Beeren der Eberesche machten die Zähne stumpf und die Mundschleimhaut bis in den Hals hinein rauh, so herb schmeckten sie. Viel später Geborene sollten sich erinnern: NUR DER FLACHS GEDIEH ÜPPIG AUF DEN HÄNGEN, BLAU BLÜHEND WARF ER WELLEN IM WIND. Ob sie enttäuscht waren, ob sie an Rückkehr dachten? Sie waren als Freie gekommen, nach eigenem Willen und aus eigenem Entschluß. Sie hätten umkehren und dorthin zurückkehren können, woher sie gekommen waren. Aber kehrt man dorthin zurück, wo man alles, was man besaß, was man nicht mitnehmen konnte, verkauft, verschenkt, anderen überlassen hat, geht man dorthin zurück, wo man Abschied für immer genommen hat, zu jenen, die abgeraten, vielleicht Enttäuschung vorausgesagt haben, von denen man vielleicht verlacht und verspottet werden wird? Wagt man die beschwerliche Reise, die man unter gefährlichen Umständen unternommen, hinter sich gebracht hat, ein zweites Mal?

Sie blieben, nahmen das Land, das man ihnen zuwies, rodeten es, schlugen die Wälder, gruben die Steine aus der roten Erde aus. Immer wieder wurden die Häuser, die sie gebaut hatten, niedergebrannt, von den Hussiten, von den Schweden, von kaiserlichen Truppen, wurde gemordet, geplündert, geraubt und zerstört. Immer wieder flüchteten sie sich in die Wälder, kehrten zurück, begannen neu, bauten Hütten und Häuser wieder auf, brachten die zertrampelten, verwüsteten Felder wieder in Ordnung. Sie gaben nicht auf, blieben im Land, überlebten Hungerjahre und Katastrophen, Mißernten und Seuchen, sie zeugten unzählige Kinder, die, sofern sie überlebten, zum Teil im Ort selbst seßhaft blieben, zum Teil in die umliegenden Dörfer und Städte zogen. Manche dieser Kinder sind später wieder fortgegangen, weit weg aus Böhmen, sogar nach Amerika. Die meisten aber blieben, ließen sich in der Umgebung nieder, waren Bauern, Feldgärtner oder übten ein Handwerk aus. Ein Oberlehrer aus Wildenschwert im Bezirk Landskron stieß bei heimatkundlichen Forschungen auf den ersten eingetragenen Namen. ADAM muß um 1580 geboren worden sein. Neben dem Sterbedatum im Kirchenbuch befindet sich die Berufsbezeichnung RUSTICUS.

Einer von Adams Söhnen zeugte Georg, den wir der besseren Übersicht wegen GEORG DEN ERSTEN nennen, Georg der Erste zeugte GEORG DEN ZWEITEN, Georg der Zweite zeugte PAULUS, Paulus zeugte GOTTLIEB, Gottlieb zeugte JOHANN WENZEL DEN ERSTEN, Johann Wenzel der Erste zeugte JOHANN WENZEL DEN ZWEITEN. Johann Wenzel der Zweite zeugte zehn Kinder mit ANNA JOSEFA, einer geborenen BÜHN.

Wir besitzen eine Fotografie des Hauses, das sie erbauten und in dem sie lebten, in dem sie ihre Kinder zur Welt brachten und starben. Es ist ein gut erhaltenes Bauernhaus, über dem Steinsockel weiß gekalkt, das Obergeschoß aus Holz. Zwei Fenster auf der Seite der Eingangstür, die in einen kleinen, gemauerten Windfang mündet, drei Fenster an der Giebelseite, gegen den bescheidenen Vorgarten hin, mehrere Fenster wahrscheinlich an der auf der Fotografie nicht sichtbaren Breitseite, an die sich ein Stallgebäude (Scheunentrakt) mit breiter Einfahrt anschließt. Der hinter dem Windfang wieder in die Normallinie zurückspringende Hausteil enthielt wahrscheinlich Kammern und Stall. Das Dach in zwei Stufen abfallend, die untere flach, als Wetterschutz über die Fenster gezogen, mit Holzbalken abgestützt, die obere steiler, vielleicht später aufgesetzt, mit Holzschindeln gedeckt. Vor der offen stehenden Haustür zwei ausgetretene Steinstufen, dann ein schmaler Weg über ein aufgeschüttetes grasbewachsenes Hügelchen hinunter zur Straße. Grasumwachsen das ganze Haus, der steinerne Sockel, der aus schmalen Holzlatten gezimmerte Vorgartenzaun, Gras gegen den gewölbten Torbogen zur Einfahrt hin, nach rückwärts zur Stalltür, wo der hölzerne Karren steht. Gras auch im Vordergrund der Fotografie, in die, vom Rand her, die hölzerne Wagendeichsel ragt. Vor dem Windfang ein Kirschenbaum, mehrere kleine, ruppige Bäume mit dünnem Geäst.

Ein gutes Haus, sicher mehrere hundert Jahre alt. Ein kleines Haus, wenn man Vergleiche zieht zu den wuchtigen Vierkanthöfen anderer Gegenden, solche Vergleiche darf man nicht anstellen, sonst schrumpft es sofort, wird zur engen Behausung bescheidener Bauersleute. Ein großes Haus, wenn man die Hütten und Keuschen der Häusler in der Umgebung betrachtet, aus Holzbalken gezimmert, mit Kalk bestrichen, der Fußboden aus gestampftem Lehm, in der Kammer oft nur ein einziges Bett, in dem die Eltern mit den jüngsten Kindern schliefen, die anderen lagen auf Strohsäcken, auf der hölzernen Ofenbank, auf dem Fußboden. Die Ställe fensterlos, die Stallwände mit einer Laubschicht gegen die Kälte des Winters umgeben. Ein großes Haus, wenn man vergißt, was man an größeren Häusern gekannt hat, wenn man die Armut und Kargheit der Felder bedenkt.

Ich setze die Brille auf, meine Augen sind nicht mehr jung genug, um die Gräser, die Unkrautpflanzen, die Blätter der Bäume zu unterscheiden. Die kleinen, ruppigen Bäumchen vor den Vorgartenfenstern, denke ich, könnten magere Apfelbäumchen sein. Ich will es genau wissen, noch genauer, um noch besser zu sehen, halte ich eine Lupe vor mein rechtes Augenglas, gehe nahe an die Fotografie heran, kneife das linke Auge zu. Etwas Seltsames geschieht. Das Bild wird plastisch, dreidimensional, die Kanten der Mauern treten hervor, die Fensterflügel mit den kleinen gläsernen Scheiben stehen von der Hauswand ab, ich sehe die Zwischenräume in den Holzschindeln des Daches, die Spalten unter den Steinen der Stufen, der hölzerne Karren steht da, als könnte ich ihn greifen, die Wagendeichsel ist rund und glatt. Ich erkenne, daß die schmale Tür hinter dem Windfang aus weiß gekalkten Holzbrettern gemacht ist, daß von unten her ein feuchter dunkler Streifen in die weiße Farbe hochkriecht, auch die aus Steinen gefügte Rampe vor der Tür ist dunkel und feucht, die Nässe steigt aus dem Stallmist hoch, der unterhalb der steinernen Rampe gelagert ist. Ich sehe die Schattenstellen auf den Blättern der Bäume, sehe, daß die Blätter sich alle nach einer Seite hinneigen, biegen, also haben sie sich, als die Fotografie gemacht worden ist, leicht im Wind bewegt. Ich halte die Lupe vor mein rechtes Augenglas, neige mich noch näher zu dem Bild hinunter, das vor mir auf dem Tisch meines Wohnzimmers liegt, da streift mich ein Windhauch, ich fühle ihn auf der Haut. Ich stehe auf der schmalen Dorfstraße, die Sonne scheint, die Blätter der Bäume bewegen sich, ich höre sie rauschen, die nach außen geöffneten Flügel eines der Fenster klappern, die kleinen, ruppigen Bäume werfen dünne Schatten, die Schatten bewegen sich. Ich rieche Gras, rieche Erde und Staub, fühle Sonne und Wind auf der Haut. Nein, Stimmen höre ich nicht, nicht die Stimmen von Erwachsenen, auch keine Kinderstimmen. Aber ein Flügel der Haustür steht offen, ich sehe durch den Spalt in den schattigen Hausflur hinein.

