Die Anfänge der Deutschen - Johannes Fried - E-Book

Die Anfänge der Deutschen E-Book

Johannes Fried

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Beschreibung

WORUM GEHT ES? Wer waren die Menschen, die Deutschland schufen? Woher kamen sie, was prägte sie, was wollten sie? Welche Sprache sprachen sie, wie lebten sie, was dachten sie? Strebten sie nach staatlicher Einheit, oder war ihnen ihre Stammeszugehörigkeit genug? Diesen und zahlreichen anderen Fragen zu den Anfängen der Deutschen in der Mitte Europas geht Johannes Fried, führender Mediävist unseres Landes, in seinem großen Werk auf den Grund. Er entwirft ein weites Panorama der Epoche zwischen dem 6. und dem 11. Jahrhundert, als mit der Herausbildung des karolingischen Reiches die Wurzeln des späteren Deutschland gelegt wurden. Der Band erscheint in einer überarbeiteten, mit aktuellem Vorwort des Autors versehenen Neuausgabe. WAS IST BESONDERS? Eindringlich und fesselnd schildert Fried Die Anfänge der Deutschen in der Mitte Europas, ihre vielfältigen Wurzeln in Ost und West und ihren mühsamen Weg zu sprachlicher und kultureller Einheit. Geschichtsschreibung, wie man sie sich wünscht. WER LIEST? • Leser der Bestseller von Johannes Fried (»Karl der Große«, »Das Mittelalter«) • Liebhaber historischer Epochendarstellungen

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Das Buch

Längst hat sich Johannes Fried in Deutschland wie international einen Ruf als herausragender Mediävist erworben. Seine in klarer, lebhafter Sprache erzählten Bücher sind Bestseller. Dieses erstmals 1994 erschienene Werk über die Anfänge der Deutschen wurde von der Presse als Meisterwerk gefeiert.

Auf der Basis beeindruckender Quellenkenntnis schildert Fried überaus anschaulich das bäuerliche Leben inmitten der noch überwiegend von Wäldern geprägten Landschaft, das Aufkommen der Städte, die Ausdehnung des Handels, den Einfluss des Adels und vor allem der Kirche, die mit ihren Klöstern und Abteien das kulturelle Leben und den Alltag der Menschen maßgeblich prägte. Er beschreibt die Reichsgründung unter Karl dem Großen und das komplizierte Machtgefüge zwischen Kaisertum, Adel und Kirche, untersucht die Einflüsse des romanischen Kulturkreises im Westen und des slawischen im Osten und zeigt, wie sich in langwierigen, mühseligen Prozessen eine deutsche Identität und eine sprachliche und kulturelle Einheit der Deutschen herauszubilden begann. Geschichtsschreibung im besten Sinne.

»Frieds Werk vermittelt dem interessierten Laien reiche Belehrung.« Die Zeit

Der Autor

Johannes Fried, geboren 1942 in Hamburg, zählt zu den international renommiertesten Mediävisten unserer Zeit. Von 1983 bis 2009 hatte er den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main inne. Er war lange Vorsitzender der Historischen Kommission, ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gremien und wurde mit vielen Auszeichnungen geehrt.

Johannes Fried

Die Anfänge der Deutschen

Der Weg in die Geschichte

Überarbeitete und mit neuem Vorwort versehene Neuausgabe

Propyläen

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Hinweis zu Urheberrechten

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ISBN: 978-3-8437-1169-2

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015Erstausgabe: © 1994 Verlag Ullstein GmbHLektorat: Wolfram MitteKarten: Annelies DallmerUmschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldUmschlagabbildung: akg-images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Vorwort zur Neuausgabe

Vorwort

Was heißt deutsch?

Land und Leute

Das Land

Die Sprache des Volkes

Menschen im werdenden Deutschland

Verhalten

Soziale Gruppen und Interaktionen

Wissen und Verstehen

Die Voraussetzungen der Einheit

Die fränkische Königsherrschaft

Die Könige und ihr Reich

Karl der Große und Ludwig der Fromme

Die Expansion des Reiches unter Karl dem Großen

Die Ordnung des Reiches

Der Gipfel des Reiches

Die Krise des Reiches

Ludwig der Fromme

Das Werden der Einheit

Der Zerfall des Karolingerreiches

Bruderkrieg und Herrschaftsteilung

Agonie und Erfolg: Lothar I. und Ludwig der Deutsche

Die Erben

Das Reich der Ottonen

Von den Franken zu den Sachsen

Die Ordnung des ottonischen Reiches

Das Kaisertum Ottos des Großen

Krise und Wandel des ottonischen Imperiums

Der Neubeginn unter Heinrich II.

