Die Alchemie des Träumens - Iva Moor - E-Book

Die Alchemie des Träumens E-Book

Iva Moor

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Beschreibung

New York - 1948 Nachdem die kaltschnäuzige Hexenreporterin Moira Bran von ihrer Zeitung gefeuert wird, sitzt sie als Lebendfutter für Vampire in einem illegalen Bluthaus fest. Unerwartete Hilfe bekommt sie von Sova Skorpin, einer Dämonin, die Träume stiehlt und als Droge auf dem Schwarzmarkt verkauft. Sie befreit Moira aus dem Bluthaus – allerdings nicht aus Nächstenliebe. Für den Dämonenclan soll Moira vermisste Traumjäger aufspüren, die mutmaßlich entführt wurden. So sucht Moira bald gleichzeitig nach den Vermissten und einem Schlupfloch aus ihrem unfreiwilligen Pakt. Denn ein Deal mit Dämonen kann nur tödlich enden, oder?

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Die Alchemie des Träumens
Impressum
Content Notes
Über die Autorin
Prolog
1. Schlecht fürs Geschäft
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2. Schlaflied
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3. Blut und Träume
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4. Ehrenschulden
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5. Der Traummarkt
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6. Emon im Schrank
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7. Fort Nook
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8. Der Elefant im Raum
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9. Raubtierfütterung
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10. Die Akte Fonda
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11. Der Wolf, der Kreide fraß
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12. Schattenspiel
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13. Schlangengrube
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14. Seelennacht
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15. Im Kreis
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16. Doctor Sleep
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17. Böses Blut
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18. Zähne und Klauen
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19. Paradiesseits
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20. Leichen im Keller
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21. Ass im Ärmel, Messer im Rücken
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22. Plan C
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23. Auf der anderen Seite
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24. Resteessen
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25. Die Alchemie des Träumens
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26. Rot sehen
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27. Ein Artikel verschwindet
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New York Paranormal Gazette
Epilog: Zwischen den Schlagzeilen
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Danksagung
Mehr

Iva Moor

Die Alchemie des Träumens

Impressum

Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.

Copyright © 2022 Art Skript Phantastik Verlag

1. Auflage 2022

Art Skript Phantastik Verlag | Salach

Lektorat » Melanie Vogltanz | lektoratvogltanz.wordpress.com

Sensitiviry Reading bezüglich

Rassismus und Darstellung von BIPoC » Nora Bendzko

Darstellung von Transgeschlechtlichtkeit » Alexandra Boisen

Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Druck » BookPress

www.bookpress.eu

ISBN » 978-3-949880-00-1

Auch als eBook erhältlich

Der Verlag im Internet

» www.artskriptphantastik.de

Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Content Notes

Auf dem Traummarkt und in New Yorks magischer Unterwelt geschehen nicht nur wunderliche, sondern auch grausame Dinge. Damit du bewusst entscheiden kannst, wann und wie weit du in diese Welt eintauchen möchtest, hat die Traummarkt-Security eine Liste der sensiblen Themen erstellt, die dir in diesem Buch begegnen.

Alkohol

Blut

Diebstahl

Drogenkonsum (freiwilliger & erzwungener)

Einbruch

Erbrechen

Erpressung

Entführung

Feuer, Verbrennung

Folter

Fragwürdige Tierhaltung

Gefangenschaft, in Verbindung mit unfreiwilligem Drogenkonsum

Gefängnis & Haft (erwähnt)

Gewalt gegen Erwachsene (explizit), Gewalt gegen Tiere

Halluzinationen

Häutung (erwähnt)

Kannibalismus (impliziert)

Körperhorror

Krankheit / chronische Krankheit

Krieg (erwähnt)

Menschenexperimente

Misogynie

Misshandlung (erwähnt)

Nadeln & Spritzen

Nikotin / Rauchen

Panikattacke

Parasiten

Posttraumatische Belastungsstörung

Alltagsrassismus und Mikroaggressionen

Selbstverletzung

Sex (erwähnt)

Sexuelle Belästigung

Suizidalität/Suizidversuch (erwähnt)

Tod

Trauma

Gewaltsamer Überfall

Übergriffigkeit (körperlich, z.T. sexuell interpretierbar)

Vergiftung

Waffen (Schusswaffen, Messer)

Über die Autorin

Iva Moor, 1990 im Siegerland geboren, ist Autorin und Musikerin und wohnt mit Frau und Katern in einem Hexenhäuschen am Waldrand. In ihren Geschichten zieht es sie meist in phantastische Gefilde – dorthin, wo es düster & hoffnungsvoll ist und wo Trostblumen aus schmerzhafter Schönheit wachsen. Wenn sie nicht gerade ihre Seele im Online Marketing-Brotjob verkauft, rennt sie durch den Wald, singt Metal und Musical, tanzt und braut Naturparfüms (allerdings nicht alles gleichzeitig – im Multitasking ist sie mies).

Besucht sie gerne auf Twitter (@silbenalchemie)

und Instagram (@iva.moor).

Für alle, die träumen.

Für alle, die sich fragen, wohin die Träume verschwinden,

an die sie sich morgens nicht mehr erinnern.

Und für Sabrina, mit deren wilden Träumen alles angefangen hat.

I’ve always been a hunter - nothing on my tail

But there was something in you I knew could make that change

To capture a predator, you can’t remain the prey

You have to become an equal in every way

So look in the mirror and tell me, who do you see?

Is it still you? Or is it me?

Become the beast - we don’t have to hide

Do I terrify you or do you feel alive?

Do you feel the hunger, does it howl inside?

Does it terrify you? Or do you feel alive?

— Karliene Reynolds

I’ve said farewell to the blue heart

And my world will slowly lose its colours

But my world can’t shrink to hunger

I won’t give up on the light

My safety nets are cutting in

I cannot run from everything

Golden wings glow bright within - Dreams on the horizon

Now that I have come so far

I leave my shadows where they are

Dreams on fire, velvet poison - Bring me that horizon

— Sova Skorpin

Prolog

Der Mann auf dem Boden wand sich im Schlaf. Er merkte nichts von den langen Fingern, die in seinem Haar wühlten. Er hörte auch nicht das heisere Wiegenlied, das ihn in die tiefen Gewässer seiner Träume hinunterzerrte, wann immer er versuchte, aufzutauchen.

Die Finger in seinem Haar tasteten tiefer, unter die Kopfhaut, fühlten nach den Fäden – nur auf die Fäden kam es an. Meg registrierte, wie das jähe Glimmen ihrer eigenen Augen die fahle Haut des Mannes rot scheinen ließ. Als sie endlich die Hände zurückzog, klebten die Fäden an ihren Fingern – dünn, matt, schimmernd. Die Motten flatterten darüber und verteilten aufgeregt ihren Goldstaub, doch Meg krauste unzufrieden die Stirn. Keine gute Nacht. Nur Kauderwelsch. Zu schwach. Sie verscheuchte die nutzlosen Motten, setzte sich rittlings auf ihren Gast und legte die Hände um seine Kehle.

Das Schlaflied verstummte. Ihr Gast riss die Augen auf, panisch, verzweifelt, seine Muskeln spannten sich an, dass sich die frischen Narben unter seinen Fesseln abmalten.

»Sing weiter.« Megs Stimme verlor sich in dem feuchten Kellerraum.

»Er hat doch Angst, Mama.« Ihre älteste Tochter kauerte neben ihr, eine magere Achtjährige mit großen Augen, langem, schwarzem Flechtzopf und heiserer Stimme. Manchmal wünschte Meg, sie wäre ein bisschen mehr wie ihre kleine Schwester, die zur Linken des Mannes hockte, ihn neugierig beobachtete und niemals mit diesem vorwurfsvollen Ton sprach. »Mama, bitte, tu ihm nicht -«

»Sing weiter!« Megs Worte schlüpften in die Melodie, die ihre Tochter soeben fallen gelassen hatte. Prompt wurden die Lider des Mannes wieder schwer, sein Atem ruhiger. »Durch Zaudern lernst du nicht, also sing!«

Und ihre Erstgeborene gehorchte mit zittriger Stimme. Die Augäpfel des Mannes rollten unter geschlossenen Lidern. Wenig später träumte er wieder – wild diesmal. Sein schmutziger Hals verspannte unter Megs Händen, seine Arme zuckten, doch die Fesseln hielten ihn an Ort und Stelle. Undankbares Menschlein. Sie hatte ihn von der Straße geholt, dafür erwartete sie nur, dass er stillhielt, wenn’s drauf ankam. Er röchelte, gurgelte in seinen Knebel, kämpfte gegen Megs Hände und gegen den Schlaf, doch das Lied hielt ihn in der Schwärze.

Meg hörte auf, ihn zu würgen, führte stattdessen eine scharfe Klinge an seine Kehle. Ein dünnes Rinnsal lief seinen Hals entlang. Nicht lebensbedrohlich, gerade tief genug. Er wimmerte. Erbärmlich. Doch als Meg nun ihre Finger in sein fettiges Haar schob, waren die Fäden sattgolden, üppiger, lebendiger. Eine ausgewogene Mischung aus Angst- und Sexträumen. So sollte es sein. Lächelnd zog Meg alles heraus – lebendige Fäden, die sie zu kleinen Spulen spann und ihrer Jüngsten in die Hand gab.

Unter dem Flattern der Motten sang ihre Älteste, bis Meg den zitternden Mann losließ. Als das Lied starb, riss ihr Gast die Augen auf und starrte katatonisch an die Kellerdecke. Meg strich ihren Töchtern über die Köpfe und schob jeder von ihnen eine Fadenspule in den Mund. »Fühlt ihr, wie reichhaltig sie jetzt sind?«

Ihre Jüngste kaute auf den Fäden herum, schluckte und nickte eifrig. Ihre Augen glommen genauso scharlachrot wie Megs eigene. Der Blick der Großen zuckte zwischen dem Gast und den Traumfäden hin und her.

