Die Amnesie des Anwalts - Petra S. Rosé - E-Book

Die Amnesie des Anwalts E-Book

Petra S. Rosé

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Beschreibung

Eine unbekannte Frau wird im Wald in der Nähe von Bensheim nackt und grausam ermordet aufgefunden. Die Identifizierung erweist sich als schwierig. Der Anwalt und Strafverteidiger Günther Abend soll die Pflichtverteidigung eines verdächtigen Obdachlosen übernehmen, der im Wald lebt, kein Alibi hat und bereits in U-Haft sitzt. Nach dem Rechtsempfinden des Anwalts, ist der Verdächtige unschuldig. Günther Abend arbeitet mit seiner Frau Karla in gleicher Anwaltskanzlei. Die Ehe ist abgenutzt, kinderlos und besteht nur noch aus geschäftlichen und finanziellen Gründen. Entspannung suchte Günther in seiner Beziehung zu der attraktiven Bianka. Der Ehefrau Karla blieb dieses Verhältnis natürlich nicht verborgen und es galt das Gesetz der sofortigen Unterlassung. Günther fügte sich. Anstatt die Affäre mit Würde zu beenden, beleidigte, demütigte und belog er seine Freundin Bianka. Nach der Trennung ist er nicht mehr derselbe. Es tritt eine Amnesie ein, ein „Filmriss“ über etliche Stunden. An den Tagen danach vergisst Günther viel, ist unkonzentriert, hört die Stimme seiner Ex-Freundin. Seine geistigen Ausfälle lassen sich mit seiner Tätigkeit als Anwalt nicht länger vereinbaren. Sehnsucht und Wut sind die beiden Triebfedern, die ihn veranlassen nach seiner Ex-Freundin Bianka zu suchen, die nach dem Beziehungsaus verschwunden ist. Verzweifelt bemüht er einen Psychologen und Neurologen, der zusammen mit anderen Kollegen in einer geheimnisvollen, alten Villa am Rande von Bensheim praktiziert. Es wird versucht, durch Hypnose und Rückführung auf die Ursachen seiner Störungen zu kommen. Jedes Mal, wenn sich Günther im Dämmerschlaf befindet, tun sich grauenvolle Bilder auf und manchmal glaubt er, selbst ein Mörder zu sein. Im privaten Bereich hat er seine Aggressionen nicht mehr unter Kontrolle und der Hass auf sein Leben entlädt sich, indem er seine Ehefrau Karla vergewaltigt. Einen Tag nach der Tat ist auch Karla verschwunden. AUF DEM HÖHEPUNKT DES PRIVATEN, SEELISCHEN UND BERUFLICHEN CHAOS FINDEN FORSTARBEITER EINE ZWEITE FRAUENLEICHE IM WALD BEI BENSHEIM. VON NUN AN ÜBERSCHLAGEN SICH UNGLAUBLICHE EREIGNISSE...

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

1.Teil

Dienstag, der 7. September

Mittwoch, der 8. September

Donnerstag, der 9. September

Freitag, der 10. September

Samstag, der 11. September

Sonntag, der 12. September

Montag, der 13. September

Dienstag, der 14. September

Mittwoch, der 15. September

2.Teil

Donnerstag, 16. September

Freitag, der 17. September

Wochenende vom 18. bis 19. September

Montag, der 20. September

Dienstag, der 21. September

Mittwoch, der 22. September

Donnerstag, der 23. September

Freitag, der 24. September

Wochenende vom 25. bis 26. September

Montag, der 27. September

Dienstag, der 28. September

Mittwoch, der 29. September

Donnerstag, der 30. September

Freitag, der 1. Oktober

Samstag, der 2. Oktober

Sonntag, der 3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit

Montag, der 4. Oktober

Dienstag, der 5. Oktober

Mittwoch, der 6. Oktober

Donnerstag, der 7. Oktober

Copyright

Liebe Leserin, lieber Leser,

Impressum

Die Amnesie des Anwalts

1. und 2. Teil

Von

Petra S. Rosé

Text und Cover Copyright 2017/2021 ©Petra S. Rosé

Coverbilder von Fotolia/Adobe Stock:

Junge Frau © Catalin Pop

Mann mit Rotweinglas © googluz

1.Teil

Dienstag, der 7. September

Den Geruch des Treppenhauses der alten Ärztevilla hinter sich herziehend, verlässt der Anwalt Günther Abend mit schnellen Schritten das Gebäude. Wie es hier stinkt, erinnert an einen höchst unangenehmen Bereich seiner Tätigkeit als Fachanwalt für Strafrecht. Es ist eine Geruchsmischung aus Verwesung und Desinfektion, ein „Aroma“ der Pathologie.

