Die anderen Geschlechter - Dagmar Pauli - E-Book

Die anderen Geschlechter E-Book

Dagmar Pauli

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Beschreibung

Wir müssen zuhören, um zu begreifen. Und wir müssen uns die richtigen Fragen stellen und verstehen, was uns Angst macht. Dabei klar und sachlich aufklären und argumentieren. Das alles tut dieses Buch, das mit Dagmar Pauli eine Psychiaterin verfasst hat, an deren Klinik bereits vor 15 Jahren eine regelmäßige trans-Sprechstunde eingeführt wurde. Die aktuelle und von den Medien aufgeputschte Debatte über die Rechte von trans Menschen wird polemisch geführt und geht an den eigentlichen Fragen vorbei: Wie können wir Menschen mit diversen Geschlechtern und Geschlechtsidentitäten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen? Wie können wir junge Menschen sorgfältig auf dem Weg begleiten, ihre eigene Identität zu finden und zu leben? Was ist überhaupt das Geschlecht und wie wird es definiert? Und was ist Nicht-Binarität – gibt es das nur in einer binären Welt? Können Menschen und wenn ja ab welchem Alter selbst über ihr Geschlecht entscheiden? Das Buch greift diese Fragen auf und sucht zusammen mit jungen und diversen Menschen nach Antworten. Es ist ein Buch, das der jungen Generation eine Stimme geben und der älteren Generation helfen soll, diese anzuhören – ein Beispiel für den notwendigen Dialog, der Veränderungen möglich macht.

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Dagmar Pauli

Die anderen Geschlechter

Nicht-Binarität und andere ganz trans* normale Sachen

C.H.Beck

Zum Buch

Was Jugendliche und Erwachsene über trans*, cis und nicht-binär wissen sollten

Die aktuelle und von den Medien aufgeputschte Debatte über die Rechte von trans Menschen wird polemisch geführt und geht an den eigentlichen Fragen vorbei: Wie können wir Menschen mit diversen Geschlechtern und Geschlechtsidentitäten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen? Wie können wir junge Menschen sorgfältig auf dem Weg begleiten, ihre eigene Identität zu finden und zu leben? Was ist überhaupt das Geschlecht und wie wird es definiert? Und was ist Nicht-Binarität – gibt es das nur in einer binären Welt? Können Menschen und wenn ja ab welchem Alter selbst über ihr Geschlecht entscheiden? Das Buch greift diese Fragen auf und sucht zusammen mit jungen und diversen Menschen nach Antworten. Es ist ein Buch, dass der jungen Generation eine Stimme geben und der älteren Generation helfen soll, diese anzuhören – ein Beispiel für den notwendigen Dialog, der Veränderungen möglich macht.

Über die Autorin

Dagmar Pauli ist Chefärztin und medizinisch-therapeutische Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Sie befasst sich mit Essstörungen, Geschlechtsidentität und Selbstverletzungen bei Jugendlichen. Pauli ist verheiratet und Mutter dreier erwachsener Kinder. Bei C.H.Beck ist von ihr erschienen: Size Zero. Essstörungen verstehen, erkennen, behandeln (2018).

Inhalt

Vorwort

1. Nicht-Binarität in der jungen Generation: Gesellschaftliche Bewegung, Medienhype, Spleen?

Eine neue Welt: Die Infragestellung der Geschlechtskategorien verunsichert uns

2. Die total gegenderte Welt

3. Gibt es mehr als zwei Geschlechter?

Gibt es körperlich mehr als zwei Geschlechter?

Gibt es psychisch mehr als zwei Geschlechter?

Die rechtliche Situation

4. Was ist Nicht-Binarität? Wie fühlt sich eine nicht-binäre Geschlechtsidentität an?

Wie fühlt sich Nicht-Binarität an?

Nicht-Binarität in der Gesellschaft: Wie geht es weiter?

Was brauchen Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität?

Reaktionen auf Nicht-Binarität: Abwehr und Angst

5. Was ist Geschlechtsidentität und wie entwickelt sie sich?

Geschlechtsidentität und Kultur

Neue Sichtweisen: Die Definition der Geschlechtsidentität

Woran erkennt man Geschlechtsidentität? Wie wird sie «festgestellt»?

6. Über die (Gender-)Sprache und was sie über uns aussagt

Wie geht gendersensible Sprache: Ein Guide

7. Was hat trans mit Sexualität zu tun?

8. Trans und Familie

Was die Familie für trans Menschen bedeutet

Trans und Kinderwunsch

9. Was brauchen trans Kinder, Jugendliche und ihre Familien?

Das geschlechtsvariante Kind

Sind alle geschlechtsvarianten oder geschlechtsinkongruenten Kinder später trans Menschen? Was ziehen wir für Schlussfolgerungen aus der Debatte um Persister und Desister?

Was brauchen geschlechtsinkongruente Kinder?

Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz

Affirmativ oder ergebnisoffen? Kein Widerspruch

Psychotherapeutisch fundierte Begleitung

Ein gemeinsamer Prozess der Familie

Pubertätsblockade

Abbildungen

Geschlechtsangleichende Behandlungen

Neurodiversität und Geschlechtsdiversität: Wenn die Geschlechtsinkongruenz mit Autismus einhergeht

Ethische Erwägungen

10. Wie wurde und wird trans in verschiedenen Epochen und Kulturen gelebt?

Trans im Spiegel der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung

Hijras in Südasien

Two-Spirits der indigenen Völker Nordamerikas

Burrneshas im Balkan

Historische Beispiele der westlichen Kultur

11. Medizin und trans: Von der Repression zur Selbstbestimmung der Betroffenen

12. Wie geht es trans Menschen heute?

Exkurs: Wie ist es in Laos heute, nicht-binär zu sein?

13. Warum steigt die Zahl junger trans Menschen? Warum gibt es besonders viele trans männliche Jugendliche?

Fazit

14. Transition – Detransition

15. Wer hat Angst vorm weichen Mann (und vor der harten Frau)?Oder: Wer macht sich Sorgen über was?

Manche konservativen Menschen

Manche harten Männer

Manche trans Menschen

Manche Feministinnen

Warum ich den Begriff TERF nicht verwende

Manche besorgten Eltern

Worüber mache ich mir selbst Sorgen?