Meg musterte den Mann. Er war dünn geworden, und krank. Träumte fast nur noch wirr, wenn man nicht tüchtig nachhalf. »Ich glaube, es ist Zeit, dass wir uns einen neuen Gast ins Haus holen, Kinder. Was meint ihr?«

1. Schlecht fürs Geschäft

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23. Juli 1948, 22 Uhr, New York City, am Rande von China Town

Der Gestank von Qualm und verbranntem Papier fraß sich durch die Madison Street, während die Feuerwehrleute oben in den Redaktionsräumen der Paranormal Gazette nach dem Brandherd suchten. Währenddessen zog Moira Bran unten auf dem Bordstein an ihrer Zigarette, inhalierte tief und drückte die Handtasche mit ihren Aufzeichnungen an sich, während ihre Kollegen auf dem Bürgersteig zusammenrückten und einen Flachmann herumreichten.

»Ich versteh das nicht«, schimpfte Franziska Goldenblatt, eine hochgewachsene Hexe Mitte fünfzig und ihres Zeichens Herrin der Bildredaktion. »Wer wirft denn einen Molotov-Cocktail in den dritten Stock?«

»Wir haben doch noch Glück gehabt«, meinte Paul Yang vom Lokalteil mit seinem unerschütterlichen Optimismus. »Hoffen wir bloß, dass niemand davon Wind bekommt, sonst sind wir die Lachnummer der Sub Side. Wie viele Magier braucht es, ein Feuer zu löschen? Achtzehn. Ha-ha-ha.«

Kollektiv blickte die Belegschaft über die Straße, zu der Ecke auf der anderen Seite der Madison Street, wo die Sub Side begann – jene Nische, in der sich New Yorks magische Parallelgesellschaft eingenistet hatte, gut verborgen von Menschenaugen und in der Regel ohne heimtückische Brandanschläge. Warum die Gazette nicht in der Sub Side lag? Nun, das fragten sich die Mitarbeiter gerade ebenfalls.

»Dann lachen sie wenigstens ausnahmsweise nicht darüber, dass wir alle ein menschliches Elternteil haben«, meinte Rose Vesna, pragmatisch wie immer.

»Das ist nicht witzig!« Fahrig wischte sich Tony Porter vom Sport über die schweißnasse Stirn. »Wir sind das kleinste Käseblatt der Sub Side! Warum schmeißt uns jemand Bomben in die Redaktion?«

»Na, wer war denn letztes Mal schuld, als man uns was durchs Fenster geschossen hat?«, grunzte Daniel Wessex aus dem Wirtschaftsressort.

Sämtliche Blicke richteten sich auf Moira, die erneut schweigend an ihrer Zigarette zog.

»Wem bist du diesmal auf den Schlips getreten, Bran?« Raphael Garcia aus der Werbeabteilung kniff die Augen zu wütenden Schlitzen zusammen. »Ist es das wert?«

»Meine Storys sind es immer wert«, erwiderte Moira und trat ihre Zigarette mit dem Stiefelabsatz aus. Während ihre Kollegen grummelnd die Köpfe zusammensteckten, trat sie vorsichtig an den Hauseingang und zog ihr Pendel aus der Tasche. Etliche Schuhabdrücke malten sich auf den Treppenstufen ab, es roch nach Mensch, nach Magiern … und etwas anderem. Das Kupferpendel rotierte einige Male an der feinen Silberkette, zuckte nach links und rechts, bevor es eine ausladende Acht beschrieb – wieder und wieder.

Moira lachte leise und wischte sich die kastanienbraunen Krauslocken aus den Augen. »Oh, Greg, Greg, Greg.«

»Was gibt es bitte jetzt noch zu lachen?«

Charles Sweeney, Chefredakteur der Gazette, erschien neben ihr. Seine Brille saß schief unter dem zerrupften Blondhaar, das Smaragdamulett an seinem Gürtel leuchtete noch schwach von seinem erfolglosen Löschzauber.

Moira packte ihr Pendel fort. »Das waren Untote. Die treiben sich sonst nie hier herum. Jetzt wissen wir auch, warum sich die Polizei nicht blicken lässt: Die armen Menschlein haben Angst um ihre Hälse.«

Charlies Gesichtsfarbe nahm unvorteilhafte Ähnlichkeit mit verdorbenem Magerquark an. »Willst du etwa sagen, das hier war McGowan?«

»Nicht persönlich, aber er hat ja genug Handlanger. Und wie vielen untoten Senatoren pinkeln wir aktuell sonst ans Bein?«

»Du pinkelst ihm ans Bein, Bran! Blas die Sache ab! Die Geschichte ist zu heiß!«

»Im wahrsten Sinne des Wortes, was?« Moira nickte nach oben. Über ihnen verloren sich die Rauchwolken im New Yorker Sommernachtshimmel. »Er wird nervös, Charlie.«

»Richtig – und nervöse Raubtiere reizt man nicht weiter!« Ruppig wischte sich Charlie das rußige Haar aus der Stirn. »Mein Leben war so viel leichter, als du noch fürs Kulturressort geschrieben hast!«

»Mein Bankkonto auch.« Mit glänzenden Augen beugte Moira sich zu ihm vor. »Die Story ist Gold wert, Charlie! Skandal: Vampir-Senator McGowan verkauft magische Metadrogen ins Menschen-Rotlichtmilieu. Die Leute werden uns die Zeitung aus der Hand reißen, so kurz vor dem Wahlkampf!«

»Ja, und Greg McGowan hetzt uns seine Langzahn-Lakaien auf den Hals«, zischte Charlie zurück. Er packte Moira an den Schultern und drehte sie so, dass sie ihre Kollegen anschaute: Zwei Dutzend verstörte Magier, die sich ängstlich auf dem Gehsteig zusammenscharten und sich vermutlich zum ersten Mal wünschten, sie wären vollständige Menschen. Bei denen gab sich die Polizei wenigstens gelegentlich Mühe. »McGowan weiß nicht, wer von uns den Artikel schreibt«, flüsterte Charlie. »Er hat scheinbar kein Problem damit, die ganze Redaktion umzulegen, um ihn zu verhindern! Und du willst trotzdem weitermachen?«

»In den schönen Vereinigten Staaten von Amerika herrscht meines Wissens Pressefreiheit«, flötete Moira. »Die Sub Side hat ein Recht darauf, zu erfahren, was unser guter Senator mit diesen Menschenprostituierten anstellt.«

»Die Menschenprostituierten sind dir scheißegal«, fauchte Charlie. »Dir geht es um die Kohle, wie immer!«

»Na ja, die Story ist meine halbe Monatsmiete.« Ernüchtert verschränkte Moira die Arme. »Und dir sind die Frauen noch viel egaler als mir, Charlie, sonst würden wir diese Unterhaltung nicht führen.« Sie bot ihm die Zigarettenschachtel an. Als er ablehnte, zuckte sie mit den Schultern. »Du weißt, dass die Geschichte gut ist. Also, wie wär’s, wenn wir uns diese Diskussion sparen und du mich zu meinem Elf-Uhr-Termin fahren lässt?«

»Warum zum Hugo hast du so spät noch einen Termin?« Misstrauisch kniff Charlie die Augen zusammen.

»Stippvisite bei der Polizei, die uns das letzte Puzzleteil bringt«, antwortete Moira. »Wenn alles gut geht, können wir morgen Abend drucken. Wenn alles richtig gut geht, tritt Greg McGowan übermorgen aus dem Sub Side-Senat zurück, und wenn es spitzenmäßig läuft, winkt uns für die Story ein Argus-Preis. Und mir ein dicker Bonus.« Sie zwinkerte.

Charlie biss sich auf die Unterlippe. »Okay, dann mach«, sagte er zögerlich. »Aber arbeite sauber, Bran. Ich leiere keine schmutzigen Storys mehr beim Boss an.«

»Die Storys hier sind alle schmutzig, Charlie«, erwiderte Moira trocken. »Und die Leute lieben schmutzige Geschichten. Das ist der einzige Grund, warum wir noch im Geschäft sind.«

Damit schulterte sie ihre Tasche und verschwand in der Freitagnacht.

-2-

»Ich frage ein letztes Mal, Ryan. Wo sind die echten Protokolle?«

»Ich sagte es Ihnen doch, Miss Bran: Sie haben die echten Protokolle bereits letzte Woche gelesen! Viermal!« Officer Ryan schwitzte, obwohl dieser Juli nicht gerade mit Höchsttemperaturen glänzte. »Ich weiß nicht, was Sie für ein Problem mit Senator McGowan haben, Lady! Der Mann ist sauber! Hat eine blütenweiße Weste!«

»Männer mit Blut an den Händen ziehen sich gerne weiße Westen an«, erwiderte Moira. »Die Protokolle sind gefälscht, Officer. Magisch gefälscht, und das wissen Sie.«

»Und wenn ich Ihnen weiter widerspreche, verwandeln Sie mich in eine Kröte?« Trotzig schob Officer Ryan das Kinn vor. Er war ein stämmiger Mensch Ende vierzig, der sich seine Polizeikarriere sicher anders vorgestellt hatte. Al Capone jagen, die Russenmafia hochgehen lassen, etwas in der Art, aber sicher nicht, dass er eine ganze magische Subkultur vor den braven New Yorkern geheim halten sollte. Seit drei Jahren kümmerte sich eine Spezialeinheit beim NYPD um die unschönen Fälle, in denen menschliche Mitbürger auf beiß- und fluchwütige Übernatürliche trafen – eine undankbare Aufgabe.