Adel, Kirchen, Volk und König: das ottonische Reich als Einheit und Wirkverbund

Königshof und Sakralkönigtum

Königtum und Kirchen

Der König und die Laien

Die Königswahl

In der Gemeinschaft der Völker

Fernhandel und Städte

Weder »Volkswirtschaft« noch Wirtschaftstheorie

Wandel im Nachfrage- und Wirtschaftsverhalten

Der Wiederaufstieg der Städte

Der Aufschwung des Handels

Kirche und Frömmigkeit

Der Leib des Herrn

Mahlfeier und Liturgie

Kirchenrecht

Zönobitentum und Klosterreformen

Religiosität und Heiligenkulte

Endzeit?

Geistige Kultur

Eine einzige Kultursprache: Latein

Kloster- und Domschulen

Ein allgemeines Bildungsziel: die sieben Freien Künste

Verschmelzung der Bildungs- und der Machteliten

Offenheit

Epilog

Noch einmal: Was ist deutsch?

Anhang

Bibliographie

Vorbemerkung

Abkürzungen

Festschriften

Allgemeine Sammelwerke

Allgemeines

Recht und Verfassung

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Geistes- und Kirchengeschichte

Regionalgeschichte

Was heißt deutsch?

Das Land

Die Sprache des Volkes

Menschen im werdenden Deutschland

Verhalten

Soziale Gruppen und Interaktionen

Wissen und Verstehen

Die fränkische Königsherrschaft

Die Könige und ihr Reich

Karl der Große

Ludwig der Fromme

Der Zerfall des Karolingerreiches

Die Söhne und Enkel Ludwigs des Deutschen

Das Reich der Ottonen

Konrad I. und Heinrich I.

Otto I.

Otto II. und die Kaiserinnen Adelheid und Theophanu

Otto III. und Heinrich II.

Adel, Kirchen, Volk und König: das ottonische Reich als Einheit und Wirkverbund

Königshof und Sakralkönigtum

Königtum und Kirchen

König, Adel und Volk

Fernhandel und Städte

Kirche und Frömmigkeit

Geistige Kultur

Offenheit

Ergänzende Bibliographie zur Neuausgabe

Festschriften und Sammelbände

Allgemeines

Recht und Verfassung

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Geistes- und Kirchengeschichte

Regionalgeschichte

Land und Sprache

Menschen und soziale Gruppen

Königsherrschaft und Könige

Karl der Große und Ludwig der Fromme

Zerfall des Karolingerreiches

Ludwig der Deutsche, seine Söhne und Enkel

Das Reich der Ottonen

König, Adel, Kirche und Volk im ottonischen Reich

Gemeinschaft der Völker

Bildnachweis

Bildteil

Feedback an den Verlag

Vorwort zur Neuausgabe

Die erste Auflage dieses Buches wurde als Eröffnungsband der großen Propyläen Geschichte Deutschlands konzipiert. Diesem Ziel dienten die dargestellten Strukturen und Handlungsstränge. Mit ihnen sollten Bedingungen erfasst werden, die auf die Entstehung eines »deutschen« Reiches und der »Deutschen« hinführten. Es ging somit nicht um eine Geschichte Karls des Großen oder Ottos des Großen, sondern um die Wirkungen dieser und anderer Zeitgenossen, die auf die künftige »Nation« hinführten und durch die Prägungen erfolgten, die durch Jahrhunderte und bis zur Gegenwart weiterwirkten. Ziel, Anlage und Durchführung des Buches wurden für die überarbeitete zweite Auflage nicht geändert. Manches sehe ich heute freilich anders als früher. So dürfte sich die Kaiserkrönung Karls des Großen stärker an Byzanz angelehnt haben, als ich das früher meinte. In der väterlichen Familie der Kaiserin Judith erkenne ich nicht mehr – wie damals – Welfen; denn der Vater der Kaiserin hieß aller Wahrscheinlichkeit nach Ruadpreht (d. i. Robert), auch wenn er Welf genannt wurde. Die Diskussion um die neue familiäre Zuordnung dieser sich nun abzeichnenden Verwandtengruppe hat freilich noch nicht begonnen. Auch datiere ich die »Konstantinische Schenkung« nicht in das 8. Jahrhundert und lokalisiere sie nicht nach Rom, sondern verweise sie in das Frankenreich und in die Kreise der Opposition gegen Ludwig den Frommen um 830/835. Dies wurde in der jetzt vorgelegten Überarbeitung berücksichtigt. Darüber hinaus wurden lediglich offenkundige Versehen korrigiert, mir bekannt gewordene fremde Forschungen aber nur dann eingearbeitet, wenn deren Ergebnisse mich überzeugten. Über den Fortgang der wissenschaftlichen Diskussion seit 1994 unterrichtet der Anhang in bibliographischer Form.