Als die schwere, mit Messingtafeln verkleidete Tür der großen Villa geräuscharm ins Schloss rauscht, bereichert sich sein Blutkreislauf wieder mit Sauerstoff.

Langsam beginnt der Anwalt und Patient zu registrieren, was sein Psychiater, Dr. Werner Oldenburg, ihm gerade zu vermitteln versuchte:

Um Aufklärung in mein Krankheitsbild zu bringen, muss ich morgen zum Versuch einer „Rückführung in die Vergangenheit“ antreten.

Mit diesem Arzt, dem er gerade seine Befindlichkeiten geschildert hat, war Günther früher einmal befreundet, und nur darum bekam er einen Blitztermin. Auch als Privatpatient hätte er normalerweise ein paar Tage warten müssen. Die Freundschaft war vor einiger Zeit ins Koma gefallen und soll jetzt wiederbelebt werden.

Günther überlegt:

Zahlt die Private Krankenkasse so etwas überhaupt, eine Rückführung? Wohl eher nicht. Einen weiteren Begriff habe ich mir gemerkt, unter kongrader Amnesie soll ich leiden. Sollte das die einzige Erklärung sein, für alle Funktionsausfälle, die ich in der letzten Zeit an mir selbst diagnostiziert habe?

Von mir hat der Halbgott im weißen Kittel eben geredet, nicht von misshandelten Opfern.

In letzter Zeit bin ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Das hat sich zwar schon vor dem Bruch mit meiner Freundin Bianka angedeutet, aber jetzt ist es so intensiv geworden, dass ich mich behandeln lassen muss. Ich bin unkonzentriert, vergesslich, chaotisch und vieles andere mehr.

Am letzten Nachmittag mit Bianka, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass diese Beziehung für mich keinen Sinn mehr macht und dass mir die Zeit fehlt, um aufzuzählen, was mich alles an ihr stört, hatte ich den ersten, zeitlich längeren Ausfall. Wie ich nach Hause gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass es geregnet hat und abends zu kalt war, für einen Tag im September. Es fehlt mir für mindestens eine Stunde die Erinnerung.

Seit zwei Tagen höre ich eine innere Stimme, Biankas Stimme. Wenn ich die nicht höre, dann rieche ihr Parfüm oder finde irgendwas von ihr, mal ein Haar, mal ein Papiertaschentuch oder einen beschriebenen Zettel. Sie muss mir endlich aus meinen Gedanken gehen.

Während Günther immer noch auf dem Parkplatz der Ärztevilla in Richtung seines dort abgestellten Wagens unterwegs ist, fällt ihm auf:

Was ist das hier für eine einsame, unheimliche Gegend am bewachsenen Rand von Bensheim? Im Dunkeln muss es zum Fürchten sein.

Günther ist angekommen und besetzt sein Auto, ein Mercedes der S-Klasse, und sieht kurz in den Autospiegel. Ein gut aussehender Mittvierziger blickt ihm entgegen. Sein Aussehen hat noch keinen Schaden genommen. Äußerlich ist er zufrieden mit sich. Kaltstart, links blinken, Gas und schon ist er in der Spur.

Mit Bianka ist es aus, und das ist auch gut so. Sie hat genau gewusst, wie sehr ich gebunden bin und hätte sich ja besser auf eine Trennung vorbereiten können. Meine altmodische, intolerante Ehefrau duldet eben keine Nebenfrauen. Für diesen Umstand wollte ich mich nicht länger vor Bianka rechtfertigen. Die Trennung war ein Muss und dazu stehe ich auch heute, redet Günther in Gedanken mit sich selbst und rast mit seinem schwarzen Mercedes über den Asphalt der B 47.