Gottlieb zeugte Johann Wenzel den Ersten, Johann Wenzel der Erste zeugte Johann Wenzel den Zweiten, Johann Wenzel der Zweite zeugte IGNAZ DEN ERSTEN, Ignaz der Erste zeugte IGNAZ DEN ZWEITEN. Ignaz der Zweite war der letzte der Familie, der den Hof übernahm. Wenige Jahre nach seiner Hochzeit mit einem sehr schönen Mädchen kam ein Sohn zur Welt, der nicht der Sohn Ignaz’ des Zweiten war. Als Ignaz der Zweite dahinterkam, daß seine sehr schöne Frau es mit einem anderen getrieben hatte, nahm er einen Strick, ging auf den Dachboden seiner Scheune und erhängte sich. Als er starb, war er dreiunddreißig Jahre alt, sein Vater, Ignaz der Erste, überlebte ihn um wenige Jahre.

Ich halte die Lupe vor mein rechtes Augenglas, kneife das linke Auge zu, betrachte die Fotografie des Hauses, in dem sie gelebt haben. Ich stehe auf der staubigen Straße, das Haus ist von der Sonne beschienen, ich höre die Blätter des Kirschbaumes im Wind rauschen, höre die Fensterflügel klappern, ein Geräusch, das ich seit meiner Kindheit nicht mehr gehört habe, weil es nach außen zu öffnende Fenster kaum noch gibt, ich rieche Grasgeruch, Unkrautgeruch, in den sich Stallgeruch mischt, ich sehe durch den offenen Türspalt in den Hausflur hinein. Obwohl auf der Fotografie keine Eberesche zu sehen ist, habe ich den Geschmack von Ebereschenkompott im Mund.

Ich, Anna F., möchte wissen, wie sie gelebt haben. Ich bin durch mein rechtes Augenglas und die davorgehaltene Lupe in eine Landschaft eingetreten, in der ich nie vorher gewesen bin, habe aber das deutliche Gefühl der Vertrautheit, des Wiedererkennens. Ich weiß, daß ich, würde ich nach der Wagendeichsel greifen, diese glatt und rund in meiner Hand fühlen würde, in Jahrzehnten glattgeriebenes Holz, wieder und wieder umspannt vielleicht schon von den Händen Johann Wenzels des Zweiten, der das Haus, vor dem ich stehe, vielleicht neu mit Kalk bestrichen, vielleicht um ein Nebengebäude erweitert, im ganzen aber von seinen Eltern übernommen hat, umspannt von den Händen seiner Söhne, die ihm halfen, das Heu einzufahren, das dünnhalmige Korn mit den zu kleinen Ähren, den mit den Händen gerauften und sorgfältig in Büscheln getrockneten Flachs. Es hilft nichts, daß ich mir sage, daß Wagendeichseln nicht jahrhundertelang halten, daß sie in Regen und Sonnenhitze verwittern, Sprünge bekommen, ausgewechselt, durch neue ersetzt werden müssen. Der Kirschbaum auf dem Hügelchen kann auch höchstens zwanzig Jahre alt gewesen sein, als Johann Wenzels des Zweiten Urenkel Adalbert nach Böhmen reiste, um das Haus seiner Vorfahren zu fotografieren. Das allerdings ist nun auch schon ein halbes Jahrhundert her.

Im April 1827 wurde das letzte Kind Johann Wenzels des Zweiten und seiner Frau Anna Josefa geboren, Paten waren die Tante des Kindes, die Feldgärtnerin Marianne Koblischke, und der Müller Wenzel Jeschek, dies geht aus den Kirchenbüchern hervor, aus denen der Oberlehrer aus Wildenschwert seine Daten geschrieben hat. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie am Tag, an dem das Kind getauft werden soll, aus der auf dem Bild offenstehenden Haustür treten, über das grasbewachsene Hügelchen hinunter, über die Straße zur Kirche gehen, gefolgt von den Kindern, die noch im Hause leben, dem zehnjährigen Vinzenz, dem siebenjährigen Benedikt, dem fünfjährigen Josef, auch die sechzehnjährige Josefa wird dabeigewesen sein, hat vielleicht den vierjährigen Ignaz an der Hand geführt. Albert, vierzehnjährig, wird um diese Zeit schon in Schildberg mitgeholfen haben, die Küpe für den Blaudruck zu bereiten, wird Stoffballen geschleppt, Druckformen in die Regale zurückgestellt, der Frau seines Meisters Töpfe und Fußboden geschrubbt, sonstige, Lehrlingen früherer Zeiten gerne übertragene Arbeiten verrichtet haben, Franz, der Älteste, zweiundzwanzig Jahre alt, knetete Lebkuchenteig in Liebau und versah Lebkuchenherzen mit der damals sicherlich schon beliebten Zuckerglasur. Ob Johann, achtzehnjährig, ob sein zu diesem Zeitpunkt zwanzigjähriger Bruder Johann Nepomuk noch im Land gewesen sind, ob sie schon auf der Reise nach Amerika waren, ist nicht bekannt.

Dreiundzwanzig Jahre alt ist Anna Josefa, geborene Bühn, gewesen, als sie ihr erstes Kind gebar, Franz kam fünf Monate nach ihrer Hochzeit zur Welt. Jetzt, als sie ihr Letztgeborenes, ein Mädchen, das Anna heißen wird, durch diese Tür trägt, deren rechter, halb geschlossener Flügel durch geschnitzte Hölzer in drei gleich große Felder unterteilt ist, ist sie fünfundvierzig und wird keine Kinder mehr gebären. Ich versuche sie mir vorzustellen, wie sie, nicht mehr jung, in der Kirche steht, neben der Patin, die das Kind über das Taufbecken hält, der Pfarrer gießt aus einem Krüglein geweihtes Wasser über den kleinen, flaumigen Schädel des Täuflings, die Kinder sehen neugierig zu, der heilige Laurentius blickt milde vom Altarbild herab, Johann Wenzel steht ein wenig hilflos dabei, er hat nun durch Arbeit und Fleiß und mit Gottes Hilfe ein weiteres Familienmitglied zu versorgen, eine Tochter zu verheiraten, er ist, als das Kind getauft wird, beinahe fünfzig Jahre alt.

Ich stelle mir die kleine Menschengruppe vor, die da in der Kirche steht, ich sehe sie etwas später in der Stube ihres Hauses um den Tisch sitzen, Anna Josefa stellt eine Schüssel mit Krautkuchen auf den Tisch, die sie am Tag vorher gebacken hat, Hefekuchen, mit fein geschnittenem, geröstetem Weißkraut gefüllt, ich weiß, wie sie schmecken, ich weiß, wie sie duften, das Rezept der Krautkuchen ist durch direkte Erbfolge auf mich gekommen, der Geschmack des gesüßten Krautes im Hefeteig überrascht mich nicht.

Ich sitze beim Tisch, esse Krautkuchen und sehe sie der Reihe nach an, die beiden Paten und das Paar, Anna Josefa und Johann Wenzel den Zweiten, beide nicht mehr jung, ihre Krautkuchen essenden Kinder, ich sehe die junge Josefa an, die einen Illichmann heiraten und nach Schildberg ziehen wird, Vinzenz, der in Ziadlowitz Bier brauen wird, ich weiß, daß der eben fünfjährige Josef in dem Dorf Schmole Blaudruck erzeugen, mit seinen gefärbten Leinen- und Stoffballen zu den Jahrmärkten fahren wird. Und während Anna Josefa, geborene Bühn, aufsteht und die greinende, eben getaufte Anna, die den Bäckermeister Langhammer heiraten und mit ihm in die nahe Stadt Landskron ziehen wird, aus der Wiege nimmt, um ihr die Brust zu geben, wandert mein Blick zu dem kleinen, ahnungslos Krautkuchen kauenden Ignaz hin. Ich sehe ihn als erwachsenen Mann hier in der gleichen Stube, am gleichen Tisch, auf dem gleichen Platz, sehe neben ihm seine Frau, die den neugeborenen, eben getauften Ignaz den Zweiten im Arm hält, sehe Ignaz den Zweiten in rasender Eile den Windeln entwachsen, ich sehe ihn, zusammen mit seinen Geschwistern, bei der Arbeit im Heu oder im Flachsfeld, mit der Heugabel die Zeilen wendend, das trockene Heu zu Schobern schichtend, von denen es der Vater und die Mutter aufnehmen und auf den Heuwagen laden, dessen Deichsel in den Rand der Fotografie hineinragt. Die Mutter steht oben auf dem Wagen, schichtet das Heu, achtet darauf, daß der Wagen gleichmäßig beladen ist, Ignaz der Erste bindet den hölzernen Wiesbaum fest, der die Fuhre hält, fährt den Wagen zur Scheune. Auf dem Scheunenboden verteilen die Kinder das Heu, treten es fest, stopfen es in die Ecken und Winkel, auch der kleine Ignaz der Zweite ist dabei, weiß nicht, daß er eines Tages, wenn er erwachsen sein wird, aus Kummer mit einem Strick in der Hand auf diesen Heuboden klettern wird, daß später keiner seines Namens mehr auf diesem Hof leben, Heu und Flachs einfahren, Heu auf diesen Heuboden bringen wird. Er ist ahnungslos, spielt, wie andere Kinder spielen, er weiß nicht, daß er sich Jahre später an einem Dachbalken erhängen wird, weil es ihm unmöglich erscheinen wird, die Untreue seiner schönen, LEIDER LEICHTFERTIGEN Frau zu ertragen.

