Die Altenrepublik - Stefan Schulz - E-Book

Die Altenrepublik E-Book

Stefan Schulz

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

 Die Renten sind sicher? Daran glaubt kaum noch jemand. Ab 2023 aber gehen die Boomer in Rente, ab dann geht es um mehr als Geld. Es beginnt ein neues Spiel: Demokratie vs. Demographie.  Bundesweit zählen wir bald jährlich eine halbe Million mehr Neu-Rentner als Menschen, die die Volljährigkeit erreichen. Und das die nächsten 20 Jahre lang! In manchen Bundesländern wird es mehr Menschen mit Pflegestufe geben als Wähler unter 30. Die Konsequenzen sind verheerend: Für den Geldbeutel der Jungen wie für die Wirtschaft. Die Verschiebung der Alterspyramide bedroht unsere Innovationsfähigkeit, unseren Wohlstand und unsere Lebensfreude. Während die Rentner finanziell so gut gestellt sind wie noch nie und politisch an Einfluss gewinnen, werden die Jungen gegen die Auswirkungen von Klimawandel und Armut kämpfen, und lernen müssen, völlig neu zu wirtschaften: Sie müssen Deutschland gesund schrumpfen. Es droht ein großer Generationenkonflikt. Stefan Schulz analysiert, welche Auswirkungen der Renteneintritt der Boomer für unsere Gesellschaft haben wird, und was geschehen muss. Es ist höchste Zeit!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 298

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Stefan Schulz

Die Alten Republik

Roman

Wie der demographische Wandel unsere Zukunft gefährdet

HOFFMANN UND CAMPE

VorwortEin Auftrag an alle

Uns fehlen noch immer die Worte. Und die Bilder. Zu den Vorschlägen, diesem Buch seinen Titel zu geben, zählten auch Opakalypse Now oder Omageddon. Wir hätten uns damit beim Bekannten bedienen können, bei einem mit allem Schrecken abgefilmten Kriegsgeschehen oder bei einem Kometen, der unsere Leben zu zerstören droht. Doch wir wären nur wieder in die Vergangenheit gereist und hätten in Drehbüchern geblättert. Wir wären gelandet, wo wir längst sind.

Wir müssen aber in die Zukunft, und die folgt keinem Drehbuch. 2004 verschickte Frank Schirrmacher Einberufungsbescheide an alle bei Bewusstsein. Sein Buch Das Methusalem-Komplott war eine große Mobilmachung gegen das Alter und das Altern, aber nicht gegen die Alten. Die damals nicht Erreichten, weil noch nicht Geborenen, beginnen in diesem Jahr volljährig zu werden. Sie sind nun da. Sie sind die Zukunft. Und zu ihrem Bewusstsein zählt die Einsicht, zu wenige zu sein. Wenn wir von ihnen einfach verlangen, was die Alten immer von ihrem Nachwuchs gefordert haben – den Laden irgendwann zu übernehmen – , werden sie scheitern. Und wir alle mit ihnen.

Wann immer heute über Demographie gesprochen wird, heißt es auch, wir hätten es mit einem unbezwingbaren, alles überfordernden Dämon zu tun, der uns unser Schicksal nur noch einmal vor Augen führt, ehe wir uns ergeben sollen. Doch das stimmt nicht. Menschen, die achtzig Jahre lang leben, können länger als vier Jahre beziehungsweise eine Wahlperiode vorausdenken. Es sind alle gefordert. Wir müssen uns über die zu lösenden Probleme gemeinsam und ehrlich verständigen.

Nein, das ist kein Buch über die Rente. Wäre es so, ginge es lediglich ums Geld und damit um das Einzige, woran es uns nicht mangeln wird. Und nein, dieses Buch gibt auch niemandem die Schuld, erst recht nicht den vielen Alten. Aber, ja, dieses Buch handelt von Opfern, Leid und Ausweglosigkeit – also davon, was zu überwinden ist; und von Geselligkeit, Verantwortung und der Idee vom Urlaub bis zum Lebensende. Und was einem – beim Lesen und generell beim Thema demographischer Wandel – bewusst sein sollte: Die historische Zäsur ist jetzt, und sie ist ein politischer Auftrag.

1Willkommen in der Altenrepublik

Wir sind wahnsinnig alt geworden. Mit dem Alter kamen die Gebrechen, im Körper, aber auch in den Köpfen. Wir sträuben uns natürlich dagegen, lassen Fitnesswellen über uns hinwegrollen und lesen Bücher über den Darm, die Haut, unsere Familienleben im Speziellen und das Glück im Allgemeinen. Wir haushalten streng mit unserer Lust, alles soll zumindest ein bisschen Spaß machen. Manchmal aber schlägt sich die Realität doch durch zu uns, unerbittlich, wie wir sie eigentlich nicht kennenlernen wollten.

Nehmen wir den in Deutschland historisch bedeutenden 9. November des ansonsten beliebigen Jahres 2018. Damals tobte in Deutschland ein Wahlkampf von historischer Bedeutung. Es war gerade elf Tage her, dass Angela Merkel angekündigt hatte, sich nicht noch einmal zur Bundeskanzlerin wählen lassen zu wollen. Schon beim CDU-Parteitag wenige Wochen später wollte sie ihre Nachfolge ordnen, mit einer neuen Vorsitzenden. Genervt von den immer gleichen Fragen, sagte Jens Spahn, der sich mit 38 Jahren aussichtslos um den Parteivorsitz bewarb, am Abend im Fernsehen: »Immer nur Umfragen, Umfragen, Umfragen. Lassen Sie uns doch mal über die Inhalte reden. Über die Frage, was sind die wichtigen Themen für Deutschland, etwa für dieses älter werdende Land. Was bedeutet das für unsere soziale Sicherung? Wie bereiten wir uns darauf vor, dass in den dreißiger Jahren jedes Jahr doppelt so viele Menschen in Rente gehen, wie aus den Schulen in den Arbeitsmarkt nachkommen? Das sind viel, viel wichtigere Fragen als ständig nur Umfragen.«1