Ich habe den Warnschuss gehört, den meine Frau Karla abgegeben hat, und ich habe mein Leben zurück.

Doch lebe ich überhaupt? Oder werde ich nur gelebt?

Günther wartet immer gern, bis die Umstände ihn zwingen, sowohl beruflich als auch privat. Als seine Ehefrau Karla dahinter kam, mit wem er telefonierte, simste, mailte und seine knappe unbeobachtete Zeit verbrachte, galt ab sofort das Gesetz der Unterlassung. Sie verbot ihm den Umgang mit Bianka, wie man einem Kind das Naschen verbietet, und drohte ihm Sanktionen an.

Seine Frau arbeitet mit ihm in gleicher Anwaltskanzlei, hauptsächlich für das in gehobener Ausstattung errichtete Eigenheim, welches langjährig mit einer Hypothek belastet ist.

Rechtsanwälte Karla und Günther Abend, Fachanwälte für Strafrecht, kann man auf dem goldenen Türschild am Gebäude lesen, indem sich die gemieteten Räume der Kanzlei befinden. Die Anwältin wird zuerst genannt, nicht weil sie weiblich ist, sondern weil sie in der Kanzlei die „Stallregie“ führt.

Der Ehemann Günther ist unfähig sein betreutes Wohnen und Arbeiten zu verlassen und grenzenlos feige, sich mit seiner dominanten Ehefrau auseinanderzusetzen.

Die Ehefrau Karla würde weder einer Trennung mit Teilung zustimmen, noch ihm ein paar Zusatzfreiheiten einräumen.

Rosenkrieg? Anwalt gegen Anwältin? Nein danke! Täglich erneut beruhigt sich Günther damit:

Ich bin nicht der einzige Mann auf der Welt, der als Ehesklave durchs Leben kriechen muss. Wer kriecht, kann nur flach fallen.

Der Raser lockert den nobel beschuhten Fuß über dem Gaspedal und konzentriert sich auf den dichten Stadtverkehr von Bensheim an der Bergstraße.

Heute will Günther, zum ersten Mal nach der Trennung von seiner Geliebten, die Bensheimer Stadtbibliothek aufsuchen. Das ist sein Fahrziel.

Früher war diese Bibliothek ein beliebter Aufenthaltsort für Günther. Die junge, attraktive, nicht einmal dreißigjährige Bianka, im Berufsleben Justizangestellte, hatte er hier kennengelernt und nicht bei Gericht, wo beide sich in den engen Fluren fast über die Schuhe gelaufen wären. Diese Bibliothek hat ihm so manches Alibi verschafft, während er sich in ihrer Wohnung verwöhnen ließ.

Warum hast du das getan, Körper?War da doch mehr, als ich mir eingestehen wollte?

Das fragt sich Günther heute.

Sein Wagen schlägt den richtigen Weg zur Bibliothek ein, als wäre er ferngesteuert. Ein Parkplatz tut sich auf. Günther steigt aus, läuft wie in Trance zum Eingang, zeigt seinen Benutzerausweis und betritt den ebenerdigen Lese- und Büchersaal. Es riecht nach Bianka.

Das fängt ja gut an, stellt Günther fest.

Seine Blicke ertasten die anwesenden Damen. Bianka ist zum Glück nicht dabei. Eine Begegnung könnte er jetzt nicht ertragen.

Plötzlich zuckt er zusammen, als hätte ihn ein Stromstoß durchfahren. Da ist sie wieder - die Stimme - ganz laut. Er dreht sich um seine eigene Achse. Es spricht keiner vor ihm oder hinter ihm. Die Sprecherin hat die Stimme von Bianca und ist mitten in seinem Kopf:

„Hallo Günther, du suchst nach Ablenkung, Entspannung und Balance, aber ohne mich wirst du all das nicht mehr finden.“

Günther ist hilflos. Er möchte antworten, aber keine Selbstgespräche führen. Stattdessen greift er nach irgendeinem Buch, steuert eine leere Ecke des Saals an, versucht zu lesen und kann es nicht. Die Druckbuchstaben tanzen auf den Seiten, als wenn sie sich über ihn lustig machen wollen. Buchstaben-Kamasutra. Lesen ist ihm unmöglich. Wie ein Erstklässler reiht er Zeichen an Zeichen, bildet Wort für Wort, versucht krampfhaft, den Sinn eines Satzes zu erfassen.

