Die Akte "Glück" - Sabine Schubert - E-Book

Die Akte "Glück" E-Book

Sabine Schubert

4,6

Beschreibung

Samantha - Buchhalterin aus New York, Workaholic Jessica - Anwältin aus Oklahoma, Workaholic Samantha und Jessica lernen sich über einen gemeinsamen Kunden kennen. Die Akte beschäftigt sie eine Weile und sorgt dafür, dass sie genügend Zeit miteinander verbringen, um zu merken, dass es doch mehr als den Job im Leben gibt. Einen Weg in die Zukunft sehen sie dennoch nicht Seite an Seite. Neben dem Job, den sie beide über alles lieben, trennen sie zu viele Kilometer.

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Liebe Leser(innen),

ich war nie zuvor in New York und nutze die Stadt

trotzdem als Handlungsort für dieses Buch. New York

symbolisiert für mich die Hektik unserer Zeit. Es hätte ebenso

gut Berlin, London, Paris oder irgendeine andere Großstadt

sein können. Vielleicht lebst du auch in einer dieser

Metropolen und findest einige Parallelen.

Es geht hier also nicht tatsächlich um New York und

Oklahoma City. Die Städte repräsentieren nur zwei Lager

unserer Gesellschaft im Bezug auf Homosexualität. Ob es

dort wirklich so ist, weiß ich nicht. Aber ich freue mich über

Resonanz von euch.

Liebe Grüße

Die überfüllte Großstadt New York nannte Samantha Paine ihre Heimat. Auf den Straßen drängten sich hupende Autos und kamen doch nicht vorwärts. Es war Montagmorgen, acht Uhr, und die Straßen vollkommen dicht. Auf den Bürgersteigen sah es nicht anders aus. Vor allem an U-Bahn-Stationen strömten noch mehr Menschen auf die Gehwege, die so schon keinen Platz mehr boten. Und es war laut. Neben dem Hupen der Autos, Klingeln der Straßenbahnen und Werbemusik, waren es die Menschen selbst, die unerträglichen Lärm verursachten. Sie unterhielten sich oder telefonierten, mussten aber schreien, um die anderen zu übertönen, störten sich damit gegenseitig und es schaukelte sich in Sphären, die den Leuten auf lange Sicht die Stimmbänder ruinierten.

Samantha war nicht anders. Sie telefonierte auch schon wieder, während sie den Bürgersteig hinabhetzte. Sie hatte das Hochhaus mit ihrem Büro fast erreicht, doch sie bog noch mal in einen Laden ab. Kaffee musste her und zwar ordentlicher. Sie beendete das Telefonat, als sie sich in die Schlange stellte, und steckte das Handy weg.

Vor ihr waren noch drei Leute dran. Gerade wurde eine klapprige, alte Frau bedient. Samantha fragte sich, wieso die ausgerechnet jetzt hier stehen musste. Die alten Leute waren auch immer dann im Supermarkt zu finden, wenn die berufstätige Bevölkerung Feierabend hatte. Die schienen das mit Absicht zu machen. Eine Verschwörung der alten Hasen gegen die steigende Gehetztheit, hatte Alex es genannt. Vielleicht war das auch nur ein Weg der Rentner, der Einsamkeit zu entfliehen.

Der Zweite in der Schlange war ein Mann, der dem Aussehen nach zu urteilen bereits ganz oben war. Den störte eine Zeitverzögerung ganz sicher nicht, denn er hatte eh das Sagen.

Samanthas Aufmerksamkeit erregte aber eher die Dame direkt vor ihr. Sie hatte die Haare sehr seriös hochgesteckt, trug einen maßgeschneiderten Designeranzug und eine Designertasche aus Leder. Vermutlich die Frau eines Arztes, Anwaltes oder Richters, die es sich leisten konnte und doch so tat, als wäre sie furchtbar wichtig, um sich nicht so unnütz vorzukommen. Sie ging wahrscheinlich wirklich arbeiten, aber nicht des Geldes oder der Freude wegen, sondern nur um sagen zu können, sie war nicht von ihrem Mann abhängig, obwohl sie es doch war.

Die Oma hatte es geschafft, packte alles in den Korb ihres Rollators und trottete an der länger werdenden Schlange vorbei. Somit konnte auch Samantha einen Schritt vortreten.

Ihr rascher Blick ging wieder zu der Frau vor ihr. Sie mochte solche wichtigtuenden, aber von ihren Männern abhängigen Frauen nicht. Diese Falschheit störte sie. Sie selbst war sicher nicht reich, aber sie hatte es sich alles selbst verdient. Sie war kein Sklave irgendeines Fleischanhängsels.

Trotz der Abneigung aufgrund der Einschätzung hatte sie einen ziemlich süßen Arsch in der Hose. Sehr anziehend und knackig. Ihre kleinen Backen wölbten sich nahezu perfekt in dem anliegenden Stoff, der darunter recht weit fiel. Eine Einladung für Samantha, doch sie sah schnell besonders desinteressiert weg. Nur kurz hatte sie hinsehen müssen.

Der vermutliche Firmenboss hatte seinen Einkauf auch beendet und es ging noch einen Schritt vorwärts.

„Einen Kaffee und die Schokotasche bitte.“ sagte die Frau vor Samantha und sie hörte ein Lächeln. Eigentlich klang es ganz sympathisch. Aber wenn sie mit der Figur einfach so eine Kalorienbombe essen konnte, tippte Samantha auf die unechte Ehefrau eines Schönheitschirurgen.

Doch dann … Die Frau bekam noch den Kaffee, bezahlte und drehte sich um. Wie in Zeitlupe lief sie an Samantha vorbei. Irgendwer hatte den Ablauf der Zeit verlangsamt. Samantha hörte ihren eigenen Herzschlag. Kein Geräusch der fremden Menschenmassen konnte ihn übertönen. Sie hörte keinen Straßenlärm mehr, keine Gespräche, keine klingelnden Telefone - gar nichts. Nur ihren dröhnenden Herzschlag und ihren heißen Atem, der wie Feuer auf ihren Lippen brannte.

Die Fremde hatte strahlend blaue Augen. Eine akkurate Strähne der haselnussbraunen Haare säumte ihr liebliches Gesicht, an dem offenbar alles echt war. Sie hatte eine kleine Stupsnase, hohe Wangenknochen und zum anbeißen niedliche Grübchen, als sie Samantha mit ihren vollen Lippen anlächelte. Dieses Lächeln galt niemandem sonst, außer Samantha. Sie sah sie direkt an. Die blauen Augen waren auf sie gerichtet. In Zeitlupe lief sie an Samantha vorbei. Es war so still in der Blase ihrer Galaxie. Ein neuer Kunde betrat den Laden und ein Luftzug durch die geöffnete Tür streifte die Strähne am Gesicht der Fremden.

Samantha fühlte sich wie benommen. Dieser Glanz in ihren Augen. Was war denn das? Wo kam der her? Wo kam SIE her? Und wo ging sie hin?