Die CDU entschied sich einen Monat später für jemand anderen als Vorsitzende, sortierte die Personalien später noch einmal um, wählte letztlich einen Chef, der 2018 noch nicht zur Debatte gestanden hatte, und verspielte bei der Bundestagswahl 2021 ihre jahrelange Dominanz. Die Medien hatten all das minutiös verfolgt und analysiert. Jens Spahns Ruf nach Inhalten statt Umfragen blieb aber ungehört. Demographie spielte 2018 keine Rolle. 2019 auch nicht. Als uns die Corona-Pandemie 2020 unser kollektives Alter brutal vor Augen führte, spielte die Demographie auch keine Rolle. Jens Spahn hatte als Gesundheitsminister allerdings Versuche unternommen, das zu ändern. »Wir sind ein Wohlstandsland mit Zivilisationskrankheiten. Diabetes, Bluthochdruck, Übergewichtigkeit«, sagte er. Außerdem seien »23 Millionen Menschen über 60«.2 Damit zählte fast das halbe Land zu den Corona-Risikogruppen.

Zweieinhalb Jahre nach Spahns Ruf nach Inhalten, im August 2021, nur einen Monat vor der Bundestagswahl, ließ sich Detlef Scheele von der Süddeutschen Zeitung zum Interview einladen. Das Gespräch mit dem Vorstandschef der Bundesanstalt für Arbeit begann mit dem Thema Corona. Das Virus hatte die wirtschaftliche Entwicklung belastet, am Arbeitsmarkt aber werde es »kein dickes Ende geben«, sagte Scheele. Das gilt im deutschen Journalismus auch heute noch als gute Nachricht: keine Massenarbeitslosigkeit, nicht einmal durch die größte Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Wie konnte das nach all den Betriebsschließungen und Rissen in den Lieferketten sein? Erst nach zehn Fragen merkte Alexander Hagelüken, der das Interview führte, dass er in die falsche Richtung fragte. Detlef Scheele beendete seine zehnte Antwort mit dem Satz: »Mir ist noch etwas anderes wichtig.« Hagelüken reagierte lediglich mit: »Ja?« Er interviewte sich ab dann eigentlich selbst und ordnete das bisher Gesagte zunächst in ein größeres Gesamtbild ein: »Ich mache mir gar nicht so viele Sorgen um die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Viele Firmen sind am Weltmarkt unterwegs, und sie haben gute Konzepte. Aber es wird durch die demographische Entwicklung in Deutschland zu wenig Arbeitskräfte geben. 2020 nahm die Zahl der Bürger im typischen Berufsalter, also der potenziellen Arbeitskräfte, um mehr als 50000 ab. Dieses Jahr sind es fast 150000. In den nächsten Jahren wird es viel dramatischer. Die Demographie ist kritischer als die Transformation. Ich verstehe nicht, warum darüber niemand redet.« Dann machte er es ganz konkret: »Wir brauchen 400000 Zuwanderer pro Jahr. Also deutlich mehr als in den vergangenen Jahren.« Und zur Stimmungslage in Deutschland sagte er: »Man kann sich hinstellen und sagen: Wir möchten keine Ausländer. Aber das funktioniert nicht.«3

Demographie als Drohung

Dass etwas nicht mehr funktioniere, ist eine diffuse Aussage, man überliest sie leicht. Viele Sachen funktionieren nicht, und es geht dennoch weiter. Aber was ist, wenn unsere Improvisationskünste aufgebraucht sind? Wenn die Zeit abgelaufen ist? Wenn sich von heute auf morgen tatsächlich etwas Grundlegendes ändert? Wir haben erfahren, wie es sich anfühlt, wenn in den modernsten – und damit ältesten – Gesellschaften der Welt plötzlich eine Krankheit »wie die Pocken im Mittelalter« auftaucht und die Agenda festlegt. Der Charité-Virologe Christian Drosten hatte Covid-19 im Herbst 2020 mit diesem Vergleich veranschaulicht, bevor er im Winter wahr wurde. In den hohen Altersgruppen starb jeder dritte Infizierte. Die jüngere Hälfte der Gesellschaft, alle unter 45, betraf die Corona-Sterblichkeit weit weniger, »ungefähr so wie bei der Influenza«, sagte Drosten.4 Das Alter unserer Bevölkerung, die Demographie selbst, wurde – kurzzeitig – zum Protagonisten unserer Schicksale.

Vom Klimawandel – einer langfristigen Entwicklung – kennen wir ein ganz ähnliches biologisches Beuteschema, das haben die Hitzewellen in Europa schon mehrfach gezeigt. Das Wort »Übersterblichkeit« haben wir durch Corona gelernt, in der Klimatologie wird es schon länger verwendet. Beispielsweise verzeichnete ein von der Europäischen Union gefördertes Forscherteam für den Monat August 2003 eine Übersterblichkeit von 45000 Todesfällen in Europa, die allein auf Hitze zurückzuführen ist.5 »Das Ganze hat das deutsche Gesundheitswesen bislang noch nicht genug erreicht«, sagte ein deutscher Hausarzt sechzehn Jahre später in den deutschen Abendnachrichten. Er sprach darüber, Patienten schon wegen »Hitzeerschöpfungen« krankzuschreiben, und fügte an: »Die deutsche Ärzteschaft hat beim Ärztetag im Mai 2019 in Münster beschlossen, das zu einem Schwerpunktthema 2020 zu machen.«6 Der 123. Deutsche Ärztetag setzte »Klimawandel und Gesundheit« als zentrales Thema für 2020. Eigentlich schon viel zu spät angesetzt, fiel der Ärztetag dann erstmals seit Gründung der Bundesrepublik aber aus – wegen Corona.

Uns läuft nicht nur die Zeit davon, wir stolpern inzwischen auch über die eigenen Füße. Wir können ein drängendes Problem nicht mehr verhandeln, weil dem ein anderes überwältigendes Problem im Weg steht. Dass wir heute noch recht zufrieden mit uns und der Gesellschaft sind, aber mit Bangen in die Zukunft schauen, ist schon ein Allgemeinplatz, der durch viele demoskopische Erhebungen bestätigt wird. Abseits des Klimathemas fehlt uns allerdings noch die passende Gesprächsgrundlage, um die Zukunft in Worte zu fassen. Dabei drängt uns der demographische Wandel, nun tatsächlich zu handeln. Jens Spahn und Detlef Scheele, die Mitarbeiter*innen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB), die freien Wirtschaftsinstitute, die Beiräte der Bundesministerien und etliche Forschende an den Universitäten haben recht.