Ich kann nicht mehr lesen, stellt er entsetzt fest.

Schwarze Gedanken haben ihn erfasst. Hastig schlägt er seinen Timer auf, um zu schreiben. Erfolglos.

Bin ich an diesem Nachmittag zum Legastheniker geworden? Dann bin ich im Beruf erledigt, bereits mit fünfundvierzig Jahren, kann meine Robe an den Nagel hängen, kann mich abschaffen und die Zukunft wird nach Armut schmecken. Was ist das hier? Absurdistan?

Misserfolg entstellt sein Gesicht. Ihm wird übel. Er möchte nach Luft schreien.

Wieder die Frauenstimme, erst leise, dann immer lauter werdend:

„Hier bestimme ich jetzt. Ich empfehle dir ein Sprachbad oder suche eine andere Bibliothek auf!“

Günther wendet den Hals. Niemand steht in seiner Nähe.

Was soll das sein, ein Sprachbad, fragt sich Günther.

Er springt auf:

„Halt endlich die Klappe, am besten für immer.“

Die anwesenden Besucher sehen sich empört um. Peinlich ist ihm das. Rasch stellt er das Buch zurück ins Regal, rückt seine Krawatte gerade, verlässt gruß- und wortlos die Bibliothek und eilt zu seinem Wagen.

Auf dem Fahrersitz angekommen, sinkt er grübelnd in sich zusammen:

Das ist eine moderne Stadtbibliothek, die ich seit Jahren kenne, hell und freundlich mit Tonträgern und Monitoren. Hier gibt es keine verwunschenen, verhexten Bücher, keine mittelalterlichen Überbleibsel, keine Geheimtüren hinter den Regalen und keine verirrten Seelen, wie in den Märchen. Warum hat mich hier irgendetwas so beeinflusst, dass ich nicht mehr lesen konnte? Bin ich so überarbeitet?

Eigentlich müsste ich gleich wieder zurück in die stinkende Ärztevilla und dem Doc die neu hinzugekommene Störung beschreiben. Aber ich habe ja für morgen einen Termin.

Vielleicht ist die Bianka das gar nicht, die da zu mir spricht. Vielleicht habe ich schon vergessen, wie ihreStimme klingt? Ich habe jetzt Grund, sie anzurufen und zu vergleichen. Sie ist ja nicht weiter weg, als mein Handy.

Günther bedient nervös die Tasten.

„Guten Tag, Sie sind verbunden mit der Mailbox von Bianka Barain. Bitte sprechen Sie nach dem Tonsignal“, hört er und das sagt mit Sicherheit Bianka.

Handykontrolle. Verwählt hat er sich nicht. Wahlwiederholung. Gleiche Bandansage.

Anscheinend hebt sie nicht ab, weil ich anrufe, erklärt er sich das.

Während Günther im Auto über seine Situation nachdenkt, schimpft er laut vor sich hin:

„Sie ist doch des Teufels Nichte. Ich hätte das wissen müssen, dieser kranke Hang zur Esoterik und zur Astrologie, die rege Fantasie, dieses paranormale Verhalten, unerträglich für einen Realisten, wie ich einer bin. Die glaubt wohl, sie kann mir entkommen, wenn sie nicht ans Handy geht.“

Er schaukelt sich hoch, hat sich nicht mehr unter Kontrolle. Seine Wut befiehlt ihm, Bianka jetzt in ihrer Wohnung aufzusuchen, um ihr Gewalt anzutun.

„Ich werde jetzt solange auf sie einschlagen und sie würgen, bis sie zugibt, mich verhext zu haben“, sagt er laut und nimmt sich das fest vor.

