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Manchmal ist das Leben genial einfach – oder einfach genial ...
Victor, der einsame Trainer einer Fußballmannschaft, freut sich nicht, als seine Schwester ihren Sohn Leonard bei ihm zurücklässt. Jedes Wiedersehen mit ihr weckt schmerzhafte Erinnerungen, und sein Neffe ist einfach seltsam. Er spricht kaum und spielt gegen sich selbst Schach. Als Leonard ihm auch noch altklug sagt, Fußball sei simpel, platzt Victor der Kragen. Fußball ist mehr als ein Ball und elf Männer, es ist eine Kunst! Und während Onkel und Neffe sich gegenseitig die Welt erklären, werden aus Fremden Freunde, aus Einzelgängern eine eingeschworene Gemeinschaft – und aus zwei Einzelleben wird eine gemeinsame Geschichte …
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Seitenzahl: 236
Veröffentlichungsjahr: 2016
Buch
Victor ist ein gescheiteter Fußballspieler, der nun als Coach eines Kinder-Fußballteams in Sedan arbeitet. Er lebt alleine und hält seine Familie auf Abstand. Bis eines Tages seine Schwester auftaucht und ihn bittet, sich für eine Woche um ihren 13-jährigen Sohn zu kümmern. Leonard verhält sich recht seltsam: Er schaut nie jemandem in die Augen, braucht immer perfekte Ordnung und verbringt seine Zeit mit Schach. Eines Tages nimmt ihn Victor zum Fußballtraining. Fazit des Jungen: Fußball sei ziemlich schlicht. Um ihn vom Gegenteil zu überzeugen, gibt Victor ihm einige Videos von den größten Fußballspielen der Geschichte. Am Tag darauf findet er heraus, dass Leonard die ganze Nacht damit verbracht hat, sich die Videos anzusehen. Als Victor von ihm wissen will, welche Rolle der Junge spielen möchte, ist sich Leonard sofort sicher: Torwart. Victor bietet ihm einen Deal an: Er wird Schach lernen, wenn Leonard sich als Torwart in Victors Team versucht und dem Team so für die Meisterschaft aushilft.
Autor
Alain Gillot, geboren 1952, ist ein Tausendsassa. Er übte viele Tätigkeiten aus, bevor er seinen Traum vom Schreiben verwirklichen konnte – er war u. a. Holzfäller und LKW-Fahrer. Er schrieb zuerst Sportartikel, bis er seine Leidenschaft fürs Reisen und andere Kulturen entdeckte. Daraufhin wurde er Auslandskorrespondent. Seit er von seinen vielen Reisen zurück ist, arbeitet er als Drehbuchautor fürs Kino. »Die alltägliche Logik des Glücks« ist sein erster Roman.
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Alain Gillot
DIE ALLTÄGLICHE LOGIK DES GLÜCKS
Roman
Aus dem Französischen von Alexandra Baisch
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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
»La surface de réparation« bei Flammarion, Paris.
1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2015 by Flammarion
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2016 by Blanvalet
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Bernd Stratthaus
Umschlaggestaltung und -motiv: © Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Photocase.de und Shutterstock.com
ED · Herstellung: kw
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-18677-7V001
www.blanvalet.de
»Die wollen, dass man tot ist.
Oder ihre Lügen glaubt.
Da kann ein Mann nur eins tun.
Sich etwas suchen, das ihm gehört.
Und sich ein Refugium schaffen.«
Sergeant Welsh,
im Film von Terrence Malick,
»Der schmale Grat«
Für Caroline und die Familie, an die sie glaubte.
1. KAPITEL
Hamed ist mit seinen widerspenstigen Trippelschritten direkt auf mich zugekommen. Jetzt goss es schon eine ganze Woche wie in Strömen, mitten in den Osterferien. Das mit der Konzentration war bei den Jungs ohnehin schon schwierig, wenn sie jetzt auch noch auf so einem Acker spielen mussten, war es damit ganz vorbei.