Der demographische Wandel bedroht uns. Nicht nur damit, dass er unseren Wohlstand mindern kann, sondern auch, weil er sich in unsere Körper und Köpfe frisst. Japan, das älteste Land der Welt, und Südkorea, das einen größeren »Babyboomerbauch« verzeichnet als Deutschland, zeigen es uns schon. Alte Menschen leben überwiegend arm und einsam. Junge Menschen leiden unter Perspektivlosigkeit und Resignation. Dabei haben diese beiden Länder es geschafft, reich zu werden, bevor sie alt wurden. In anderen Ländern, wie Vietnam, sieht man heute, was mit ärmeren Gesellschaften passiert, wenn sie alt werden: Die soziale Entwicklung eines Landes kann ihre Richtung umkehren. In Vietnam liegt das Durchschnittsalter bei 26 Jahren. Bis 2040 wird sich die Zahl der Menschen über sechzig Jahren aber von 12 Prozent auf 21 Prozent fast verdoppeln.7 Der Ausweg, vorhandenen Wohlstand anders zu verteilen, entfällt. Es ist zu wenig da. Was mit uns hierzulande geschehen wird, wird sich noch entscheiden. Wir müssen es entscheiden. Allerdings schon sehr bald.

2023: Zeitenwende auf leisen Sohlen

In Deutschland ist es der 20. Bundestag, der es regeln muss. In die aktuelle Legislaturperiode fällt das Jahr 2023, das erste »Babyboomerjahr« der Rentenversicherung. Der 1958er-Geburtsjahrgang springt dann über die Altersgrenze von 65 Jahren und damit ins Rentenalter. Das Jahr 1958 verzeichnete 1,15 Millionen Geburten – das waren mehr als jemals zuvor, aber weniger als die darauffolgenden zwölf Geburtsjahrgänge, bis der Jahrgang 1971 nach dem Höhenflug wieder bei 1,14 Millionen Geburten landete. Damals bildeten die Kinder bis zehn Jahre die größte Altersgruppe in Deutschland. Alle Geburtsjahrgänge vor 1958 und alle nach 1971 sind kleiner als alle Geburtsjahrgänge zwischen diesen beiden Jahren. Sie bilden den »Babyboomerbauch« in der Bevölkerungsstatistik.

Jens Spahn sprach davon, dass in den dreißiger Jahren doppelt so viele Menschen ins Rentenalter vor- wie von unten in den Arbeitsmarkt nachrücken werden. Das ist nur leicht übertrieben. Der größte Geburtsjahrgang, 1964, zählt derzeit 1,4 Millionen Menschen. Wenn diese 2029 die Altersgrenze von 65 Jahren erreichen, stehen ihnen 74300018-Jährige des Geburtsjahrgangs 2011 gegenüber. Dieses Zahlenszenario beschreibt beispielhaft den vom Statistischen Bundesamt berechneten Altersaufbau der Bevölkerung in Deutschland. Die Bevölkerungsvorausberechnung für das Jahr 2029 beinhaltet bereits Zahlen zur Migration, die unterschiedlich stark gewichtet werden können. Das bedeutet für das Jahr 2029, dass offiziell 1,32 Millionen Neurentner und zwischen 0,74 Millionen und 0,78 Millionen neue Volljährige erwartet werden. Sollte es Deutschland tatsächlich schaffen, jährlich netto 400000 Einwanderer anzulocken, wären es knapp 0,8 Millionen 18-Jährige. Beim Blick auf das Erwerbspersonenpotenzial verzeichnen wir also allein für das Jahr 2029 selbst bei optimaler Zuwanderungserwartung – an die mit dem Thema Betraute jedoch nicht glauben – ein Defizit von 600000 Menschen. Das ist das Zauberwort, das niemand kennt, um das aber das Schicksal Deutschlands kreist: Erwerbspersonenpotenzial.

Das hier umrissene Jahr 2029 zeigt uns die Spitze einer historischen Phase, die 2023 beginnt und bis 2045 gesellschaftlichen und politischen Stress bedeutet. Renten werden in Deutschland derzeit durchschnittlich 21 Jahre lang gezahlt. Spätestens 2045 erreichen die Menschen des »Babyboomerbauchs« ihre statistische Lebenserwartung, ab dann entspannt sich die Situation, auf entsprechendem Niveau.

Als ich 2012 mit Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung sprach, um für die F.A.Z. über die Bevölkerungsentwicklung zu schreiben, skizzierte er unter anderem ein Szenario, in dem sich bei Fortschreibung des aktuellen Niveaus der Geburten- und Migrationszahlen das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bis 2050 halbieren könne.8

Die erste Teilstrecke sind wir inzwischen gegangen. Nimmt man die Migration aus der Beobachtung, sinkt das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland bereits im zweistelligen Prozentbereich. Immer weniger Menschen arbeiten, weil immer weniger Menschen für die Arbeit bereit stehen. Mit politischen Mitteln eine Gegenbewegung auszulösen wird zunehmend schwerer. Laut aktuellen Zahlen des IAB vom Jahresende 2021 arbeiten bereits 90 Prozent der Frauen. Auch bei der Migration ruhen die politischen Möglichkeiten auf deutlichen Prämissen: »In Anlehnung an das Vorgehen des Statistischen Bundesamts basieren alle hier verwendeten Wanderungsvarianten auf konstanten jährlichen Fortzügen von 600000 Personen.«9 Spricht Detlef Scheele von »400000 Zuwanderern pro Jahr«, meint er also eigentlich eine Million. Die Wegzüge aus Deutschland hatte er schon eingepreist. Migration wirkt zwar wie ein Jungbrunnen: Zwischen 2010 und 2019 waren mit 55,5 Prozent mehr als die Hälfte der Eingewanderten nach Deutschland jünger als dreißig Jahre, bei den bereits hier lebenden ausländischen Zugezogenen sind nur 38 Prozent so jung, in der Gesamtbevölkerung lediglich 30 Prozent. Die Migration ist aber insgesamt zu schwach, um die allgemeinen Trends zu verändern. Sie werden nur abgeschwächt.