Sein Mercedes fährt wie fremdgesteuert in diese Richtung. Die Straßenschilder sind leserlich. Günther kann sich nicht darüber freuen. Aber… von Kilometer zu Kilometer werden seine Gewaltfantasien von einer aufsteigenden Grundangst gemildert:

Seit dem Ende unserer Beziehung, diesem letzten Sonntagnachmittag unter freiem Himmel, habe ich weder mit ihr telefoniert, noch habe ich sie gesehen, denn bisher gibt es, von meiner Seite aus, weder etwas zu besprechen noch etwas zurückzunehmen. Was kann mit ihr passiert sein? Vielleicht ist sie zu den Sternen gegangen oder zur Hölle gefahren? Oder bloß unbekannt verzogen? Aber das innerhalb von guten zwei Tagen? Weit weg im Nirgendwo, so dass ich sie nie wiedersehen werde? Vielleicht ist sie aber einfach nur nicht da? Doch wo ist sie? Ob sie schon einen neuen Lover hat?

Vor der Haustür ist ihr angemieteter Parkplatz frei, nur dieser. Er parkt passgenau da ein. Die Haustür ist nicht abgeschlossen. Der Briefkasten im Hausflur scheint leer. An der Wohnungstür angekommen, fehlt das Namensschild an der Klingel.

Als ich das letzte Mal hier war, gab es noch ein Schild. Oder?

Günther läutet aggressiv erst bei Bianca und dann bei der Nachbarin. Die hölzerne Wohnungstür öffnet sich nicht breiter als ein Briefkastenschlitz, und er fragt nach Bianka. Bevor die Tür sich wieder schließt, gibt eine dahinter stehende Frau kurz Auskunft:

„Entweder verreist, weggezogen oder gestorben.“

Er wundert sich über die Antwort, wendet sich ab und eilt nach draußen.

Da hat sie mal wieder Glück gehabt, diese Bitch, denkt er und fällt zurück in den Schalensitz seines Wagens.

Ich muss morgen meinen Psychiater fragen, ob man mit fünfundvierzig Jahren schon Midlifecrisis hat. Hört man dann Stimmen und hat Lesestörungen? Wird man so aggressiv, dass Gewaltfantasien im Kopfkino ablaufen?

Es ist inzwischen dunkel, auch hinter den Fenstern seiner Ex. Nach einer gefühlten Stunde Wartezeit im Auto will der Anwalt nicht länger den Stalker geben, startet den Motor und rollt langsam nach Hause.

Sein Wohnhaus ist menschenleer. Also beschließt er erneut, einen Leseversuch zu starten, aber erst nach einem starken Kaffee.

Das Ereignis zelebriert er ganz bewusst. Nachdem er den ersten Schluck des heißen Kaffees geschlürft hat, holt einen Vorgang aus seinem Aktenkoffer, setzt sich an den Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, schaltet die Tischlampe ein, öffnet die Akte und liest. Alles ganz normal, wie immer.

Freudig springt er auf und ruft:

„Ich habe es gewusst. Diese Hexe namens Bianka, will mir nur Angst machen, mich einschüchtern. Das könnte mit anderen klappen, aber nicht mit mir. Gibt es das überhaupt, dass eine unsichtbare, nicht anwesende Person, so einen Einfluss auf mich haben kann.“

Mittwoch, der 8. September

Aufgeregt hat Günther den übel riechenden Treppenflur der Ärztevilla durchschritten, ist eine Treppe emporgestiegen und sitzt nun in einem eingerichteten Raum, ähnlich einem Wohnraum. Sein Psychiater, der auch noch studierter Neurologe ist, sitzt ihm gegenüber.

„Wie geht es dir heute?“, fragt Dr. Oldenburg.

Typische Arztfrage, denkt Günther, sagt aber:

„Danke der Nachfrage, Werner, nicht besser als sonst, gestern hatte ich in der Stadtbibliothek eine Lese- und Schreibstörung. Im Büro bin ich völlig unkonzentriert. Meine aktenkundigen Fälle erscheinen mir alle fremd. Aggressionen steigen in mir auf. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.“

„Das haben wir alles bereits festgestellt, bis auf die Lese- und Schreibstörung. Es muss ein Trauma gegeben haben, was du verdrängt hast und deshalb nicht verarbeiten kannst. So etwas haben viele Menschen. Stundenlanges Fehlen der Erinnerung an den letzten Tag, an dem du dich von Bianka getrennt hast, ist kongrade Amnesie. Darüber haben wir auch gesprochen. Es ist alles noch frisch, liegt erst ein paar Tage zurück, und da werden wir zuerst angreifen. Wir versuchen heute mal, ein kleines Stück in deine Vergangenheit zu kommen“, formuliert der Psychiater ruhig.