»Es ist total rutschig, Trainer. Bei jedem Zuspiel knallen wir auf den Arsch …«
Die Spieler wollen reden. Über ein Wehwehchen, die Ausrüstung, die Bedingungen. An manchen Tagen wollen sie einfach nur zurück in die Kabine.
»Zeig mir mal deine Stollen …«
Der Junge drehte mir den Rücken zu, winkelte sein Bein an, und ich warf einen Blick auf seine Schuhsohle.
»Wenn ich richtig sehe, sind das kurze …«
»Mit denen spiel ich immer, Trainer.«
»Ist dir denn seit Montag nichts aufgefallen?«
»Öhm, doch … es pisst.«
»Und was meinst du, hättest du machen sollen?«
»Längere Stollen nehmen …«
»Na dann, ab mit dir, zurück aufs Spielfeld und sieh zu, wie du stehen bleibst.«
Seine Augen sanken tief in die Höhlen. Hamed hat dieses verbissene Wesen, das ihn dazu antreibt, sich blindlings in die gegnerische Abwehr zu drängen, statt sich nach einem frei stehenden Mitspieler umzusehen. Ich habe noch dreiundzwanzig andere wie ihn am Hals und frage mich an manchen Tagen, was ich da mache, warum ich mich um eine Gruppe Rotznasen kümmere, aus denen ganz sicher niemals richtige Fußballer werden.
Das ist meine zweite Stelle als Trainer, seit ich das Diplom bestanden habe. Die erste war in Limoges bei der dortigen Mannschaft, die in der Division d’Honneur spielte, der höchsten regionalen Amateurliga. Postler, die die Woche über arbeiteten und abends trainierten. Aber ich hatte keine Lust mehr auf diese Zeiten. In France Football bin ich auf eine Anzeige gestoßen: »Fußballklub von Sedan sucht diplomierten Erzieher für Jugendliche zwischen zehn und vierzehn Jahren«. Ich dachte, das könnte passen. Nicht dass ich mit Kindern viel am Hut hätte. Ich habe keine eigenen und mag sie nur bedingt, aber das Gehalt war okay, und das verlockende, im Angebot enthaltene Häuschen hat letztendlich den Ausschlag gegeben.
Sedan ist natürlich nicht das Nonplusultra. Der Ruhm des Klubs gehört der Vergangenheit an und wird so bald nicht wieder aufleben, schließlich spielt die erste Mannschaft in der zweiten Liga und liegt da eher auf den unteren Tabellenplätzen. Man müsste diese eine Perle finden. Einen Spieler, der die Fans zum Träumen bringt und die Mitspieler zu Höchstleistungen anspornt. Das war in Nancy der Fall, als Platini entdeckt wurde. Aber einen Platini findet man alle fünfzig Jahre mal, und keiner von ihnen wird in Sedan aufkreuzen. Ich schlage mich hier vor allem mit Typen wie Kevin Rouverand herum. Er ist der torgefährlichste Spieler der Mannschaft, na ja, wenn er einen guten Tag hat. Einen Meter dreiundvierzig groß, einen sehr tiefen Schwerpunkt, und mit rechts kann er so richtig abziehen. Er könnte es wirklich zu etwas bringen, aber was seine Motivation betrifft, sind wir davon noch meilenweit entfernt. Er spaziert über den Platz, sein bisschen Talent unterm Arm, und glaubt, er hätte alle Zeit der Welt. Wie viele seiner Kumpel wartet er auf das Angebot eines großen Klubs. Er blättert in Autozeitschriften, tippt auf seinem Handy herum und schmiert sich Gel in die Haare. Er glaubt, er hätte es bereits geschafft, obwohl er noch nicht mal richtig angefangen hat.
Ich dachte ja, der Regen würde endlich aufhören, stattdessen ist er aber noch stärker geworden, also habe ich abgepfiffen und die Leibchen eingesammelt. So würden sie sich wenigstens keine Angina holen. Die Gruppe war sowieso schon stark dezimiert.