Allein das Jahr 2015 markiert einen statistisch sichtbaren Unterschied. Die »Flüchtlingswelle« jenes Jahres hat Deutschland jünger gemacht – um einen Monat. Seit der Wiedervereinigung ist 2015 das einzige Jahr, in dem das Durchschnittsalter der Bevölkerung in Deutschland sank. Wobei man beachten muss: Der Effekt betrifft nicht die deutsche Bevölkerung, die wurde auch 2015 älter, sondern nur die Bevölkerung in Deutschland, also inklusive der Zugewanderten.10

1990 lag das Durchschnittsalter in Deutschland bei 38,3 Jahren, 2019 bei 44,5 Jahren.11 Wir sind in Deutschland heute im Schnitt mehr als doppelt so alt wie die Weltbevölkerung. Immer wenn ein Jahr mit seinen 365 Tagen vergeht, werden wir hierzulande im Schnitt 70 Tage älter.12 Kurz: Die demographischen Prognosen der letzten Jahrzehnte haben sich bislang bewahrheitet. Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass die Geburten der neuen Volljährigen im Jahr 2050 heute noch ein Jahrzehnt in der Zukunft liegen. Prognosen zur Spätphase der Altenrepublik und die Zeit danach bleiben daher Spekulation. Anders als die Prognosen zu den Jahren 2023 und folgende, bis hinein in die 2040er. Hier geht es fast ausschließlich um Mathematik, denn die Variablen der Gleichungen sind längst geboren.

Verkoppelte Krisen: Klima und Demographie

Mathematik allein wäre ja nicht das große Problem, aber hier liegen nun gleich mehrere ungelöste Aufgabenstellungen vor uns. Übrigens auch weil wir noch keine gute Sprache dafür haben, politisch aufgeklärt über Alter und Tod zu sprechen, dabei die Mathematik kühl gewähren zu lassen und dennoch zu politischer Handlung zu motivieren statt zu resignieren. Wir kennen solche Mühsal von anderen Themen und Diskussionen. Das Jahr 2045 ist bereits Debattenthema, weil es als Ziel für die Klimaneutralität Deutschlands genannt wird. Beide Wandel, des Klimas und der Demographie, haben nun gemein, dass sie uns zu Pionieren machen. Wir benötigen für beide Herausforderungen neue Politik. Auf der anderen Seite stehen beide Katastrophen in einem interessanten Verhältnis zueinander. Der Klimawandel verlangt insbesondere Reduktionen. Wir wollen Klimagase einsparen, Konsum drosseln und auf einiges verzichten. Sollte sich das mit Blick auf die Demographie nicht von selbst ergeben? In der Tat, hier liegt eine große Chance, aber auch eine Gefahr. 2020 ging laut Umweltbundesamt bereits in die Statistik ein als ein Jahr, in dem Deutschland seine Klimaziele erreichte. Wir wissen allerdings, dass das kaum mit strukturellen Änderungen zu tun hatte, sondern mit Corona. Wir blieben einfach alle zu Hause.

Der demographische Wandel ist so gewaltig, dass es zu ähnlichen Effekten kommen kann. Jedes Jahr eine halbe Million Menschen weniger, die täglich zur Arbeit fahren. Mit zunehmendem Alter werden sie zudem stetig weniger essen und reisen. Das könnte dazu führen, dass ausgerechnet die reichen Staaten trotz technischer Kompetenz den ökonomischen Strukturwandel zur Klimaneutralität schleifen lassen, statt ihn offensiv anzugehen. Dann würden sich jedoch die Fehler des 20. Jahrhunderts einfach nur wiederholen.

Die Altenrepublik ist – anders als der Klimawandel – kein globales Phänomen. Sie betrifft die wohlhabenderen Regionen der Welt. Auf die Länder in Afrika ist heute weniger als 4 Prozent des menschengemachten Klimawandels zurückzuführen.13 Allerdings läuft der demographische Wandel dort umgekehrt zu unserem und wird die Bevölkerung des Kontinents wachsen lassen, von heute 1,3 Milliarden auf 4,5 Milliarden Menschen bis Ende des Jahrhunderts.14 Die erwarteten Versorgungsengpässe werden wohl »pragmatisch« gelöst werden, also mit altbewährten Technologien, zumal der afrikanische Kontinent über ausreichend fossile Energiequellen verfügt. Es sei denn, wir schaffen den Wechsel zum klimaneutralen Wirtschaften und entwickeln daraus ein Modell für die Welt, ohne dass der Export der Technologien in ein neues Jahrhundert der Ausbeutung führt. Letztlich kann uns Afrika am besten damit vergüten, das Klima nicht vollends zu zerstören. Denn Deutschland zählt neben Japan und den Philippinen zu den drei Ländern, die schon 2018 am stärksten von Extremwettern betroffen waren. Die Auswertung des Klima-Risiko-Index von Germanwatch15 wirkt nur auf den ersten Blick merkwürdig, hört man doch sonst von armen, küstennahen Regionen, die zuerst von der Klimakrise erwischt werden. Aber Deutschland ist ein entwickeltes Land, in dem durch Sturzfluten, Hagel und Hitze besonders viel zerstört werden kann. »Mit einem Gesamtschaden von 46 Milliarden Euro, so rechnet es die Munich Re heute vor, war die Flut im Westen Deutschlands 2021 die zweitteuerste Naturkatastrophe der Welt«16, hieß es beispielsweise in den ARD-Tagesthemen.

Schrumpfen als Pionierleistung

Wir werden also lernen müssen zu schrumpfen. Das allein wird schon eine Pionierleistung erfordern. In Deutschland ist noch immer das Wirtschaftswachstum das Maß aller Dinge beim Messen des Erfolgs von Politik. Wir hinterfragen bislang weder das Prinzip noch die Maßstäbe. Dabei sind das Bruttoinlandsprodukt und der staatliche Schuldenstand beispielsweise in amerikanischen und vielen anderen europäischen Wahlkämpfen längst aussortierte Themen. Deutschland ist hier altmodisch und orthodox. Das Schrumpfen wird uns aber aufgezwungen werden. Es gilt einen konstruktiven und produktiven Umgang mit der Situation zu finden.