„Na, wenn es eine Möglichkeit ist, um wieder klar im Kopf zu werden, dann bin ich für diesen Versuch. Das muss aber der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen, sonst bekomme ich keine Mandanten mehr.“

„Das versteht sich doch von selbst. Mach es dir mal waagerecht auf dieser Polsterliege bequem.“

Günther zieht Sakko und Schuhe aus, öffnet Schlips und Kragen und bettet seinen athletischen Körper zwischen den Kissen ein. Gemäß der Aufforderung schließt er die Augen, hört die einschläfernde Stimme des Psychiaters und stellt sich einen Weg vor, der eine Wiese teilt. Er hört noch ein paar beruhigende Worte und macht dann einen Zeitsprung in die Vergangenheit und in eine andere Umgebung.

„Alles was du siehst, ist nur ein paar Tage her. Du bist hier in deiner Heimat, in deinem Lebensmittelpunkt, in Bensheim. Wo bist du genau und was passiert gerade?“

„Zu Hause. Wir haben Streit.“

„Wer ist wir.“

„Meine Frau Karla und ich.“

„Worum geht es?“

„Das Geld ist knapp, weil ich zu wenig arbeite, meint sie.“

„Was fühlst du?“

„Wut, Erniedrigung, ungerechte Behandlung.“

„Was tust du?“

„Ich nehme meine Jacke und verlasse das Haus.“

„Ist zu diesem Zeitpunkt Bianka noch deine Geliebte?“

„Ja.“

„Ist es Vormittag oder Nachmittag?“

„Nachmittag.“

„Wo gehst du hin?“

„Ich fahre mit dem Auto an den Waldrand.“

„Warum?“

„Ich bin mit Bianka verabredet und will unsere Beziehung beenden.“

„Habt ihr euch getroffen?“

Der Patient antwortet nicht. Er atmet schwer. Schweiß hat sein Gesicht überzogen.

„Ich wiederhole meine Frage. Habt ihr euch getroffen?“

„Meine Freundin weint und schreit, plötzlich ist alles voller Blut. Sie ist verletzt. Ich will helfen, aber kann mich nicht bewegen.“

„Günther, du wachst jetzt sofort auf, wenn du meine Hand auf deiner Stirn spürst! Du bist hier bei mir, alles ist gut. Komm langsam hoch, trink mal einen Schluck Wasser.“

Der Patient öffnet die Augen, richtet sich auf, greift nach dem Wasserglas und macht einen geschockten Eindruck.

Nach einer kleinen Pause fragt Dr. Oldenburg:

„Was ist passiert. War das eindeutig Bianka, die du gesehen hast? Warum hat sie geweint und geschrien?“

„Ja, das war Bianka, obwohl die Bilder sehr unscharf waren, welche Frau soll es sonst gewesen sein? Ich habe die Beziehung mit ein paar Sätzen beendet und da hat sie emotional völlig überreagiert.“

„Wo wart ihr?“

„Das weiß ich alles noch genau und das habe ich auch schon vor dieser Rückführung gewusst. Wir saßen auf einer Bank im Wald. Hier erst endet meine Erinnerung.“

„Und warum war da plötzlich Blut. Hatte sie Nasenbluten? Hast du sie geschlagen?“

„Als ich mit ihr dort zusammen saß, war da kein Blut. Das habe ich jetzt eben zum ersten Mal gesehen. Ich weiß nicht, wo es herkam. Aus dem Kopf oder aus einem Ohr. Auf jeden Fall hat sich das Blut auf der Schulter zu einem Riesenfleck gesammelt.“

„Was ist dann passiert. Ist sie von der Bank gefallen?“

„Das weiß ich eben nicht.“

„Gut, Günther. Übermorgen machen wir genau an dieser Stelle weiter.“

Donnerstag, der 9. September

Der Anwalt wird heute völlig von seiner Tätigkeit vereinnahmt. Am Rande von Bensheim ist eine übel zugerichtete Frauenleiche gefunden worden. Ein Obdachloser, namens Walther Busch, der im Wald wohnt und im dringenden Tatverdacht steht, diese Frau getötet zu haben, wurde festgenommen. Für diesen Fall soll Günther die Pflichtverteidigung übernehmen. Es gibt eine Mitteilungssperre an die Presse. Dadurch wissen nur wenige von dem Mord.