»Nicht doch, Officer.« Mit einem schiefen Lächeln beugte Moira sich vor. »Ich bin nicht diejenige, vor der Sie Angst haben müssen. Eher die Vampire, mit denen Sie samstagabends so gerne einen trinken.«

Ryan wurde noch blasser, erwiderte ihren Blick jedoch weiterhin stur. »Ich hab keine Angst vor Vampiren!«

»Sollten Sie aber. Nur törichte Leute fürchten sich nicht vor Vampiren. Und Sie …« Moira trat dicht an ihn heran und zupfte mit spitzen Fingern den Kragen seines Diensthemdes zur Seite. »Sie scheinen törichter, als die Polizei erlaubt, Ryan. Wie erklären Sie Ihrer Frau eigentlich Ihre kleinen Trophäen?«

Auf seinem Hals bebten zahllose blasse Narben, fein wie Nadelstiche, als Officer Ryan hektisch schluckte. »Das geht Sie einen Scheiß an, Hexe!«

»Da haben Sie natürlich recht, Sir«, bekräftigte Moira. »Ihre Ehe ist reine Privatsache. Aber weiß Lieutenant Malone, wie nah Sie Ihrem Klientel bei der Streife kommen?«

Sie zog eine kleine Glasmurmel aus der Manteltasche und rollte sie auf den Tisch. Im nächsten Moment flackerten Bilder über die Raufasertapete. Officer Ryan, noch in voller Uniform, in den Armen zweier lebender Vampire, die abwechselnd ihre beeindruckend weißen Fangzähne in seinen Hals gleiten ließen. Ryan schloss genießerisch die Augen; ein Haufen untoter Vampire an der Theke schaute milde interessiert zu.

»Der Eckzahn ist eine der beliebtesten Blutbars der Sub Side«, sagte Moira leise, während Ryan mit offenem Mund die Bilder anstarrte. »Wie lange, dachten Sie, bleibt es geheim, dass Sie sich vom Geschäftsführer für Ihr Schweigen bezahlen lassen? Wie lange ist seine Blutlizenz jetzt schon abgelaufen? Und dachten Sie wirklich, Sie können verbergen, dass Sie statt Geld inzwischen lieber andere Annehmlichkeiten einfordern?«

Auf den Bildern an der Wand stöhnte Ryan ekstatisch auf, während sein Blut in die Münder der Vampire sickerte. Der echte Officer Ryan dagegen streckte die Hand nach der Glasmurmel aus, doch Moira schnappte sie und hielt sie aus seiner Reichweite.

»Ah, Sie glauben doch nicht, dass der Betreiber des Eckzahns mir seine echten Echoaugen gibt? Das ist eine Kopie.« Mit geschürzten Lippen ließ Moira das Echoauge zurück in ihre Tasche gleiten. »Und als brave Bürgerin ist es natürlich meine Pflicht, Lieutenant Malone darüber aufzuklären, was seine Officers auf Streife so treiben.«

»Das können Sie nicht machen!« Ryan packte sie an den Schultern. »Ich verliere meinen Job!«

»Müssen Sie ja nicht.« Moira lächelte ihn freundlich an, entfernte jedoch rigoros seine schwitzenden Finger von ihrer Bluse. »Geben Sie mir die echten Protokolle aus dem Verhör der Bowery-Mädchen und ich lasse Sie in Ruhe. Oder liegt Ihnen Senator McGowan so sehr am Herzen, dass Sie für ihn Ihren Job riskieren würden? Ganz zu schweigen von Ihrer Ehe?«

Officer Ryan grunzte widerwillig, doch der Mann war klug. Er wusste, wann man Gelegenheiten ergriff.

***

Die echten Protokolle waren besser als alles, was sich Moira erhofft hatte. Keine neuen Indizien für die Spurensuche, sondern das Ende der Beweiskette. Schwarz auf weiß. Fünf Zeugen bestätigten, dass der saubere Gregory McGowan sechs menschlichen Prostituierten magische Metadrogen verabreicht hatte, um sie als Leckerbissen an Unterstützer seiner Wahlkampagne zu verschenken. Wenige Tage später versetzte die Titelstory der Paranormal Gazette die Sub Side in Aufruhr. Greg McGowan ließ seinen Rücktritt aus dem Sub Side-Senat verkünden, während die nervösen menschlichen Polizisten ihn in Gewahrsam nahmen. Die vampirische Prosper-Partei distanzierte sich mit geheuchelter Empörung von ihrem untoten Spitzenkandidaten.

Und Moira? Moira freute sich über ihren Bonus. Es zahlte sich aus, die Story des Jahres zu liefern.

-3-

Eine Woche später:

6. August 1948, 21:24. New York City, Sub Side

Der Schwarzmarkt im hinterletzten Winkel der Sub Side brodelte. Eine Bande Leprechauns prügelte sich mit zwei Satyrn um Wetteinsätze, eine Rothexe drohte soeben, einen Kunden zu vergiften, wenn er seinen Liebestrank nicht bezahlen wollte, und ein Kobold stritt lauthals mit einer Dryade über den Preis von Arsen. Eine angetrunkene Banshee warf mit einem Weinkrug um sich, doch Moira zuckte längst nicht mehr zusammen, wenn neben ihrem Kopf Glas zerschellte. Eine Stadt, die niemals schläft, dreht irgendwann durch. Das hielt Moira nicht davon ab, weiterhin Larry Drew niederzustarren.

»Jetzt schau ihn dir wenigstens an«, sagte Moira ungeduldig und blies ihm Zigarettenqualm ins Gesicht.

»Keine Zeit.« Hinter seinem Stand voller Greifen-Käfige und Eisdrachen-Terrarien verschränkte der rattengesichtige Larry seine tätowierten Ärmchen. »Ich bin ein vielbeschäftigter Mann, wenn du verstehst, was ich meine.«

Moira trat ihre Zigarette aus und schob das Schraubglas mit dem löchrigen Deckel über den Tresen. Es rutschte gut auf der Fünfzig-Dollar-Note; das kleine Viech im Inneren zischte unleidlich. »Ach, Larry, ich bin mir sicher, dass du ein paar Minuten freischaufeln kannst.«

»Ein Emon, sagst du, ja? Soso.« Das Geld wanderte in Larrys Gesäßtasche; das Glas dagegen ließ er beinahe fallen, als er die skurrile Mischung aus Mini-Waschbär und Satan darin entdeckte. »Meine Fresse! Der ist ja noch taufrisch! Wie lange ist der aus dem Wirt raus?«

»Dachte mir doch, dass du dich freust.« Moira schenkte ihm ein schiefes Lächeln.

»Komma rum. Das gucken wir uns in Ruhe an.«

Moira folgte ihm in das winzige Zelt hinter den Käfigen, in denen Larry Baby-Phönixe und Zwerg-Greife feilbot. Das ganze Zelt stank nach rohem Fleisch, Eulenkot und schalem Bier. In den Glaskästen wimmelte es von giftigen Fröschen; Mehrschweine, Silberfüchse und Echte Goldhamster scharrten in zu kleinen Käfigen. Natürlich alles illegal, sowohl die Tiere als auch die fragwürdige Haltung.

Larry begutachtete das Glas mit dem Emon. Er setzte dazu an, den Deckel abzuschrauben, hob aber dann den Kopf.

»Ziehste mal eben ’nen Schutzkreis?«

»Sorry, nicht meine Spielwiese«, erwiderte Moira knapp.

»Ach, pardon, ich vergaß – Halbhexe!« Mit einem abfälligen Kichern fischte Larry ein Stück Salzkreide aus der Hosentasche und begann, Symbole auf die Zeltplane zu kritzeln. »Irgendwie landen alle Deppen mit menschlichen Mums und Dads bei der Gazette, was?«

»Macht eben mehr Spaß als eine Schwarzmarktkarriere«, schoss Moira zurück und schraubte ein breites Lächeln auf ihre Lippen, als Larry nach oben schielte, um zu sehen, ob die Worte auf fruchtbaren Boden fielen. Es war ja nicht so, dass sie keine Schutzkreise ziehen konnte. Sie taugten bloß nicht viel.

Ein transparentes Flimmern loderte über Larrys Kreidelinien; der Laubgeruch von grüner Magie stach durch den Gestank aus den Käfigen.

Der junge Emon wand sich, als Larry seinen flauschigen Körper in das Neonlicht des Zelts beförderte. Das Jungtier war kleiner als ein Pingpong-Ball, Hörnerstumpen ragten aus dem wolligen Kopf, der Zackenschwanz peitschte, war jedoch noch zu weich, um jemanden zu verletzen. Quäkend streckte der Emon seine gespaltene Zunge heraus.

»Wo hast’n den aufgegriffen, Bran? Die sind doch meist unsichtbar!«

»Im Kindergarten meiner Nichte.« Moira strich ihren Rock glatt und beugte sich vor. »Er und seine Geschwister-Meute haben sich in den Kindern eingenistet. Sind erst vorgestern entdeckt worden. Die Kinder waren sechs Wochen lang erst völlig drüber, dann lethargisch. Kein Wunder, wenn magische Parasiten dir dein Lachen und deine Wutausbrüche und dein Staunen über Blumen und die Traurigkeit über die tote Katze erst aufblähen, dass alles dreimal so intensiv ist, und dann alles wegfressen, bis nichts mehr übrigbleibt.«

»Tragisch, tragisch.« Larry spähte in das zahnlose Maul des Emons, der ihn feindselig anstierte. Zweifelsohne hätte er Larrys Neugier und Moiras Erregung gern mit der Zunge aufgesogen, aber zum Jagen war er noch zu klein. »Sind halt Gefühls-Parasiten, was erwartest du? Willst du etwa jeden Fuchsbandwurm zu ‘ner Story aufblähen?«

»Wenn der Fuchsbandwurm eine Signatur hat, ja.«

»Signatur?« Larry blähte die Backen. »Willst du sagen, jemand züchtet Emonen? Das ist illegal!«

»Das hat noch nie jemanden aufgehalten.« Mit der Schuhspitze streichelte Moira die Basilisken-Eier auf dem Boden, die mindestens genauso illegal waren. »Ja, jemand züchtet Emonen. Und benutzt Kinder als Brutstätte. Sagt dir die Signatur was?« Sie klaubte das weiche Fell zwischen den Hörnern des Emons auseinander und legte feine Hieroglyphen frei.