Die eigentliche Herausforderung ist, während des Schrumpfens innovativ zu bleiben. Wir werden weniger Menschen, die folgerichtig weniger produzieren und konsumieren. Trotzdem brauchen wir neue Dinge und Dienstleistungen. Der Bedarf an Neuem ergibt sich nicht nur aus dem Klimawandel, sondern auch aus der Demographie selbst. Deutschland ist hier noch nicht besonders gut aufgestellt. Derzeit kommen die Uhren mit EKG und Sturzerkennung, bezahlbare Autopiloten zur Beförderung, Telemedizin, Haushaltsrobotik und vieles Weiteres, was ältere Menschen benötigen, aus dem Ausland. Lediglich bei Lieferdiensten für Nahrungsmittel hat Deutschland eine heimische, aber wenig innovative Ausbeuterökonomie hervorgebracht.

»Warum kann die Gesellschaft nicht das Schrumpfen lieben lernen?«, fragte der Demographieforscher Reiner Klingholz vor einiger Zeit beim Hamburger »Zukunftscamp«.17 Warum lässt sich die Entwicklung nicht gestalten? Ein sanfter demographischer Sinkflug bei den Geburten mit moderater, politisch kontrollierter Zuwanderung könne schließlich gelingen, sagte er und blickte diesbezüglich auf Dänemark. Unserem skandinavischen Nachbarn drohen demographisch keine Turbulenzen. Er fällt nur international immer wieder damit auf, dass dort angeblich, aber ziemlich häufig ermittelt, die glücklichsten Menschen leben. Doch tatsächlich wissen wir nicht genau, ob das Schrumpfen einer Bevölkerung und das Wachstum einer Volkswirtschaft gleichzeitig passieren können. Um diese große Wissenslücke kreist auch ein Paper des renommierten Wirtschaftswissenschaftlers Charles I. Jones von der Stanford University, der auch Mitglied der American Academy of Arts and Sciences ist. Es trägt den Titel »Das Ende des Wirtschaftswachstums? Ungewollte Konsequenzen von schrumpfenden Bevölkerungen«.18 Sichtbar sei bereits, dass Löhne steigen, wenn das Gerangel um Nachwuchs zunimmt. Wenn die Geldmenge nicht reduziert wird, bliebe dann für die Einzelnen mehr. Mit welchen Tendenzen in der Verteilung zu rechnen ist, sei aber unklar. Der Technologiewandel erlahme, wenn das Gefüge aus Forschung und Entwicklung, Produktion und Dienstleistungen durch Nachwuchsmangel unter Druck gerät. Hier könne der Ideenhaushalt einer Gesellschaft gefährlich mitschrumpfen, schreibt Jones. Bevölkerungswachstum generiert in entwickelten Ländern automatisch Wirtschaftswachstum. Diese einfache ökonomische Logik lasse sich bei umgekehrter demographischer Grundlage jedoch nicht einfach auf links krempeln.

Wir brauchen hier ein neues Wirtschaftsmodell. Jones verwahrt sich dagegen, Voraussagen abzugeben. Er notiert aber, dass sowohl die Automatisierung als auch der medizinische Fortschritt sehr überraschende Effekte hervorrufen können. Beide Felder rücken in schrumpfenden Gesellschaften verstärkt in den Blick. Jones wichtigste Aussage aber ist, nicht zu unterschätzen, wie groß der prinzipielle Unterschied zwischen wachsenden und schrumpfenden Bevölkerungen ist. Schon im Nachkommabereich der Geburten je Frau: 1,8 oder 2,2 Kinder, das klingt nach einem geringen Unterschied, bedeutet aber jeweils exponentielle Entwicklungen in die entgegengesetzte Richtung. In Dänemark ist der demographische Sinkflug sanft. Seit mehr als dreißig Jahren pendelt die Zahl der Kinder je Frau zwischen 1,7 und 1,9. Damit rangiert die Bevölkerungsentwicklung in Dänemark knapp unter dem Stagnationswert von 2,1 Kindern je Frau, zuzüglich Migration, die in Kopenhagen politisch eher restriktiv geregelt wird. In Deutschland dagegen ist der Sinkflug ausgeprägter. Die Richtungsumkehr fiel in das Ende des Babybooms. 1969 lag die Zahl der Geburten je Frau bei 2,21. Zwei Jahre später, 1971, lag die Zahl noch bei 1,92 Kindern, seitdem liegen die Werte ohne Unterbrechung weit darunter, mit einem Tiefststand 1994. Damals lag die Kinderzahl je Frau im Durchschnitt bei 1,24. Ein Ausreißer nach oben war 2016 zu vermelden. Aber auch in dem Jahr sprang die Zahl lediglich auf 1,6.

Damit liegen wir in Deutschland weit unter dem Wert, den Adair Turner als »nicht nur überschaubar, sondern auch förderlich für das menschliche Wohl« beschreibt. Lord Turner, ehemaliger Chef der Finanzaufsichtsbehörde FSA in Großbritannien, der heute einen Thinktank führt, der Wirtschaftswachstum und Klimawandel in Einklang bringen möchte, sieht den demographischen Sweetspot wie viele Experten bei 1,8 Kindern je Frau. Die Rentensysteme bräuchten dann lediglich einen kleinen Sprung zu einem höheren Renteneintrittsalter. Das zielgerichtete Schrumpfen würde die Politik veranlassen, sich mehr um das Thema Arbeit im Alter zu kümmern. Ein nur moderat schrumpfendes Erwerbspersonenpotenzial würde den Wert menschlicher Arbeit steigern und Automatisierung forcieren, aber nicht zu Turbulenzen führen.19 Dieses Szenario klingt schon etwas zu schön, um wahr sein zu können. Dänemark wird es so versuchen beziehungsweise hat diesen Weg schon eingeschlagen. In Deutschland scheitern wir aber bereits am Versuchsaufbau. Unsere Geburtenzahlen sind schlicht zu niedrig.