„Hallo?“ rief die Bedienung und riss Samantha aus der Trance. Sie hatte nicht mal mitbekommen, wie sie sich mit der Fremden gedreht hatte, als sie an ihr vorbeigegangen war.

„Äh … Einen Kaffee.“

Mühsam machte Samantha einen Schritt und legte die Münzen auf den Teller. Dann bekam sie ihren Kaffee auch schon und konnte wieder gehen. So schnell war das möglich, wie auch die fremde Schönheit bewiesen hatte.

Und trotzdem war Samantha kaum bei Verstand, als sie den Laden verließ. Dieser Blick … Ihr gingen diese Augen nicht aus dem Kopf, die sich einzig und allein auf sie gerichtet hatten. Es hatte den Anschein gehabt, als hätten sie nur für Samantha geglänzt und die Mundwinkel waren nur für sie nach oben gegangen.

„Vorsicht!“ sagte auf einmal genau diese weiche Stimme und Samantha spürte eine zarte, aber kräftige Hand am Oberarm, die sie zur Seite zog. Erst da bekam sie mit, dass sie sich beinahe die Schuhe ruiniert hätte.

„Oh.“

Neben ihr kicherte jemand. „Noch verschlafen zum Montagmorgen?“

Samantha hob den Blick und begegnete diesen blauen Augen, die sie gerade frech auslachten. „Eigentlich nicht.“ schmunzelte sie verlegen. „Ist nicht mein Tag, danke.“

„Kein Problem. Ich würde ja zu gern Security spielen, aber ich muss los.“

„Schade eigentlich.“ rutschte Samantha heraus, bevor sie es aufhalten konnte. Dazu hatte sie auch noch - ohne es zu wollen natürlich - ein Lächeln aufgesetzt. Nicht irgendeines. Ein eindeutiges und sie hätte sich dafür gern geohrfeigt.

„Finde ich auch.“ zwinkerte die Frau mit ebenso eindeutigem Blick. Etwas Neckische steckte darin. Verspielt und aufreizend zugleich.

Dann ging sie einfach und Samantha blieb wie erstarrt zurück. Ja, sie stand auf Frauen, aber so doch nicht! Sie war nicht geoutet und wollte das auch nicht. Und dann passierte ihr so was! Wie war denn das nur geschehen? Normalerweise hatte sie sich besser unter Kontrolle, als mit offenem Mund einer Fremden hinterherzusabbern.

Die drehte sich noch um, zwinkerte noch einmal mit diesem unverschämt frechen, unwiderstehlichen Lächeln und verschwand um die nächste Ecke. Samantha kam halbwegs zu sich und schloss schnell ihren Mund. Dann verdrehte sie die Augen und lief weiter. An dem Hundehaufen vorbei!

Toll, dachte sie, jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass sie diesen blauen Augen nie wieder irgendwo begegnete. Und schon gar nicht in ihrem öffentlichen Leben. Und sie musste hoffen, dass niemand das eben gesehen hatte, der sie kannte oder noch kennenlernen würde. Ganz schön viel Hoffnung, die sie für einen Montagmorgen brauchte. Das war ein Albtraum!

Ganze fünf Minuten kam Samantha zu spät ins Büro. Das war ihr noch nie passiert. Sie hetzte zu ihrem Büro und war schon gestresst, bevor die Woche überhaupt angefangen hatte. Die konnte nur so weitergehen, wie sie aus Erfahrung wusste, und sollte auch noch Recht behalten.

Erst mal brachte ihr ihre Sekretärin aber einen Stapel Akten. „Du sollst dir das Kaufhaus vornehmen. Da gibt es wohl irgendwelche Probleme.“

„Geht klar.“ Samantha wühlte sich durch den Berg Papier, doch Cindy zottelte die richtige Mappe hervor und legte sie mit einem mütterlichen Lächeln obenauf.

„Danke.“

„Kein Problem. Und der Chef will dich sehen.“

Samantha verdrehte die Augen. „Wann?“

„Sobald er mit dem Meeting fertig ist. Er kommt dann her. Ich hab den Termin in einer Stunde auf morgen Nachmittag verschoben, falls es länger dauert.“

„Danke.“ schnaufte Samantha. Das klang wunderschön. Wer mochte nicht zum Montag gleich mit seinem Chef sprechen? Vor allem dann, wenn es ein Mittfünfziger in der Midlife Crises ist, der seit neuestem ein Toupet trug, das aussah wie ein Pudel, dazu Anzüge, die ihm vielleicht vor dreißig Jahren mal gepasst hätten, und immer einen blöden Spruch auf den Lippen hatte, mit denen er cool sein wollte. Er war eigentlich ein netter Kerl, aber vor einem halben Jahr etwa war er in eine Phase gerutscht, die ihn unausstehlich machte. Der konnte einfach nicht akzeptieren, dass er alt wurde und nicht mehr zu den Teenagern gehörte. Seit neuestem las er immerfort in Foren, um den Jugend-Jargon zu lernen und sich zu informieren, was für die Jugend von heute modern war. Vielleicht erhoffte er sich, dadurch einen besseren Zugang zu seinen eigenen Kindern zu finden. Mit Fünfzehn und Siebzehn sind die eigenen Eltern alt und vollkommen hinterwäldlerisch. Nicht jeder Vater kann diesen normalen Zyklus des Lebens hinnehmen. Manch einer versucht eben, den lange verlorenen Anschluss wiederzufinden.

Samantha bekam noch eine Schonfrist von genau siebenundvierzig Minuten. Die hatte sie aber auch genutzt, um noch ordentlich was zu schaffen und sich von dem abzulenken, was kommen sollte. Es klopfte kurz und die Tür ging auf.

„Miss Paine.“ lächelte er. „Sie sehen umwerfend heute aus.“

„Vielen Dank.“ lächelte sie, obwohl ihr schlecht wurde. Sie hätte seine Tochter sein können! Außerdem war er verheiratet! Und ihr Chef! Das gehört sich doch nicht!

„Es geht um Knox.“

„Oh.“

Samantha lehnte sich zurück und war gespannt auf die neuesten Neuigkeiten. Die Firma Knox war ein Kunde von ihr. Der größte dieses ganzen Steuerbüros. Es war ein Internethandel und Samantha machte neben den Steuern auch deren gesamte Buchhaltung. Monatlich schob sie Millionen hin und her. Natürlich nicht allein, sie hatte ein Team von fünf Leuten unter sich.

Nun hatte der Eigentümer der Firma die Scheidung von seiner Frau eingereicht. Und - wie sollte es anders sein - es ging um jede Menge Geld. Der Rosenkrieg zog sich nun schon Monate hin und die Ehefrau hatte die Konten einfrieren lassen. Demzufolge konnte Samantha Angestellte und Lieferanten nicht mehr bezahlen, was unweigerlich zu Problemen führte. Und zwar nicht zu knapp. Sie würde sich wünschen, dass das jetzt endlich ein Ende hätte.