»Bis morgen«, rief mir Kevin zu.
»Bis morgen, und versuch mal, nicht zu spät zu kommen.«
Er war bereits in seine SMS vertieft. Anfangs hatte mich dieses Verhalten wahnsinnig gemacht, inzwischen war ich da etwas entspannter. Das ist eine Generationenfrage. Es gibt keine Bergarbeitersöhne mehr. Das heißt aber nicht, dass die Jungs heutzutage keine Ziele mehr hätten, sie wollen Geld und demnächst auch Mädchen. Noch ist das nur die Karotte, die vor ihren Nasen baumelt. Um Karriere zu machen, braucht es jedoch mehr als das.
Meine eigene Karriere ist an einem Sonntag im April auf dem Fußballplatz von Limeil-Brévannes jäh zu Ende gegangen, knapp zehn Jahre ist das schon her. Ich war gerade 29 geworden, und die Manager von Martigues hatten mir ein Angebot gemacht. Eine ganze Probesaison mit Option auf Verlängerung, ich schaute also ziemlich zuversichtlich in die Zukunft, bis der Innenverteidiger der gegnerischen Mannschaft mit seinem ganzen Gewicht auf meinem linken Knie landete und diese Transferzusage unvermittelt zunichtemachte.
Der Junge hieß Didier M’bati, stammte aus Ghana und brachte bestimmt neunzig Kilo auf die Waage. Während ich mich vor Schmerzen wand, beteuerte er mehrfach, es sei keine Absicht gewesen, was ja auch stimmte. Ich wollte ihn mit einem Antäuschen ins Leere laufen lassen, verlor dabei aber das Gleichgewicht und stürzte, und er war einfach deshalb auf mich gefallen, weil er zu viel Schwung hatte und nicht mehr bremsen konnte. Ich wurde in Dijon operiert, wo die Klinik für ihre schnellen Rehabilitationserfolge bekannt war. In meinem Fall fand man jedoch rasch heraus, dass es keine Frage von Wochen war. Zu viel war beschädigt, und nach mehreren Untersuchungen bestätigten die praktizierenden Ärzte, dass ich nie wieder Fußball spielen könne. Beim Gehen würde ich keine großen Probleme haben, aber Rennen sei von nun an ein ungewisses Unterfangen.
Und so verfiel ich in eine Depression. Ich fand mich in einer Spirale wieder, in der ich fast den ganzen Tag schlief und nur noch nachts lebte. Das Telefon stöpselte ich aus. Ich wusch mich nicht mehr, ernährte mich nur noch von Konserven. Ganz allmählich verlor ich den Boden unter den Füßen, und es endete damit, dass ich mich in den Alkohol flüchtete, obwohl ich es verabscheute, betrunken zu sein. Ich fing an, von einer Bar zur nächsten zu ziehen, bis zu dem Tag, an dem ich mich mit einem Typen prügelte, ohne überhaupt zu wissen, weshalb. Man musste mich bändigen, denn ich sah nicht einmal, dass er übel zugerichtet war. Ich landete auf dem Polizeirevier in der Ausnüchterungszelle. Es sah wirklich schlecht für mich aus, hätte sich in dieser Nacht nicht ein kleiner Zwischenfall ereignet. Auf dieser Matratze, die nach Pisse roch, hatte ich einen eigenartigen Traum. Ich war allein inmitten eines stillen Stadions. Mit einer Maschine, die bei jeder Reifenumdrehung quietschte, malte ich die weißen Linien mit Kalk auf. Ich gab mir Mühe, ließ mir Zeit. Als ich mit meiner Arbeit fertig war, setzte ich mich mitten aufs Spielfeld und war von einer unvergleichlichen Ruhe erfüllt. Als wären diese weißen Linien Wälle, die mich vor allem beschützten.