Für Deutschland gilt eher das Szenario, das Darrell Bricker und Jay Ibbitson in ihrem spektakulären Buch Empty Planet so zusammenfassen: »Schrumpfende Gesellschaften reduzieren den Druck auf die natürlichen Ressourcen. Aber darüber werden wir nicht jubeln. Schrumpfende Gesellschaften sind schwer zu managen. Städte müssen neu geplant und Renten gekürzt werden.«20 Diese saloppe Aussage ist heute schon in Teilen Deutschlands zu erleben: einsame Siedlungen, abgekoppelt von Versorgung und Infrastruktur. In Japan stellt man inzwischen künstliche Wölfe auf die Straßen, um Bären abzuschrecken. Es ist der letzte Dienst der Gesellschaft an zurückgebliebenen Alten, bevor sich nach ihrem Tod die Natur die leeren Vororte zurückerobern wird.

Weniger Geburten, späterer Tod

Die Zahlen stellen uns aber noch weitere Fragen: Warum beginnt die Altenrepublik in Deutschland erst 2023, wenn doch schon seit vierzig Jahren zu wenige Kinder geboren werden und sich dieses Problem zudem zunehmend verschärft, da alle zwanzig Jahre mehr Kinder fehlen, weil schon deren Eltern gar nicht erst geboren wurden? Warum ereilt uns das Schicksal der Überalterung, des Überhangs an zu versorgenden Rentnern und des Mangels an Nachwuchs und Erwerbspersonen erst jetzt? Warum ist Deutschland bislang nicht geschrumpft, sondern eher noch leicht gewachsen? Die Antworten laufen auf die Tatsache hinaus, dass es neben den Geburten eine zweite wichtige Variable gibt, die über die Größe der Bevölkerung bestimmt: die Lebenserwartung. 1971 ist hier kein Jahr des Abrisses, sondern des Aufbruchs. Die Lebenserwartung wuchs moderat bis in die siebziger Jahre, übersprang beim Geburtsjahrgang 1973 die Marke von 71 Jahren und liegt heute weitere zehn Jahre später bei fast 81 Jahren.21

Deutschland bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme: Bevor Bevölkerungen in entwickelten Ländern schrumpfen, werden sie alt. Als Konrad Adenauer 1963 das Bundeskanzleramt verließ, waren 12 Prozent der Menschen in Deutschland 65 Jahre oder älter. Bei Helmut Schmidts Abgang 1982 waren es 15 Prozent. Als Helmut Kohl 1998 abgewählt wurde, waren es 16 Prozent. Der Anteil der Älteren wuchs in diesen 35 Jahren bis zur Jahrtausendwende also lediglich um 4 Prozent. Mit dieser Geschwindigkeit konnte die Politik Schritt halten, sie musste aber bereits über sie diskutieren. Der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung 1995 ging eine Diskussion der Lebenserwartung voraus. Bereits 1986 verkündete der damalige Arbeitsminister Norbert Blüm auf Wahlplakaten: »denn eins ist sicher: Die Rente«. Die Konrad-Adenauer-Stiftung – sie gehört zur damals regierenden CDU – gab dem ehemaligen Bundesfamilienminister Bruno Heck den Auftrag, das Thema aufzuschlüsseln. 1988 veröffentlichte er den Sammelband Sterben wir aus? Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland.22 Damals erschrak man angesichts der schwindenden Geburtenzahlen der vergangenen zwanzig Jahre in Bonn fast zu Tode.

Der Sprung bei der Lebenserwartung konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorausgesehen werden. Wir kennen dessen Effekte aber heute: In den 23 Jahren vom letzten Amtsjahr Helmut Kohls bis zu Angela Merkels Ende im Kanzleramt sprang der Anteil der Älteren in der Bevölkerung Deutschlands um weitere 6 Prozent auf 22 Prozent. Unser kollektiver Alterungsprozess nahm rasant Fahrt auf. Wir sind, nach Japan, heute das älteste Land der Welt. 2030 wird »der Anteil der Generation 65 plus bei 26 Prozent liegen«, schreibt das Statistische Bundesamt.23 Weitere 4 Prozent. Diesmal brauchen wir dafür nicht 35 Jahre, sondern weniger als zehn.

Wir können nun zwei statistische Zäsuren festhalten. Zum einen sind die Geburtszahlen seit mehr als einer Generation rückläufig: Zwei zur Reproduktion fähige Menschen bekommen im Durchschnitt weniger als zwei Kinder. Und: Die Lebenserwartung ist ausgereizt. 2014 hörte der Aufwärtstrend in der Lebenserwartung nämlich schlagartig auf. Tatsächlich geschah es so plötzlich, dass 2014 noch immer den Spitzenwert aufweist: 81 Jahre. Seit den Folgejahren liegt die Lebenserwartung knapp darunter und stagniert. Im 20. Jahrhundert hat sich, global betrachtet, die Lebenserwartung verdoppelt24 und die Weltbevölkerung beinah vervierfacht. Das 21. Jahrhundert dreht die Vorzeichen der Entwicklung nun seit einigen Jahren um.

Zu sagen, die Zäsuren seien »statistisch«, klingt nach einem sanften Argument. Tatsächlich haben wir es mit zwei Phänomenen zu tun, die sogar dann noch ins Auge fallen, wenn man den Blick auf die ganze Menschheit wirft. Das gilt sowohl global, also beim Blick auf die gesamte Weltbevölkerung, als auch historisch, beim Blick auf 300000 Jahre Menschheitsgeschichte. In dieser wurden bis heute rund 100 Milliarden Menschen geboren. Dass mehr als eine Milliarde Menschen gleichzeitig auf der Erde leben, ist ein gerade einmal 200 Jahre altes Phänomen. Zwei Milliarden gleichzeitig lebende Menschen ist ein nicht einmal 100 Jahre altes Phänomen. Eine Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen heute bedeutet, dass 8 Prozent aller jemals geborenen Menschen jetzt gerade leben, gleichzeitig. Es ist eine historische Ausnahmesituation. Und die Entwicklung der vergangenen 400 Jahre, die zu ihr führte, ändert jetzt ihre Richtung. Die Weltbevölkerung explodiert nicht mehr. Die Vereinten Nationen korrigieren ihre Bevölkerungszahlen stetig nach unten. Zuletzt wurde die Zehn-Milliarden-Marke bei der Prognose des Jahres 2050 wieder zurückgenommen. Der Economist schrieb, die Experten der Vereinten Nationen hätten innerhalb von nur zwei Jahren einmal die Bevölkerungsgröße Amerikas »wegrevidiert«.25