„Mister Knox hat aufgegeben.“ erzählte Barry Bright. „Er hat das alles seinen neuen Anwälten übergeben und gesagt, die sollen das mit uns klären und seiner Frau zahlen, was sie will. Wenn von der Firma noch was übrig ist, würde er sich freuen, sie weiterführen zu können, aber er hat keine Kraft mehr, gegen seine Frau zu kämpfen, und hängt sich nicht mehr rein.“

„Oh Shit.“ murmelte Samantha mitleidig. Sie kannte Mister Knox richtig gut, sie hatte schon oft mit ihm gesprochen, war sogar zur Hochzeit seiner Tochter eingeladen worden und bekam jedes Jahr zu Weihnachten einen ordentlichen Scheck. Er war ein Mann mit Anstand, denn den Scheck stellte er selbst aus und bezahlte es von seinem privatem Konto. Er war Samantha wirklich sympathisch und sie verstanden sich gut. Sein Schicksal ging ihr ehrlich nahe, weil sie leider auch seine Frau schon kennengelernt hatte. Ein Kaliber, wie sie es der Fremden im Café unterstellte. Geldsüchtig!

Sie musste schnell diese blauen Augen aus ihrem Kopf scheuchen, ehe sie wieder anfangen würde zu sabbern.

„Haben sie eine Nummer?“ fragte sie, um sich mit den Anwälten treffen zu können.

Mister Bright reichte ihr eine Visitenkarte. „Sie sind heute zum Mittag verabredet. Ich war mal so frei, weil sie noch nicht da waren, aber es ist alles mit Cindy abgesprochen.“

„Okay. Wo geht es denn hin?“

„Ins Ritz.“

„Nobel.“ schmunzelte Samantha. Das konnte sie selbst sich selten leisten. Hin und wieder gönnte sie es sich auch, richtig chic auszugehen, aber sie fand eh zu selten die Zeit dafür. Bringdienst im Büro war da schon eher ihr Stil.

„Auf seine Kosten natürlich, also nehmen sie die Rechnung mit. Strecken sie es vor.“

„Geht klar.“ sagte Samantha sofort. Für solche Dinge hatte sie eine Kreditkarte der Firma Knox bekommen. Natürlich mit begrenztem Limit, aber ein paar Hunderter konnte sie ausgeben. Würde sie nicht und tat sie nicht einfach so, aber für solche Anlässe schon. Im Moment stand jedoch ein gesondertes Spesenkonto ihrer eigenen Firma dahinter. Das würde später ausgeglichen werden, wenn die Scheidung durch wäre. Barry Bright wusste auch, dass Mister Knox ein anständiger Mensch war. Wenn von der Firma nichts übrig bliebe, würde er das von seinem Privatkonto ausgleichen. Und wenn er dafür sein Haus, sein Auto oder sonst was verkaufen müsste.

Mister Bright redete Samantha noch mal ins Gewissen, sie solle sich ja mit den Anwälten gutstellen, um ihrem Kunden zu helfen. Sie waren auf ihn angewiesen, denn Samantha buchte monatlich nicht wenig Geld von Knox auf das Konto ihrer eigenen Firma. Der Internethandel sollte sich also besser halten, damit die Umsätze des Steuerberaters und Buchhalters nicht einbrechen würden.

Das setzte Samantha natürlich überhaupt nicht unter Druck. Sie mochte Anwälte nicht. Sie kam oft genug mit ihnen in Berührung und hatte nichts als Ärger mit diesen Paragraphenreitern. Die zogen ihren Kunden die letzten Pennys aus der Tasche, froren Konten ein oder pfändeten. Und jedes Mal waren es unvorhergesehene Probleme, die Samantha zu meistern hatte. Und ihr undankbarer Job war es dann, zwischen Anwalt und Kunden zu vermitteln. Der Arsch für beide war immer Samantha. Genau aus dem Grund legte Cindy die Briefe von Anwälten schon immer ganz oben auf den Stapel der täglichen Post, damit Samantha es hinter sich hatte.

Zum Mittag lief sie dann zum Ritz. Es war nicht weit, sie war nur ein paar Minuten unterwegs und genoss einen kleinen Spaziergang in Eile. Frische Luft wäre ihr noch lieber gewesen, um sich zu beruhigen, bevor sie diesen Fatzken gegenübertreten musste, aber die suchte sie in dem hupenden Stau in der Schlucht aus Wolkenkratzern vergeblich.

Sie atmete noch mal tief durch und schielte zum Himmel. Sie bat um göttlichen Beistand, auch wenn sie eigentlich nicht gläubig war, aber sie war froh über jede Unterstützung für dieses Gespräch, die sie kriegen konnte. Sie musste sich nur ins Gedächtnis rufen, dass sie denen nicht sagen durfte, was sie im allgemeinen von Anwälten hielt.

Sie ging in das große Hotel und zum Restaurant weiter. Ein junger Mann kam gleich zu ihr und empfing sie höflich.

„Guten Tag.“

„Guten Tag. Ein Tisch auf Knox.“

Mister Bright hatte auf den Namen buchen lassen, damit man sich nicht verfehlen konnte.

„Sehr gern. Wenn sie mir bitte folgen.“ bat der Mann höflich mit einer leichten Verbeugung und ging voran.

Samantha folgte ihm auch prompt. Sie kannte sich in diesen Kreisen inzwischen aus, obwohl sie im nächsten Moment schon schreiend davonlaufen wollte. An einem Tisch am Fenster saßen diese betörend blauen Augen vom Morgen. Zum Glück hatten sie Samantha noch nicht entdeckt und sie hoffte, sich verstecken zu können.

Dem bereitete der Mann ein gefühlloses Ende, indem er Samantha genau zu diesem Tisch führte. Anwältin! Auch das noch! Samantha wollte im Erdboden verschwinden!

Die Frau sah auf, als sie bemerkte, dass man sich ihr näherte. Ihr glühender Blick traf auf Samantha und zog ein Lächeln nach sich, bei dem sie anfing, flacher zu atmen, und keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.

„So ein Zufall aber auch.“ lächelte sie süffisant und reichte Samantha die Hand. „Jessica Bennet.“

„Samantha Paine.“ antwortete sie relativ gefasst. Sie hatte gelernt zu schauspielern, wenn sie sich nicht offenbaren wollte. Die Anwältin war nicht die erste, der Samantha eine Rolle vorspielte.

„Darf ich ihnen schon etwas bringen?“ fragte der Mann, als Samantha sich gesetzt hatte.

„Roten Traubensaft.“ bestellte Samantha. Die Anwältin war bereits versorgt.

Der Mann ging einfach und überließ Samantha sich selbst. Sie sah sich dieser Schönheit gegenüber, konnte kaum den Blick abwenden … Und zu sagen wusste sie auch nichts.

„Darf ich einen Vorschlag machen?“ fragte die Anwältin, als sie sich ganz gelassen die Speisekarte nahm.