Frankfurt am Main, im Februar 2015

Johannes Fried

Vorwort

Wer waren die Menschen, die Deutschland schufen? Wie lebten, wie dachten sie? Welche Ziele verfolgten sie? Strebten sie in eine nationale Zukunft? Die Sprödigkeit frühmittelalterlicher Autoren vermag die Neugier moderner Forscher nicht zu stillen. Einzelpersonen und Gruppen, persönliche Intentionen, individuelle Leistungen und kollektive Prozesse bleiben ohne scharfe Kontur. Doch so viel steht fest: Deutsche waren jene »Reichsgründer« nicht; erst ihre fernen Enkel sollten es sein. Wann also begann die deutsche Geschichte? Welche Entstehungsbedingungen prägten sie? Wie traten aus nichtdeutscher Umwelt und Vorzeit Deutsche hervor? Eindeutige Antworten findet der Historiker nicht, da alle Anfänge in einer überlieferungslosen Vorgeschichte verschwimmen. Wohl aber lassen sich zahlreiche Geschehensbündel und Einzelereignisse erkennen, deren Eigendynamik, Zusammenwirken und wechselseitige Verstärkung die deutsche Geschichte heraufgeführt haben und deren Einungsprozess unumkehrbar machten.

Bewusst greift die Darstellung weit zurück und setzt mit einem der umwälzendsten Prozesse ein, welche die Geschichte kennt: mit dem ersten Auftreten bäuerlicher Siedler in Mitteleuropa im Laufe des 6. Jahrtausends v. Chr. Seitdem formten Generationen von »Bauern« eine Siedlungslandschaft, die zwar durch fortwährende Ausbau- und Reduktionsphasen kontinuierlichem Wandel unterlag, doch insgesamt bis weit in die Neuzeit hinein die Entfaltung menschlicher Kultur lenkte und beherrschte. Zahlreiche fremde wie autogene Faktoren wirkten auf diesen Prozess ein. Das Eindringen von Kelten und Germanen, der Vorstoß der Römer, neue Reichsbildungen auf dem Boden ihres zerfallenden Imperiums, die Ordnungsmächte des Christentums und der heidnischen Bildung, die Antagonie von Königtum und Adel, die Einfälle asiatischer Reiternomaden, die slawische Expansion – dies alles machte in Mitteleuropa jene Verbandsbildungen in ihren spezifischen Ausprägungen möglich, in deren Nachfolge noch die heutige Gegenwart steht. Die Darstellung endet mit dem Herrschaftsanstritt der salischen Dynastie, unter der sich die Deutschen ihres Deutschseins allseits bewusst wurden. Wenn im Folgenden dennoch von »Deutschen« und »Deutschland« die Rede ist, so geschieht es in keinem ethnischen oder nationalen Sinn; die Begriffe werden so verwendet, wie etwa der Philologe von »althochdeutsch« spricht und damit keine Nationalsprache, sondern eine Sprachstufe bezeichnet. Die Deutschen sind hier die Gesamtheit der Menschen, die deutsch redeten, nicht das jüngere Volk der Deutschen, und Deutschland meint das Land, dessen Bevölkerung deutsch sprach, nicht die Heimat jenes deutschen Volkes.

Der Autor hat vielen zu danken, die bereitwillig oder unbemerkt ihm als Ratgeber, Helfer oder Gesprächspartner zur Seite standen und ihn an ihrem Wissen und Können partizipieren ließen. Maria R(adnoti)-Alföldy, Gerd Althoff, Helmut Beumann, Katharina und Volker Bierbrauer, Michael Borgolte, Arno Borst, Eckhard Freise, Dieter Geuenich, Peter Johanek, Hagen Keller, Ludolf Kuchenbuch, der unvergessliche Karl Leyser, Jens Lüning, Peter Moraw, Ulrich Muhlack, Timothy Reuter, Charlotte Warnke, Stephan Weinfurter und Thomas Zotz sind hier zu nennen. Hermann Jakobs, Heribert Müller, Rudolf Schieffer und Hanna Vollrath fanden sich liebenswürdigerweise bereit, größere oder kleinere Teile des Manuskripts zu lesen, zu kritisieren und zu korrigieren. Mein Frankfurter Kollege Heribert Müller und meine Mitarbeiter, Oliver Ramonat, Michael Rothmann, Felicitas Schmieder, ertrugen allwöchentlich geduldig mein Diskussionsverlangen. Meine Frau übte Nachsicht mit dem mental entrückten, an den Schreibtisch gefesselten Buchschreiber. Dank sei ihnen allen gesagt. Dank auch Wolfram Mitte, dessen freundliches Drängen den Abschluss des Manuskripts anmahnte und dessen auf Kürzung insistierendes Lektorat dem Buch zu seiner Fertigstellung verhalf. Dankbar gedenke ich endlich der Förderung dieses Werkes durch einen einjährigen Forschungsaufenthalt im Historischen Kolleg in München. Träger des Historischen Kollegs sind der Stiftungsfond Deutsche Bank zur Förderung der Wissenschaft in Forschung und Lehre und der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Eine Woche nachdem mir die Berufung ins Historische Kolleg mitgeteilt worden war, wurde der damalige, an der Kandidatenauswahl mitwirkende Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, von Terroristen ermordet. So mag dieses Opus nicht ohne ein Wort des Gedenkens an diesen um die Geschichtswissenschaft so verdienten Mann hinausgehen.