Mit schmalen Augen studierte Larry die Brandmarkierung. »Das is‘ Professor Shaw.«

»Professor Penelope Shaw?”, spezifizierte Moira überrascht. »Von der zoologischen Fakultät der Abraxas-Akademie?« Als Larry nickte, zog sie eilig ihr Notizheft hervor. »Die gute Professor Shaw wurde in den Kindergarten bestellt, um die Knirpse zu entlausen.« Titelseite?, kritzelte sie neben ihre Beobachtungen. Charlie anhauen. Termin mit Shaw ausmachen. »Wieso züchtet die Frau magische Parasiten?«

»Vermutlich im Dienste der Wissenschaft.« Larry verdrehte die Augen. »Nee, Bran, ernsthaft. Emonen sind klug. Man kann ihnen das Sprechen beibringen. Und sie zum Klauen abrichten, oder zum Spionieren. Gib ihnen genug Gefühle zu fressen und sie machen, was du willst. So ‘n Kindergarten ist ein Schlaraffenland für die Welpen. Und die saubere Penelope hat noch ganz andere Viecher im Labor. Giftzeug, Parasiten …« Mit glänzenden Augen tätschelte er den Flauschkopf des missmutigen Emons. »Ich erzähl dir gern mehr – wenn ich den Krümel hier behalten kann.«

Prompt rammte der Emon seine gespaltene Zunge in Larrys Handfläche. Larry fluchte und stopfte das garstige Fellknäuel zurück ins Glas. Seine Hand verfärbte sich bereits rot. Der Emon schmatzte, quäkte jedoch gleich darauf unzufrieden.

»Süß, er mag dich.« Mit einem Anflug von Schadenfreude nahm Moira das Glas an sich. »Sorry, aber ich werde mir nicht nachsagen lassen, ich würde mit Emonen handeln.«

»Von mir erfährt’s ja niemand, vertrau mir.«

»Ich vertraue grundsätzlich niemandem, Larry«, zwitscherte Moira freundlich.

Prompt wechselte Larry die Strategie. »Aber Penelope Shaw – das bringt der Gazette ‘ne nette Schlagzeile, was?« Er knackte mit den Knöcheln. »Is nur fair, deine Quellen für die Infos zu belohnen, Bran. 700 Mäuse sind angemessen, find ich.«

»Ich weiß noch ‘ne Schlagzeile.« Mit einem schiefen Grinsen versetzte Moira dem Korb unter dem Tisch einen sachten Tritt. »Magier schmuggelt Basilisken-Eier nach New York – fliegt die Sub Side jetzt endgültig auf? Die Menschen wundern sich schon über die vielen Schlangen.«

»Das wagst du nicht!«

»Kommt ganz auf dich an, Larry.« Sie streckte die Hand aus.

Zähneknirschend gab Larry ihr das Geld zurück – und legte noch einen Fünfziger drauf, zur Sicherheit. »Irgendwann kostet dich das deinen Kopf!«

»Oh, bestimmt. Aber nicht heute.« Lächelnd ließ Moira die Scheine in ihrer Manteltasche verschwinden.

-4-

Von den strengen Gerüchen des Schwarzmarkts drang nichts in die netteren Winkel der Sub Side. Auf der breiten Hauptstraße duftete die Nachtluft nach Kräutern und Weihrauch, nach grüner Magie und Holz, so wie es nirgends sonst in New York roch. Die Sub Side kauerte in den Nischen zwischen den Five Points und der Bowery, denen die Menschen nur selten ihre Aufmerksamkeit schenkten. Die Hexenapotheken öffneten gerade ihre Pforten, Leprechaunschuster boten an kleinen Bordsteinbüdchen ihre Dienste an und eine reiche Sirene samt Entourage verließ soeben glücklich tratschend eine Koboldschneiderei. Genau wie das menschliche New York zog die Sub Side magische Bewohner aus aller Welt an. Selbst Vampire, die am liebsten unter sich blieben, kamen täglich her, um in den Blutbars ihren Durst zu stillen. Während Moira überlegte, unter welchem Vorwand sie ein Interview mit Penelope Shaw einfädeln konnte, nagelten zwei lebende Vampire Wahlplakate mit gewinnend lächelnden Senatskandidaten an die Laternenpfosten. Die Prosper-Partei hatte McGowan schnell durch einen neuen untoten Spitzenkandidaten ersetzt.

»Ey, pass auf, wo du hinläufst!«, plärrte eine spärlich bekleidete Nymphe, die mit ihren grummelnden Kollegen Abfall von der Pflasterstraße auflas. »Geh nach Hause, Mensch!«

In dieser Gegend ging das fast als Schönen guten Abend! durch. Moira salutierte und wich in den ausladenden Runensteinkreis aus, der das Herz der Sub Side bildete.

Tatsächlich verirrten sich Menschen nur selten hierher. Die meisten New Yorker hatten keine Ahnung, dass es die Sub Side und die magische Parallelgesellschaft, die sich dort eingenistet hatte, überhaupt gab. Die Polizei wusste Bescheid, das war kompliziert genug. Der Streifenwagen vor Dark & Duesters Nachlebensversicherung wirkte fehl am Platz, und die beiden Polizisten, die mit einer Walküre von der Aufsichtsbehörde diskutierten, machten einen unglücklichen Eindruck. Hin und wieder blickten sie hilfesuchend zu den Kuretern, die in ihren Uniformen vor dem Runensteinkreis patrouillierten – immer noch mit dieser naiven Hoffnung, dass die Gesetzeshüter der Sub Side doch eigentlich mit ihnen zusammenarbeiten müssten. Doch die Kureter kümmerten sich seit jeher nur um rein magische Fälle – die menschlichen Belange des NYPD waren für sie bloß Kinkerlitzchen, die sie mit einem gönnerhaften Ihr schafft das schon, Jungs abhakten.

Moira winkte den Officers zu und huschte durch die Snake Pit, jene schäbige Gasse, die die Sub Side vom menschlichen New York trennte. Schmale Obelisken mit eingelassenen Echoaugen säumten die Straße. Früher hatten sie fast täglich Alarm geschlagen, um vor Dämonen in der Sub Side zu warnen. Aber in New York gab es längst keine Dämonen mehr. Heute verunstalteten Graffitis die Obelisken, und die schmutzigen Fassaden der ranzigen Imbissbuden schrien nach Lebensmittelvergiftung. Damit schreckten sie neugierige Menschen meist zuverlässig ab.

Trotzdem blickte Moira immer wieder über die Schulter, während sie aus der Sub Side schlüpfte. Ihr Nacken kribbelte, als würde jemand sie beobachten, doch niemand schenkte ihr Beachtung. Menschen marschierten zum Rhythmus des Hupens und Knatterns der Taxis über den Bordstein. Ein Mann Mitte fünfzig rempelte sie an. Graue Mähne, Augenklappe, wachsame Haltung wie ein Kriegsveteran. Irritiert drehte sich Moira zu ihm um – das vernarbte, bronzene Gesicht hatte sie in den letzten drei Wochen ein paarmal zu oft gesehen. Doch er murmelte bereits »Sorry, Missy« und huschte davon. Stirnrunzelnd blickte Moira ihm hinterher. Der Kerl trieb sich zu oft vor der Sub Side rum – und bei ihr daheim in Hell’s Kitchen. Vielleicht ein Spitzel von McGowan. »Alarmzauber überprüfen«, murmelte sie und eilte die Madison Street entlang zur Redaktion der Gazette.

Ein paar überteuerte Zauber hatten das Chaos des Molotov-Cocktails beseitigt, doch ein Hauch von Qualm klebte noch immer an den vergilbten Tapeten der Redaktion. Um diese Zeit war kaum jemand mehr hier. Frances Goldenblatt verriegelte gerade die Dunkelkammer (und mied Moiras Blick, als sie zur Tür ging), doch Charlie saß am Konferenztisch – mit Joseph Penn, dem Herausgeber der Gazette und ihrer aller Boss.

»Bin gleich wieder weg«, rief sie auf halbem Weg zu ihrem winzigen Büro. »Ich muss nur kurz telefo-«

»Setzen Sie sich, Miss Bran«, sagte Joseph Penn. Er war ein schmalschulteriger Afroamerikaner, der wie Ende fünfzig aussah, von dem jedoch die halbe Belegschaft vermutete, dass seine Grübchen mindestens doppelt so lange gebraucht hatten, um sich neben seinen vollen Lippen einzugraben. Meist dröhnte sein warmes Lachen durch den Konferenzraum, doch jetzt trug er eine außergewöhnlich ernste Miene zur Schau.

Widerwillig ließ sich Moira den beiden Männern gegenüber nieder. »Ist was passiert?«

Als Joseph beharrlich schwieg, nahm Charlie seine Hornbrille ab und putzte sie umständlich mit dem Zipfel seines Karo-Pullunders. »Vor einer Stunde kam eine Rüge vom Presserat rein«, verkündete er schließlich unbehaglich. »Ich sag‘s dir seit Jahren, Bran, irgendwann bringen deine Methoden dich in Teufels Küche!«

»Da kann’s auch nicht schlimmer sein als in Hell’s Kitchen.« Moira steckte sich eine Zigarette an. »Und was genau rügen die Herrschaften?«

»Ihren Artikel über Senator McGowan.« Joseph blickte sie ernst an. »Sie haben erhebliche Zweifel an der Legitimität Ihrer Recherchemethoden, Miss Bran.«

»Du hast eine Abmahnung am Hals«, sagte Charlie. »Wenn’s mies läuft, auch eine Anzeige. Und McGowan schäumt!«

»Dann kann er den Artikel ja zum Mund-Abwischen benutzen«, erwiderte Moira. »Wenn der Presserat Anzeige erstatten will, dann bitte gegen McGowan. Der Kerl hat Drogen aus dem Sub Side-Untergrund ins menschliche Rotlichtmilieu verhökert.«

»Und um das rauszukriegen, bist du ins Polizeihauptquartier eingebrochen und hast den Polizisten erpresst, der dich erwischt hat!«

»Erpresst ist ein starkes Wort. Ich bin nicht mal sicher, ob man es auf einen korrupten Polizisten überhaupt anwenden kann.« Moira zuckte mit den Schultern. »Wär’s euch lieber, ich hätte den Artikel nicht geschrieben? Hätte ein Untoter, der mittellose Menschenfrauen mit magischen Drogen gefügig macht, sich ernsthaft noch mal in den Sub Side-Senat wählen lassen sollen?«

»Sie rechtfertigen unethische Recherche mit Moral?«, fragte Joseph trocken.