Beim Aufwachen erinnerte ich mich an diesen Traum. Es war wie eine Offenbarung. Spieler zu sein war nicht mehr das Wichtigste. Was mir fehlte, war nicht das Spiel als solches, sondern die Tatsache, dass ich mich nicht mehr in der Umgebung aufhielt, in der ich mich sicher fühlte. Ich musste wieder zurück aufs Spielfeld, dann wäre alles gut. Nachdem die Bullen mich so gegen Mittag freigelassen hatten, drehten sich meine Gedanken einzig darum, beim Verband anzurufen und herauszufinden, welche Schritte für ein Trainerdiplom nötig waren.
»Soll ich die Kabine abschließen, Monsieur Barteau?«
Das war der Hausmeister des Stadions. Im Licht der Abenddämmerung stand er direkt hinter mir.
»Machen Sie das, Émile.«
»Haben Sie Ihr Auto wieder zurückbekommen?«
»Nein. Aber Meunier bringt mich zurück. Schönen Abend noch.«
Ich blieb einen Moment stehen und wartete, bis die Lichter erloschen. Es regnete noch immer stark, und die Pfütze im Strafraum wurde so langsam zu einem regelrechten Schwimmbecken. Das waren ja schöne Aussichten für morgen.
2. KAPITEL
Ich überquerte den menschenleeren Parkplatz und ging bis zur Bushaltestelle beziehungsweise zu dem, was davon noch übrig war. Seit die Gemeinde beschlossen hatte, die Buslinie einzustellen, war die Haltestelle wiederholt demoliert worden. Die Scheiben waren vollständig zersplittert, die Bank abgefackelt, aber das Dach war noch da, für mich heute ein willkommener Unterschlupf. Obwohl es nicht sehr spät war, hatte das Zementwerk seine Pforten bereits geschlossen, und da es in dieser Gegend der einzige Betrieb war, herrschte vollkommene Stille. Das erinnerte mich daran, wie ich als Kind häufig ausbüxte. Ich lief immer so weit wie möglich von zu Hause weg, versteckte mich in einem öffentlichen Park oder unter einer Brücke und beobachtete und lauschte. Bei einem solchen unerlaubten Streifzug hatte ich schließlich auch Fußball für mich entdeckt. An jenem Tag hatte mein Vater seinen Rekord gebrochen. Kaum saß er bei Tisch, flogen auch schon die Teller mitsamt Inhalt – alles nur wegen irgendeiner Mayonnaise-Marke. Dummerweise hatte ich ihn angesehen, und das brachte ihn auf die Palme. Er setzte mir nach, zog seinen Gürtel aus den Schlaufen und ließ ihn gegen die Wände klatschen, man hätte meinen können, ein Dompteur in der Manege. Und da ich bereits wusste, wie die Reaktion meiner Mutter ausfallen würde – wegsehen, die Küche gründlich schrubben, egal was, Hauptsache sich nicht einmischen –, war ich durch das Gartentor verschwunden und an den Eisenbahnschienen entlanggegangen, ehe ich die Route Nationale überquert und mich ins Grassin-Viertel vorgewagt hatte, in dem ich noch nie zuvor unterwegs gewesen war.
Wenn meine Eltern über diese Gegend redeten, kam ihnen nur Schlechtes über die Lippen. Sie waren der Meinung, dort wäre der Treffpunkt der Dealer und Autodiebe, und einmal hatte ich sogar gehört, wie sie sagten, ein Mädchen sei dort mit aufgeschnittener Kehle in einem Müllcontainer gefunden worden. Angetrieben von der Wut ging ich an besagtem Tag aber wie fremdgesteuert durch die verlassenen Straßen, dann eine scheinbar endlose Avenue hinauf, an der die Fensterläden der Häuser verschlossen oder die Fenster gleich ganz zugemauert waren. Ich kam bei einer Art Kreisverkehr an, in dem ein Auto ohne Reifen stand. Ich hatte mich inzwischen wirklich sehr weit von zu Hause entfernt, und es war auch schon fast dunkel. Erst zögerte ich, noch weiter zu gehen, doch dann fiel mein Blick auf einen riesigen Pfeiler, an dessen oberem Ende Scheinwerfer montiert waren. Also ging ich bis zum Rand der Böschung und entdeckte die Spielfelder weiter unten, drei an der Zahl, alle mit perfekten Linien voneinander abgegrenzt.