Frankfurt am Main, im Oktober 1993

Johannes Fried

Was heißt deutsch?

»Sagemir, uueo namun habet deser man – uuana pistdu – uuerpistdu?« (Sag mir, welchen Namen hat dieser Mensch? Von wo bist du? Wer bist du?). So redeten die Leute im 10. Jahrhundert. Die dürftigen Gesprächsfetzen sind die ältesten Sätze ihrer Alltagssprache, die – in den »Kasseler Glossen« – erhalten geblieben sind. Die Gelehrten, die sie zu Unterrichtszwecken niederschrieben und sich üblicherweise des Lateins bedienten, nannten es »deutsch«, denn es war »in der Sprache des Volkes« gesprochen. Die Mehrzahl der Menschen, die breite Masse der Bevölkerung, der kein anderes Idiom zur Verfügung stand, um sich zu artikulieren, wusste es freilich nicht. Für sie war, was sie sprach, je nach Landschaft »fränkisch« oder »sächsisch«, auch »bairisch« und »alemannisch«. Eine intensivere Befragung hätte vielleicht jenes Wort »deutsch« aus ihnen hervorgelockt, ohne damit vertrautere Saiten des Wiedererkennens zum Klingen zu bringen. Die Leute identifizierten sich nicht mit der Sprache des Volkes, ebenso wenig wie man sich heute eines so künstlichen Ausdrucks bedient, um die Muttersprache zu bezeichnen und über sie sich der nationalen Identität bewusst zu werden. Die Leute waren keine »Deutschen«, auch wenn sie die Sprache des Volkes gebrauchten.

Wer also waren sie? Woher kamen sie? Die Fragen sind Jahrhunderte alt. Unstrittige Antworten fanden sie bis heute nicht. Jede Suche nach dem Woher, nach dem Subjekt, nach nationalem Wesen und Anfang drängt unablässig zu neuen Fragen. Eine letzte, unmittelbar in die Ursprünge selbst zurückführende Antwort gibt es nicht. Sie verlöre sich im Mythos, im Turmbau von Babel, im Glauben. Nicht allzu lange ist es her, dass man sie dort zu finden hoffte. »Durch eines Römers unsterbliche schrift war ein morgenroth in die geschichte Deutschlands gestellt worden, um das uns andere völker zu beneiden haben.« Jacob Grimm, der große Philologe, pries die »Germania« des Tacitus.

Generationen von Deutschen vor ihm und nach ihm taten es ebenso, wenn sie nach ihren nationalen Ursprüngen suchten. Leichten Fußes eilten sie über Jahrtausende hinweg zu Tuisto und Mannus, zu Hermino, Istvi und Ingvi. Aufdämmernde Zweifel beseitigte die unumstrittene Autorität des Gelehrten, genügten doch der Griff zum Tacitus und ein wenig Lektüre, um sich eines Besseren belehren zu lassen. »Nicht genug«, so fuhr Grimm fort, »daß man die echtheit des buchs (als wäre das gesamte mittelalter solcher hervorbringungen fähig gewesen) verdächtigte, wurden seine aus edler wahrheitsliebe entsprungenen meldungen herunter gezogen und die unsern vorfahren darin beigelegten götter aus aufgedrungenen römischen vorstellungen hergeleitet.« Die Einwände zielten gegen kritische Franzosen oder Italiener, die den Deutschen ihr hohes Alter neideten und unverdrossen, mit einer sich aus dem früheren Mittelalter herüberschleppenden Beharrlichkeit, pures Barbarentum zusprachen. Die frohe Botschaft, an die der Forscher die eben erwachende moderne Nation erinnerte, lief auf eine knappe Aussage hinaus: das deutsche Volk – Germaniens Wäldern, dem Land selbst, unvordenklicher Urzeit entsprossen. Jener feinsinnige Römer hatte, noch immer nach Grimm, indem er eine germanische Abstammungssage aufschrieb, den Tuisto »an die spitze unseres volkes als urahnherrn« und ihm zur Seite seine Enkel Ingo, Isco und Hermino gestellt, hatte Grimms Landsleuten also die ältesten Ahnen geschenkt. Mehr noch: Völker bedurften, um Völker zu sein, in romantischer Sicht eines Ursprungs in grauer Vorzeit, eines Anfangs im Mythos. Grimm, dieser geniale Märchenerzähler, hatte die Deutschen ihres Mythos versichert. Sie saugten ihn auf.