„Machen auf jeden Fall, ob ich ihn annehme, ist eine andere Frage.“ konterte Samantha erhaben, beinahe streitlustig, und nahm sich ebenfalls die Karte.

Die Anwältin lächelte über ihre Karte hinweg. „Belassen wir es bei Jessica, okay?“

„Samantha.“ lächelte nun auch sie, obwohl sie das doch gar nicht wollte. Es ging einfach nicht anders. Ihr Hirn schien einen Krieg gegen ihre Impulse zu führen. Der Verstand sagte eindeutig, sie solle achtsam sein und sich auf Abstand zu der Anwältin halten. So gut sie auch aussah und so sehr sich Samantha von ihr angezogen, beziehungsweise ausgezogen, fühlte, würde das nur Probleme mit sich bringen. Probleme, die sie sich vom Leib halten wollte. Auf der anderen Seite übernahmen die Libido-gesteuerten Impulse die Herrschaft und sandten eindeutige Signale. Ein Lächeln hier, ein Augenaufschlag da und lüsterne Gedanken, die ihr ins Gesicht geschrieben standen. Würde sich ihr Verstand nicht bald über die Impulse hinwegsetzen, würde sie die Stadt wechseln müssen.

„Bestens. Wie geht es den Schuhen?“

Samantha zuckte innerlich zusammen. Dieses Weib las zwar unbeeindruckt die Speisekarte, aber Samantha hörte nahezu schon die Erpressung. Sie hatte sich ausgerechnet einer Anwältin ausgeliefert! Wie hatte sie nur so dumm sein können?

„Bestens, danke.“

Eine perfekte Augenbraue hob sich langsam. Zum ersten Mal lag auch kein neckischer Glanz in den blauen Augen. „Womit hab ich dich gegen mich aufgebracht?“

„Gar nicht.“ wehrte Samantha schnell ab, doch Jessica hatte verstanden und fing an zu lächeln. Freundlich und verständnisvoll, nicht lüstern oder frech.

„Alles klar. Keine Sorge, ich bin keine Tratschtante.“

Samanthas Augen wurden weiter und weiter. Vermutlich konnte man es schon als Glubschaugen bezeichnen.

Was sollte denn das jetzt heißen? Wollte die das jetzt hier auch noch aussprechen? Wollte sie noch etwas andeuten, das Samantha für ihr Schweigen tun müsste?

„Hey, ganz locker.“ lachte Jessica leise. „Ich beiße nicht. Zumindest nicht hier. Nur als Anwältin, aber da stehe ich gerade auf deiner Seite, also beruhige dich.“

Samantha wusste, sie kam nur mit Selbstbewusstsein weiter, auch wenn sie es nur mühsam spielen konnte. Sie schlug die Karte zusammen, legte sie auf den Tisch und beugte sich etwas nach vorn. Es musste ja nicht jeder hören. „Hör zu. Du weißt offensichtlich etwas, das du nicht wissen solltest. Aber ich werde ungemütlich, wenn es dir über die Lippen kommt.“

Jessica beugte sich ebenfalls zu ihr und ihre Augen glänzten. Allerdings nicht vor Abneigung. „Ich sagte, bleib locker. Das ist dein Ding und deswegen sind wir nicht hier. Mit meinen Lippen stelle ich noch so einige Dinge an, aber wir sind wegen meinem Mandanten hier.“

Ah! Samantha wurde kribbelig und lehnte sich wieder zurück. Eigentlich ließ sie sich nur an die Lehne fallen und sackte in sich zusammen. „Danke.“ brummte sie, sah aber nicht mehr auf. Die hatte sie in der Hand! Das passte ihr nicht! Ausgerechnet die! Und dann auch noch ausgerechnet eine Anwältin! Sie würde das Wissen nutzen, wenn sie es bräuchte, und Samantha konnte nichts dagegen tun, sagte ihr Verstand. Ihre Gelüste hatten für derartige Überlegungen nichts übrig. Sie spürte einen Schauer durch ihren Körper fließen, als sie nur an die Lippen dachte, die noch so einiges anstellen wollten.

Ein Pulsieren zwischen ihren Schenkeln schreckte sie auf. Sie sollte sich nicht in dieser Art Gedanken verlieren...

Jessica musste einsehen, das Gespräch würde nicht so locker werden, wie sie geglaubt hatte. Eigentlich hatte sie gemeint, es wäre noch lockerer, nachdem sie diese Frau gesehen hatte, aber da hatte sie sich anscheinend getäuscht. Ihr Eindruck in dem Café war richtig gewesen. Sie hatte eine Lesbe vor sich, aber eine nicht geoutete. Niemals würde Jessica das ausplaudern, selbst wenn sie sie nicht leiden könnte. Niemand sollte auf diese Weise gezwungen werden, etwas preiszugeben, das er nicht preisgeben möchte. Aus welchen Gründen auch immer, Jessica fand es moralisch nicht vertretbar. Auch nicht vor Gericht.

Aber das glaubte Samantha ihr offenbar nicht, also würde dieses Essen sehr steif werden.

Schade eigentlich. Sie sah umwerfend aus. Ihre rabenschwarzen Haare hatte sie locker genug hochgesteckt, damit sich hie und da eine Strähne herauswinden konnte, ohne unschön oder unseriös auszusehen. Ihre hohe Stirn ging in eine gerade, schmale Nase über. Leider hatte sie die Stirn in Falten gezogen. Und an den deutlich sichtbaren Kieferknochen konnte Jessica sehen, dass sie mit den Zähnen mahlte.

Der Kellner kam wieder und brachte Samantha den Saft. „Haben die Damen gewählt?“

„Für mich die Pute, aber sagen sie dem Koch bitte, es ist für Jessi.“ forderte Jessica. „Dazu den kleinen Salat.“

„Sehr gern.“ lächelte der Kellner und wandte sich Samantha zu.

„Das Hähnchen auf Reis bitte.“

Der Mann ging wieder und Jessica entschied sich, das Gespräch voranzutreiben, um nach dem Essen verschwinden zu können. „Okay, da du nicht reden willst, übergehen wir den Smalltalk. Wie sehen die Rücklagen aus?“

Samantha sah auf und erkannte deutlich, dass sie die Anwältin jetzt verärgert hatte. Nicht wirklich verärgert, aber in ihrem Blick stand eine gewisse Enttäuschung. Das war auch nicht gut. Sie sollte sie bei Laune halten, damit sie keinen Grund hatte, irgendwem etwas zu sagen.

„Die Konten wurden eingefroren.“

„Ich weiß, ich konnte es nicht aufhalten, weil mein Konkurrent den zuständigen Richter persönlich kennt. Deswegen will ich so viel wie möglich wissen, um dieses Biest in ihre Schranken zu verweisen.“

Samanthas Mundwinkel zuckten. „Das klang nicht nach einer Anwältin.“

Die schönen Lippen ihr gegenüber blieben ernst. „Ach. Noch ein zweiter Punkt, den du mir vorwirfst, ohne mich zu kennen?“

„Tut mir leid.“ schmunzelte Samantha. Die schien ja eigentlich ganz nett.