16. Wie reagiert die trans Community?

17. Ausblick: Wie geht es weiter?

Dank

Glossar: Das kleine Gender-Wörterbuch

Anmerkungen

1. Nicht-Binarität in der jungen Generation: Gesellschaftliche Bewegung, Medienhype, Spleen?

2. Die total gegenderte Welt

3. Gibt es mehr als zwei Geschlechter?

4. Was ist Nicht-Binarität? Wie fühlt sich eine nicht-binäre Geschlechtsidentität an?

5. Was ist Geschlechtsidentität und wie entwickelt sie sich?

6. Über die (Gender-)Sprache und was sie über uns aussagt

7. Was hat trans mit Sexualität zu tun?

8. Trans und Familie

9. Was brauchen trans Kinder, Jugendliche und ihre Familien?

11. Medizin und trans: Von der Repression zur Selbstbestimmung der Betroffenen

12. Wie geht es trans Menschen heute?

13. Warum steigt die Zahl junger trans Menschen? Warum gibt es besonders viele trans männliche Jugendliche?

14. Transition – Detransition

15. Wer hat Angst vorm weichen Mann (und vor der harten Frau)?Oder: Wer macht sich Sorgen über was?

16. Wie reagiert die trans Community?

Bildnachweis

Für alle, die mich auf meiner Reise begleitet und mir geholfen haben, mehr zu verstehen

Vorwort

Meine Reise durch das Thema Geschlechtsidentität begann im Jahr 2010. Damals tauchten die ersten Jugendlichen in der Sprechstunde für Transsexualität (so hieß es damals) in Zürich auf. Schon bald zeigte sich, dass diese jungen Menschen nicht einfach wie Erwachsene behandelt werden konnten. Sie lebten in ihren Familien und waren Teil einer Schulklasse. Sie waren in ihrer Identität oft noch nicht gefestigt. Wir sahen damals einige junge Menschen zwischen sechzehn und achtzehn Jahren in unserer neuen Gender-Sprechstunde für Jugendliche und begannen, Erfahrungen zu sammeln. Ich hatte gehört, dass es in den Niederlanden für junge trans Menschen Pubertätsblockaden gibt. Für uns war aber damals klar, dass das in der Schweiz völlig undenkbar wäre. Wir befürchteten Anfeindungen, wenn nicht gar Prozesse, wenn wir so etwas hier einführen würden.

Dann kam Lorena. Lorena war ein zwölfjähriges Mädchen. Sie hatte viele Freundinnen und ging gern zur Schule. Sie war glücklich. Sie war ein trans Mädchen vor der Pubertät. Wir sahen sie wenige Male in der Sprechstunde, berieten die Eltern und sagten ihr, sie könne sich dann mit sechzehn Jahren wieder bei uns melden, wenn sie alt genug für weitere Entscheidungen über ihren Lebensweg wäre. Der nächste Anruf kam dann aber einige Monate später aus der stationären Psychiatrieabteilung. Dort war Lorena eingeliefert worden, weil sie plötzlich depressiv und suizidal geworden war. Die Pubertät hatte begonnen und der Stimmbruch eingesetzt. Ich war schockiert. Konnten wir diesen Jugendlichen nichts anbieten, mussten wir sie einfach in eine Pubertät laufen lassen, die so gar nicht ihrer Identität entsprach? Ich fuhr nach Amsterdam und erkundigte mich dort in der Klinik, wie sie die Behandlung machen, welche Abklärungen sie durchführen und wie diese Jugendlichen dort begleitet wurden. Als ich zurückkam, nahm ich Kontakt mit der Endokrinologie der pädiatrischen Abteilung in Zürich auf. Der damalige Chef reagierte zunächst ablehnend. Ich bat ihn, Lorena doch mal anzusehen. Nachdem er sie kennen gelernt hatte, willigte er ein, die Pubertätsblockade bei ihr durchzuführen. Lorena war sehr erleichtert und entwickelte sich gut. Heute ist sie eine erwachsene lebenstüchtige Frau.

Meine Reise setzte sich fort, indem ich im Laufe von dreizehn Jahren mit über dreihundert Jugendlichen in der Gender-Sprechstunde gesprochen habe. In dieser Zeit habe ich viel gelernt, vor allem von den Betroffenen selbst. Aber nicht nur die Jugendlichen waren meine Inspiration, sondern auch erwachsene trans Menschen, die ich in unserer Fachgruppe kennen lernte. Von ihnen erfuhr ich, wie es sich anfühlt, sich in einer transfeindlichen Welt zu bewegen, durchzusetzen, zu integrieren. Wie es in früheren Jahren war. Was sie gebraucht hätten, als sie noch jung waren.

Meine Einstellungen zum Thema Geschlecht und trans haben sich in dieser Zeit gewandelt. Hätte ich das Buch vor zehn Jahren geschrieben, wäre es mit Sicherheit anders geworden. Ich habe lange gezögert, diese Thematik in Angriff zu nehmen. Zu vorläufig, zu offen, zu unfertig schienen (und scheinen) mir meine Sichtweisen, zu gering die Datenlage der Studien, zu rasend schnell finden die Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld und im Diskurs statt, als dass schon ein Resümee meiner eigenen Erfahrungen und des aktuellen Wissensstandes zu wagen wäre. Da die aktuelle Berichterstattung in den Medien und der öffentliche Diskurs mir häufig zu oberflächlich, plakativ und sogar irreführend erscheinen, habe ich mich aber nun doch entschlossen, dieses Buch zu schreiben. Ich möchte sachliche Information beifügen und den Betroffenen eine Stimme geben. Im Wissen, dass wir vielleicht in einigen Jahren manches anders denken werden und dass vieles kritisiert werden kann.

Ich bedaure sehr, dass die aktuelle und von den Medien aufgeputschte Debatte über die Rechte von trans Menschen polemisch und polarisiert geführt wird. Wir müssen zuhören, um zu verstehen. Wir müssen uns die richtigen Fragen stellen und begreifen, was uns Angst macht. Wir müssen die Sorgen der Menschen ernst nehmen. Wir müssen klar und sachlich aufklären und argumentieren. Das Ziel muss sein, dass die Gesellschaft sich den Bedürfnissen der jüngeren Generation öffnet und dass Minderheiten ihren Platz finden und als Bereicherung erlebt werden.