In seiner Eigenschaft, als zukünftiger Strafverteidiger des Verdächtigen, hat er sich eine Kopie der Akte kommen lassen und liest sich ein. Irgendwie beschleicht ihn eine Angst, bei der toten Frau könnte es sich um Bianka handeln. Ob die Leiche bereits identifiziert ist, kann er aus der Akte nicht entnehmen. Mit Nachfragerei erweckt man nur Aufmerksamkeit. Er will sich die ermordete Frau mal ansehen. Sollte er die Verteidigung übernehmen, gehört die Leichenschau sowieso zum Pflichtprogramm.

Die Pathologie befindet sich in der Gustav-Lorenz-Straße, in Darmstadt, einer Nachbarstadt von Bensheim.

Doch vorher muss er noch eine Genehmigung vom Landgericht einholen, welches auch in Darmstadt am Mathildenplatz angesiedelt ist. Wenn die Autobahn frei ist, hat er nur knapp eine halbe Stunde Fahrstrecke. Doch die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten, ist gewöhnlich wegen Bauarbeiten eingeschränkt oder gesperrt.

In der Pathologie angekommen, stellt Günther zunächst fest, dass dieser Geruch hier doch ein anderer ist, als der in der Ärztevilla. Er bleibt im Gang stehen, lehnt sich an eine Kachelwand, schließt die Augen und sieht in Gedanken Bianka nackt in ihrem Bett vor sich, während er zwischen ihren Beinen liegt.

Was für eine faltenlose Schönheit, wie straff und narbenfrei die Bauchdecke, wie halbrund die kleinen Brüste, wie makellos ihre Haut, wie zart, feucht und unverbraucht ihre Geschlechtsorgane, wie lang ihre schönen Beine. Orchideenfleisch mit Alabasterhaut.

Er hört sein Herz schlagen und fühlt seine Erektion.

Ich muss das jetzt hinter mich bringen, treibt er sich an und geht mit kurzen Schritten und weichen Knien durch eine Eisentür auf den Sektionstisch zu.

Das darf nicht Bianka sein, wünscht er sich intensiv.

Die Leiche liegt nackt, nur mit einem Zettel am Zeh, auf der Metallplatte. Sie ist mit Abschürfungen und blauen Flecken übersät. Im Gesicht sieht die Frau aus, wie eine Boxerin nach der zehnten Runde. Der Hals hat Würgemale. Eine Öffnung des Körpers wurde bereits vorgenommen. Ein vernähter Y-Schnitt geht von den Schlüsselbeinen bis zum Schamhaaransatz. Die Brüste sind verschwollen und dicker als die von Bianka. Sie sind farbig, wie eine Landkarte. Haare hängen fettig und zerzaust herab.

Brechreiz lähmt Günthers Sprechwerkzeuge. Speichel schäumt im Mund auf. Er schluckt und schluckt. Das ist härter, als er dachte.

„Wurde sie vergewaltigt“, fragt Günther den anwesenden Rechtsmediziner.

„Ja, aber vermutlich erst als sie bewusstlos oder tot war.

Typische Vergewaltigungsverletzungen haben wir kaum gefunden.“

„Haben sie den Zustand auch fototechnisch protokolliert?“

„Natürlich, wie immer.“

„Ich müsste trotzdem den Schambereich mal sehen“, verlangt der Anwalt.

Die Leichenstarre ist einer gewissen Biegsamkeit gewichen und der Pathologe spreizt die Beine. Erst jetzt ist Günther sich hundertprozentig sicher.

---ENDE DER LESEPROBE---