„Schon okay. Sag mir einfach, was ich wissen muss.“

Samantha holte die Mappe aus ihrer Tasche und reichte einen Zettel weiter. „Das sind sämtliche Guthaben, die noch auf den Konten und Depots liegen.“ Noch ein Zettel, der über den Tisch geschoben wurde. „Das sind die Ausstände. Vor allem Angestellte und Lieferanten stehen Schlange.“

„Scheiße.“ murmelte Jessica völlig versunken in die beiden Tabellen. Die Gelder waren da. Ohne Probleme hätte er die Leute bezahlen können und trotzdem stand die Firma kurz vorm Ruin, weil die Lieferanten nicht mehr lieferten und die Mitarbeiter Probleme im Privatleben bekamen. Sie standen zu ihrem Chef und wollten die Krise mit ihm gemeinsam bewältigen, aber es kam kein Geld mehr. Gar nichts mehr. Sie konnten ihre Miete nicht zahlen, keine Lebensmittel kaufen, den Kindergarten nicht bezahlen und so weiter. Sie mussten sich Nebenjobs suchen, um das Nötigste zu schaffen, fehlten dafür aber wieder in der Firma, die Arbeit blieb liegen und die Kunden zogen sich zurück. Ein endloser Teufelskreis, den Jessica unbedingt durchbrechen wollte.

Sie wandte den Blick zum Fenster hinaus. Seit sie die Akte bekommen hatte, zermarterte sie sich das Hirn, wie sie dem Ganzen ein schnelles Ende bereiten könnte. Ihr Kunde war auch nervlich am Ende, weil er all seine Mitarbeiter persönlich kannte. Er wusste um ihre Probleme und fühlte sich verantwortlich dafür. Jessica strebte ein Ende in Würde an. Sie würde dem Biest von Ehefrau am liebsten gar nichts überlassen. Ein bisschen was stand ihr zu, aber es musste doch einen Weg geben, die Firma zu retten. Das war Mister Knox sehr wichtig gewesen, bevor er aufgegeben hatte. Jessica war der letzte Strohhalm, an den er sich klammerte.

Samantha beobachtete schweigend die Anwältin eine kleine Weile. Sie sah zum Fenster hinaus und der Glanz war restlos aus ihren Augen gewichen. Sie schien wirklich ein Mensch mit Anstand zu sein. Vielleicht. Na ja, zumindest für eine Anwältin.

„Wie stehen die Chancen?“ fragte Samantha leise.

Jessica drehte sich wieder zu ihrer eigentlichen Gesprächspartnerin. „Schlecht. Seine Frau will ihn ruinieren. Sie will genau so viel haben, wie es braucht, um die Firma in den Boden stampfen zu müssen. Oder sie bekommt die Firma.“

„Miststück.“ grummelte Samantha.

„Ganz meine Meinung. Ihr macht die gesamte Buchhaltung, richtig?“

„Ja.“

„Ich brauch so viel du mir geben kannst.“

„Soll ich dir alle Belege der letzten zehn Jahre geben oder wie?“ fragte Samantha verwirrt. Allein dieser eine Kunde hatte einen eigenen Raum im Archivkeller bekommen. Papier über Papier.

„Nein.“ schmunzelte Jessica. „Bitte verschone mich. Ich hab nur eine Idee, mit der ich vor Gericht weiterkommen könnte. Ich weiß nur nicht, ob sie umsetzbar ist.“

„Und die wäre? Sag mir, was du brauchst. Ich hab keine Ahnung.“

„Und ich hab keine Ahnung, was du aus den Zahlen zaubern kannst.“

„Zaubern? Aus Zahlen? Alles. Ich dreh dir jede Buchhaltung so, dass es passt, und stell dir jede Statistik auf, die du brauchst.“

„Bestens.“ lächelte Jessica zufrieden. Sie schien Samantha bei ihrem Job genau an der richtigen Stelle getroffen zu haben. „Ich brauch den Verlauf der Gewinne. Am besten von Anfang an. Monatlich.“

„Oha. Das wird viel Papier, das sag ich dir gleich.“

„Mit Papier kann ich umgehen, nur mit diesem Biest nicht. Ich weiß, dass es am Anfang echt schlecht um die Firma stand und die Gewinne eher Verluste waren. Wenn ich Glück habe, kriege ich das abgezogen, um ihm ein paar Reserven zu lassen, aber ich brauch die Zahlen dazu. Und zwar wasserdicht. Wenn ich vor Gericht stehe und von irgendwas überrascht werde, lernst du persönlich die Anwältin kennen.“

„Autsch.“ lachte Samantha lautlos vor sich hin. „Keine Drohungen auf leeren Magen bitte.“

„Tut mir leid, ich fahr die Krallen wieder ein.“ lachte Jessica. „Aber mal ehrlich, kriegst du das hin?“

„Werde ich.“ Samantha starrte auf die Tischdecke und grübelte schon, wie sie das am besten anstellen sollte. Es war ja nicht so, dass man mal schnell auf einen Knopf drücken könnte und alles wäre da.

„Samantha?“ Sie sah auf und Jessica lächelte weich. „Kannst du mir einen Überblick über die ganze Geschäftszeit geben? So schnell wie möglich. Erst mal nur mir, damit ich was hab, woran ich ansetzen kann.“

„Ich sollte es also so aufstellen, dass du es verstehst?“ feixte Samantha frech.

Sie taute auf, dachte Jessica zufrieden. Sie reizte sie. Das gefiel ihr. „So in etwa. Jedes Wort, das ich nicht aussprechen kann, fliegt raus. Und jeder Begriff, den ich nicht erklären kann, fliegt raus. Ich will ihm wirklich helfen, aber das kann ich nur, wenn ich alles weiß, was du weißt, ohne wissen zu müssen, was du weißt.“

„Toller Satz.“ gluckste Samantha.

„Ich wusste, du würdest ihn dennoch verstehen. Wann kriegst du das hin?“

„Komm nachher mit und ich gebe dir einen Überblick. Aber ohne bunte Bildchen.“ konnte sie sich nicht verkneifen. Mit etwas mehr Zeit würde sie Statistiken und Übersichten inklusive Grafiken zusammenstellen, aber nicht auf Knopfdruck. Leider war das nicht mal einem Zahlenfreak möglich.