Ich, die viel später Geborene, weiß es. Ich sitze vor meinem Schreibtisch, halte die Lupe vor mein rechtes Augenglas, kneife das linke Auge zu, versuche mir vorzustellen, wie sie um den Tisch sitzen, Ignaz der Erste, alt geworden, sein Sohn Ignaz der Zweite und dessen schöne, leider leichtfertige Frau. In der Wiege greint Otto, den Ignaz der Zweite noch für seinen eigenen Sohn hält, Ignaz der Zweite schaukelt die Wiege mit dem Fuß, während er die Knoblauchsuppe löffelt, blickt hin und wieder liebevoll nach dem greinenden Otto hin, blickt seine schöne junge Frau an, wünscht sich weitere Kinder von ihr.

(Auch das Rezept der Knoblauchsuppe ist, von der Frau Ignaz’ des Ersten aufgeschrieben, in meine Hände gekommen: EIN HÄUPERL KNOBLAUCH IN SALZ ZERRIEBEN, IN FETT EIN WENIG ANGERÖSTET, MIT DER ENTSPRECHENDEN MENGE HEISSEN WASSERS ÜBERGOSSEN, GESALZEN, BROTSTÜCKE HINEINGESCHNITTEN. DAZU KARTOFFELN IN DER SCHALE.)

Wer von den im Dorf Lebenden, wer von den Nachbarn oder Verwandten, wer von den Jescheks, Koblischkes, von den Kröglers hat von dem Geheimnis gewußt, hat die sehr schöne Frau Ignaz’ des Zweiten mit jenem anderen im Wald, im Heu, im Flachsfeld, in der Scheune ertappt? Wer ist ihr nachgegangen, wenn sie, um Beeren zu pflücken, Schwämme zu suchen, vor Sonnenaufgang in die Wälder gegangen ist? Wer hat ihr nachspioniert, wenn sie, um jenen anderen heimlich zu treffen, ihr Haus verlassen hat, wer hat, hinter üppig blühenden Fuchsienstöcken, Petunien, Pelargonien, hinter gestärkten Vorhängen aus dem Fenster geblickt, wenn sie vorbeigegangen ist, hat kurz nach ihr ebenfalls das Haus verlassen, ist ihr nachgeschlichen? Wer hat, lange nachdem das Kind Otto geboren war, Ignaz dem Zweiten verraten, was er gesehen, erlauscht, ausgekundschaftet, spioniert oder von anderen gehört, diesen anderen, weil redlich, gottesfürchtig und nicht leichtfertig, geglaubt hat? Wer hat es Ignaz dem Zweiten ins Ohr geraunt, zugeflüstert, versteckt angedeutet, mit vorsichtig gesetzten Worten, wer hat es ihm zugerufen, offen ins Gesicht gesagt? Wer hat es mit Ignaz dem Zweiten so gut gemeint, daß er ihm die Wahrheit unbedingt mitteilen mußte, die Wahrheit über das Kind seiner so schönen, leider so leichtfertigen Frau? Wer hat im Zusammenhang mit der Affäre den Namen des Flachsbrechers gedacht, geflüstert, vor sich hingesagt, ausgesprochen, wer hat den Namen weitergegeben? Wer hat, kurze Zeit nach Ignaz’ des Zweiten furchtbarem Tod, FEUER an die Flachsbrecherei gelegt?

Es steht nicht in den Taufbüchern, Sterbe- und Hochzeitsbüchern, aus denen der Oberlehrer aus Wildenschwert seine Daten geschrieben hat, und es hat ihn wahrscheinlich auch gar nicht interessiert. Ich, Krautkuchen essend und den kleinen Ignaz den Ersten im Kreise seiner noch ahnungslosen Familie betrachtend, weiß um die Tragödie des letzten Hoferben seines Namens, ich sehe ihn vor mir, obwohl wir von ihm keine Fotografie besitzen, sehe ihn vielleicht deshalb umso deutlicher, seinen Schmerz, seine Verzweiflung, sehe ihn in den Wäldern umherirren, zwischen den Hügeln, den felsigen Koppen, zwischen den zum Trocknen aufgereihten Flachsbündeln auf den Feldern, ich sehe ihn in jener Nacht die hölzernen Stufen hinauf auf den Scheunenboden klettern, den Strick zur Schlinge legen, an einem der Balken befestigen, ich sehe ihm zu, wie er das Gräßliche tut, das er vor nun schon mehr als achtzig Jahren getan hat, sehe ihn sterbend hängen. Ich sehe am nächsten Morgen die verzweifelte, vor Schrecken und Reue schreiende Frau, den gebrochenen Ignaz den Ersten, die mitleidigen, hämischen, verschreckten, lüsternen Blicke der Dorfbewohner, das abweisende Gesicht des Pfarrers, der dem Selbstmörder kein kirchliches Begräbnis geben will, keinen Segen am Grab, kein Glockengeläut, ich sehe, wie sie ihn einscharren, an der Friedhofsmauer, ohne Blumen, ohne Weihrauch, ohne priesterlichen Trost.

Ich sehe die Flammen aus dem Dach der Flachsbrecherei schlagen. Daß das Feuer gelegt worden ist, steht fest, denn das Gebäude brannte an mehreren Stellen zugleich. Obwohl bald nachdem der Brand bemerkt worden war, die Kirchenglocken WIE RASEND zu läuten begannen, obwohl die Feuerspritze aus dem Depot gezogen wurde, so rasch dies möglich war, Männer, Frauen und Kinder mit Eimern und Kannen Wasser schleppten, das Wasser in den hölzernen Kasten gossen, obwohl die Hebel der Pumpe VON ZWEI REIHEN KRÄFTIGER ARME betätigt wurden, der Wasserstrahl kräftig hervorschoß, konnte das Feuer nicht eingedämmt werden. Ein rasender Südoststurm soll die brennenden Flachsbündel aus den Lagern der Flachsbrecherei bis auf die Gipfel der umliegenden Koppen getragen haben. Die Flachsbrecherei brannte bis auf die Grundmauern ab. Obwohl für beinahe alle Dorfbewohner feststand, daß der Brand gelegt worden sei, konnte niemand der Tat überführt werden. Bringe ich, die viel später Geborene, das Abbrennen zu Unrecht mit dem Unglück in Verbindung, das Ignaz dem Zweiten angeblich durch jenen Flachsbrecher widerfuhr? Ist jener Flachsbrecher wirklich der Vater des Kindes gewesen, das Ignaz der Zweite anfangs für seinen Sohn gehalten hat? Wir werden es nie erfahren.

Otto jedenfalls blieb im Ersten Weltkrieg in Rußland vermißt. Seine Mutter heiratete ein zweites Mal, gebar jedoch keine Kinder mehr. Nach ihrem weiteren Schicksal wurde, da sie nicht blutsverwandt war, nicht geforscht. Ob sie und ihr Mann noch vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor der näherrückenden Front als alte Leute das Land verließen, Hausrat, Geräte und Kleidung auf einen Wagen gepackt, ob dieser Wagen von einer Stoffplane überspannt war, die sie über eiserne Reifen gezogen hatten, die ein Dach bildete, einen primitiven Schutz gegen den Regen und gegen die Kälte der Nächte, ob die Frau vorne im Wagen saß, auf einem als Sitz quergelegten Brett, der Mann neben dem Wagen herging, um die Zugpferde zu entlasten, ob sie über das Ende des Krieges hinaus geblieben sind, dann, weil sie Deutsche waren, das Land Böhmen verlassen mußten, einen Rucksack auf dem Rücken, ein Bündel mit dem Nötigsten in der Hand, WOHIN sie gegangen sind, wo sie schließlich bleiben durften, was sie erlitten haben und wie lange sie noch lebten, ist nicht bekannt.