»Gibt es einen besseren Grund, Sir?«

Charlies Brillengläser beschlugen. »Wir können uns nicht auf den Pressekodex berufen, wenn du genauso schmutzig arbeitest wie die Typen, die du entlarven willst!«

»Du redest, als hätte ich den Artikel im Alleingang veröffentlicht, Charlie«, sagte Moira gedehnt. »Wir steckten im Sommerloch, wir brauchten eine Story, und da war eine verdammt große Story. Es wäre unmoralisch gewesen, sie nicht zu drucken. Du hast dein Okay gegeben, wir haben dreimal so viele Zeitungen verkauft wie sonst, und du hast dich nicht über deinen Bonus beschwert. Sie übrigens auch nicht, Sir«, wandte sie sich höflich an Joseph.

»Und Sie am allerwenigsten. Bei Ihnen korrelieren Geld und Moral erstaunlich oft, Miss Bran.« Stirnrunzelnd rückte Joseph seine Krawatte zurecht. Er sprach mit dem distinguierten Akzent jener Magier, die ihre Ausbildung an der Abraxas-Akademie bis zum Schluss durchgezogen hatten – der Teufel wusste, warum er dieses Käseblatt leitete, statt selbst im Senat zu sitzen. »Ich hätte den Artikel nicht abgenickt, wenn ich gewusst hätte, wie Sie mit Ihren Quellen umgehen. Mr. Sweeney ebenfalls nicht, schätze ich.«

Moira hob eine Braue. Charlie wusste ganz genau, wie sie ihre Informationen beschaffte, wenn der Rahmen des Pressekodexes ausgelotet war. Normalerweise reagierte er mit Schnappatmung und einem Lass dich wenigstens nicht erwischen! Und wenn sich die Ausgabe gut verkaufte, verwandelte sie sich auf magische Weise von Bran in Liebes.

»Das ist bereits Ihre zweite Rüge in zwei Jahren.« Joseph schüttelte enttäuscht den Kopf. »Ich verstehe Sie nicht, Miss Bran. Wenn Sie sich Mühe geben, leisten Sie hervorragende Arbeit. Ihre Dryaden-Reportagen waren brillant, Sie wurden nicht umsonst für den Argus-Preis nominiert. Und dann sinken Sie wieder mit dem Schnabel voran in den Schlamm unter der Sub Side.«

»Nun ja, korrupte Politiker schreiben nicht gerade Pressemitteilungen über ihre Dreckwäsche«, sagte Moira gedehnt. »Die Dryaden waren das Beste, was ich je abgeliefert habe, aber das wollte niemand lesen – ich zitiere, sind ja nur Pflanzen. Storys über den Schlamm unter der Sub Side gehen dagegen weg wie Gratis-Häppchen.«

»Geld ist aber nicht alles.«

»Haben Sie den Satz eigentlich jemals zu einem der männlichen Kollegen gesagt?« Nun hob Moira beide Brauen. Sie wollte es dabei belassen, doch die Worte drängten hinaus. »Irgendwie ist immer nur bei mir jeder völlig von den Socken, dass ich am Ende des Monats nicht hungern will.«

Joseph sah aus, als habe er Zahnschmerzen. »Vielleicht, weil Ihre männlichen Kollegen etwas mehr Berufsidealismus an den Tag legen als Sie.«

»Die bekommen ja auch für jeden Dollar, den ich verdiene, zwei-fünfundsiebzig – vielleicht hebt das die Motivation.« Moira drückte ihre Zigarette aus. »Und was bitte ist unidealistisch dran, den Schmutz unter der Sub Side öffentlich machen zu wollen? Gewisse Leute«, sie nickte zu Charlie, »haben mir auch schon vorgeworfen, ich sei zu idealistisch.«

Joseph seufzte schwer. »Dieser Vorwurf ist, glaube ich, schon eine ganze Weile nicht mehr gefallen. Ich trage die Verantwortung für fünfzehn Mitarbeiter – und mit Ihrer Einstellung und Ihrer Arbeitsweise sind Sie für die Gazette nicht tragbar, Miss Bran.«

Moira blinzelte ungläubig. Das Lächeln krallte sich an ihren Lippen fest. »Sir -«

»Ich schlage Ihnen mit viel Wohlwollen vor, dass Sie sich eine Anstellung suchen, in der Sie sich und andere nicht in Gefahr bringen«, sagte Joseph leise, aber bestimmt.

»Sie feuern mich?« Moiras Blick zuckte zu Charlie, doch ihr Chefredakteur starrte bloß stumm auf seine Hände. »Meines Wissens ist eine Kündigung erst nach der dritten Rüge gängig. Ich -«

»Auf eine dritte Rüge will ich es nicht ankommen lassen.« Joseph tippte mit den Fingerkuppen auf die Tischplatte. »Nicht so kurz vor dem Wahlkampf. Wir müssen auf das Image der Gazette achten, wenn wir in der Berichterstattung neben dem Scrying Mirror und der Sub Side Mail bestehen wollen. Und Sie sind nicht gut für unseren Ruf, Miss Bran.«

»Tatsächlich?« Moira schluckte das Herzklopfen herunter und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Letzte Woche war ich noch verdammt gut fürs Geschäft, Sir.«

Joseph massierte seine Nasenwurzel. »Ihre Storys verkaufen sich, keine Frage, aber was Sie machen, kippt eine Spur zu oft vom investigativen Journalismus in die Sensationsschiene.«

»Wir reden von zwei Fällen, in denen ich nicht hundertprozentig sauber gearbeit-«

»Zwei, von denen wir wissen«, sagte Joseph. »Einmal ist ein Ausrutscher, Miss Bran. Aber das zweite Mal ist Vorsatz, und dann fällt schnell die Hemmschwelle zum dritten, vierten, fünften Mal, bis es Routine wird.«

»Es ist keine Routine.« Moira legte die Hände flach auf den Tisch. »Aber Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir in der Sub Side mit dem Pressekodex nicht weit kommen.«

»Merkwürdig. Ihre Kollegen kommen weit genug.«

»Ist im Sport- und Kulturteil natürlich besonders schwierig«, erwiderte Moira.

Joseph seufzte. »Lassen Sie es mich anders formulieren: Ihre Kollegen versuchen, Kollateralschäden zu vermeiden. Sie dagegen … Muss ich Sie wirklich an den Leprechaun erinnern, der zum Mörder geworden ist, nachdem Sie sich in die Sache eingemischt haben?«

»Ich habe Patrick O’Malley kein Messer in die Hand gedrückt, Sir.« Moira bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. »Er war der Hauptverdächtige in einem Mordfall. Niemand hat ihn gezwungen, die Lady umzubringen, die wirklich dahintersteckte.«

Charlie stöhnte leise, schwieg sich ansonsten jedoch weiterhin aus.

»Sehen Sie, genau das ist das Problem.« Joseph erhob sich. »Ich möchte, dass unsere Zeitung mit sauberer Arbeit glänzt – und Ihre Methoden sind schon lange nicht mehr sauber, Miss Bran.« Er schob ein unterzeichnetes Dokument über den Tisch.

Moira zog es zu sich – und wurde aschfahl. »Fristlos? Sir, das -«

»Mr. Penn, darf ich Sie daran erinnern, dass Miss Bran nicht verheiratet ist?« Charlie rutschte unbehaglich auf seinem Platz herum. »Sie wird es schwer haben, finanziell über -«

Unter dem Tisch trat Moira ihm gegen das Schienbein. Mit rasendem Herzen zwängte sie ein neuerliches Lächeln auf die Lippen – die Art von Lächeln, das man sich angewöhnte, wenn man eine von drei Frauen in einem Männerverein war und unvorsichtige Gefühlsduselei einem die Arbeit zur Hölle machen konnte. »Sir, ich arbeite an einer Story, die vielleicht -«

»Das ist nicht länger Ihre Aufgabe.« Joseph streckte die Hand aus. »Ihren Presseausweis, bitte.«

Die Worte trafen Moira wie eine Ohrfeige. »Sir, wenn Sie sich wenigstens die Prämisse anhören, es geht um Professor -«

»Ihren Ausweis.« Joseph hob die buschigen Brauen.

Wie in Trance angelte sie in ihre Handtasche. Das durfte nicht sein. Das durfte einfach nicht sein!

Joseph nahm ihren Presseausweis an sich und legte ihr mit ernster Miene die Hand auf die Schulter. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, Moira.«

In den sechs Jahren, die sie für ihn arbeitete, hatte er sie genau zweimal beim Vornamen genannt: Als sie die Nachricht vom Tod ihres Bruders erhalten hatte und bei ihrem Vorstellungsgespräch. Warum sind Sie Reporterin geworden, Moira? Die ehrliche Antwort hätte ihm nicht gefallen. Also hatte sie Joseph die polierte Version vorgelegt: Weil die Wahrheit manchmal tief verborgen liegt, Sir. Irgendwer muss sich die Hände schmutzig machen, um sie auszugraben, richtig? Und sie hatte sich die Hände schmutzig gemacht. Mit Ansage. Ihren jugendlichen Idealismus, dass die Presse dazu da war, die großen Wahrheiten ans Licht zu bringen, hatte sie zwar schnell an den Nagel gehängt, aber manchmal fand sie in all dem Schmutz tatsächlich ein Körnchen Gold. Oder Herz. Und wenn sie es fand, wusste sie wieder, warum sie sich die ganze Chose überhaupt antat.

Als die Redaktionstür hinter ihr ins Schloss fiel, hallte der Knall dumpf in ihren Ohren wider.