Ich rannte den Hügel durch wild wucherndes Unkraut hinunter und näherte mich einer Gruppe Jungs, nicht mehr als vier oder fünf, die Eckbälle trainierten. Sie mussten so um die zwanzig Jahre alt sein, und jeder trug das Trikot seines Lieblingsklubs: Manchester, Barcelona, AC Mailand. Sie rissen Witze und zogen sich gegenseitig auf. Das Training war nicht sehr intensiv. Ab und an wurden ihre Spielzüge etwas schneller, um einen Torschuss oder einen Doppelpass auszuführen, manchmal blieben sie stehen und palaverten, und danach streckten sie sich für ein paar Dehnübungen im Gras aus, wobei einer eine Geschichte zum Besten gab, die die anderen in schallendes Gelächter ausbrechen ließ. Mich hatten sie nicht gesehen, oder aber meine Gegenwart war ihnen völlig egal. Ich blieb dort, bis es stockdunkel war, beobachtete sie von Weitem, sah ihnen zu, wie sie ihr Spiel wieder aufnahmen, Volleyschüsse und mehr oder weniger gelungene Lupfer vollführten oder nach erfolgreichem Tunneln oder einem Hackentrick stolze Siegerposen einnahmen. Dann ging ich nach Hause, ohne die Kälte zu spüren, obwohl schon November war, und ohne die geringste Furcht, als ich diese trostlosen Viertel wieder durchquerte, ganz erfüllt von dem, was ich gerade erlebt hatte. Ich trat durch das Gartentor und traf meine Mutter in der Küche an, wo sie die Fliesen bis zur völligen Erschöpfung schrubbte. Mein Vater fläzte mit offen stehendem Mund auf dem Sofa vor seiner bescheuerten Serie, ausgeknockt vom Alkohol und vorübergehend harmlos. Doch das war nicht mehr wichtig, weil ich außer Reichweite war. Ich hatte eine Welt für mich gefunden.
Ein Lichtstreifen durchschnitt die Nacht, und am Ende der geraden Straße tauchten zwei Scheinwerfer auf. Das war Meunier. Fast war ich überrascht, dass er schon kam. Er hielt neben mir an und beugte sich mit viel zu breitem Grinsen zur Beifahrertür. Es war so breit, dass ich mich fragte, wem es wohl galt.
Das wurde mir klar, sobald ich einstieg. Es roch so neu und so dermaßen intensiv, es war schon fast widerlich. Er musste mir sein neues Spielzeug vorführen. Das konnte nicht länger warten. Deshalb hatte er vorgeschlagen, mich nach Hause zu bringen.
»Wie heißt deine Straße noch mal?«, fragte er.
»Erinnerst du dich nicht mehr, wo ich wohne?«
»Doch, aber ich will dir was zeigen, das neueste Navi, das zeichnet dir die Strecke in 3D auf, einfach der Hammer …«
Ich schaute ihn an, wollte herausfinden, ob er es ernst meinte. Natürlich tat er das.
»Rate mal, wie viel ich geblecht hab. Das glaubst du nicht …«
»Zehntausend.«
»Spinnst du, für zehntausend kriegst du doch nichts!«
»Für meine Karre hab ich sechs bezahlt …«
»Deine ist ja auch Schrott. Außerdem bleibt sie immer liegen. Die hier hab ich für zweiundzwanzigtausend gekriegt, ist aber sieben mehr wert. Seit der Krise sind die Typen zu allem bereit, um Umsatz zu machen. Was jetzt, sagst du mir deine Adresse?«
Meunier hatte bei mir gewohnt, ein Vierteljahr. Er war als Buchhalter vom Klub eingestellt worden, aber da ihm keine der freien Wohnungen zugesagt hatte, hatte mich die Leitung des Klubs gebeten, ihn so lange bei mir aufzunehmen, bis sie etwas gefunden hätten, das auf seine Zustimmung traf. Seitdem tat er so, als wären wir Kumpel, dabei hatte mir diese Zeit vor allem gezeigt, wie verschieden wir waren. Er geht gerne aus und kommt spät heim, ich hingegen bleibe gern zu Hause. Außerdem füllte er niemals den Kühlschrank auf und verbrachte die meiste Zeit mit dem Handy am Ohr, lief damit ständig auf und ab und ließ sich über sein Leben aus, als wäre ich gar nicht da. Ich war ziemlich erleichtert, als er mir die Schlüssel endlich zurückgab.