„Schade. Ich hatte auf viele bunte Blümchen gehofft.“

„So siehst du nicht aus.“

„Jetzt nicht.“ lächelte Jessica verständnisvoll. Auch sie hatte mal so versteckt gelebt. „Aber ich kann auch anders. Du bist nicht die einzige, die sich jeden Morgen eine falsche Identität überzieht.“

Diese persönliche Ebene gefiel Samantha nicht. Nicht in ihrem Jobleben. Nicht mit einer Anwältin. Sie fühlte sich angegriffen und musste sich beherrschen, nicht zu barsch zu werden. „Was ist so falsch daran?“

„Nichts.“ antwortete Jessica betont locker. Auf keinen Fall wollte sie noch einen richtigen Streit vom Zaun brechen. Sie brauchte Samantha als Buchhalterin ihres Klienten. Sie wollte aber auch die aufkeimende Freundschaft nicht mit Dingen zerstören, die nur auf Missverständnissen basierten. „Hab ich auch nie behauptet. Aber du hast mich erst mal zu deiner Feindin gemacht.“

„Nein, grundsätzlich wollte ich nur meinem Kunden helfen.“

„Und hast dich dafür sogar mit einer Anwältin getroffen. Ich fühle mich geehrt.“ neckte Jessica. Sie konnte nicht anders. Ja, sie spielte eine perfekte, geradlinige Anwältin, aber eigentlich war sie eine aufgedrehte Lesbe und fertig. Ihr gegenüber saß eine Frau von ihrem Ufer und es fiel ihr schwer, die Anwältin an der Oberfläche zu lassen. Und so, wie sich Samanthas Mimik entspannte, hatte sie das nun auch endlich verstanden.

„Schuldig.“ lachte sie. „Tut mir leid, ich hab was gegen diese Aasgeier.“ Wenn das ihr Chef gehört hätte...

„Dabei setzen wir uns immer nur für unsere Mandanten ein.“

„Aber nicht immer auf der richtigen Seite.“ präzisierte Samantha. Sie merkte nicht mal, wie sie in die Falle tappte.

„Aber auf jeder Seite steht ein Anwalt. Wäre es nicht unfair, eine Seite zu benachteiligen?“

„Wenn es die richtige Seite im Nachteil ist.“

„Und welche soll das sein? Jeder fühlt sich im Recht und wir Anwälte sind nur dafür da, um das nicht wie im Mittelalter durch Duelle auf Leben und Tod entscheiden zu lassen.“

„Wäre eine schnellere Lösung.“

„Und ich wäre arbeitslos.“ schoss Jessica sofort zurück und Samantha wurde spielend ernst.

„Na das geht natürlich nicht.“

„Danke.“ griente Jessica zufrieden. Immerhin ein Teilziel hatte sie erreicht. Die grundlegende Abneigung gegen Anwälte bröckelte.

Samantha musste zugeben, sie hatte verloren. Die schien echt gut zu sein. Ihre Argumentation war auf jeden Fall hieb- und stichfest. Samantha sah es irgendwie ein und respektierte zum ersten Mal das Dasein eines Anwalts. Einer unglaublich attraktiven Anwältin. Das war natürlich nur eine Nebensache, die sie kaum wahrnahm...

Das Essen wurde gebracht. Es sah lecker aus und roch noch besser.

„Du kennst den Koch?“ fragte Samantha, als sie das Besteck aufnahm.

„Ja, ein Freund von mir. Ich esse gern scharf und er weiß das auch. Das hier würde er nie einem Gast servieren.“

Samantha hob die Brauen und sah unsicher auf Jessicas Teller. Eigentlich sah es ganz normal aus, dachte sie. Sie hatte das auch schon gegessen und hatte es richtig gut gefunden. Das auf dem Teller gegenüber sah nicht anders aus. Weder viel schwarzer Pfeffer, noch roter Chili oder sonst was.

Jessica griente unauffällig vor sich hin und schnitt ein kleines Stück ihres Fleisches ab. Sie spießte es auf die Gabel und hielt es Samantha entgegen. „Keine Sorge, von mir erfährt keiner was. Versprochen.“

Diese Augen! Samantha sah diese liebevollen Augen, dazu ein wirklich warmes Lächeln, und konnte nicht widerstehen. Sie fühlte sich von dieser Frau angezogen, spürte ein unerklärliches Vertrauen in ihrem Herzen, überbrückte das kurze Stück und aß von ihrer Gabel. Sie hielt den Blick verlegengesenkt, im Gegensatz zu Jessica, die es sichtlich genoss, den vollen Lippen zuzusehen, wie sie sich um die Gabel schlossen. Ein wenig schüchtern und eindeutig auf der Hut, aber hinreißend und sinnlich.

Und dann riss sie die Augen auf. „Oh Gott.“ keuchte Samantha. Ihr ganzer Mundraum und Rachen standen in Flammen! Die kleinste Berührung mit dem Fleisch genügte, um einen verheerenden Waldbrand zu entfachen!

„Zu scharf für dich?“ grinste Jessica mit eindeutigem Flirt im Blick.

„Passt nicht ganz zu Traubensaft und süßem Wein.“ erwiderte Samantha schnell. Sie wollte nicht so direkt bestätigen, dass ihr diese Mahlzeit viel zu scharf war. Das Bekenntnis fühlte sich schon schlecht an, als sie es nur in ihrem Kopf hörte. Sie brauchte eine Erklärung für ihr unbeherrschtes Verhalten eben.

„Nicht ganz.“ lachte Jessica.

„Gott...“ Samantha hatte es endlich geschafft, es ohne Skandal hinterzukauen, und trank einen Schluck. Das machte es nicht besser, deshalb aß sie schnell von ihrem eigenen Teller. „Hast du überhaupt Geschmacksnerven?“ konnte sie sich nicht verkneifen. Wenn die immer so scharf aß, hatte sie wahrscheinlich sämtliche Geschmacksknospen schon weggeätzt.

„Ziemlich gute sogar. Die sind nur sehr verwöhnt.“

Nicht nur bei Jessica brach die Lesbe immer weiter durch, auch bei Samantha. Sie lächelte mit Augenaufschlag. „Genau wie du, nehme ich an.“

„Ziemlich.“ nickte Jessica sofort. „Ich weiß eben, was ich will.“

„Muss man in deinem Job vermutlich auch.“

„Oh ja.“ seufzte sie. „Vor allem zwischen den ganzen arroganten Kerlen.“

„Ist es wirklich so schlimm?“

„Man muss sich durchbeißen. Vor allem als geoutete Lesbe.“

„Glaub ich. Deswegen kommt das für mich nicht in Frage.“ gestand Samantha mit einem vertrauten Lächeln. Sie wusste nicht, wieso sie einer Fremden dieses Vertrauen entgegenbrachte, aber sie fühlte sich auch nicht schlecht damit. Nicht so wie vor dem Café, als sie sich noch gern selbst erhängt hätte. Sie glaubte wirklich, Jessica würde das für sich behalten.

„Ich bereue es nicht.“ sagte Jessica ebenso ernsthaft. „Ich weiß, dass ich mir den Respekt härter verdient habe als andere, aber er gehört mir, wie ich bin.“ Sie setzte doch noch ein neckendes Grinsen auf. „Und wenn ich dann auch noch das Glück habe, mit einer so schönen Frau so lecker essen gehen zu können, hab ich alles richtig gemacht.“

„Du gehst ganz schön ran.“ lachte Samantha verlegen.