-5-

Fluchend hievte Moira die Kiste voller Ordner und Papiere in ihren Schuhkarton von Einzimmerwohnung in Hell’s Kitchen. Ihr Hab und Gut aus der Redaktion. In der winzigen Diele stolperte sie über die Mahnung ihrer Leprechaun-Vermieterin – die Miete war längst überfällig, die Stromrechnung wollte immer noch bezahlt werden, und das Verbot von Herrenbesuch gelte in ihrem Fall explizit auch für Damen. Mehr Post gab es nicht. Seufzend warf Moira die Umschläge in den Karton mit ihren Unterlagen. Ehe sie die Wohnungstür hinter sich schloss, spähte sie ins Treppenhaus. Zwischen der Subway und ihrer Wohnung hatte sie erneut den Veteranen mit der Augenklappe entdeckt. Ins Haus wagte er sich allerdings scheinbar nicht – was auch an den Junkies im Erdgeschoss liegen mochte.

»Hey, Tiger!«, rief sie in den Wohnraum. Das überschaubare Zimmer mit den kahlen Wänden verschluckte ihre Stimme. Ein Foto, das ihren verstorbenen Bruder Rory samt Freundin und unehelicher Baby-Tochter zeigte, hing schief an der Tapete, daneben die vergilbten Bilder von Niamh und Liz sowie der Schnappschuss, auf dem sie und Joanne einander eng umschlangen und den sie längst hätte abhängen sollen – immerhin war es zwischen ihnen schon seit fast einem Jahr aus. Der Kater, mit dem sie ihre Wohnung teilte, tigerte vor dem kleinen Fenster auf und ab.

Moira runzelte die Stirn. »Was denn, keine Begrüßung heute? Sonst maunzt du doch mindestens nach Futter, Dicker!«

Doch der Tiger ließ sich nicht einmal dazu herab, beleidigt zu fauchen. Er drückte sich bloß mit angelegten Ohren gegen den Heizkörper.

»Du hast doch wohl nicht wieder an der Alraune geknabbert, hm?« Sie bückte sich, doch er wich fauchend ihrer Hand aus. Besorgt begutachtete Moira die Pflanzen auf dem Fensterbrett: zwei Alraunen, eine Tollkirsche, Schlafmohn, Bilsenkraut, Salbei – was man als mäßig begabte Hexe eben so brauchte. Doch sie fand keine Zahnabdrücke auf den Blättern. Dafür war ihr Katerchen auch eigentlich zu klug und der sauteure Schutzzauber in den Blumentöpfen zu wirksam. Während sie Nassfutter in Tigers Schale kippte und eine halbleere Scotchflasche aus dem Küchenschrank holte, mied sie sorgfältig den Blick auf den Elefanten im Raum – ihre Kiste mit Redaktionskram. Sie war noch zu nüchtern, um sie auszuräumen. Vielleicht sollte sie wenigstens das Emonen-Jungtier freilassen.

Später. Wenn der Scotch in der Flasche abgenommen hatte.

Nach dem ersten Glas schlich sie zurück in den Etagenflur, streckte die Hand nach dem Telefon aus und zog sie wieder zurück. Sie hatte zwei Monate nicht mit ihrer Grandma gesprochen – heute war ein schlechter Tag, wieder damit anzufangen. Die Ich hab’s dir ja gesagt-Tirade ertrug sie gerade nicht. Ihr zweiter Impuls, Biancas Nummer zu wählen und ihre Schwägerin in spe zu bitten, Jenny ans Telefon zu holen, ließ sich deutlich schwerer niederkämpfen. Das Piepslachen ihrer vierjährigen Nichte spendete lächerlich viel Trost, aber sie hatte die beiden seit Biancas Geburtstag im Juni nicht mehr gesehen.

Zögernd hielt sie ihr Pendel über das Telefon, tastete nach vergangenen Schwingungen. Nichts. Es hatte seit Tagen nicht geklingelt. Nun, sei’s drum. Morgen würde sie Stunden mit dem Ding verschwenden. Sie brauchte einen neuen Job, und zwar schnell. Bevor ihre Vermieterin sie rauswarf.

Mit einem flauen Gefühl im Magen kehrte sie zur Scotchflasche zurück. Dabei machte sie einen Bogen um die Redaktionskiste. In der Mitte des zweiten Glases sprang ihr der Kater auf den Schoß und stieß ihr ungnädig den Kopf vor die Brust.

»Ich weiß, ich war spät heute, tut mir leid«, murmelte sie, drückte die Nase in das rote Fell – und stutzte. Der Tiger roch nach Katze, Dosenfutter und … Blut? Er sträubte sich, doch als Moira durch sein Fell tastete, spürte sie etwas Feuchtes. »Hast du wieder mit dem Schreibtisch gerauft, du Angeber?«, fragte sie leise, doch ihre Nackenhaare stellten sich auf. »Sonst stolzierst du nach deinen Prügeleien mit dir selbst immer durch die Wohnung oder leidest demonstrativ auf der Türschwelle, also was -«

Der Kater fauchte verstört und legte die Ohren an.

Und Moira hörte es auch, dieses Knarren. Im Badezimmer – der einzige Luxus, den dieses Mauseloch besaß – regte sich etwas. Der Kater maunzte schrill. Moira klaubte in seinem Fell. Endlich fand sie die Wunde. Zwei kleine, dicht beieinanderliegende Löcher im Nacken. Bisswunden. Sie stammten eindeutig nicht von Tigers Raufereien mit den Möbeln.

Ihr Mund wurde trocken.

»Das ist doch wohl nicht euer scheiß Ernst«, sagte sie laut. Ihre Stimme bebte. Im Bad klapperte es erneut; Tiger sprang fauchend von ihrem Schoß, während sie nach dem Revolver in ihrem Nachttischschrank tastete. Sie hätte Pflöcke dazu packen sollen!

»Oh, nicht doch, Herzchen«, sagte eine weiche Stimme. »Mein Anzug ist nagelneu.« Ein fremder Mann trat in den Wohnraum. Groß, breitschultrig, volles Haar. Sein Grinsen entblößte einen Satz kräftiger Eckzähne – zu kräftig für einen Menschen, aber nicht groß genug für einen Untoten. Lebender Vampir. Eine frische Blutkruste klebte an seinem Mundwinkel.

»Habt ihr’s echt nötig, euch an Haustieren zu vergreifen?« Moira spannte den Hahn des Revolvers. Einen Lebenden konnte sie wenigstens lange genug außer Gefecht setzen, um abzuhauen. »Hübscher Anzug. Ich will keine Flecken drauf machen, und eine Reinigung für meinen Teppich kann ich mir im Moment nicht leisten. Also verschwinden Sie. Pronto.«

Noch während sie sprach, traten weitere Vampire in den Raum – zwei weniger elegante Exemplare. Ihre abgewetzten Tweedjacken spannten über den breiten Schultern.

»Der Auftritt wäre eindrucksvoller, wenn ich nicht wüsste, dass ihr eine Viertelstunde in meinem Bad gehockt habt, Jungs«, sagte Moira – selbstbewusster, als sie sich fühlte. Der Revolver rutschte in ihren schwitzenden Händen. »Nett, dass ihr vorbeischaut, aber meine Vermieterin schmeißt mich raus, wenn sie mitbekommt, dass ich Herrenbesuch habe.«

Der Vampir im Anzug lachte leise und wischte sich das Katzenblut aus dem Mundwinkel. »Na ein Glück, dass Sie schon eine neue Bleibe haben, Miss Bran.«

Auf seinen Wink hin marschierten die Muskelpakete vorwärts. Moira drückte ab, zweimal, dreimal, doch der Revolver klackerte nur nutzlos. Der Kerl im Anzug ließ lächelnd die Silberkugeln zwischen seinen Fingern tanzen. Die Muskelprotze rangelten sie mühelos zu Boden. Moira schrie – mit etwas Glück würde die schwerhörige Mrs. Cohen aus der Etage unter ihr sie hören. Gleich darauf bohrten sich Zähne in ihren Hals. Moira ächzte, krümmte sich vor Schmerz, doch ihre Muskeln wurden lahm, als der Schläger zu trinken begann.

»Reiß dich zusammen, Ed, wir sollen sie vorzeigbar abliefern.« Jemand langte in ihre Manteltasche; kurz darauf flammte ein Streichholz auf. Der Anzugmann steckte sich eine ihrer Zigaretten an, ging neben ihr in die Hocke und blies ihr den Qualm ins Gesicht. »Beste Grüße von Senator McGowan, Liebes. Ihr neues Quartier wartet auf Sie.«

»Ex-Senator«, stieß Moira hervor und richtete sich mühsam auf, um ihm zu sagen, wo genau er sich seine Grüße hinstecken konnte.

Doch ein Schlag traf sie an der Schläfe. Und danach sagte sie gar nichts mehr.

2. Schlaflied

-1-

Die kleine Jenny Mendoza wälzte sich im Schlaf auf den Bauch und merkte nichts von dem Polizeieinsatz, der Hell’s Kitchen in dieser Nacht auf Trab hielt, nichts von den Leprechauns, die sich vor ihrem Haus prügelten, nichts von den Motten, die aufgeregt vor ihrer Scheibe flatterten. Und natürlich wusste sie auch nichts von dem Schatten, der gegen halb eins auf ihren Fenstersims kroch.

Mit einem sanften Lächeln steckte Sova Skorpin ihre behandschuhten Finger durch das gekippte Fenster. Wenn es praktisch offen stand, war es kein Einbruch, richtig?

Lautlos folgte sie den Motten ins Zimmer, die mit ihren schwarzen, goldschlierigen Flügeln Funkentupfer an die Wand malten. Neugierig blickte Sova sich um. Auf dem Teppichboden bekriegten sich zwei Stofftierarmeen – den abgetrennten Plüschköpfen nach zu urteilen, verloren die Teddys. An der Tapete klebten Pferdepostkarten und quietschbunte Strichmännchen-Kreationen. Keine Mutter-Vater-Kind-Truppe, sondern Mama, Tante und Oma, allesamt mit spitzen Hüten und dampfenden Kesseln ausgestattet. Hexensippe. Prächtig. Nun, das Krümelchen roch ja auch eindeutig nach Hexe, obwohl es erst vier war. Vor dem Bett stapelten sich Bücher. Alice, Der Hobbit, Narnia. Mit leuchtenden Augen streichelte Sova ein verschlissenes Exemplar vom Zauberer von Oz. Kein Wunder, dass die Kleine auf dem Markt so beliebt war.