»Mal im Ernst, heute Abend gibt’s keine Ausrede, da kommst du mit!«
»Zähl nicht auf mich. Ich hab den ganzen Tag im Regen gestanden.«
»Red keinen Scheiß, heute Abend sind Miezen da!«
»Umso besser für dich.«
»Ach komm, jetzt sag nicht, dass dir das am Arsch vorbeigeht. Wie lange bist du schon nicht mehr zum Zug gekommen, hm? Unter uns Männern müssen wir aus so was doch keinen Hehl machen, oder? Also, wie lange? Sechs Monate? Ein Jahr?«
Während er redete, sah ich, wie ein am Rückspiegel hängendes Medaillon hin und her schwang. Ein Foto von seinen Kindern und seiner Frau, vereint in einem rosafarbenen Plastikherz.
»Dein Navi ist nicht auf dem neuesten Stand. So sind es ein paar Kilometer mehr …«
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich die Fahrt in 3D auf dem kleinen, hochauflösenden Bildschirm.
»Unmöglich.«
»Über den Bahnhof ist es um einiges kürzer.«
»Warst du mal verheiratet?«
»Nein.«
»Schon lustig, wir haben zusammen in deiner Bude gewohnt, und ich weiß gar nichts von dir. Du hast aber schon mal mit ’ner Frau zusammengewohnt?«
»Ja.«
»Ja und?«
»Ist nicht mein Ding.«
Mit einem Mal ging mir auf, dass er sich nicht nur ein Auto angeschafft hatte. Er hatte auch einen Anzug gekauft, dessen Farbe, ein eindrucksvolles Perlgrau, zur Innenausstattung passte. An der Ampel betrachtete er sich im Rückspiegel und reckte siegessicher das Kinn.
»Bist du etwa schwul? Hey, ich mach nur Quatsch … jetzt komm schon, gib dir ’nen Ruck. Weißt du, dass die Neue in der Buchhaltung ein Auge auf dich geworfen hat?«
»Na super.«
»Ist dir das egal?«
»Irgendwie schon.«
»Verurteilst du mich?«
»Weshalb?«
»Weil ich meine Frau betrüge.«
»Das ist dein Problem.«
»Das ist mein Problem, aber du würdest so was nicht machen.«
»Woher soll ich das wissen, ich lebe mit niemandem zusammen. Du kannst mich hier rauslassen. Ab hier ist das jetzt eine Einbahnstraße.«
Er fuhr an den Straßenrand. Er hätte gerne weitergeredet, aber ich war ihm da keine Hilfe. Ich stieg nur rasch aus dem Auto aus.
3. KAPITEL
Zu Fuß waren es keine zweihundert Meter, bis man zur Rue des Platanes gelangte, in der mein kleines Häuschen stand. Ich wollte ein sehr heißes Bad nehmen, um diesem eisigen Regen etwas entgegenzusetzen, mir einen Snack zubereiten und ihn dann vor einem guten Film, vorzugsweise einer Komödie, verspeisen oder vielleicht auch direkt ins Bett gehen. Was sollte mich daran hindern? Nichts.