„Warum auch nicht? Ich sage nur die Wahrheit. Ich fand dich heute Morgen schon sehr attraktiv.“

Kaum zu glauben, dachte Jessica, doch Samantha wurde tatsächlich rot. Ganz leicht, aber sichtbar. Hatte sie noch zuvor mit viel Selbstbewusstsein über Zahlen gesprochen oder am Anfang ihr Stillschweigen gefordert, war sie jetzt einfach nur verlegen.

„Wie süß.“ kicherte Jessica und nahm einen Schluck ihres Weines.

„Schluss jetzt.“ forderte Samantha. Wie peinlich! Sie fühlte sich wie ein umschwärmter Teenager. „Kommst du dann gleich mit?“

„Mit dem größten Vergnügen.“ schnurrte Jessica seidenweich wie ein verschmustes Kätzchen. Ihr Blick ließ aber eher auf einen wilden Tiger schließen.

„Für die Zahlen.“ betonte Samantha amüsiert. Jessica flirtete ganz offen mit ihr. Im Ritz. Zum Mittag! Geschäftsessen! Das hatte sie noch nie erlebt.

„Okay, ich bin ganz artig. Aber wenn wir nachher eh noch Zahlen kriegen, gibt es jetzt keine. Abgemacht?“

„Und was dann?“ Samantha wurde schon wieder verlegen. Sie mochte in den Szeneclubs andere Frauen treffen und auch mit ihnen flirten, aber das hier war neu. Absolutes Neuland. Zumal Jessica nicht mal aussah wie eine der Partyfrauen, die sie sonst so traf und abschleppte.

„Keine Ahnung, was hättest du denn gern?“ fragte Jessica unschuldig. Sie versuchte wenigstens, einen unschuldigen Eindruck zu machen.

„Wir könnten uns übers Wetter unterhalten.“ wollte Samantha wahrhaftig unschuldig ein unverfängliches Thema anfangen. Vergeblich. Es war unmöglich, wenn der Gegenüber es darauf anlegte.

„Heiß heute.“ griente Jessica. Irgendwie machte es sie unglaublich an, die Kleine aus der Fassung zu bringen.

Samantha steckte die Gabel wieder in ihren Mund, hielt Jessica aber mit ihrem Blick fest und schloss sinnlich die Lippen um das Metall. Es knisterte. Jessicas Blick als Reaktion war eindeutig. Und ja, auch Samantha wurde immer heißer. Deshalb ging sie auch drauf ein. „Ich würde es als glückliche Fügung bezeichnen, dass wir in einem Hotel sind, aber mein Chef wartet.“

Jessica hätte fast lauthals gelacht. Die konnte ja auch anders! „Wir hatten eben noch viel zu besprechen.“

„Und kommen hinterher trotzdem noch ins Büro? Nein, das glaubt der mir nie. Außerdem bin ich nicht der Typ für ein Hotelzimmer.“

„Sondern?“

„Etwas ausgefallener oder wenigstens persönlicher sollte es schon sein.“

„Gefällt mir.“ sagte Jessica und nahm lässig noch einen Bissen dieses Feuerfleischs. In Samanthas Rachen brannte es schon bei dem Anblick und der Erinnerung.

„Bist du eine gute Anwältin?“ fragte Samantha, um endlich ein jugendfreies Gespräch zustandezubekommen.

„Ich hoffe doch. Warum? Willst du deinen Chef verklagen?“

„Nein, eigentlich nicht. Eher meinen Bruder.“ Warum nicht die Gelegenheit beim Schopfe packen, wenn man schon mal einem netten Anwalt begegnete?

Jessica klappte die Kinnlade runter. „Deinen eigenen Bruder?“

„Geht das überhaupt?“

„Was hat er denn angestellt?“ Wollte sie das überhaupt so genau wissen, wenn Samantha ihn sogar verklagen wollte? Vermutlich nicht. Andererseits musste sie es wissen, um ihr helfen zu können, also wollte sie es vielleicht doch in gewisser Weise freiwillig wissen.

Samantha machte es kurz und schmerzlos. „Er hat mir meine ganze Wohnung ausgeräumt.“

Erneut wurden Jessica die Augen weit. „Dein eigener Bruder hat dir die Wohnung leergeräumt?“

„Hat er.“ nickte Samantha schulterzuckend. Inzwischen empfand sie nichts mehr dabei. Nicht mal mehr Wut über den Diebstahl. Ihr Bruder war für sie gestorben. Das einzige, das sie wirklich empfinden konnte, war der Wunsch, ihn dafür gerecht bestraft zu sehen. „Das Problem ist nur, dass er abgetaucht ist.“

„Na den finde ich schon, aber du solltest dir bewusst sein, dass ich das Wort Gnade nicht kenne.“

„Ist auch gut so. Er kam aus dem Knast und stand vor meiner Tür, weil er ein Bett brauchte. Sein Bewährungshelfer hat mich gebeten, ihn aufzunehmen und ihm die Chance zu geben, also hab ich es getan. Ein paar Tage später, nachdem er sich mit seinen Kumpels wieder getroffen hatte, kam ich von der Arbeit und meine Wohnung war leer. Komplett. Inklusive Gardinen, Klamotten, Möbeln, Geschirr, alles. Er hat nichts dagelassen. Nicht mal meine Fotoalben. Also ja, ich wäre froh, wenn er das Wort Gnade nicht kennenlernen müsste.“

„Oh man.“ schnaufte Jessica. „Anwaltlich kann ich dir auf jeden Fall helfen. Hast du Anzeige erstattet?“

„Sicher, aber da er verschwunden ist, hab ich ein Problem.“

„Sag mir seinen Namen und ich finde ihn.“ versprach Jessica. Sie dachte nicht mal weiter darüber nach. Allein der Gedanke, ein Bruder stiehlt seiner Schwester einfach alles … Auf keinen Fall würde sie das so stehenlassen. Sie würde Samantha helfen, an ihr Recht zu kommen. Und ihren Bruder zur gerechten Strafe führen!

„Also geht das? Auch wenn er mein Bruder ist und ich ihn ja reingelassen hab?“

„Sicher. Deswegen hast du ihm ja nicht das Recht über dein Eigentum gegeben.“

„Das klingt gut. Ich lasse mir das durch den Kopf gehen.“

„Meine Nummer hast du ja.“ schmunzelte Jessica.

„Hab ich.“

„Und ich deine.“

„Ach wirklich?“ staunte Samantha. Wieso hatte die auch ihre Nummer?