Genug getrödelt. An die Arbeit.

Vorsichtig schob Sova die Bettdecke beiseite. Jenny Mendoza bestand vorwiegend aus Pausbäckchen und schwarzen, weichen Locken. Sehr putzig. Dazu eine stolze Stupsnase in einem runden Gesichtchen, dessen Haut nur ein wenig heller war als Sovas eigener Bronzeteint. Die Kleine roch nach Badeschaum und Gutenachtgeschichten, ihre Aura glomm in einem lebhaften Orangegold, doch sie wimmerte und pfefferte Sova ihr Plüscheichhörnchen um die Ohren. Unter den Lidern rollten die Augäpfel wild hin und her.

Albtraum. Eindeutig. Perfekt!

Zufrieden begann Sova zu singen. Es war eines von Orphins neueren Kompositionen; wahrscheinlich verhunzte sie die Melodie des Maestros, aber wen kümmerte das? Es funktionierte ja trotzdem. Nach der ersten Strophe wurde Jennys Atem tiefer, ihr Körper sank still in die Kissen. Aus Gewohnheit zog Sova ihre Tube mit Mohnsalbe hervor, zögerte jedoch, sie aufzuschrauben. »Du bist zu lange raus aus dem Job«, hatte Zeta gesagt, als sie ihr das Zeug in die Hand gedrückt hatte. »Nimm es mit. Nur zur Sicherheit.« Aber Geister und Sterne, das war Monate her. Sie war wieder drin – sie brauchte kein Sicherheitsnetz mehr. Kurzentschlossen packte sie die Salbe fort. Bei der zweiten Strophe streckte sie die Finger nach Jennys Kopf aus.

Wolkenzarte, bunte Fäden quollen aus Jennys Schläfen, schlüpften unter ihren Augenlidern hervor und ringelten sich um Sovas Fingerspitzen, als hätten die Handschuhe magnetische Kräfte. Behutsam beförderte Sova Knäuel um Knäuel in ihren Jutesack. Obwohl sie keinen Schimmer hatte, was genau das Mädchen da träumte, spürte sie panische Angst und blankes Entsetzen in ihren Handflächen. Jenny strampelte und schlug um sich. Herrje, das arme Kind! Wenn du ihr die Nase zuhältst, werden die Träume intensiver, wisperte ein Stimmchen in ihrem Hinterkopf, das wie ihre Mutter klang. Wenn du sie zwickst, wenn du ihr auf die Kehle drückst –

»Sei still, du alte Krähe«, zischte Sova und verscheuchte die Motten, die über dem kleinen Körper kreisten wie Aasgeier. Prompt zuckte Jenny. Eilig nahm Sova das Lied wieder auf, massierte die Schläfen der Kleinen und fuhr fort, die Beute aus ihrem Kopf zu pflücken.

Als die Traumströme endlich abebbten, lugte Sova in den Beutel. Die bunten Traumknäuel dufteten. Intensiv. Zu intensiv. Der Worn lauerte schon in ihren Knochen. Prompt wurde Sovas Zunge trocken. Sie spürte, wie ihre Pupillen sich zu schmalen Schlitzen zusammenzogen. Eilig rappelte sie sich auf.

»Aua! Verdammt!«

Polternd fiel der Bücherstapel in sich zusammen. Schreckensstarr spähte Sova zum Bett hinüber. Als sich unter der dicken Daunendecke nichts regte, stapelte sie eilig die Bücher zu einem ordentlichen Haufen, schulterte ihren Jutebeutel und hüpfte aufs Fensterbrett.

»Wer bist du denn?«

Das Piepsen bescherte Sova beinahe einen Herzinfarkt. Sie fuhr herum und blickte geradewegs in Jenny Mendozas rundes Gesichtchen.

»Bist du Knecht Ruprecht?«

»Nein, ein Gespenst«, raunzte Sova. »Schlaf weiter!«

»Einbrecher!«, quäkte das Mädchen, und Sova sprang mit einem Satz vom Fensterbrett ins Bett, um ihm den Mund zuzuhalten.

»Psst! Ich bin kein Einbrecher!« Das Fenster hatte schließlich offen gestanden. Fast.

»Was machst du dann in meinem Zimmer? Und was ist in dem Sack?« Erschrocken blickte Jenny sich um, als wolle sie sichergehen, dass all ihre Stofftiere noch an Ort und Stelle waren.

»Vielleicht habe ich dir ja etwas gebracht«, zischte Sova, doch sie blickte so grimmig drein, dass kein Kind der Welt je etwas von ihr hätte haben wollen. »Jetzt schlaf weiter!« Sie stimmte erneut ihr Lied an. Jenny wankte im Sitzen, ihre Lider flatterten. Mit pochendem Herzen tastete sich Sova rückwärts zum Fenster. Das Mädchen war schon beinahe wieder in die Kissen zurückgesunken, als es plötzlich aufschreckte.

»Ich will aber nicht wieder träumen!«

Sova erstarrte in ihrer Bewegung. »Du träumst heute nicht mehr«, sagte sie steif.

»Wirklich?« Ganz und gar nicht mehr schläfrig sprang Jenny aus dem Bett.

Sova fluchte leise. Sie hätte die verdammte Mohnsalbe nehmen sollen! Wann hatten Kinder aufgehört, sich vor großen Frauen in schwarzer Lederkluft zu fürchten?

»Ehrlich? Ich träume wirklich nicht mehr?« Jenny zupfte erst an Sovas Mantelärmel, dann am Jutesack. »Hast du meine Träume mitgenommen?«

»Red keinen Unfug, so etwas geht überhaupt nicht.«

»Doch, das geht wohl!« Jennys Augen wurden kugelrund wie grüne Glasmurmeln. »Meine Tante sagt, dass Träume geklaut werden können!«

»Kluge Frau, deine Tante«, knurrte Sova. Sie mochte die Frau schon vom Hören nicht. »Hör zu, Jenny, du musst jetzt trotzdem schlafen, damit du morgen ausgeruht in die -«

»Oh, ich weiß, was du bist! Du bist ein Baku! Bakus essen Albträume weg!«

»Nein, kein Baku, ich … Pst!«

Doch Jenny stieß weiterhin frohgemute Laute aus. Sova verdrehte die Augen und brachte den Jutesack außer Reichweite. Schlafend war die Kleine ja wirklich niedlich, doch nun war sie vor allem eins: Viel zu laut. Kurz erwog Sova, Jenny mit einem Fluch lahmzulegen, aber die Kleine war praktisch noch ein Baby!

»Ist ja gut! Pst, vrenoj, sei still!«

»Ich weiß, was du bist«, quietschte Jenny. »Du bist ein Traumfänger! Und Traumfänger nehmen Albträume weg, sagt meine Tante. Ich hab immer ganz schlimme Albträume, du kannst sie alle mitnehmen!«

»Traumfänger haben Federn und hängen an der Wand«, sagte Sova trocken, obwohl Averna wie sie sich gelegentlich tatsächlich als Traumfangende bezeichneten. »Schau, wenn deine Albträume dich so sehr quälen, war es mir eine Ehre, dir zu helfen. Und jetzt … gute Nacht!«

»Aber nein, ich -«

Bevor Jenny protestieren konnte, sang Sova ein drittes Mal. Die Kleine sackte mit einem enttäuschten »Oh« zusammen und begann zu schnarchen. Diesmal tupfte Sova ihr eine üppige Portion Mohnsalbe auf die Nasenspitze. Zur Sicherheit. Als das Kind so laut schnarchte, dass es definitiv nicht mehr aufschrecken würde, stöhnte Sova leise. Sie würde ewig brauchen, die Erinnerungen der Kleinen zu bereinigen – und bei Nantey, ihre Fähigkeiten in der Gedächtnismanipulation waren längst nicht mehr, was sie mal gewesen waren!

Frustriert streifte Sova ihre Handschuhe ab und beugte sich erneut über Jenny. Dabei hatte die Nacht so gut angefangen!

-2-

Erst, als Sova auf den Markt zurückkehrte (und zwei Tassen Kakao an Rheas Heißgetränkerondell hinunterkippte), beruhigte sich ihr Herzrasen. An den offenen Feuern kam ihre Kollegschaft nach der Spätschicht zum Wärmen und Tratschen zusammen. Der Duft nach starkem Kaffee, süßem Rauch und frischem Brot war überall und die leichte Brise trug die Stimmen der Standbetreibenden und Kundschaft sowie die Musik von der kleinen Bühne über den Markt. Sie war zu Hause. In Sicherheit. Doch als Sova sich zu den Schlangen vor den Schätzpavllions durchkämpfte, brodelte es erneut in ihrem Magen. Ihr Jutesack war viel zu leicht. Ihre Kollegschaft dagegen schob prallgefüllte Beutel über die Tresen, um sie schätzen zu lassen und Preise auszuhandeln. Das Letzte, was Sova in dieser Nacht gebrauchen konnte, war der Spott der Schätzenden, doch einer von ihnen winkte ihr mit einem breiten Grinsen zu.

»Komm schon her!«, rief Luas Cabal über den Lärm hinweg. Bei ihm gab es keine Schlange, wie so oft. »Zeig, was du hast, Grumpelstilzchen.«

Sova bemühte sich um eine neutrale Miene, doch als sie vor seinem Pavillon stehen blieb, glühten ihre Wangen.

»Du weichst mir doch nicht aus, hm?«, begrüßte Luas sie. Heute hatte er sein glattes schwarzes Haar ordentlich zurückgekämmt – ein seltener Zustand. Mit seiner violetten Samtweste, dem Krückstock mit Schnitzmuster und der metallischen Imitation eines Unterschenkel- und Fußknochens, die unter seiner gebügelten Hose hervorlugte, sah er aus wie ein Dandy, den Sessue Hayakawa in einem fantastischen Film hätte spielen können. Luas jedenfalls genoss die Blicke, die er mit seinem Outfit auf sich zog.