Gustav Freytags vielgelesenes Poem »Die Ahnen«, Felix Dahns »Ein Kampf um Rom«, um nur diese zu nennen, popularisierten entsprechende Vorstellungen und suggerierten historische Kontinuität von Altgermanien über die Völkerwanderung bis in die jüngste Gegenwart. »Die Wogen und Wälder rauschten aus einem Jahrhundert in das andere dasselbe geheimnisvolle Lied, aber die Menschen kamen und schwanden, und unaufhörlich wandelten sich ihnen die Gedanken. Länger wurde die Kette der Ahnen, die jeden Einzelnen an die Vergangenheit band, größer sein Erbe, das er von der alten Zeit erhielt, und stärkere Lichter und Schatten fielen aus den Taten der Vorfahren in sein Leben. Aber wundervoll wuchs dem Enkel zugleich mit dem Zwange, den die alte Zeit auf ihn legte, auch die eigne Freiheit und schöpferische Kraft« (G. Freytag).

Man schwelgte in Gewissheit: Germanisch war deutsch, allenfalls eine ältere Variante desselben. Hermann der Cherusker, Alarich, der Rom nahm, der herrliche Dietrich von Bern, der tapfere Totila, Teja, auch Hagen von Tronje und seine Nibelungen – sie wären Deutsche? Von solchem Grund ließ sich leicht der Bogen zur »nordischen edda« spannen, »deren lieder … an unser herz greifen« und deren »zusammenhang mit den spuren des innern deutschen alterthums« keinem fremden, weder christlichen noch angelsächsischen, Einfluss geopfert werden durften (J. Grimm).

Das alles war Mythos, Mythos zur Unzeit, den romantische Verklärung des Mittelalters und Begeisterung für die wundervolle Antike nährten. Denn auf Mythen stieß, wer sich dort, in der Vorzeit, umsah. Das Schema war immer dasselbe. Völker, von Heroen geführt, unterwarfen sich die Welt. Alexander der Große eroberte mit seinen Makedonen, so konnte man lesen, ein Weltreich; die Römer bauten ein Imperium; die Franken etablierten sich in Gallien; die Goten, die Wandalen, die Langobarden unterwarfen sich römische Provinzen; Sachsen und Baiern ahmten sie nach. Wohin man schaute: uralte Völker. Sie standen stets am Beginn eigener Königreiche, machten sie groß oder gingen mit ihnen unter – Völker, deren Anfänge sich tatsächlich im undurchdringlichen Nebel der Vorgeschichte verloren und die selbst, ihren Ursprung suchend, zu Mythen ihre Zuflucht nahmen.

Die Makedonen leiteten sich bald von Zeus, bald von Osiris her, ihre Könige galten als Nachkommen des Herakles; die Römer erzählten die Geschichten von Aeneas und von der Wölfin, die menschliche Zwillinge nährte; die Franken hielten sich für Enkel der Trojaner und ihre merowingischen Könige für Abkömmlinge eines dem Meer entstiegenen Stieres. Das Volk trage seinen Namen nach dem König Francio von Troja, der es einst aus Asien nach Europa geführt habe, so meldete im 7. Jahrhundert der sogenannte Fredegar, und viele wiederholten es. Ähnlich geschah es den Sachsen. Ihre Schiffe stiegen aus dem Dunst von Raum- und Zeitlosigkeit am Horizont ihres ältesten Chronisten auf. Seitdem breitete sich das Volk aus. Man wisse nichts Genaues über seine Herkunft; die einen meinten, es nähme seinen Ursprung bei Dänen und Normannen, andere hielten es eher für die Nachkommen makedonischer Griechen, die des großen Alexanders Tod in alle Welt versprengte. Nur das eine stehe fest, dass die Sachsen »auf Schiffen dieses Land erreichten und jenen Ort zuerst betraten, der heute Hadeln heißt«. Widukind von Corvey erzählte die knappe Sage seines Volkes, die er nur zum Teil einem Autor des 9. Jahrhunderts, Rudolf von Fulda, entnehmen konnte. Mehr wusste er nicht; auch andere Geschichtsschreiber hätten für ihn nicht einspringen können.

Den übrigen Völkern, und seien es die berühmtesten, erging es kaum besser. Die Baiern seien Enkel des Herkules, Söhne nämlich eines gewissen Noricus, und zu Beginn des 6. Jahrhunderts aus Armenien in ihre ursprüngliche, die norische Heimat zurückgekehrt, aus der sie zuvor vertrieben worden seien und aus der sie selbst hernach die Römer verdrängten. So berichtete es ihre allerdings erst im ausgehenden 11. und im 12. Jahrhundert aufgeschriebene Stammessage. Selbst die Schwaben, dieses landsässige Volk im Schatten der Alpen, kamen einst in großer Zahl übers Meer gefahren, um »ihre Zelte am Berg Suevo aufzuschlagen«, von dem sie ihren Namen empfingen. Jene Landung von volkskonstitutiver Wirkung erwähnte das »Annolied«. Die Darstellung fremder Völker machte keine Ausnahme. Wohin die Blicke fielen, in den Mythos gebannte »Peticio principii«. Die Goten, die Langobarden, die Angelsachsen, wer immer im Frühmittelalter seine Stammessage aufschrieb, hielt sich an dieses Muster.