In der aktuellen Debatte über die Rechte von trans Menschen wird zu wenig zugehört. Es wird mehr darüber diskutiert, ob trans Menschen tolerant genug sind gegenüber solchen, die ihre Existenz nicht anerkennen möchten, oder ob die Forderung nach geschlechtsneutralen Toiletten und Pronomen eine Zumutung ist, als über die wirklich zentralen Fragen: Wie können wir Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtern und Geschlechtsidentitäten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen? Wie können wir junge Menschen sorgfältig auf dem Weg begleiten, ihre eigene Identität zu finden und zu leben? Wie können wir neue gesellschaftliche Themen an Menschen heranbringen, denen diese Angst machen?

Was ist das Geschlecht und wie wird es definiert – über die biologischen Merkmale, über bestimmte Eigenschaften, oder ist es eine Selbstdefinition? Was ist Nicht-Binarität – gibt es das nur in einer binären Welt? Wofür brauchen wir die soziale und amtliche Geschlechtseinteilung überhaupt? Was kann von der Mehrheit gefordert werden an Anpassungsleistungen, um Minderheiten Respekt zu zeigen und ihnen die soziale Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen? Können Menschen und wenn ja ab welchem Alter selbst über ihr Geschlecht entscheiden?

Die Idee dieses Buches ist es, diese Fragen aufzugreifen und zusammen mit jungen und von ihrer Identität her sehr unterschiedlichen Menschen Antworten zu suchen. Es ist ein Buch, das der jungen Generation eine Stimme geben und der älteren Generation helfen soll, diese anzuhören. Aus diesem Grund habe ich das Buch mit der Hilfe von jungen (und jung gebliebenen) Menschen unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten geschrieben. Das Buch soll ein Beispiel für den notwendigen Dialog sein, der Veränderungen möglich macht. Meine Reise ist noch nicht zu Ende, ich lerne täglich dazu.

1. Nicht-Binarität in der jungen Generation: Gesellschaftliche Bewegung, Medienhype, Spleen?

Wenn wir uns umschauen, sehen wir neue Phänomene, die uns irritieren – auf der Straße, in Schulen, bei jungen Menschen, aber auch in älteren Generationen: Nicht alle Personen lassen sich problemlos rein optisch einem Geschlecht zuordnen. Manche scheinen dazwischen zu stehen. Sie kleiden sich nicht geschlechtstypisch oder nutzen Accessoires, die offensichtlich nicht zu dem ihnen zugeordneten Geschlecht passen. Das waren wir bereits von Stars gewöhnt wie Elton John oder David Bowie, aber nicht von Jugendlichen in einer normalen Schulklasse. Da sehen wir plötzlich männlich wirkende Personen, die mit lackierten Nägeln oder Lippenstift auftauchen. Geschlechtsuntypisches Aussehen oder Auftreten irritiert uns sehr, insbesondere wenn wir die Person aufgrund von sekundären Geschlechtsmerkmalen als männlich identifizieren.

Die Frauenbewegung hat erreicht, dass wir Menschen, die wir als Frauen zu erkennen glauben, auch mit «männlichen Verhaltensweisen» und «männlicher Kleidung» akzeptieren. Tomboys sind ein bekanntes Phänomen, das uns weniger Angst macht als eine von uns als Mann zugeordnete Person, die Frauenkleider oder Frauenaccessoires trägt. Was genau geschieht hier? Und was macht uns Angst? Was löst Unbehagen oder Abwehr aus? Warum sind wir so erpicht darauf, Menschen unmittelbar einer Geschlechtsgruppe zuzuordnen? Es sieht so aus, als wenn ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft große Mühe mit der aktuellen «Auflösung» der Geschlechtskategorien hat, die ich persönlich bislang noch eher als «Auflockerung» bezeichnen würde. Wir werden uns im Folgenden eingehend mit dieser Angst beschäftigen müssen, da sie meiner Ansicht nach einen erheblichen Teil zur aktuell aufgeheizten Debatte um trans, Gendersternchen und Geschlecht beiträgt.

Zunächst befassen wir uns aber mit dem Phänomen und versuchen zu verstehen, was hier vor sich geht. Es geht bei diesem Phänomen um die Geschlechtsidentität. Diese bezieht sich auf die innere Definition in Bezug auf das Geschlecht, also die eigene Zuordnung als Mann, Frau, in einem Raum zwischen diesen Polen bzw. in keiner dieser Kategorien. Mit anderen Worten: Geschlechtsidentität beschreibt unser Gefühl in Bezug auf das eigene Geschlecht. Dies wird oft mit dem Thema Sexualität vermischt, sollte aber getrennt betrachtet werden. Grundsätzlich hängen diese beiden Themen nicht direkt zusammen. Die Frage, wer ich bin, besteht unabhängig davon, in wen ich mich verliebe.