Christopher J. L. Murray, Direktor des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der University of Washington, zeigte sich schon 2018 verwundert: »Wir haben den Wendepunkt erreicht, ab dem die Hälfte der Länder auf der Welt Fertilitätsraten unter dem Selbsterhaltungsniveau haben. Die Bevölkerungen dieser Länder werden schrumpfen.« Und er fügte an: »Es ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Sie überrascht auch Leute wie mich. Wir erleben den Übergang, die Gesellschaften werden sich mit dem Schrumpfen ihrer Bevölkerung befassen müssen.«26

Demographiepolitische Naivität der Bundesregierung

Dass wir auf die Pionierleistung, die uns in Deutschland nun abverlangt wird, nicht vorbereitet sind, zeigte ausgerechnet Olaf Scholz in der letzten Bundestagssitzung vor der Bundestagswahl 2021. Die Debatte war vom Wahlkampf bestimmt. »Deshalb müssen klare Aussagen her. Kein Anstieg des Renteneintrittsalters und ein stabiles Rentenniveau, das muss unsere Gesellschaft den Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes garantieren. Das geht auch. Ich will Ihnen gerne sagen, dass ich sehr aufgeregt und empört bin, wenn all die Expertinnen und Experten, die uns in den neunziger Jahren so viele Dinge gesagt haben, sich jetzt wieder melden. Sie haben uns damals gesagt, wir würden jetzt, zu dieser Zeit, viel höhere Beiträge zahlen, als wir jetzt zahlen, und sie haben uns damals gesagt, es würde jetzt viel weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer geben. Tatsächlich zahlen wir geringere Beiträge zur Rentenversicherung als zur Zeit von Helmut Kohl, und tatsächlich ist es so, dass Millionen zusätzlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ihre Arbeitskraft einbringen, Geld verdienen und auch die Rentenfinanzen stabilisieren.«

An dieser Stelle rief Marco Buschmann von der FDP aus dem Plenum: »Der demographische Wandel ist erfunden! Gibt es jetzt Demographieleugner, oder was?«

Olaf Scholz reagierte nicht darauf, sondern sprach weiter. »Das ist die Wahrheit. Und weil das die Wahrheit ist, muss man auch sehr klar sagen: Da hätten sich einige vielleicht mal melden sollen, um zu sagen: Wir haben uns verrechnet; unsere Vorhersagen stimmten nicht. Stattdessen melden sie sich jetzt wieder und sagen das Gleiche, was sie in den neunziger Jahren gesagt haben. Dabei muss die Antwort doch klar sein: Es geht um Beschäftigung. Wir müssen dafür sorgen, dass wir ein hohes Beschäftigungsniveau in Deutschland haben. Und wenn es uns gelänge, auch nur besser zu werden – in der Art und Weise, wie das in Schweden der Fall ist, was Frauenerwerbstätigkeit betrifft – , dann hätten wir schon stabilere Renten. Und wenn es uns gelingen würde, dass eine 55-Jährige und ein 58-Jähriger, die ihren Arbeitsplatz verlieren, sicher annehmen können, dass sie erneut eine gute Beschäftigung finden werden, dann hätten wir stabile Renten. Das ist die Aufgabe, die wir anpacken müssen.«27

Diese Aussagen sind – Wahlkampf hin oder her – demographiepolitisch naiv. Zu Helmut Kohls Zeiten waren die Zeitspannen zwischen Renteneintritt und Tod kürzer, die Sozialversicherung genügte sich selbst; ohne Stütze aus dem Bundeshaushalt in dreistelliger Milliardenhöhe. Die Wiedervereinigung Deutschlands wirkte wie ein Jungbrunnen auf die westdeutschen Unternehmen – auf Kosten der ostdeutschen Demographie. Es ist wahr, dass Deutschland noch Potenzial hat, Mütter zurück in den Arbeitsmarkt zu holen, und ältere Bürger über späte Berufswechsel noch einmal integriert werden könnten. Scholz verschwieg allerdings den immensen Beitrag, den ausländische Arbeitskräfte in den deutschen Sozialsystemen leisten. Die Bundesagentur für Arbeit hat die Zahlen: Im Juli 2018 vermeldete sie ein beispielhaftes Wachstum von 700000 Beschäftigten in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr. Die Mehrheit von ihnen, 370000, waren allerdings keine Deutschen. »Ohne Polen und Rumänen hätten wir ein Problem«, titelte die F.A.Z. »Jede zweite neue Stelle in Deutschland wird von Ausländern besetzt – und zwar in erster Linie von Osteuropäern. Ohne sie würden kaum noch Häuser gebaut oder Pakete ausgeliefert.«28

Die Migration wollte Olaf Scholz offenbar übersehen, geschuldet auch dem Wahlkampf gegen die seinerzeit größte Oppositionsfraktion im Bundestag, der »Alternative für Deutschland«. Seit Jahren kursieren in der rechten Szene in Deutschland Befürchtungen vor »Umvolkung«, die beispielsweise auf eine Studie der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000 mit dem Titel »Replacement Migration« verweisen. In diesem Papier werden Bevölkerungsprojektionen mit und ohne Migration diskutiert. In einem Szenario, das »darauf abzielt, die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (15 bis 64 Jahre) konstant zu halten«, wird errechnet, dass Deutschland 24 Millionen Einwanderer bis 2050 benötigt – also knapp eine halbe Million zugezogene Beschäftigte pro Jahr.29 Heute sehen wir bereits, dass diese Zahlen der Realität entsprechen. Das Papier der Vereinten Nationen nennt auch die Alternative: Das Renteneintrittsalter müsse auf »jenseits der 75 Jahre angehoben werden«.