Mein Schreibtisch hat eine Platte aus hellbraunem Holz, er steht in der Ecke eines Zimmers, dessen Fenster nach Süden gerichtet sind. Die Fotografie des Hauses, das wahrscheinlich schon Adam, der erste unseres Namens, von dem wir wissen, erbaut hat, das von seinen Kindern und von den Kindern dieser Kinder nur erweitert worden ist, hebt sich, schwarzweiß schattiert, von der hellbraunen Holzfläche ab.

Das Haus, durch dessen nach Süden gerichtete Fenster ich einen kleinen Garten mit Blumen, Bäumen und Sträuchern sehe, liegt am äußersten Nordrand Wiens. Wien, die Stadt mit der großen Vergangenheit, einst Mittelpunkt eines riesigen Reiches, Residenzstadt, Kaiserstadt, heute zu groß für den Rest, der geblieben ist, für das kleine neutrale Land, dessen Hauptstadt sie ist. Wenn ich groß bin, sagte das Kind Anni, will ich nach Wien.

Als wir jung waren, sagt der Vater, Urenkel Johann Wenzels des Zweiten, wollten wir alle nach Wien.

Wir sind also da, wohin wir immer schon wollten.

Das Haus, in dem mein Schreibtisch steht, durch dessen Fenster ich in den Garten sehe, gehört Bernhard und mir. Nach unserem Tod wird es vielleicht eines unserer Kinder bewohnen. Bevor wir es bezogen, lebten wir in einer kleinen Wohnung mit winzigen Zimmern. Die ersten Möbel für diese Wohnung schenkte uns die Hilfsgemeinschaft SOS: zwei flache, geschnitzte Schränke, einen ovalen Tisch mit geschnitztem Fuß und einer Platte aus poliertem Nußholz, einen Schreibtisch, einige Stühle. Wir holten die Möbel in einem Handwagen ab, Bernhard zog den Handwagen durch die ganze Stadt, ich schob rückwärts an und achtete darauf, daß nichts verrutschte und nichts vom Wagen herunterfiel.

Vorher besaßen wir ein Ausziehbett im Wohnzimmer von Bernhards Eltern.

Vorher lebten Anni und ihre Eltern in einer Küche mit einem Steinfußboden.

Vorher bewohnten sie einen schlauchartigen Raum im ersten Wiener Gemeindebezirk, gleich hinter dem Stephansdom. Anni gab sich Mühe, ihre von Wanzen zerbissenen und vom Kratzen rot geschwollenen Arme und Beine vor den Augen der Mitschülerinnen zu verbergen. Vorher bewohnte Anni der Reihe nach zuerst die Toilette eines mit Menschen vollgestopften Eisenbahnwaggons, dann ein Gebüsch an einem Bahndamm, der von Tieffliegern beschossen wurde, dann eine Kammer in einem oberösterreichischen Bauernhaus, dann ein Bett in einem Haus auf dem Froschberg in Linz an der Donau. Das Bett war frei geworden, weil man das Oberhaupt der in Linz ansässigen Familie in ein Lager für politische Gefangene abgeholt hatte.

Annis Eltern bewohnten ungefähr zur selben Zeit der Reihe nach zuerst einen Gemüse- und Obstkeller, dann ein Badezimmer, dann eine Scheune, dann einen kleinen Raum in einem niederösterreichischen Bauernhaus.

Bevor Annis Eltern das Badezimmer bezogen, bewohnten sie mit mehreren Verwandten und Bekannten den erwähnten Gemüse- und Obstkeller. Über ihren Köpfen heulten von der einen Seite her die Stalinorgeln, von der anderen donnerten die letzten Schüsse der deutschen Artillerie. In den umliegenden Obst- und Gemüsegärten detonierten kleinere und größere, jedenfalls die allerletzten der aus Flugzeugen abgeworfenen Bomben des Zweiten Weltkriegs. Aus einem der benachbarten Höfe drangen die furchtbaren Schreie einer Frau, der eine Granate beide Beine weggerissen hatte, in jenen Obst- und Gemüsekeller, in dem Annis Eltern saßen. Die Frau wurde noch während des Beschusses von Sanitätern abgeholt und soll trotz ihrer schweren Verletzungen nur langsam gestorben sein.

Bevor die Eltern den Gemüse- und Obstkeller bezogen, lebten sie zusammen mit Anni in einer normalen, geräumigen Wohnung in der südmährischen Kleinstadt B. Anni verließ die Stadt wenige Tage, bevor die Front B. erreicht hatte. Ihre Eltern, Heinrich, der Urenkel Johann Wenzels des Zweiten, und seine Frau Valerie, mußten, wie beinahe alle Deutschen, das Land nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verlassen.

Wie bin ich auf diese Gedanken gekommen? Wieso liegt die Fotografie des Hauses, in dem vielleicht schon Adam, der erste unseres Namens, gelebt hat, auf meinem Schreibtisch, wie ist sie dorthin gekommen?

Ich ziehe die mittlere, große Lade meines Schreibtisches auf, nehme einen Fragebogen heraus, der darin liegt, den mir die Post ins Haus gebracht hat, den ich gelesen und weggelegt, wieder hervorgeholt, wieder gelesen habe, den ich ausfüllen und abschicken soll, den ich aber immer noch nicht ausgefüllt und abgeschickt habe, über den ich mir die verschiedensten Gedanken gemacht habe.

Ich lege den Fragebogen auf die Schreibtischplatte, schiebe die Fotografie des Hauses, in dem Johann Wenzel der Zweite mit seinen Kindern gelebt hat, das sein Sohn Ignaz der Erste von ihm übernommen, in dem sein Enkel Ignaz der Zweite sich aus Kummer das Leben genommen hat, zur Seite, lese noch einmal den Satz, den man als den wichtigsten Satz einer Umfrage rot unterstrichen hat.

Ich fülle nur ungern Fragebogen aus. Obwohl ich die Notwendigkeit der Beantwortung gewisser, mir in Ämtern und bei Behörden, in Kanzleien und Büros, in Versicherungsanstalten und Sparkassenfilialen, bei den verschiedensten Dienststellen und Schaltern immer wieder gestellten Grundfragen natürlich verstehe, schreibe ich doch jedesmal nur widerstrebend hin, wie ich heiße, wo ich jetzt wohne, wo ich vorher gewohnt habe, wo ich in der nächsten Zeit wohnen werde, warum und wieso. Ich hieß früher, heiße jetzt, war vorübergehend, habe besucht, habe absolviert, habe beendet oder nicht beendet, war bei, war nicht bei, habe die Absicht, habe sie nicht, bin geimpft gegen, bin nicht geimpft, habe erlernt oder nicht erlernt, habe geboren, hatte als Kind die Masern, Scharlach und Keuchhusten hatte ich nicht. Ich erkläre, versichere, verspreche, bezeuge, ich schwöre niemals, werde jedoch dazu gezwungen, an Eides Statt zu erklären, nach bestem Wissen und mit dem besten Gewissen. Eine Stadt zählt ihre Bewohner, ein Land gibt die Zahl seiner Einwohner an, ein Wahlkreis ermittelt die Zahl der zur Wahl Berechtigten, ich werde erfaßt, ich werde mitgezählt, ich bin ein winziger, vielleicht wichtiger Bestandteil einer größeren oder kleineren Zahl. Das alles verstehe ich, sehe es ein, wehre mich nicht dagegen. Ich habe das Lesen und Schreiben erlernt, bin in der Lage, den Kugelschreiber oder Bleistift zu halten, Fragen zu beantworten, also lebe ich noch.

SCHREIBEN SIE IN HÖCHSTENS DREISSIG ZEILEN AUF, WAS IHNEN DER BEGRIFF HEIMAT HEUTE BEDEUTET.

Ich soll diese Frage beantworten, ich soll meine Antwort in höchstens dreißig Zeilen hinschreiben, knapp formulieren, ich soll, wenn mir nicht gleich eine Antwort einfällt, über eine Antwort nachdenken. Drei Monate habe ich Zeit.

Nicht nur ich habe diesen Fragebogen bekommen. Fragebogen werden zu Hunderttausenden gedruckt. Vielleicht haben diesen Fragebogen Hunderttausende bekommen. Hunderttausende sollen in dreißig Zeilen aufschreiben, was sie über den Begriff HEIMAT zu sagen wissen.