Seit einigen Jahren sehe ich in meiner Sprechstunde eine zunehmende Zahl von Jugendlichen, die sich weder mit der Zuordnung zum männlichen noch zum weiblichen Geschlecht wohlfühlen. Sie identifizieren sich als nicht-binär und sehen sich zwischen den Polen männlich und weiblich. Oder sie sind genderfluid und wechseln in der Identifikation; sie fühlen sich an einigen Tagen mehr weiblich, an anderen männlich. Sie leiden unter der sozialen Zuordnung zu einer bestimmten Geschlechtskategorie und wünschen sich geschlechtsneutrale oder keine Pronomen. Eltern sollen über sie zum Beispiel nicht mit dem Pronomen «sie» und mit dem Ausdruck «meine Tochter» sprechen, sondern das Pronomen «they» und den Ausdruck «mein Kind» verwenden. Nicht selten stoßen diese Jugendlichen in ihrer Umgebung auf Irritation, Unverständnis oder sogar Ablehnung. Eltern und Lehrpersonen empfinden es teilweise als Zumutung oder lächerlich, wenn sie sich diesen Wünschen anpassen sollen. Ich kenne viele nicht-binär identifizierte junge Menschen und Erwachsene, die beschreiben, wie schwierig ein Leben zwischen den Geschlechtern in unserer Gesellschaft aktuell noch ist. Viele von ihnen haben sich erst vor kurzem geoutet, da sie bislang keine Worte für ihr Empfinden gefunden hatten oder meinten, ganz allein damit dazustehen. Es gab schon immer Menschen, die sich zwischen den Geschlechtern fühlten, meistens waren sie jedoch nicht öffentlich sichtbar. Inzwischen zeigen sie sich zunehmend als nicht-binär und wünschen sich Sichtbarkeit und Anerkennung. Ein Beispiel hierfür ist Matthias*, der seine/ihre eindrückliche Geschichte in Kapitel 4 beschreibt. Matthias* erzählt, dass er/sie für seine/ihre nicht-binäre Identität und das Leiden unter der Zuordnung als Mann lange keine Bezeichnung hatte und erst entdecken musste, dass Matthias* gleichzeitig Mann und Frau sein kann. Matthias* befürchtete Ablehnung und Jobverlust. Erst seit Matthias* als nicht-binäre Person lebt und von der eigenen Familie, dem privaten Umfeld und bei der Arbeit so akzeptiert ist, hat er/sie das Gefühl, in seinem Leben angekommen zu sein.

Gerade kürzlich sah ich Sam, einen fünfzehnjährigen Jugendlichen mit nicht-binärer Identität. Sam schildert eindrücklich, wie es ihm mit der sich biologisch entwickelnden Männlichkeit geht. Er benutzt männliche Pronomen. Sam schaut sich im Spiegel an und leidet unter den zunehmend männlichen Gesichtszügen. Ich schaue und sehe eine zierliche und feine Person mit geschlechtsneutralem Ausdruck und feinen Gesichtszügen. Sam lackiert sich die Fingernägel und trägt gerne weiblich konnotierte Accessoires. Ich versuche zu verstehen. Ich bin geneigt zu denken, dass der Leidensdruck hier vielleicht nicht so hoch ist, dass Sam mit den Geschlechterkategorien «spielt» und sich einfach ausprobiert. Im Familiengespräch stelle ich fest, dass die Eltern nicht so erstaunt oder entrüstet sind, wie ich es von einigen anderen Eltern kenne, deren Kind sich als nicht-binär outet. Sie hören gut zu und versuchen, Sam zu verstehen.

Gegen Ende des Gesprächs spricht der Vater plötzlich seine eigene Jugend an. Er habe sich ganz ähnlich wie Sam gefühlt, habe große Mühe gehabt mit der sich entwickelnden Männlichkeit. Er sehe auch heute noch seine Gesichtszüge als zu männlich an und leide darunter. Ich bin sehr erstaunt, denn ich sehe einen feingliedrigen Mann mit eher femininen Gesichtszügen vor mir. Sam berichtet nun, wie stark er unter der binären Zuordnung leidet und dass er sich nicht als Mann sieht. Häufig sei er niedergeschlagen und fühle sich stark belastet bei der Vorstellung, dass er sich weiter vermännlicht. In vertiefenden Gesprächen merke ich, dass ich mich geirrt habe: Sam leidet sehr stark unter der Zuordnung zum männlichen Geschlecht und wünscht sich mehr Zeit, um herauszufinden, in welcher Weise er sein Geschlecht leben kann. Der Vater unterstützt ihn und meint, dass er vielleicht auch eine nicht-binäre Geschlechtsidentität gewählt hätte, wenn es diese damals schon gegeben hätte. Es ist kein Einzelfall, wenn Transidentität oder eine Neigung zu Geschlechtsvarianz in der Familie liegt. Mit einer anderen Familie in der Sprechstunde erlebte ich eine ähnliche Geschichte: Kim ist ein nicht-binärer Jugendlicher mit dem Pronomen «er», der als Kind dem weiblichen Geschlecht zugeordnet worden war. Sein Vater berichtet, dass diese Thematik ihm nicht fremd sei. Er habe als Jugendlicher viele Fragen zu seiner eigenen Geschlechtsidentität gehabt. Kims Vater meinte: In meinem nächsten Leben würde ich ganz sicher als Frau zur Welt kommen wollen.

Die Beispiele von Matthias* und Sams sowie Kims Vater zeigen, dass es auch in der älteren Generation Menschen gibt, die sich zwischen den Geschlechtern fühlen oder mindestens solche Phasen durchlebt haben und für die diese Thematik nicht fremd ist. Erst durch die neue Energie der Jugendlichen in diesem Thema werden gesellschaftliche Veränderungen ermöglicht, die auch Menschen der älteren Generationen eine kritische Reflexion und in manchen Fällen ein entsprechendes Leben ermöglichen.

Ein weiteres eindrückliches Beispiel dafür, dass Nicht-Binarität erst denkbar sein muss, bevor sie erlebt und gelebt werden kann, ist Judith Butler. Sie ist eine bekannte Philosophin, die mit dem wegweisenden Buch Gender Trouble die Diskussion über die vorgegebenen Geschlechtskategorien entscheidend angestoßen hat. Über ihre eigene Geschlechtsidentität äußerte sie sich wie folgt (Übersetzung durch die Autorin): «Ich denke immer noch, dass mir die Pronomen von anderen gegeben werden, was ich interessant finde, da ich eine ganze Reihe von ihnen erhalte – daher bin ich immer etwas überrascht und beeindruckt, wenn die Leute sich selbst für ihre Pronomen entscheiden, oder sogar dann, wenn sie mich fragen, welche Pronomen ich für mich bevorzuge. Ich habe keine einfache Antwort, obwohl ich die Welt von «they» genieße. Als ich Gender Trouble geschrieben habe, gab es keine nicht-binäre Kategorie – aber inzwischen weiß ich nicht mehr, wie ich nicht zu dieser Kategorie gehören könnte.»[1]

Obwohl sie für die radikale Infragestellung vorgegebener Geschlechtskategorien plädierte, konnte sie sich 1990 eine nicht-binäre Geschlechtsidentität für sich selbst nicht wirklich vorstellen. Es gab diese Kategorie einfach noch nicht.