Bis hierhin haben es die Bundesregierungen also geschafft. Aber Olaf Scholz wollte die grundlegende demographische Mechanik nicht thematisieren, die die kommenden Jahrzehnte prägen wird und vor der Detlef Scheele öffentlich gewarnt hatte: Jetzt gehen die Babyboomer in Rente. Sie müssen entsprechend des demographischen Defizits doppelt verrechnet werden. Nämlich zum einen als neue Rentenempfänger, die, zum anderen, mit ihren Renteneintritten zu großen Teilen ersatzlos als Einzahler in die Sozialkassen ausfallen. Kurz gesagt: Wir irrlichtern in die Altenrepublik. Dass Olaf Scholz es besser weiß, sei dahingestellt. Natürlich weiß er es alles. Als Finanzminister war er der wichtigste Autor der Haushaltsgesetze und kennt alle Zahlen. Als ehemaliger Arbeitsminister kennt er die Bundesagentur für Arbeit und das IAB, wo sie errechnet werden, von innen. Eher ist erschreckend, dass diese Rhetorik in einem Bundestagswahlkampf und sogar im Bundestag funktioniert – weil die Bevölkerung ihre Demographie nicht kennt. Dabei ist die Altenrepublik längst unsere Realität.

2Angst und Oxytocin

Wir sind wahnsinnig ängstlich geworden. Die Angst von uns Deutschen ist zwar schon ein Allgemeinplatz (German Angst), aber dennoch eine komplizierte Angelegenheit. Der Soziologe Heinz Bude sieht unsere Gesellschaft beispielsweise als »eine der ruhigsten und gesammeltsten der gesamten westlichen Welt«, die zugleich »von Ängsten beherrscht wird«, ohne dass man wisse, »welche Ursachen sie eigentlich haben«. Sein Erklärungsversuch: Wir hätten es heute mit »bewussteren Jahrgängen zu tun«, die »den Krieg nicht mehr als existenzielle Erfahrung kennen und auch nicht mehr Resilienz daraus geschöpft haben«. Nun müssten wir »das Gefühl der Widerstandsfähigkeit aus etwas anderem ziehen«, da die ständige Drohung vorherrsche, »dass da etwas passieren kann, was wir nicht mehr überblicken. Kontingenz, also dass alles auch anders sein kann, ist heute das Thema der Angst.«1 Das ist urdeutsch, eine Antwort für das Volk der Dichter und Denker, Richter und Henker. Wir wissen nicht, was morgen kommt, befürchten aber das Schlimmste. Als Maßstab dafür gilt die Kategorie »Weltkrieg«.

Das Umfrageinstitut Allensbach wollte es kurz nach der Bundestagswahl 2017 genau wissen. Vier von fünf Befragten bezeichneten »ihre Lebensqualität als gut oder sehr gut«. Fast die Hälfte gab sogar an, dass sich ihre Lebensqualität in den vergangenen fünf Jahren verbessert habe.2 Das macht uns wohl so ruhig und gesammelt. Unsere Ängste müssen wir allerdings nicht philosophisch umtänzeln, wir können sie verständlich darstellen: Als größte Schwäche Deutschlands gilt die »Verteilung von Einkommen und Vermögen«. Die Forderung nach mehr staatlicher Unterstützung für Pflegebedürftige fand mehr als 80 Prozent Zustimmung. Ebenso war die Sicherung des Gesundheitssystems mehr als 80 Prozent der Befragten wichtig. Drei Viertel sprachen sich für mehr betriebliche Altersversorgung aus. Der Wunsch nach besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf kam auf mehr als 70 Prozent Zustimmung. Nur eine Minderheit glaubte, sie käme ohne späteren persönlichen Renteneintritt gut durch den eigenen Lebensabend. Der »meistgenannte Grund für eine unzureichende Altersvorsorge« sei »fehlender finanzieller Spielraum«. Die Ursache der Angst in Deutschland verweist also in weiten Teilen auf unsere Einsicht, spätestens im Alter auf Dienste angewiesen zu sein, die wir uns nicht privat leisten können. Die Diskussion um alltägliche Armut wird allerdings kaum geführt, weil hierzulande diejenigen die Diskussionen anführen, die sie kaum kennen. Professor*innen, Publizist*innen und Parlamentarier*innen verfügen meist über ausreichend Kapital.

Das klingt dann so: »Wenn Sie zunehmend das Gefühl haben, das Geld ist schon zu Ende, der Monat aber noch lange nicht, dann liefert Gundula jetzt die statistischen Belege dafür, dass sie völlig richtigliegen«, sagte Christian Sievers im heute Journal eine Woche vor der Bundestagswahl 2021.3 Gundula Gause sprach dann allerdings nicht über die »Große Mietendemo« in Berlin tags darauf, die so groß war, dass sie in den Tagesthemen der ARD vorkam. Sie sagte stattdessen: »Die Inflationsrate steigt weiter.« Inflation ist einer der Begriffe hinter den »komplizierten« Ängsten. Er fällt über seine Nähe zur »Hyperinflation« in die Kategorie Weltkrieg und triggert automatisch Ängste vor dem (persönlichen) Ruin.

In den Abendnachrichten wurde an dem Abend eine Inflation von 3,9 Prozent verkündet, »der höchste Stand seit fast 28 Jahren«. 4 Prozent wäre ein traumhafter Wert für junge Menschen, die in die Städte strömen und deren Mietverträge nicht schon seit Jahrzehnten laufen. Die Inflation der Mietpreise liegt inzwischen seit Jahrzehnten mindestens doppelt so hoch wie die allgemeine Inflation. »Der Deutsche Mieterbund erwartet weitere Zuwächse von im Schnitt rund 5 Prozent. In Großstädten könnten die Steigerungen sogar noch höher sein: Hier erwartet der Mieterbund Steigerungen im Schnitt von 10 Prozent«, schrieb die Deutsche Presse-Agentur 2017.4 Durchschnittlich zweistellig, und so kam es. Eine Wohnung mit 30 Quadratmetern kostete 2017 in Frankfurt am Main 501