Hunderttausende sollen ihr Gewissen erforschen, sollen nach bestem Wissen und Gewissen erklären, glaubwürdig formulieren, zusammenfassend feststellen. Hunderttausendmal dreißig Zeilen sollen gesammelt, sortiert, wahrscheinlich in einem Computer gespeichert werden. Tasten werden gedrückt werden, Lampen werden aufleuchten, der Computer wird das Ergebnis auswerfen: HEIMAT IST …

Das Ergebnis wird publiziert werden, es wird in Nachschlagewerken neben das Wort HEIMAT gesetzt werden, es wird genützt und benützt werden. Es wird als Ergebnis gewertet werden.

Bis auf weiteres, bis zur nächsten Aussendung von mehreren hunderttausend Fragebogen, bis zur nächsten Umfrage also, wird angeblich geklärt sein, WAS HEIMAT IST.

Ich will nicht zusammenfassen, ich will nicht beantworten, ich will nicht in den Computer gespeichert werden, ich will nicht benützt werden. Ich lege den Fragebogen in die Lade zurück, ich schiebe die Lade wieder zu.

2

Olle meine Herrn

A Oppl is keene Bern

A Berne is kee Oppl

De Worscht hot zwee Zoppl

Zwee Zoppl hot de Worscht

Dr Bauer dar hot Dorscht

Dorscht hot dr Bauer

S Laba werd’m sauer

Sauer werd’m s Laba

Dr Weinstock treet Raba

Raba treet dr Weinstock

A Kolb is kee Ziechabock

A Ziechabock is kee Kolb

Meine Prediche is holb

Holb is meine Prediche

Mei Brudr is noch leediche

Leedich is mei Brudr

De Kotze is a Ludr

A Ludr is de Kotze

De Maus is a Frotze

A Frotze is de Maus

Meine Prediche is aus.

Es gibt keine Kinder mehr, die diese Reime beim Spiel hersagen. Ich versuche, die mir fremd klingenden Worte zum Leben zu erwecken, ich löse sie ab vom Papier, unterschiebe ihnen eine kleine, selbst erfundene Melodie, es ist eine Melodie, die nur aus wenigen Tönen besteht, die Tonfolgen wiederholen sich, plötzlich weiß ich, daß es Auszählreime sind.

Es, zwee, dreie, vere,

Stond a Mannla of dr Teere,

Hot a Flaschla ei dr Hand,

Kom’m Bohla ro gerannt.

Rannte über Wewrsch Haus,

Soch ’n schiene Fraue raus.

Kiephohn, Haushohn,

Dich wan mr naus john.

Ententinus, sauerracka minus,

Sauerracka, tickatacka,

Elle, helle, bums.

Ich sehe eine Gruppe von Kindern auf einem grasbewachsenen Hügelchen stehen, die Kinder heißen Vinzenz, Josef und Anna, auch Ignaz ist dabei, sie leiern den Text nach einer von mir erfundenen Melodie.

Ich lese in einer Chronik nach, die einer der letzten deutschsprachigen Bewohner des Dorfes geschrieben hat, zeichne einen Kranz grasbewachsener und bewaldeter Koppen um ein kesselförmig geweitetes Tal, nenne zwei der östlich gelegenen Koppen mit Namen: Ebereschenberg und Buchberg, lasse von ihren Hängen rieselnde Quellen zum Bach zusammenfließen. Der Bach schlängelt sich durch das Tal, einer Senke zu, stürzt dann steiler ab, zwischen felsigen Hängen, dem breiteren Wasserlauf der Stillen Adler entgegen. Ich setze Forellen in den Bach, die ruhig gegen die Strömung stehen, große dunkelgrüne Krebse unter die flachen Ufersteine, im Grün der Baumkronen lasse ich die feuerroten Beerenbüschel der Ebereschen leuchten. Dieses gedachte Bild ergänze ich durch Gerüche, Geräusche und Bilder, die mir das Kind Anni, obwohl es gerade dieses Dorf niemals betreten hat, doch als Erinnerung an ähnliche, in der näheren Umgebung gelegene Dörfer mitgegeben hat. Ich rieche zum Trocknen aufgehängten Wiesenkümmel, in Scheiben geschnittene Pilze, ich schmecke die kleinen wilden Erdbeeren, die winzigen bräunlichen Samen des Leins, ich erinnere mich an die Furcht, mich im Wald zu verirren, SCHATZHAUSER IM DUNKLEN TANNENWALD, BIST SCHON VIEL HUNDERT JAHRE ALT, erinnere mich an Märchen, Sagen, dem Kind erzählte Geschichten, in denen Berggeister vorkamen, die das Böse bestraften und das Gute belohnten, in denen von armen Leuten, häufig von Glasmachern, die Rede war, obwohl die Glasbläser in diesen Wäldern gar nicht zu Hause waren, obwohl ihre Hütten in viel weiter nördlich und nordwestlich gelegenen Wäldern standen. DIR GEHÖRT ALL LAND, WO TANNEN STEHN, LÄSST DICH NUR SONNTAGSKINDERN SEHN.

Auf dem Grund des Talkessels verteile ich, um den Wasserlauf des Baches, die Häuser, Hütten und Keuschen der Weber und Korbflechter, der Bürsten- und Pinselmacher, der Färber, Händler und Zimmerleute, die Höfe der Bauern.

Ich lese über das wechselvolle Schicksal des Dorfes nach, immer wieder erbaut, zerstört, niedergebrannt, Pest, Mißernten, Hungerjahre, Heuschrecken und Zigeuner, die Katastrophen hatten viele Namen, die Prüfungen waren hart und zahlreich, aber immer gab es einige von den Bewohnern, denen es gelang, sich vor irgendwelchen Söldnerscharen in die Wälder oder über die Grenze zu flüchten, immer überlebten einige, kamen wieder, begannen neu, hielten aus.

Man hatte sie ins Land gerufen, verjagt, man ließ sie zurückkehren, man haßte, bewunderte, duldete sie, man vertrug sich mit ihnen, man lebte mit ihnen, man lernte von ihnen.

Zu allen anderen Plagen kamen die Glaubenskämpfe, die religiösen Spannungen, ein Teil von ihnen fiel vom rechten Glauben ab, Gottliebs Vater Paulus, Sohn Georgs des Zweiten, und seine Frau Susanna, eine geborene Pollak, stifteten die Statue dem heiligen Johannes von Nepomuk zu Ehren, um ihn zur himmlischen Fürbitte gegen den Irrglauben der protestantischen Ketzer zu bewegen. O HEILIGER JOHANNES, VOR GARSTGEM SPOTT UND SCHAND BEWAHRE UNS. HIER IN UNSEREM VATERLAND. Ein schlichtes, zuletzt schon windschiefes Kirchlein aus Holz wurde auf Geheiß des Fürsten von und zu Liechtenstein abgerissen und an seiner Stelle von einem Baumeister aus Wien eine Kirche im spätbarocken Stil errichtet. Dies geschah in den Jahren 1781 und 1782, damals war Gottlieb ein alter Mann und sein Sohn Wenzel der Erste war zweiundvierzig Jahre alt. Johann Wenzel der Erste und seine zwölf Geschwister, seine Frau Juliane und ihre fünfzehn Kinder waren katholisch, sie gehörten dem RECHTEN GLAUBEN an, sie gehörten nicht zu jenen Ketzern, die man, nachdem man sie ordentlich verprügelt hatte, dazu zwang, am Bau der neuen Kirche mitzuarbeiten. Der Bischof kam aus Königgrätz, um den Kirchenbau zu inspizieren. Den Protestanten, die sich wegen der demütigenden Behandlung bei ihm beschwerten, riet er aus Mitleid, sich an den Kaiser in Wien zu wenden. Tatsächlich ging eine protestantische Abordnung aus dem Dorf im Adlergebirge nach Wien, wurde von Kaiser Josef II. empfangen und brachte die Zusicherung kaiserlichen Schutzes und die Bewilligung zur freien Religionsausübung mit nach Hause zurück. Zweihundertfünfzig Kilometer bis nach Wien, zweihundertfünfzig Kilometer zurück in das in den Wäldern am Rande Böhmens gelegene Dorf, eine beachtliche Leistung, der größte Teil des Weges mußte zu Fuß zurückgelegt werden, die Postkutschen waren teuer, und die Eisenbahn war noch nicht erfunden. Vielleicht hat sich ein fahrender Händler der armen Teufel unterwegs erbarmt, sie ein Stück des Weges mitgenommen, vielleicht durften sie hin und wieder auf einem Bauernwagen aufsitzen. Lange Wegstrecken jedenfalls werden in beschwerlichen Fußmärschen zu bewältigen gewesen sein.