Ein großer Teil der Erwachsenenwelt ist aktuell geneigt, die neu aufkommende Infragestellung der Geschlechtskategorien zu belächeln oder abzulehnen. Die Gedanken sind für sie sehr neu, klingen absurd. So absurd, wie es etwa für Menschen des 18. Jahrhunderts geklungen haben mag, wenn jemand die Gleichberechtigung von Schwarzen Menschen oder Frauen einforderte. Eine Bewegung, die sich gegen eine gesellschaftlich vorgegebene Einteilung wehrt und im ersten Moment einen absurden Eindruck erweckt, muss nicht notwendigerweise ein vorübergehender Hype oder ein Spleen einzelner besonderer Personen sein. Wir müssen uns auch der Möglichkeit öffnen, dass hier vielleicht eine völlig neue Denkweise heranreift, der wir uns stellen müssen; ein Wertewandel, der unsere Gesellschaft nachhaltig beeinflussen wird. Als Beispiel können wir die Frauenbewegung nehmen, die ebenfalls anfänglich von ihren Gegnern als unnatürliche und übersteigerte Spinnerei abgetan wurde. Wie viele Männer haben diese Bewegung belächelt oder bekämpft? Wie viele Frauen haben sich nicht gewehrt gegen die Zuordnung zur herkömmlichen Geschlechterrolle, die ihnen eine intellektuelle und selbständige Entwicklung verbot, und passten sich dem kulturell überlieferten Frauenbild an? Vermutlich die meisten. Aber es gab schon immer eine Minderheit von Frauen, die gegen die herrschende Ordnung aufbegehrte und die sich selbst anders definieren wollte. Diese Frauen wurden als «unnatürlich» gebrandmarkt und abgelehnt. Damals wie heute wurde und wird mit der Natur argumentiert. Die Beobachtung zeigte damals klar, dass die «Natur» der Frau dem Bild entsprach, welches sich die Gesellschaft von ihr machte: Sie war wenig intellektuell, unselbständig und emotional irritierbar und brauchte daher Führung und Leitung durch den Mann. Heute scheint uns das absurd, aber aus damaliger Sicht wurde das als «natürlich», weil häufig beobachtbar, beschrieben. Ebenso verhielt es sich mit der Sexualität bis Mitte des letzten Jahrhunderts und an vielen Orten der Welt noch bis heute. Die Heterosexualität wurde als «natürlich» angesehen und als Norm festgelegt, da sie die am häufigsten beobachtbare Ausdrucksform der Sexualität bei Menschen ist. Andere Formen der Sexualität wurden als «unnatürlich» gebrandmarkt und verfolgt. Wir können also schlussfolgern, dass wir jeweils dazu neigen, das als «natürlich» zu definieren, was häufig beobachtet wird. In jeder Epoche neigen die Menschen dazu, die aktuell gültigen Beobachtungen als «Wahrheiten» und «natürlich» und somit als endgültig zu betrachten. Und so geht es uns jetzt mit dem Geschlecht: Die Beobachtung, dass fast alle Menschen sich zu einer der beiden vordefinierten Geschlechtskategorien zugehörig fühlen, lässt uns glauben, dass dies für alle so sein müsse und «natürlich» sei.

Die Infragestellung der Geschlechterdefinition und der Kategorisierung von Verhalten in «männlich» und «weiblich» ist durch die Globalisierung in vielen Ländern gegenwärtig. Im Juli 2022 erregte der kolumbianische Abgeordnete Andrés Cancimance weltweites Aufsehen, da er in High Heels im Parlament erschien. Weltweites Aufsehen aufgrund von ein paar Schuhen! Er wollte mit dieser Aktion auf die Rechte von LGBTIQ-Menschen aufmerksam machen. Es ist bemerkenswert, dass es ihm gelungen ist, die Medien in aller Welt dazu zu bringen, ihn im Anzug und mit Stilettos abzulichten und sogar Interviews mit ihm zu veröffentlichen. Auch dies ist wieder ein Beispiel dafür, wie binär unsere Welt noch ausgerichtet ist und wie stark unsere Geschlechtsklischees weltweit wirksam sind. Es handelte sich um nichts weiter als einen Menschen mit männlichen Attributen, der weiblich konnotierte Schuhe trägt. Es ist aber auch ein Beispiel dafür, dass die Infragestellung dieser Zuordnungen in vielen Ländern auf der Tagesordnung steht.

Eine neue Welt: Die Infragestellung der Geschlechtskategorien verunsichert uns

Die Debatte über soziale Geschlechtsunterschiede zwischen Frau und Mann wurde im 20. Jahrhundert ebenso erbittert geführt wie aktuell diejenige über die Rechte von trans Menschen und über die Infragestellung der Binarität der Geschlechter. Mit der Diskussion über die angeblich «natürlichen» Geschlechtsunterschiede zwischen Frau und Mann war die Frage nach der Gleichstellung der (vorerst beiden) Geschlechter so eng verknüpft, wie heute die Frage der Rechte von trans Menschen mit der Diskussion zusammenhängt, ob es Geschlecht(er) jenseits der beiden Pole männlich und weiblich gibt. Sowohl Menschen, die körperlich zwischen den Geschlechtern stehen, als auch Personen, deren psychisches Geschlecht – im Sinne einer inneren Überzeugung über das eigene Geschlecht – nicht mit dem körperlichen übereinstimmt, fordern Sichtbarkeit und Respekt ein. So wie die Debatte der Gleichstellung von Frau und Mann viele Ängste geweckt hat, so reagiert auch jetzt ein Teil der Erwachsenenwelt mit großen Vorbehalten, Sorgen und Abwehr, wenn es um Nicht-Binarität geht. Auch in der Frauenbewegung waren es vorwiegend junge Menschen (vor allem Frauen), die sich nicht mehr in das vorgegebene Schema fügen wollten, das ihre Geschlechterrolle für sie vorgesehen hatte – so wie heute viele junge Menschen das binäre Geschlechterschema an sich in Frage stellen. Sie konfrontieren uns mit völlig neuen Themen, die uns irritieren.