„Sicher. Dein Chef war so nett, mir deine Durchwahl aufzuschreiben.“

„Bestimmt die von Cindy.“

„Die mich durchstellt, wenn ich das will?“

„Wenn ich das will.“ betonte Samantha. „Nicht wenn du das willst.“

Jessicas Handy klingelte. Wie immer im unpassendsten Augenblick. „Entschuldige.“ bat sie hektisch und kramte es aus ihrer Tasche. Und in dem Moment, in dem sie den Knopf drückte, sah Samantha, wie sich die Maske vorschob. „Bennet.“

„Ich bin′s.“

„Pierre. Ich bin grad in einem Meeting.“

„Tut mir leid. Black will den Vergleich annehmen.“

„Nein!“ rief Jessica zornig. Beinahe hätte es das ganze Lokal gehört, daher dämpfte sie ihre Stimme, nicht aber ihre Wut. „Nein, nein und nein! Der soll die Finger davon lassen, das bringt dem doch nur Ärger.“

„Es gibt ein neues Angebot, das sie direkt zu ihm geschickt haben. Und so wie er das sagt, ist es gut.“

„Na ganz toll.“ stöhnte Jessica mehr als genervt. „Als erstes kriegt die Kanzlei schon mal Probleme mit mir, weil sie mich übergehen. Das mag ich gar nicht.“

„Ich weiß.“ kicherte Pierre. „Ich hab es schon geschrieben.“ Er durfte es nur nicht ohne Jessicas Anweisung verschicken...

„Na bestens. Und dann fahr am besten hin und nimm dem das Ding ab, bevor er unterschreiben kann. Der soll das durchziehen, es ist sein Recht.“

„Ich weiß. Ich mache los und sag dir Bescheid.“

„Geht klar, bis dann. Und keine Anrufe auf mein Handy heute.“

„Verstanden.“

Bestens, dachte Jessica und legte kopfschüttelnd auf. Manche Menschen waren ihr ein Rätsel. Die verzichten blind auf ihre Rechte, nur weil da eine große Summe winkt. Im Vergleich zu dem, was ihnen tatsächlich zusteht, ist die Summe vielleicht nicht mal so hoch, aber eben im Vergleich zu ihren bisherigen Mitteln. Verdient jemand im Job pauschal 1.000 Dollar monatlich, sind 50.000 Dollar eine Menge Geld. Aber eben nicht im Vergleich zu 1,5 Millionen Dollar, die ihm zustehen würden. Dafür müsste man nur die Kraft haben, sich dem Kampf zu stellen. Nicht jeder hat die Kraft, aber manchen sind die Zahlen auch zu utopisch, um an ein gutes Ende zu glauben.

„Tut mir leid.“ lächelte Jessica verlegen zu Samantha.

„Kein Problem, ich kenne das, deshalb hab ich mein Handy gar nicht erst mitgenommen.“

„Da würde ich mich nackt fühlen und Pierre mich erschießen oder einen Suchtrupp losschicken.“

Samantha lachte auf. „Ich hab es eben aus Versehen vergessen. Passiert. Cindy kümmert sich darum.“

Die beiden plauderten noch gemütlich, bis Samantha dann die Rechnung übernahm und sie gemeinsam das Ritz verließen. Die Hektik schlug bei beiden wie automatisch zu, als sie auf die Straße traten. Sie beschleunigten die Schritte und schlängelten sich durch die Heerscharen von Menschen, als wären sie auf der Flucht. Das bekamen sie selbst nicht mal mit, es war eben ihre Art. Und da keine von beiden zurückfiel, war es kein Wunder, dass auch keiner auffiel, wie sie selbst schneller wurde.

„Kaffee?“ fragte Samantha, als sie aus dem Fahrstuhl stiegen.

„Den ganzen Tag am liebsten.“

„Ich auch.“ gestand Samantha und öffnete die Tür zu ihrem Vorzimmer. „Cindy, ich brauch einen Zugang in der Eins und jede Menge Kaffee.“

„Sollst du haben.“

Jessica war schon in vielen fremden Büros gewesen, doch hier war es irgendwie anders. Sie wusste nicht mal so genau, was es war, aber sie hatte Samantha anders kennengelernt, als sie hier war. Erst in dem Café und anfangs beim Mittag hatte sie eine schüchterne Lesbe kennengelernt, hatte sie durchaus zu knacken gewusst und Samantha war aus sich heraus gekommen. Aber hier … In ihrer gewohnten Umgebung, war sie das gestandene Selbstbewusstsein. Sie forderte und bekam. Und sie wurde nicht nur respektiert, sondern auch gebraucht.

„Sam!“ rief ein junger Mann schon von weitem. Er kam gleich zu ihr gestürzt und stolperte noch beinahe über einen Papierkorb, der ihm im Weg stand.

„Tief durchatmen, Steve.“

„Keine Zeit. Ich warte schon die ganze Zeit auf dich, weil du dein Handy ja mal wieder nicht bei dir hattest. Du musst dir was ansehen.“

„Muss das gleich sein?“

„Ja.“ entschied er sofort. Er ließ nicht den kleinsten Zweifel offen, dass es wirklich wichtig war. Samantha kannte ihre Leute und wusste, er hätte nicht so darauf gedrängt, obwohl Jessica neben ihr stand, wenn es nicht absolut unaufschiebbar gewesen wäre. Vielleicht hätte sie ihr Handy doch mitnehmen sollen.

Samantha wandte sich wieder an Jessica. „Tut mir leid, bin gleich wieder da.“

„Keine Panik.“ lächelte Jessica und ließ Samantha gehen. Sie folgte ihr allerdings und sah von der Tür aus ins Büro von Steve.

„Hier.“ sagte er hektisch und deutete auf seinen Bildschirm. „Kannst du mir das mal erklären?“

„Verfluchte Scheiße, wie ist das denn möglich?!“ Samantha starrte mit offenem Mund auf den Bildschirm.

„Keine Ahnung, aber ich weiß nicht, wie ich das buchen soll und was mit dem Rest ist. Oder soll ich nutzen, was noch da ist?“

„Nein, warte noch kurz.“ Samantha hob den Kopf. Sie hatte Jessica mitbekommen. „Wusstest du, dass die Konten wieder freigegeben wurden? Es wurden gerade drei Millionen abgebucht.“

„Was?!“ keifte Jessica entsetzt und stürzte in das Zimmer. Auch sie sah auf den Bildschirm, erkannte nur nicht viel. „Wo?“

„Nicht fragen, ist so. Wieso? Und wie sollen wir die verbuchen, wenn die einfach so ohne Beleg verschwinden?“

„Wo sind sie denn hingegangen?“

„Cooper KG.“ antwortete Steve schnell. Er hatte das ja schon nachgesehen. Auf dem Bildschirm sah Jessica nur jede Menge Zahlen.

„Die gibt es aber nicht mehr.“ fuhr Samantha fort. „Die haben schon vor einem Jahr geschlossen. Knox hat sich damals einen neuen Lieferanten gesucht.“

„Das darf doch alles nicht wahr sein.“ fluchte Jessica und hielt sich ihr Telefon schon wieder ans Ohr.

„Hey.“ ging Pierre an. In seinen Händen hielt er endlich den Vergleich von Black. Ohne Unterschrift!