Die mittelalterlichen Deutschen indessen hatten nichts dergleichen vorzuweisen. Ihr Ursprung wirkte strukturell verkehrt. Ihnen fehlte, was die anderen auszeichnete. Sie tauchten aus keinem vorzeitlichen Dunkel auf, hatten kein brennendes Troja verlassen, waren an keine neuen Ufer verschlagen worden, eroberten kein Reich. Ihr Werden vollzog sich im ernüchternden Licht der Geschichte und ließ sich in keinen Mythos bannen. Sie waren das ungewollte Produkt und die unerwarteten Erben eines fremden Reiches, nämlich des ostfränkischen; und dieses war ein Spaltprodukt des großen Frankenreiches. Sie fanden ihre Ahnen bei keinen Völker zeugenden Urvätern oder Gründungsheroen, auf die sie ihr Dasein hätten zurückführen können und die alle Welt bewunderte.

Um Besseres verlegen, borgte man sich die Stammessage der Franken, auf die mit Recht sich zu berufen man umgehend den Franzosen bestritt. Hingerissen von nationaler Begeisterung, erkannte der Humanist Jakob Wimpfeling in den Ostfranken, den Deutschen, die Nachkommen der germanischen Trojaner, die er gegen die Westfranken, nämlich die Gallier, die Franzosen, anstürmen ließ. Manchmal erfand man auch. Lange hielt sich die Legende, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Umlauf kam und dem Berosus, einem fingierten Autor, entnommen sein sollte, von Tuyscon, dem Sohn Noahs, der »die Germanen in Schrift und Liedern und Recht unterwies«. Der Einfluss des Tacitus ist hier schon mit Händen zu greifen.

Doch das Gerede erinnerte entfernt auch an die Sage von einem Riesen Theuton, die sich im 13. Jahrhundert verbreitete, der bei Wien ruhte, von dem »Land und Leute (Teutonia und Teutonici)« den Namen trügen und als dessen Nachkommen deutsche Frauen dicklich und fähig seien, starke Kinder zu gebären. Diese Mär setzte sich nicht durch. Der gelehrte Thomas von Cantimpré dürfte ihr Urheber, der Kölner Stiftsherr Alexander von Roes ihr Herold gewesen sein. Im 15. Jahrhundert, ein wenig vor Wimpfeling und dem Tuyscon-Erfinder Annius von Viterbo, entnahm man ihr immerhin, dass die »Teutonici« den »Tattern«, den Tataren, stammverwandt seien, weil ihre Prototypen, die Bajuwaren, einstmals aus dem Orient herzugewandert seien. Doch das alles drang ebenfalls nicht weit und wurde bald vergessen; das Volk scherte sich ohnehin nicht um jenen Riesen.

Ähnlich vergebens entwarf gegen Ende des 12. Jahrhunderts der in Bamberg zur Schule geschickte Italiener Gottfried von Viterbo die welthistorische Perspektive einer einzigen, ewigen Herrscherfamilie, die in Troja mit Aeneas den Thron bestieg und ihn bei den Römern mit Julius Caesar, bei den Franken mit Karl dem Großen und seinen Nachkommen bis hin zu Friedrich Barbarossa und seinem Sohn Heinrich VI. noch immer besaß. Den hochadeligen Dynasten Deutschlands und Europas behagte diese Sicht, die sie ihren Untertanen entrückte; sie kopierten das Schema. Nicht lange, dann traten Adam und Noah selbst als die Stammväter der regierenden Häuser hervor. Doch zur deutschen Nationalsage entwickelten sich solche Kombinationen nicht. Das ungelehrte Volk erkannte sich niemals in derartig exklusiver Geschichtsklitterung.

Erst das Zeitalter des Humanismus, die beginnende Neuzeit, betrat festeren Grund. Denn im Jahr 1455 war auf Wegen, die im Dunkeln liegen, ein berüchtigter Codex aus der Hersfelder Klosterbibliothek nach Italien gelangt, der dort seit dreißig Jahren schon für Aufregung gesorgt hatte. Er enthielt, in schöner karolingischer Minuskel geschrieben, die bis dahin unbekannten kleineren Werke des Tacitus, unter ihnen jene »Germania«, die Jacob Grimms Entzücken erregte. Es war eine Sensation und ein unwahrscheinliches Glück obendrein; denn es war die einzige Handschrift, die von den Texten überhaupt existierte. Sie ging bald darauf, nachdem sie einige Male abgeschrieben worden war, wieder verloren. Nur Fragmente fanden sich wieder, ohne den Text der »Germania«.