Zur Zeit Johann Wenzels des Zweiten bildeten, wie ich in einer Chronik lese, Kirche und Pfarrhaus, EIN STATTLICHER BAU MIT STUFENDACH, sowie die schräg gegenüberliegende Schule, ebenfalls ein STATTLICHER BAU, von hohen Bäumen, wahrscheinlich Ulmen, umgeben, bereits einen ZENTRALEN, MALERISCHEN KOMPLEX inmitten des Dorfes. Der Bach soll KLAR gewesen sein. Das Erbgericht muß ebenfalls erwähnt werden, unter dessen mächtigem Dach ALLE GETREIDESORTEN PLATZ FANDEN. Der Gerichtssaal war Tanzsaal zugleich, eine Herberge und ein Stall boten den Fuhrleuten und ihren Pferden Unterkunft. Dem Fuhrwesen kam in jener Zeit GROSSE BEDEUTUNG zu.

Das von grünen Koppen umgebene, vom KLAREN FORELLENBACH durchflossene, vom schmiedeeisernen Kreuz des Kirchturms überragte, von Baumkronen durchgrünte, ZWISCHEN WALDBERGEN FAST VERLORENE DORF ist Johann Wenzel dem Zweiten, seiner Frau und seinen Kindern, auch seinem Vater und Großvater, deren Vätern und Großvätern, schon ADAM, dem um 1580 Geborenen, schon dessen Vater und Großvater HEIMAT gewesen.

Schlof ok, schlof, mei liew’s Kend,

Ei dam Peschl gieht dr Wend,

Ofm Meste kräht dr Hohn,

Ei dr Stuwe brummt dr Mon.

Ei dr Keche kocht dos Kraut,

Ei dam Stüwla flennt de Braut.

Es ist Anna Josefa, geborene Bühn, die der kleinen Anna ein Wiegenlied singt. Ich sehe sie durch die Lupe, die ich vor mein rechtes Augenglas halte, ich sehe durch die Mauer des Hauses hindurch. Die kleine Anna liegt in der Wiege, Strohsack und Federbett sind mit weißem Leinen überzogen, die kleine Anna trägt ein Hemdchen aus Leinen, ein Häubchen aus Leinen, Anna Josefa trägt über dem weißleinenen Hemd und dem weißleinenen Unterrock Rock und Leibchen aus Leinen, aber braun oder blau gefärbt, darüber eine Schürze aus Leinen. Hemd, Unterrock, Schürze, beinahe alles leinene Bettzeug, die Laken, die Überzüge, hat Anna Josefa in die Ehe mitgebracht, sie hat den Faden dazu selbst gesponnen, den Flachs, aus dem sie den Faden drehte, mit eigener Hand gerauft, geriffelt, gebrochen, geschwungen, gehechelt. Den Faden hat sie zum Weber getragen, vom Weber hat sie die fertige Leinwand geholt, hat die Stücke zugeschnitten, geheftet, genäht, hat sie gewaschen, an sonnigen Tagen auf die Wiese gebracht, ausgebreitet, immer wieder mit Wasser besprengt, wenn es zu regnen begann, zusammengefaltet, ins Haus getragen, am nächsten Sonnentag wieder ausgebreitet, so lange, bis sie weiß leuchteten wie frisch gefallener Schnee. So hat es ihre Mutter gehalten, die Großmutter, so haben es alle Frauen in der Gegend gehalten, solange man zurückdenken kann. Nach ihrer Heirat hat sie ihren Kindern und natürlich auch Johann Wenzel Hemden aus Leinen genäht.

Jetzt, während sie der kleinen Anna ein Wiegenlied singt, sitzt sie auf einer Holzbank, hat ein Spinnrad vor sich stehen, zieht mit zwei Fingern Fasern vom Rocken, dreht die Fasern mit den Fingern zusammen, die mit den Fingern zusammengedrehten Fasern werden als fertiger Faden auf der sich drehenden Spindel aufgerollt, die Spindel wird durch eine über das Rad gespannte Schnur gedreht, das Rad wird über eine Tretkurbel betrieben. Als sie jung war, saß sie an den Abenden mit den anderen Mädchen des Dorfes beisammen und spann den Faden für ihr Heiratsgut. Es soll lustig zugegangen sein in diesen Spinnstuben, man erzählte Geschichten, Spukgeschichten, Schauergeschichten, Druden und Hexen kamen darin vor, Irrlichter und Spukgestalten, Johann Wenzel wird, wie andere Burschen seines Alters, wahrscheinlich dabeigewesen sein.

Anna Josefa und Johann Wenzel an den Abenden in der Spinnstube, ich stelle mir die beiden vor, obwohl wir keine Bilder von ihnen besitzen, ich leihe mir die Gesichter später Geborener, Blutsverwandter für sie, Gesichter, die ich von Fotografien her kenne, ich leihe Anna Josefa mein eigenes Gesicht, etwas von ihr ist ja in mich übergegangen. Ich sehe die junge Anna Josefa, wie sie den Faden vom Rocken zieht, heimlich blickt sie zu Johann Wenzel hinüber, heimlich wirft ihr Johann Wenzel Blicke zu, Anna Josefa errötet unter Johann Wenzels Blick, ihre Augen glänzen, sie dreht ihren Faden ungleich zusammen, der an solchen Abenden von Anna Josefa gesponnene Faden wird vielleicht hart, voller Knoten gewesen sein, man wird aus diesen Fäden vielleicht kein Leinen für Kinderhemdchen gewebt haben. Vielleicht sind sie später zusammen aus der Spinnstube weggegangen, vielleicht hat Johann Wenzel das Spinnrad getragen, vielleicht waren die Nächte warm und die Wiesen noch nicht gemäht, vielleicht gingen die beiden ein Stück am Waldrand entlang, nahmen nicht gleich den kürzesten Weg zu Anna Josefas Haus. Ihr erstgeborenes Kind kam fünf Monate nach der Hochzeit zur Welt.

SCHLOF OK, SCHLOF, MEI LIEW’S KEND, EI DAM PESCHL GIEHT DR WEND.

Von Zeit zu Zeit taucht Anna Josefa die beiden Finger, mit denen sie die Fasern zum Faden zusammendreht, in ein Wassergefäß, das an der Rockenstange angebracht ist. Mit dem Fuß tritt sie die Kurbel, die Kurbel bewegt das Rad, das Rad dreht die Spindel, die Spindel rollt den Faden auf. OFM MESTE KRÄHT DR HOHN, EI DR STUWE BRUMMT DR MON. Anna Josefa hat die Kunst des Spinnens von ihrer Mutter erlernt, es hat lange gedauert, bis sie es zuwege brachte, den Faden so weich, so gleichmäßig zu spinnen, daß man das feine Leinen daraus weben konnte, aus dem zum Beispiel das Hemdchen der kleinen Anna genäht worden ist. Schon ist zu viel Zeit vergangen, schon fällt es schwer, sich vorzustellen, daß sie es überhaupt konnte, heute, da diese Arbeit nur noch von Maschinen geleistet wird, da die menschliche Hand nur noch die Hebel dieser Maschinen bedient. Nicht nur von der Feinheit und Weichheit der Flachsfaser hing es ab, je nachdem, wie viele Fasern Anna Josefa vom Rocken zog, je nachdem, wie stark oder weniger stark der Druck gewesen ist, den Daumen und Zeigefinger auf diese vom Rocken gezupften Fasern ausübten, so wurde der Faden, den die Spindel aufrollte: fein oder weniger fein, dünn oder dick, hart oder weich. Faden zum Weben von Kinderhemdchen, von Kissenbezügen, von Laken und Mehlsäcken. Schon ist zu viel Zeit vergangen, um sich, weiterdenkend, vorstellen zu können, daß die Hausweber auf ihren einfachen, aus Pfosten und Latten gefügten Webstühlen zustande brachten, was dann zu Wäsche oder zu Bettuch verarbeitet werden konnte. Tausende feiner Fäden mußten gespannt werden, viele tausend Male mußte der Weber mit den Füßen die Tritte bedienen, das Schiffchen werfen, mit dem Weberkamm den durchgeschossenen Faden an das Webgut anschlagen, zweimal, dreimal, nicht zu stark, nicht zu schwach, zehntausendmal die gleiche Bewegung der Arme, der Beine, der Hände, zehntausendmal der Griff nach dem Schiffchen, das die Spule enthielt, den auf dem Spulenstock gleichmäßig über ein Stück Schilfrohr oder Holunderholz gewickelten Faden. Zehntausendmal hin und her, hin und her, auf und nieder, vor und zurück, tagelang, nächtelang, bis ein Stück Leinwand gewebt war, dann verkauft werden konnte, oft für sehr wenig Geld. Reich wurden die Weber nicht. Was sie verdienten, reichte für Kartoffeln, für Knoblauchsuppe, selten für Fleisch, für Fett, für Eier und für das Mehl, das sie für den Teig der Krautkuchen brauchten. Das Kraut für die Krautkuchen zogen sie auf einem Stückchen Land, das sie vielleicht besaßen. So jedenfalls stelle ich, die viel später Geborene, es mir vor. Johann Wenzel dem Zweiten und den Seinen mag es besser gegangen sein. Sie zogen Korn und Kartoffeln auf ihren Feldern. Die Winter waren schneereich, der Boden enthielt viel Feuchtigkeit. Obwohl der Flachs erst Anfang Mai gesät werden konnte, gedieh er gut. Wenn der Acker frei von Unkraut blieb, wenn der Südwind nicht kam, den sie den BÖHMISCHEN WIND nannten, der die jungen Pflänzchen welken ließ, verbrannte, wenn sich die Erdflöhe nicht stark vermehrten, wenn Spätfröste nicht alles noch verdarben. Der Flachs stellte zwar, was die Qualität des Bodens betraf, keine Ansprüche, brauchte aber Feuchtigkeit zur richtigen Zeit, MAIREGEN BRINGT SEGEN. Setzte vor der Ernte eine Regenperiode ein, konnte es geschehen, daß die Pflanzen noch einmal zu blühen begannen. Lösten sich die Zöpfe der Frauen und Mädchen beim Faschingstanz, daß die Haare flogen, waren die Eiszapfen im Winter lang, dann war eine gute Flachsernte zu erwarten.