Was ist nun neu an diesen Fragen, mit denen ein Teil der jungen Menschen uns heute konfrontiert? Lange haben wir uns schon mit der Frage der (für uns zwei) Geschlechter beschäftigt, indem wir versucht haben zu ergründen, welche Unterschiede es gibt und woher sie stammen. Wir haben uns damit beschäftigt, ob es richtig ist, Menschen in bestimmte Rollenmuster zu zwängen, weil sie «Jungen» oder «Mädchen» sind. In der westlichen Welt gibt es inzwischen einen gesellschaftlichen Konsens, dass wir die Geschlechter gleich oder ähnlich behandeln sollten oder sie mindestens die gleichen Rechte haben sollen. Wir setzen dies aber nur zögerlich um, weil die Rollenvorstellungen in unserer Kultur sehr fest verankert sind und sich nur sehr langsam aufweichen lassen. Junge Menschen bringen nun erstmals die Frage auf, ob und wozu wir die Einteilung der Geschlechter nach Eigenschaften, Verhaltensweisen, Vorlieben und Kleidung überhaupt brauchen. Ist es richtig, dass die Geschlechtszuordnung einer Person von außen festgelegt wird, oder kann jeder selbst darüber bestimmen? Gibt es mehr als zwei Geschlechter? Brauchen wir eine kategoriale Geschlechtseinteilung in unseren Köpfen? Brauchen wir mehr als zwei amtliche Geschlechtseinträge? Oder brauchen wir etwa überhaupt keinen amtlichen Geschlechtseintrag mehr?

«Doch, wir brauchen einen Geschlechtseintrag!», klingt es vielstimmig aus ganz unterschiedlicher Motivationslage heraus. «Wir brauchen ihn, um unsere traditionelle Familienstruktur zu erhalten, die aus einem Elternpaar ‹Mann› und ‹Frau› besteht.» – «Wir brauchen ihn, um Unterschiede in der Medizin zu erklären und geschlechtsspezifische Behandlungen zu ermöglichen.» – «Wir brauchen ihn, um im Sport Gerechtigkeit zu schaffen.» – «Wir brauchen ihn, um Benachteiligung von Frauen aufzuzeigen und anzugehen.» Für einige dieser Probleme gibt es Lösungen, die nicht in einer binären Geschlechtseinteilung liegen. Könnten wir zum Beispiel im Sport mehrere Testosteron-Kategorien einführen anstatt einer binären Mann-Frau-Einteilung, um so auch den intergeschlechtlichen Sportler:innen besser gerecht zu werden? Könnten wir uns in der Medizin auf die biologisch-genetische Geschlechtlichkeit berufen anstatt auf einen amtlichen Geschlechtseintrag? Ohnehin müssen wir differenziert vorgehen, weil eine Hormonbehandlung auch die körperliche Realität verändert. Wird die funktionierende Familie tatsächlich in Frage gestellt, wenn wir in unseren Pässen kein m und f mehr haben bzw. mehrere solcher Kategorien existieren würden? Auch Familien mit trans Personen als Eltern können Kindern ein liebevolles und entwicklungsförderndes Umfeld bieten. Können wir Lohnungerechtigkeiten, die ja nicht nur geschlechtsbezogen, sondern in allererster Linie sozial bedingt sind, auch anders angehen?

Viele junge trans und cis Menschen (als cis werden alle Menschen bezeichnet, die nicht trans sind, also mit ihrem körperlichen Geschlecht im Einklang stehen) erleben Geschlechtsidentität und sexuelle Identität anders als frühere Generationen. Erwachsene homosexuelle oder trans Menschen berichten mir, dass sie ihre Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung in ihrer Lebensgeschichte als etwas Gegebenes angesehen haben. Ein Schicksal, gegen das sie sich wehren wollten oder das sie akzeptieren mussten. Sie beschreiben ihre Identität als eine Notwendigkeit. Jüngere Menschen schildern mir die Identitätsentwicklung eher als einen Prozess der Selbstfindung. Sie sprechen davon, dass sie ihre Identität «definieren». «Ich habe mich früher als nicht-binär definiert und definiere mich jetzt als trans maskulin, weil das noch besser zu mir passt», sagen sie zum Beispiel. Wie sollen wir das verstehen? Findet hier eine «Ansteckung» durch das Internet statt, haben sie Flausen im Kopf durch seltsame Vorbilder von Menschen, die ihnen so etwas vorleben? Oder bahnt sich hier eine gesellschaftliche Veränderung an ähnlich der Befreiung der Frau von einer vorgegebenen «weiblichen» Rolle oder der Befreiung der Menschen im Laufe der Jahrhunderte von vorgegebenen sozialen und beruflichen Rollen?

Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wohin diese Thematik uns führen wird, da sie noch zu neu ist. Die queer (auf Deutsch: seltsam, eigenartig) Bewegung stellt die Selbstdefinition der Menschen und die Diversität der Identitäten ins Zentrum. Auch viele der älteren LGBT-Menschen können mit der neuen queer Bewegung nichts anfangen. So äußerte der homosexuelle Autor und Komiker David Sedaris im Dezember 2021 in einem Interview mit der New York Times: «Ich würde mich eher als ‹homosexuell› bezeichnen, nicht als ‹queer›. Für Leute meines Alters war das der Ausdruck, wissen Sie. Aber mich stört nicht das Wort, sondern die Tatsache, dass unbedingt ein neuer Name hermusste. Deshalb bezeichne ich mich heute als ‹straight›.» Straight (auf Deutsch: gerade, geradlinig) ist ein Ausdruck, der bislang für heterosexuelle cis Menschen verwendet wurde, um diese von homosexuellen bzw. queeren Menschen zu unterscheiden. Im Sinne von David Sedaris ist mit straight gemeint: Ich sehe mich als normal. Ich verstehe die jungen Leute nicht, die bewusst seltsam sind, und ich möchte mit diesen neuen queeren Ideen nichts zu tun haben, sie passen nicht zu mir.