Zwar waren es Italiener, die das karolingische Manuskript entdeckten und zu würdigen wussten, doch sein Inhalt passte den deutschen Humanisten besonders gut ins Konzept; denn sie stritten mit den Italienern und mit den Franzosen um den Rang ihrer eigenen Nation in der Weltgeschichte und litten schwer am Barbaren-Namen, mit dem jene ihre Altvorderen belegten. Der neue Tacitus beglückte sie jetzt nicht allein mit dem Beweis hohen Alters ihrer Deutschen, sondern vor allem mit deren edler Natur, deren angeborenen Tugenden, die sogar dem bewunderten Römer Respekt abzunötigen drängten. Diese gelehrten Männer nahmen und lasen ihn wie eine Offenbarungsschrift, als Wahrheit schlechthin. Sie gestattete, die seit langem bekannten Autoren mit neuer Brille zu lesen, erleichterte auch die Akzeptanz jener Fälschungen. Ungeniert erklärte Conrad Celtis die alten Germanen zu den Vorfahren seiner zeitgenössischen Landsleute. Andere wie Jakob Wimpfeling, Beatus Rhenanus, Melanchthon oder Ulrich von Hutten folgten ihm darin. Arminius wurde jetzt zum germanisch-deutschen Brutus, dem Tyrannenmörder, »dem freiheitlichsten, unbesieglichsten und deutschesten (Liberrimum, invictissimum et Germanissimum)«, wie Hutten schrieb.

Nun endlich ließ sich die Sehnsucht der Deutschen nach einem eigenen Ursprungsmythos stillen, rückten dieselben auf eine Stufe mit allen älteren Nationen Europas und überflügelten sie an Alter und Rang. Die Deutschen, so lange verachtet, besaßen jetzt ihr eigenes Altertum. »Der Anfang der Philosophie war bei den Barbaren, nicht bei den Griechen!« Der Satz stammte zwar nicht von Tacitus, sondern aus der Feder jenes geschichtsfälschenden Annius von Viterbo, niedergeschrieben als Kommentar zu Tuyscons Unterweisungen der Germanen; er ist dennoch ein Schlüsselzeugnis für die Stimmung unter den humanistischen Deutschen. Alle jüngeren Gelehrten, auch Jacob Grimm, gingen bei diesen frühneuzeitlichen Patrioten zur Schule, als sie das kleine Schriftchen zum nationalen Stammbuch der Deutschen erklärten. Der große Tacitus wurde als Kronzeuge eines durch die Jahrtausende wirkenden Deutschtums aufgerufen. Der Mythos war perfekt. Gelehrte und Literaten woben an ihm, schrieben ihn fort und befanden ihn fortgesetzt für wahr. Bald begann er, in unheiliger Weise zu wirken und die Welt zu erschüttern.

Aber der Deutschen Ursprung lag bei keinem Urvater »Tuisco«, nicht bei den Sagen raunenden »nornen und spindelträgerinnen«, bei denen Grimm ihn suchte. Er reichte überhaupt in keine heidnische Vorzeit zurück und wich damit von dem der anderen Völker ab, die im früheren und beginnenden Hochmittelalter vor und neben den Deutschen lebten oder den zeitgenössischen Geschichtsschreibern als Vorbild leuchteten. »Deutsch« war zu keiner Zeit mit »germanisch« gleichzusetzen. Die Ethnogenese der Deutschen knüpfte an keine altgermanische Einheit an. Das werdende Volk entwickelte keinen Mythos, besaß keine Vorstellung von einer gemeinsamen Herkunft oder einer gemeinsamen »Patria« und bis zum Jahr 1900 nicht einmal ein gemeinsames Recht. Es hat alles erst, indem es andere imitierte, allmählich, in einem Jahrhunderte währenden Prozess, in neuer Weise hervorgebracht, und es tat sich schwer damit. Dieses Gleichsein-Wollen, Nicht-Gleichsein-Können und Anderssein-Müssen gehörte zu den Wesenszügen der Deutschen. Dieselben waren bei ihrem ersten Auftreten – an frühmittelalterlichen Verhältnissen gemessen – kein Volk, weder »Gens« noch »Natio«, und sie behielten im Vergleich zu ihren Nachbarn lange Zeit ethnische Mängel und sahen sich fortgesetzt genötigt, ihr nationales Dasein zu begründen und ihre Eigenart zu rechtfertigen.