Grüß dich Gott mei liebr Flochs,

tu nimmer nix, wie immer wochs,

long wie a Weid,

klor wie a Seid,

dr Mutter Gottes of a Kleid.

Ich sage LEINEN und weiß mehr als andere, die ebenfalls Leinen sagen. Ich höre, rieche, taste dieses Wort, ich sehe Farben, die mit dem Wort in Verbindung stehen, auf deren Hintergrund das Wort schwimmt, von dem es sich abhebt, das Wort liegt in langen Bahnen ausgespannt, an den Enden angepflockt, auf grasbewachsenen Flächen, wird aus Gießkannen berieselt, liegt in Ballen gerollt, zusammengefaltet im Schrank. Ich sage LEINEN und höre Unterröcke rascheln, die vor dem Bügeln in Kartoffelstärke getaucht worden sind, ich sehe WEISS, wenn ich Leinen sage, aber dieses Weiß ist umgeben von Grün, ich sehe Sonne über dem Grün, stehe mit nackten Füßen bis zu den Knöcheln im Bach, schöpfe Wasser, wate im Wasser.

Ich verlange Leintücher von einer Verkäuferin in einem Bettwarengeschäft, sie bringt in durchsichtige Kunststoffhüllen Verpacktes, ich lese die Aufschrift, sage: das ist Baumwolle, das wollte ich nicht, die Verkäuferin antwortet, das sei Baumwolleinen.

Sie können auch Mischware haben, sagt die Verkäuferin, Baumwolle mit Kunstfaser, beinahe bügelfrei, jedenfalls PFLEGELEICHT, ich rate Ihnen dazu, ich habe selbst nur pflegeleichte Bettwäsche.

Schon dreht sie sich zu den Regalen um, greift nach weiteren Bettüchern, in Klarsichtfolie verpackt, legt sie mir auf das Pult.

Nein, sage ich, das wollte ich nicht. Ich wollte Leintücher aus LEINEN.

Das wird bei uns nicht mehr erzeugt, sagt die Verkäuferin, das gibt es nicht mehr. Vielleicht in der Tschechoslowakei, wenn Sie einmal hinüberfahren.

(Einige Wochen vor ihrem Umzug in den erwähnten Gemüse- und Obstkeller wurde von Annas Eltern in der zu diesem Zeitpunkt noch völlig intakten Wohnung ein großer, mit grünem Leinen bespannter Koffer gepackt. In diesen Koffer legte die Mutter Leib- und Bettwäsche, einige warme Kleidungsstücke, Strümpfe, Handtücher und Taschentücher. Nach sieben Kriegsjahren gab es nicht mehr viel Entbehrliches, das man verpacken konnte. Selbst die Abschnitte auf den Kleiderkarten, die zum Bezug von Textilien berechtigten, waren nicht mehr einlösbar, die Geschäfte hatten kaum noch etwas zu verkaufen. Zwei oder drei Kleider aus verschiedenfarbigen Stoffen ergaben ein neues.

DAMALS WAREN DIE KOMBINIERTEN KLEIDER IN MODE, sagt die Mutter, erinnerst du dich?

Für Schuhe mußte man einen Bezugsschein beantragen, einmal im Jahr gab es ein Paar Sandalen aus buntem Baumwoll- oder Zellwollstoff, die Sohlen waren aus Holz.

Als die Mutter alles verpackt hatte, was irgendwie entbehrlich war, war in dem Koffer immer noch Platz. Sie holte ein rotsamtenes Abendkleid aus dem Schrank, das sie Jahre vor Kriegsbeginn zum Feuerwehrball getragen hatte, legte es sorgfältig zusammen und verstaute es im Koffer. Vielleicht würde man sich, wenn man nichts anderes mehr hatte, nicht scheuen, ein Kleid aus feuerrotem Samt zu tragen. Die noch verbliebenen Hohlräume im Koffer füllt sie mit gestrickten mehrfarbigen Wollsocken, Fäustlingen, schließlich mit Tischwäsche aus. Zuletzt ging sie noch einmal zum Schrank und entnahm ihm ein sehr großes, über und über besticktes Leinentischtuch mit zwölf dazugehörigen ebenfalls bestickten Servietten, deckte mit Tischtuch und Servietten das feuerrote Abendkleid zu und schloß den Koffer sorgfältig ab.

Der Koffer wurde mit einem der damals noch verkehrenden Züge FÜR ALLE FÄLLE zu Bekannten nach Österreich geschickt.

Leib- und Bettwäsche, Handtücher und Taschentücher, Strümpfe und Wollsocken haben Anna und ihren Eltern schon kurze Zeit später ein Vermögen bedeutet. Das rotsamtene Abendkleid ist gegen Lebensmittel eingetauscht worden. Das kostbar bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen Servietten haben sich als unverkäuflich erwiesen, weil jedes Stück mit einem kunstvoll gestickten Monogramm versehen war. Leute, die sich in der ersten Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gestickte Leinentischtücher und dazugehörige übergroße Servietten leisten konnten, wollten diese mit ihrem eigenen Monogramm versehen haben.

Nachdem wir, Bernhard und ich, die uns von der Hilfsgemeinschaft SOS geschenkten Möbel, die beiden Schränke, die vier Stühle, den ovalen Tisch mit dem geschnitzten Fuß und den Schreibtisch, vom Handwagen abgeladen und ins Haus getragen, in den Zimmern der Wohnung gleichmäßig und gerecht verteilt hatten, fuhren wir noch einmal mit dem Handwagen durch die Stadt und holten das Ausziehbett ab.

Die Eltern schenkten uns zur Komplettierung unseres Haushaltes das bestickte Leinentischtuch und die zwölf dazugehörigen, ebenfalls bestickten Servietten, von denen jede einzelne so groß war, daß wir sie als Tischtuch für einen kleineren Tisch, den wir später noch kauften, verwenden konnten.

Das bestickte Tischtuch und die Servietten sind die einzigen Wäschestücke in unserem Haus, von denen ich mit Sicherheit sagen kann, daß sie wirklich aus LEINEN gewebt sind.)