Obwohl es unser gutes Recht ist, die queer Bewegung nicht als die unsere anzusehen, müssen wir uns doch damit befassen, wie sie zustande kommt und was sie über die Gesellschaft aussagt. Die Jugendlichen zeigen uns, dass sie nicht mehr einverstanden sind mit einer starren Geschlechterordnung. Eine Ordnung, die nur für einen Teil der Menschen stimmt und die einen anderen Teil außen vor lässt. Manche Erwachsene sind irritiert oder entrüstet, andere aber fühlen sich befreit. Mehrere erwachsene trans Menschen haben mir erzählt, dass sie gerne eine nicht-binäre Geschlechtszuordnung gewählt hätten, wenn es diese damals schon gegeben hätte.

Viele Jugendliche sind ständig in den sozialen Medien unterwegs. Sie werden durch diese beeinflusst, aber sie generieren durch ihre Inputs auch Trends, die weltweit Wellen schlagen. Sind sie Opfer eines Trends, lassen sie sich von einem Hype beeinflussen? Oder ist hier eine nachhaltige neue Bewegung im Gange, die selbstverständlich auch in den sozialen Medien ihren Niederschlag findet? Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass vulnerable Jugendliche sich durch Inhalte im Netz beeinflussen und verunsichern lassen. Dies geschieht auch auf anderen Ebenen als in der Thematik der Geschlechtsidentität. Wenn ich aber den Jugendlichen in meiner Sprechstunde zuhöre, dann geht es ihnen um mehr als um einen Hype, dem sie hinterherlaufen. Es geht um die geschlechtliche Identität, eine der wenigen Facetten von Identität, deren Selbstbestimmung wir in unserer westlichen Gesellschaft noch nicht als Grundrecht anerkennen. Die geschlechtliche Identität ist für die neue Generation wandelbar, aber nicht verhandelbar, und stimmt offenbar bei einer Minderheit der Menschen nicht mit dem körperlichen Geschlecht und dem amtlich festgelegten Geschlecht überein. Dieses Phänomen gab es schon immer, es wurde aber nur als Randerscheinung unserer Gesellschaft mehr oder weniger geduldet. Solange trans Menschen im binären Schema blieben, waren sie kaum eine Bedrohung für unser traditionell verankertes Geschlechtersystem. Eine als «Frau» zugeordnete Person konnte zum Mann werden und umgekehrt. Sie wurden als Einzelpersonen diskriminiert und abgelehnt, lösten aber keine gesellschaftliche Debatte aus. Neu ist nun die Selbstzuordnung zu einem dimensionalen Konstrukt von Geschlecht. Immer mehr junge Menschen outen sich als einem Geschlecht zugehörig, das nicht vollumfänglich mit einer der beiden traditionellen Kategorien Mann oder Frau zu beschreiben ist.

Im Laufe meiner Gespräche mit über dreihundert Jugendlichen in meiner Sprechstunde zum Thema Geschlechtsidentität habe ich Folgendes gelernt:

Geschlechtsidentität ist sehr persönlich

Geschlechtsidentität ist nicht verhandelbar

Geschlechtsidentität kann nicht von außen abgelesen werden

Geschlechtsidentität muss nicht binär sein

Geschlechtsidentität kann sich im Laufe des Lebens wandeln

Geschlechtsidentität ist unabhängig von der sexuellen Orientierung

Von diesen Aussagen bin ich persönlich überzeugt. Obwohl sie unter den mit dem Thema befassten Fachpersonen breite Zustimmung finden, sind sie lange nicht gesellschaftlicher Konsens. Es wird noch einige Zeit dauern, bis wir uns hier einen «Common Sense» erarbeitet haben, so wie in der Frauenfrage. Die Letztere ist zwar nicht gelöst, aber gesetzlich sind einige Grundpfeiler verankert, und wir wissen als Gesellschaft, in welche Richtung wir uns bewegen wollen. Bei der Frage der Geschlechtsidentität und der amtlichen Geschlechtszuordnung steht uns dieser Prozess noch bevor und führt zu heftigsten Debatten. Selbst wenn wir die obenstehenden Aussagen akzeptieren, ist die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang damit noch lange nicht gelöst. Wer fühlt sich durch die Aufweichung der Geschlechterkategorien bedroht und warum? Wie können wir einen gesellschaftlichen Prozess in Gang bringen, der diesen Ängsten Rechnung trägt und dennoch den Menschen mit verschiedenen geschlechtlichen Identitäten den Weg der Selbstbestimmung nicht verwehrt?

In den folgenden Kapiteln werden wir uns mit den Hintergründen und verschiedenen Fragestellungen befassen, die obige Aussagen begründen. Wir werden die verschiedenen Aspekte der aktuellen Debatte aufgreifen und wissenschaftliche Ergebnisse einbeziehen. Die Betrachtung soll uns zu einem besseren Verständnis des Phänomens der Geschlechtervielfalt und der von der Thematik betroffenen Individuen führen. Es geht dabei einerseits um die Rechte von Menschen, die sich einem anderen Geschlecht zuordnen als demjenigen, dem sie bei der Geburt zugeordnet wurden. Es geht aber andererseits auch um die Frage, wie wir uns zur Forderung nach Veränderung unserer herkömmlichen gesellschaftlichen Einteilung der Geschlechter stellen.

Eine Minderheit von Menschen beschreibt sich selbst als nicht zugehörig zur herrschenden binären Geschlechterordnung. Wir wussten schon lange, dass es diesen Menschen mit den vorgegebenen Kategorien nicht gut geht, haben dies aber weitgehend ignoriert. Eine größer werdende Bewegung vorwiegend junger Menschen stellt nun diese Geschlechterordnung grundsätzlich in Frage. Mein Plädoyer nach vielen Gesprächen mit betroffenen Menschen verschiedener Altersgruppen wäre eine offene Herangehensweise. Es gibt eine zunehmende Anzahl junger Menschen, die sich nicht von außen definieren lassen und uns mit ihrem besonderen Geschlechtsausdruck irritieren. Sie wehren sich dagegen, sich in ihrem Geschlecht nach einem vorgegebenen Schema zuordnen zu lassen. Nach meiner Erfahrung und intensivem Austausch mit Menschen unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es auch nicht wenige erwachsene Menschen gibt, die diese Erfahrungen und Wünsche teilen, die jedoch bislang ihre Stimme nicht erhoben haben. Sie haben sich nicht getraut, ihre Betroffenheit zu zeigen. Hören wir diesen Menschen zu, lassen wir uns beeindrucken und versuchen wir dann, Lösungen zu finden. Ich bin überzeugt davon, dass auch cis Menschen, ob queer oder straight, von dieser Diskussion profitieren können.