Ich wusste, dass sich die Blondine aus der Buchhaltung in mich verknallt hatte. Ich hatte sie mehrfach in den Büroräumen des Klubs angetroffen, und sie hatte immer einen Vorwand gefunden, in meiner Nähe zu bleiben, während ich darauf wartete, vom Präsidenten des Klubs empfangen zu werden. Aber ich war nicht interessiert. Ich war kein Mönch und durchaus empfänglich für den weiblichen Charme. Doch seit ich mich in Sedan niedergelassen hatte, war ich entschlossen, mich mit meinem Einsiedlerdasein abzufinden. Ein für alle Mal. Entgegen dem, was Meunier vielleicht dachte, war das nicht immer der Fall gewesen. Ich hatte im Lauf der Jahre einige Affären gehabt, hatte sogar in einer festen Beziehung gelebt, aber nichts hatte funktioniert. Wieso fiel es mir so schwer, mich an jemanden zu binden? Diese Frage habe ich mir häufig gestellt. War das meiner Familiengeschichte geschuldet? Oder einfach meinem Charakter? Vermutlich beidem.
Schon als wir damals auf dem Sportgymnasium mit den Jungs meiner Klasse etwas trinken gingen, beobachtete ich von Weitem, wie sie mehr oder weniger geschickt flirteten, blieb aber selbst lieber auf meinem Hocker sitzen. Ich hatte damals andere Prioritäten, war viel zu bedacht auf meine Unabhängigkeit, als dass ich mich auf eine Beziehung eingelassen hätte. Mit der Zeit machte ich dann aber doch und trotz allem bei diesem Spiel mit. Um einen Fußballer schwirren immer irgendwelche jungen Dinger herum, und es ist einfacher, Ja zu sagen als Nein. Ich hatte mich auf alle möglichen Mädchen eingelassen, nette, cholerische, seltsame, war aber nie eine ernsthafte Beziehung eingegangen. Irgendwann belastete mich dieses Unvermögen jedoch derart, dass ich mich der Herausforderung stellen und mit jemandem zusammenleben wollte.
Sie hieß Sophie Pinton und war die Tochter des Klubpräsidenten in Limoges, der mit Wohlwollen sah, dass ich langsam sesshaft wurde. Sophie war sehr nett und witzig, wenigstens zu Beginn unserer Beziehung. Sie war genau die richtige Person für ein solches Unterfangen, und ich hatte ernsthafte Anstrengungen unternommen, damit es funktionierte. Ich hatte mir Hemden gekauft, hatte eine Wohnung neu gestrichen, Regale aufgestellt, ein zu den Vorhängen passendes Sofa ausgesucht, über das beste Urlaubsziel diskutiert, Steckdosen repariert, sie sonntagabends zum Essen bei ihren Eltern begleitet. Lauter Dinge, die dazu beitragen, in der Gesellschaft anerkannt und als ausgeglichene Person wahrgenommen zu werden. Ich hatte mitgespielt, so lange es ging. Doch eines Tages wollte Sophie dann ein Kind von mir, und da war ich an meine Grenzen gestoßen. Mitten in der Nacht hatte mich eine unbezwingbare Panikattacke erfasst. Auch bei offenem Fenster glaubte ich zu ersticken, mein Unwohlsein wurde immer stärker, bis mir keine andere Wahl mehr blieb, als mich zu trennen und in ein Hotel zu flüchten, wo ich allmählich wieder zu mir fand und meine neu gewonnene Einsamkeit nicht als Last, sondern als Befreiung erlebte. War ich denn nicht schon immer allein gewesen? Schon in meiner Familie. Und auch auf dem Schulhof. Dann sollte ich meinen Zustand vielleicht einfach akzeptieren, statt mühsam den Schein wahren zu wollen. Was mein Verhältnis zu Frauen betraf, musste ich mir wohl oder übel eingestehen, dass ich zu mehr als einer kumpelhaften Beziehung inklusive Sex einfach nicht bereit war. Ich musste mir die Tür immer einen Spalt offen halten, und falls sie dann mehr wollte, konnte ich nur meine Sachen packen und versuchen, ihr möglichst wenig wehzutun.