3

Fast hundertzwanzig Jahre alt ist die oval zugeschnittene, schon stark verblichene Fotografie, aus der mir Johann Wenzels des Zweiten siebentes Kind, Josef, der Färbermeister, mit melancholischem Gesichtsausdruck entgegenblickt. Mit stark abfallenden Schultern, modischem Halstuch, abstehenden Ohren und Backenbart steht er hinter seiner zu einem verschüchterten Häuflein zusammengedrängten Familie. Er trägt eine Weste aus bedrucktem Samt, die Kanten der Weste sind mit Seide eingefaßt. Die Uhrkette liegt, gut sichtbar, halbkreisförmig über dem mageren Leib. Einer der merkwürdig langen Arme hängt seitlich unbeholfen herab, einer ist abgewinkelt, die Hand liegt schwer auf der Schulter seiner ältesten Tochter Anna, die, unter dem Gewicht dieser väterlichen Hand seltsam verkrampft, nach vorne geneigt dasteht. Halblinks hinter der Tochter die in dunklen, gefältelten Taft gekleidete, verschreckt ins Objektiv blickende Mutter, die großen Hände ungeschickt im Schoß haltend, sichtlich eingeengt durch ein wahrscheinlich ungewohntes Mieder, halbrechts hinter der Mutter die jüngere Tochter Cäcilie, in (wahrscheinlich blau bedrucktem) geblumtem Kleid, rundköpfig, ein Samtband um den Hals. Im Vordergrund, eng an die Mutter gedrängt, je ein Knabe, der etwa achtjährige Johann und der fünfjährige Adalbert, beide rundköpfig, beide je einen großen runden Hut mit aufgebogener Krempe in der Hand. Alle vier Kinder haben die abstehenden Ohren des Vaters geerbt.

Im Hintergrund ist ein Marmorkamin zu sehen, auf dessen Sims Porzellanfiguren zwanglos verteilt sind, die Wand hinter dem Kamin ist mit Stuck verziert, der Stuck deutet Wohlstand an, ein Vorhang hängt mit schweren Falten von rechts in die Fotografie.

Kamin, Stuckzierat, Porzellan und Vorhang sind kunstvoll auf Pappe gemalt.

Josef, das Bauernkind aus den böhmischen Wäldern, aus dem IN DEN WÄLDERN FAST VERLORENEN DORF, hat es zum selbständigen Färbermeister gebracht, ein sozialer Aufstieg, der Beachtung verdient.

Ich stelle mir Josef vor, einen kleinen, mageren Bengel mit abstehenden Ohren und melancholischem Blick, wie ihn Johann Wenzel, der Vater, nach Schildberg ins Haus seines Lehrherrn bringt.

Schon daheim hat er tüchtig mithelfen müssen, man rechnete mit der Arbeitskraft der Kinder in jener Zeit, Bauernjungen hatten im Flachsfeld, im Heu, bei der Kartoffel- oder Getreideernte frühzeitig zuzupacken, die Kinder der Weber hatten die aus Holunderholz gefertigten Spulen für das Garn herzustellen, auch sonst kräftig mitzuhelfen. Aber auch Lehrlinge hatten nicht viel zu lachen. Der kleine Josef wird, wie die meisten seiner Altersgenossen, die ein Handwerk erlernen wollten, ein hin- und hergehetzter, zu Botengängen und niedrigen Arbeiten mißbrauchter, auf jeden Fall ein bedauernswerter, wahrscheinlich spindeldürrer, niemals ganz sattgefütterter Junge gewesen sein, der die Fußböden der Meisterin schrubbte, die Wege und das Haus kehrte, die Kinder beaufsichtigte, der Töpfe und Pfannen zu reinigen, blank zu reiben hatte, der schwere Lasten schleppte. Er mußte die großen, in der Färberei verwendeten Holzgefäße säubern, die schweren Leinen- und Stoffballen tragen, auf hohen Leitern balancierend Gefärbtes auf Stangen hängen, von diesen wieder herunterholen, er war seinem Meister und dessen Frau, überhaupt sämtlichen Mitgliedern der Familie des Meisters, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

In einem Jahrzehnte später im »Mährischen Gewerbeblatt« abgedruckten Aufsatz zum Lehrlingsproblem findet sich die Bemerkung: DIE ERZIEHUNG DER LEHRLINGE RUHT EINZIG UND ALLEIN IN DER HAND DES MEISTERS. Daß diese Erziehung gelegentliche Püffe, Schläge, Ohrfeigen mit einschloß, wenn nicht vom Meister und seiner Frau, dann doch von den Gesellen, ist mit Sicherheit anzunehmen. Der Lehrling war der Kleinste, der Jüngste, er nahm die unterste Stufe der sozialen Rangordnung im Hause des Lehrherrn ein, er hatte nebenbei noch das Kunststück fertigzubringen, das Handwerk seines Meisters tatsächlich zu erlernen, was er schließlich durch eine Gesellenarbeit zu beweisen hatte.

Josef hat diese harte Zeit überstanden, er hat sein Gesellenstück fertiggebracht, er ist auf Wanderschaft gegangen, hat hier oder dort bei einem Meister Arbeit gefunden, hat diesen Meistern das eine oder andere Geheimnis bei der Bereitung der Farbmischungen abgeguckt, seine Kenntnisse erweitert, schließlich sein Meisterstück, vielleicht einen besonders kompliziert bedruckten Leinenballen, geliefert, nach einem Ort gesucht, an dem noch kein Färbermeister sich niedergelassen hatte, diesen Ort gefunden. Sein Wanderbuch ist bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs im Besitz seines Enkels gewesen, es ist, zusammen mit vielen anderen Dokumenten, Briefen und Papieren, in den ersten Tagen nach dem Ende des Krieges verlorengegangen.

Den Ort, in welchem Josef sich niederließ, kann ich im DEUTSCH-TSCHECHOSLOWAKISCHEN ORTSVERZEICHNIS (ETWA 2500 ORTE MIT DEN EHEMALS DEUTSCHEN UND NUNMEHR TSCHECHOSLOWAKISCHEN BENENNUNGEN, UNENTBEHRLICH FÜR DEN BAHN- UND POSTVERKEHR, VERLEGT IN WIEN 1946) nicht finden. Der Vater, Josefs Enkel, Johann Wenzels des Zweiten Urenkel, gibt die geographische Lage des Ortes mit ETWA 20 KM SÜDLICH VON MÄHRISCH-SCHÖNBERG, DAS HEUTE NUR NOCH ŠUMPERK HEISST, an. Nördlich des Ortes lag Lesche, östlich lag Janoslavice, südlich lag Lukavetz, westlich lag Unter-Heinzendorf. Somit scheint die Lage des Dorfes SCHMOLE eindeutig festgestellt.

Mein Vater, Adalberts Sohn, Josefs Enkel, Johann Wenzels des Zweiten Urenkel, hat mir dreißig Fotografien des Dorfes gebracht, in dem Josef sein Färberhandwerk betrieben hat. Er hat das Dorf, in dem sein Großvater geboren wurde, gekannt, er hat, über die Dorfstraße gehend, DAS KLAPPERN DER WEBSTÜHLE IN DEN HÄUSERN gehört.

Erzähle mir bitte, was du noch weißt, sage ich, und er nimmt einen Stift und ein Stück Papier und zeichnet einen halbkreisförmigen Bogen vom linken äußeren zum rechten äußeren Rand des Blattes.

DAS IST DIE MARCH, sagt er, hier oben liegt Hohenstadt, hier unten Lukavetz oder Lukavice, hier zweigt die ZAZAVA ab, von der Zazava der Mühlgraben, der Mühlgraben beschreibt einen Bogen und mündet bei Lukavetz in die March. HIER IST DIE MÜHLE, sagt Adalberts Sohn, zeichnet ein rechteckiges Kästchen, schreibt MÜHLE daneben hin. HIER IST DIE HOLZBRÜCKE, AUF DER HOLZBRÜCKE BIN ICH OFT GESTANDEN, HABE DEN SCHÄUMENDEN WASSERSTURZ BESTAUNT.

Hinter der Mühle lag ein von einer Steinmauer umschlossener Garten, daneben waren Wiesen, auf denen die Frauen und Mädchen Wäsche zum Bleichen auslegten, die sie mit Mühlgrabenwasser begossen. DEM GARTEN ENTFLATTERTEN DIE BUNTESTEN SCHMETTERLINGE.

Vom Mühlbach her, sagt der Vater, zweigt ein KLEINES GERINNE ab, fließt in einem Bogen durch das Dorf und mündet wieder in den Mühlbach ein.

Der Vater hat das Bild des Dorfes, in dem seine Großeltern lebten, genau im Gedächtnis behalten. Er zeichnet das kleine Gerinne, er zieht einen halbkreisförmigen Bogen vom Mühlbach weg, um die Mühle herum, wieder zum Mühlbach zurück. HIER WAR EIN ERLENWÄLDCHEN, sagt er, die Ortsbewohner nannten es ŠKARPI. Er deutet mit einem Strich das Erlenwäldchen an.