2. Die total gegenderte Welt

In meiner Sprechstunde sehe ich immer wieder besorgte Eltern mit jüngeren Kindern, die bei der Geburt aufgrund ihrer Geschlechtsmerkmale als Junge gesehen wurden, sich aber nicht entsprechend verhalten. In manchen Fällen wehrt sich das Kind lautstark, der Jungengruppe zugeordnet zu werden, und behauptet, ein Mädchen zu sein, gibt sich selbst sogar einen Mädchennamen. Andere Kinder wollen aber einfach nur ein Kleid in den Kindergarten anziehen, weil sie das so schön finden. Wenn es sich dabei um ein Kind handelt, das wir als Junge zuordnen, haben wir damit bereits ein Problem. Die Eltern fragen sich: Tue ich dem Kind einen Gefallen, wenn ich ihm erlaube, in einem Kleidchen in die Schule zu gehen? Oder wird es dann von den anderen Kindern ausgegrenzt? Was soll ich nun diesen Eltern raten? Das Kind lebt nun mal in einer Welt, in der Jungen nicht mit Röcken oder Kleidern in den Kindergarten gehen. Eine Welt, in der bei uns sofort das Kopfkino losgeht: Wir sehen erwachsene trans Frauen vor uns mit männlichen Geschlechtsmerkmalen und in weiblichen Kleidern und sind dadurch irritiert. Die innere Homo- und Transfeindlichkeit macht sich breit. Die Eltern fragen sich: Ist mein Sohn schwul oder trans? Und das macht ihnen Angst. In vielen Fällen sind sich die Eltern nicht einig, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Sie fragen sich: Fördern wir vielleicht die weibliche Seite unseres Sohnes, wenn wir ihm erlauben, in einem Rock in den Kindergarten zu gehen? Wird er dadurch trans? Oder unterdrücken wir sein inneres Bedürfnis, wenn wir es verbieten? So landet ein völlig gesundes Kind in meiner Sprechstunde, nur weil es gerne ein Kleid anziehen will.

Das Beispiel soll zeigen, wie stark unsere Welt noch nach Geschlechtern geordnet ist. Sehr früh wird in Kindergärten oder Grundschulen ein «männliches» und ein «weibliches» Verhaltensmuster zementiert, indem die Kinder in geschlechtergetrennte Gruppen eingeteilt werden. «Halt!» – ruft hier ein:e Lesende:r. «Die Kinder in diesem Alter möchten sich doch selbst den Geschlechtergruppen zuordnen, sie fühlen sich ja viel wohler, wenn sie nur mit gleichgeschlechtlichen Kindern zusammen sind.» Richtig. Das trifft für einen Teil der Kinder zu, aber eben nicht für alle. Und wie stark sich Kinder den Geschlechtergruppen zuordnen möchten, wird davon beeinflusst, wie die Erwachsenen die Kindergruppe führen. Und «Halt!» – ruft hier jemand anders. «Das ist doch die Natur des Menschen, dass Frauen und Männer verschieden sind, also auch schon Jungen und Mädchen!» Die Antworten sind kompliziert und vorläufig.

Kinder werden von Anfang an entsprechend des ihnen zugeordneten Geschlechts geprägt. Das beginnt mit dem ersten Lebenstag eines Neugeborenen. Studien belegen, dass Eltern männliche Säuglinge anders behandeln als weibliche. Eine Studie zeigte beispielsweise, dass Mütter die motorischen Fähigkeiten ihrer drei Monate alten männlichen Kinder eher über- und die der weiblichen Kinder eher unterschätzen.[1] Eltern schreiben höhere Tonlagen beim Schreien eher einem weiblichen und eine tiefere Tonlage eher einem männlichen Säugling zu, obwohl kein objektiver Unterschied besteht. Zudem reagieren sie eher auf tiefere Tonlagen des Schreiens, wenn sie diese einem Jungen zuordnen.[2] Auch im Kindergartenalter unterscheidet sich das erzieherische Verhalten von Eltern und anderen Bezugspersonen erheblich, je nachdem, welchem Geschlecht sie das betreffende Kind zuordnen. Eltern machen beim Vorlesen eines Buches ihren zwei- bis vierjährigen Kindern gegenüber genderstereotype Bemerkungen und erteilen unterschiedliche Anweisungen, je nachdem, welches Geschlecht das Kind hat.[3] Kinder wissen bereits im Kleinkindalter, welches Verhalten welchem Geschlecht zugeordnet wird, und versuchen, sich diesen Vorgaben möglichst anzupassen. Die zugeordneten Eigenschaften für Mädchen und Jungen haben sich im Verlauf der Jahrhunderte sehr stark angeglichen, jedoch nicht so stark wie die tatsächlichen Eigenschaften. Eine Übersicht über die Studienlage ergab, dass die Präferenz für Mädchenspielzeug bei ein- bis achtjährigen Mädchen sowie die Präferenz für Jungenspielzeug bei gleichaltrigen Jungen im Laufe der letzten Jahrzehnte abgenommen haben.[4] Die aktuell nachweisbaren Gruppenunterschiede in Verhalten und Fähigkeiten zwischen Mädchen und Jungen sind stark kulturabhängig. So zeigte eine Metaanalyse, dass die mathematischen Leistungen der Mädchen in verschiedenen Ländern hauptsächlich vom Ausmaß der gesellschaftlichen Gleichberechtigung der Geschlechter bestimmt sind. Es stellte sich heraus, dass die Mathematikleistungen der Mädchen vor allem in denjenigen Ländern besser waren, in denen die Gleichberechtigung der Frauen stärker ausgeprägt ist.[5] Alle Studien zeigen zudem, dass die Gruppenunterschiede zwischen Jungen und Mädchen deutlich kleiner sind als die Unterschiede der Mädchen untereinander oder der Jungen untereinander. Mit anderen Worten: Mädchen divergieren in Verhalten und Fähigkeiten untereinander weit stärker, als sie sich im Durchschnitt von den Jungen unterscheiden.