»Warum sollte ich dir ausweichen?« Sova schwang ihren Jutesack auf den Tresen.

»Oh, ich weiß nicht.« Luas zog den Beutel heran. »Vielleicht, weil du viel später zurück bist als die anderen und dein Sack trotzdem fast leer ist?« Er senkte die Stimme. »Gib’s zu, du hattest ein Stelldichein!«

»Niemand sagt mehr Stelldichein, Cabal«, brummte Sova.

»Dann hast du wieder die Hexe gestalkt.« Luas‘ Augen begannen zu leuchten. »Ich bin ja echt neugierig, Sovalein. Ist sie hier? Kann man mit ihr reden? Hat sie ‘nen Spitzhut?«

Sova starrte ihn irritiert an. »Dreimal nein. Eigentlich viermal nein.«

»Oh, guck nicht, als wolltest du mich auffressen! Früher war das echt heiß, aber inzwischen ist es ein bisschen beängstigend.«

»Luas!« Sova ignorierte die Hitze in ihren Wangen. »Ich hab noch eine Schicht am Stand vor mir, schätzt du jetzt meinen Krempel oder was?«

»Okay, wenn du so wild auf den Standdienst bist, hattest du entweder wirklich kein Date – oder es war mies.« Er flexte seine langen Finger über dem Jutebeutel.

»Weniger quatschen, mehr arbeiten, Luas.« Sova war alles andere als wild auf den Standdienst. Sie war ohnehin nicht gut darin. »Bringt‘s dich um, die Kundschaft anzulächeln?«, hatte Alistair Bluth zu ihr gesagt. »Du musst dich ein bisschen verkaufen!« – »Ich besorge und verkaufe die Ware – das reicht ja wohl«, hatte Sova geschnarrt und damit prompt einen Kunden vergrault. Und die neuen Regularien erforderten, dass sie die Kundschaft über den Kauf hinaus bespaßte. Sie in das Zelt hinter dem Stand begleitete. Für Annehmlichkeiten sorgte. Sang. Und freundlich blieb, selbst wenn die einen oder anderen aufdringlich wurden. All das hatte früher nicht zu ihrem Job gehört (damals, vor dem Krieg, vor den Tombs, als die Welt noch gut war), aber jetzt war es essenziell. Sie durften nicht noch mehr Marktgäste verlieren – die Umstrukturierung hatte sie alle genug gekostet. Nicht auszudenken, wenn noch mehr Kundschaft absprang … wegen grantigem Verkaufspersonal, oder wegen Waren, die beschädigt wurden, weil Traumspendende plötzlich aufwachten …

Sova zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. »Muss ich etwa doch zu Virgil gehen? Du bist doch mein Lieblingsschätzer, Schätzchen.«

Luas lachte. »Das mit dem Flirten üben wir aber noch mal.«

Sovas Mundwinkel sanken. »Ich flirte nicht mehr mit dir. Will doch deinen Ruf nicht gefährden.«

Wie so oft ignorierte Luas ihren scharfen Tonfall frohgemut. »Mein Ruf ist gut genug für uns beide, Liebling. Der leidet nicht, wenn ich versuche, eine Knastbraut aufzumuntern.« Trotzdem zuckte sein Blick zu der Tätowierung auf ihrem Handgelenk. Merkwürdig, wie ein bisschen Tinte so viel verändern konnte. »Dann woll’n wir mal – bevor du mir bei Virgil fremdgehst.« Er zwinkerte. Für diese Uhrzeit war er abartig gut gelaunt. »Übrigens siehst du scheiße aus«, bemerkte er, während er den Jutesack öffnete.

»Vielen Dank. Ich wusste nicht, dass ich gut aussehen muss, wenn ich von der Arbeit komme.« Zähneknirschend ließ sich Sova auf den Stuhl vor dem Tresen fallen.

»Ich meinte eher, dass man dir den Worn an der Nasenspitze ansieht. Deine Pupillen sind schmal wie Grashalme. Willst du die ganze Beute verkaufen oder lieber gilden?«

»Ich hab schon gegildet.«

»Na dann.« Dankenswerterweise enthielt sich Luas jeden weiteren Kommentars. Stattdessen leerte er den Beutel in eine Waagschale, setzte eine dickglasige Brille auf und begutachtete skeptisch die Knäuel. »Sieht mir gar nicht nach deiner gewohnten Beute aus. Sonst schleppst du immer Fluchtträume oder religiöse Offenbarungen an. Wie kommst du plötzlich auf Mutter-Albträume?«

»War keine gute Nacht«, sagte Sova nur, doch ihr Magen verknotete sich.

Luas grinste hämisch. »Du lässt nach, Liebes.«

»Wirst du eigentlich fürs Quatschen bezahlt?«

»Ich mach doch nur Spaß.«

Wenn Sova sich nicht arg täuschte, verdrehte Luas die Augen, ehe er ihren Jutebeutel über einem Trichter an der Rückwand des Standes leerte. Mit einem leisen Stöhnen rieb sie sich die Stirn. Wenigstens ihre Topfpflanze hatte sie im Worn noch nicht vergrault. Der Standdienst dürfte lustig werden.

Indes nahm sich Luas die Träume von Mrs. Mendoza vor, begutachtete einen nach dem anderen. Ihre Fäden und Knäuel waren pastellfarben, nicht halb so bunt wie die Träume der kleinen Jenny, doch sie ringelten sich und zuckten wie vorwitzige Katzenschwänze. Luas begutachtete jedes Knäuel durch seine dickglasige Brille, hob sie prüfend mit behandschuhten Fingern an und machte sich knappe Notizen.

»Mann, Sova, du hast dir die langweiligste Mutter der Stadt ausgesucht. Erstens: Beim Putzen fliegt ihr eine Taube ins Wohnzimmer und rumst so oft gegen die Scheibe, bis sie stirbt. Also, der Vogel, nicht die Mutter. Zweitens: Töchterlein ertrinkt im Planschbecken. Drittens: Sie spaziert mit ihrem Herrn Gemahl durch den Wald; der Mann wird von einem Hirsch über den Haufen gerannt, sie verwandelt sich in ein Reh und springt über die Wiese. Viertens: Schwiegermutter fährt ohne Führerschein und fällt mit dem Auto eine Klippe hinunter.« Er verzog das Gesicht. »Der Rest ist Kauderwelsch.«

Sova zuckte mit den Schultern. »Das Reh kann man verkaufen, wenn man’s ein bisschen ausschmückt.« Für einen Spottpreis, fügte sie in Gedanken hinzu.

»Schön, aber die Albträume taugen nichts«, sagte Luas geschäftsmäßig. »Die Adrenalinjunkies brauchen härteren Stoff, aber falls du an einen Familienvater gerätst …«

»… wird er auch keinem Kind beim Ertrinken zuschauen wollen.« Sova seufzte. »Gib mir den Autounfall und das Reh, der Rest kann weg.«

Luas nickte knapp. Ehe er sich Jennys Träumen widmete, schob er Sova Stifte und leere Etiketten hin, die sie mit mehr oder minder kreativen Beschreibungen zu füllen versuchte. Sie selbst wusste nicht, was ihr Klientel träumte, also musste sie sich auf Luas‘ Wort verlassen. Es kam durchaus vor, dass die Schätzzunft jenen Traumfangenden, denen sie eins auswischen wollte, falsche Auskunft über ihre Beute gab, sodass diese ihrer Kundschaft fehlerhaft etikettierte Ware verkauften. Und da die meisten Schätzenden arrogante, wichtigtuerische Schnösel waren, stellte man sich besser gut mit ihnen, statt seine Karriere zu riskieren.

»Oh, Liebes …« Stirnrunzelnd hob Luas den Kopf. Jenny Mendozas Traumknäuel wanden sich nicht halb so lebendig wie die ihrer Mutter. »Die Träume sind halbkaputt. Ist das Kind etwa aufgewacht?«

Sova presste die Lippen aufeinander.

»Erinnert es sich?«, fragte Luas.

»Ich hab mir das Gedächtnis der Kleinen vorgenommen.«

Sorge huschte durch Luas‘ dunkle Augen. »Schön und gut, aber Sova, das Gedächtnis der Hexe hast du dir auch vorgenommen, und die hat sich letztlich wieder erinnert.«

»Schrei doch noch ein bisschen lauter!«

Luas senkte die Stimme. »Willst du nicht lieber jemanden zum Nachjustieren hinschicken? Wir können uns keine Aufwachenden leisten, Sova! Vor allem nicht jetzt!«

»Denkst du, das weiß ich nicht?«, knurrte Sova. »Ich frag Brod Strider, ob er Zeit hat.« Die reine Vorstellung ließ sie Galle würgen.

Sie ärgerte sich über sich selbst, nicht über Luas, und er wusste es. Zaghaft berührte er ihr tätowiertes Handgelenk. »Hör mal, so was kann passieren. Du bist aus der Übung.«

»Komisch, den Satz höre ich im Moment ständig.«

»Du warst sechs Jahre weg. Niemand holt so etwas in nur acht Monaten wieder auf.«

»Wir können es uns trotzdem nicht leisten.« Sova zog ihre Hand fort und schob ihm die ausgefüllten Etiketten hin.

»Straßenschreck«, las er vor, »Schwiegermutter wagt sich ohne Fahrkenntnisse ans Steuer. Ideal für Verheiratete. Nebenwirkungen: Schuldgefühle, Paranoia.« Amüsiert hob er den Kopf. »Ideal für Verheiratete? Klingt eher wie der wahrgewordene Traum einer Ottonormalschwiegertochter.«

Gegen ihren Willen zuckten Sovas Mundwinkel. »Nicht doch! Das schlechte Gewissen hat schon manche Ehe harmonischer gemacht.«