Heute haben sich die Perspektiven verschoben: Ethnogenese, nicht Mythenschau beherrscht die wissenschaftliche Erörterung. Ganz andere Faktoren treten hervor: Es geht um gentile Traditionskerne, namengebende Gruppen, ethnische Substrate, um Migration und Herrschaftsbildung, um die Verschmelzung von Einwanderern und Vorbevölkerung, überhaupt um die Vereinigung unterschiedlicher, fremdstämmiger Verbände. Anthropologie und Ethnologie, nicht allein die Geschichtswissenschaft haben bei der Behandlung der Vor- und Frühgeschichte des deutschen Volkes kräftig mitzureden. Die Systemtheorie meldet sich zu Wort. Auch Mythen spielen eine Rolle, freilich werden sie funktional betrachtet, als Niederschlag und Katalysatoren jener umfassenden sozialen Prozesse, als Faktor im dynamischen Wechselspiel des Systems.

Kein Zeitgenosse hätte beschreiben können, was um ihn und mit ihm geschah; es fehlte an literarischen Vorbildern und soziologischen Modellen. Zwar gab es den aus der Antike überkommenen und von den Autoren des früheren Mittelalters aufgegriffenen Literaturtyp der »Origo gentis«, aber gerade er verlangte nach den Mythen und ließ alle Volksentstehung in deren Dunst verschwimmen. Dass die spätantiken Franken einen Bund aus mehreren germanischen Kleinvölkern darstellten, wann, wie und unter welchen Umständen er sich einte, dass es in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten am Nieder- und Mittelrhein, nicht etwa im Orient oder in Skandinavien, geschah, das alles, was die moderne Geschichtsforschung in mühseliger Kleinarbeit und mit ungeheurem Aufwand an Scharfsinn zusammentragen konnte, gehörte in keine »Origo«. Die fränkische Überlieferung kümmerte sich auch nicht darum; kein Chronist, kein Heldenlied, keine Sage hielt es fest. Nicht einmal Gregor von Tours, einer der letzten Vertreter des senatorialen Adels in Gallien und Träger spätantik-römischer Bildung, ein für seine Zeit hochgelehrter Mann und redseliger Geschichtsschreiber, befasste sich mit fränkischer Ethnogenese. Für ihn waren die Franken, gleich anderen barbarischen Völkern, als geschlossener Verband aus Pannonien eingewandert; und mehr zu sagen erübrigte sich. So liegt noch heute tiefes Dunkel über dem Prozess ihrer Entstehung.

Was Römer und Franken nicht besaßen, vermochte das frühere Mittelalter nicht hervorzubringen. Kein karolingischer oder ottonischer Zeitgenosse erfasste oder beschrieb im 9., 10. oder 11. Jahrhundert den mit der Genese neuer Völker verbundenen Wandel. Es fehlten die soziologischen Kategorien und Modelle, die allein erlaubt hätten, den Prozess wahrzunehmen und darüber auszusagen. Gelegenheit dazu hätte sich einem Zeitgenossen reichlich geboten: bei den Skandinaviern, wo sich die neuen Großvölker der Dänen, Schweden und Norweger im 9. und 10. Jahrhundert konstituierten, bei den Slawen, die sich zur selben Zeit in Mährer, Böhmen, Polen, in Kroaten, Slowenen und andere Völker zergliederten, oder in Spanien, wo damals Kastilier, Basken oder Katalanen in Erscheinung traten, endlich bei sich selbst, innerhalb des zerbrechenden Frankenreiches und seiner Nachfolgereiche, wo gleichfalls neue Volksverbände hervorzutreten begannen: Franzosen und Deutsche.

Ebenso wenig aber, wie man die Genese beobachtete, konnte man eine solche planen und absichtsvoll auf sie hinwirken. Die neuen Völker durchliefen Entwicklungsstadien komplexer, transitorischer, offener sozialer Systeme, die unabhängig von den Beteiligten und Betroffenen, unabsichtlich und ohne einen auf ihr tatsächliches Ergebnis gerichteten politischen Willen entstanden. Obwohl die Leute nicht nur Opfer einer über sie hinwegrollenden »Weltgeschichte« waren, Ziele verfolgten und große Reformen inszenierten, so wirkten alle bewussten und unbewussten Geschehnisse zusammen lediglich als Faktoren des einen Systems, das eine Vielzahl von Willen verschmolz: der frühmittelalterlichen Gentilgesellschaft und des zerfallenden Frankenreiches.

Die Deutschen schlitterten in ihr nationales Dasein, ohne es zu merken und ohne es zu erstreben. Unvermutet erkannten sie oder, genauer, ihre »Sprecher« sich als Nation, als »Gens« oder »Natio«. Man attestierte ihnen ihr Deutschtum, bevor sie selbst sich dessen bewusst werden, ohne dass sie sich an nationales Erzählgut klammern konnten. Als man ihrer aber erstmals als handelndes Volk gewahr wurde, in der Zeit Gregors VII., des Investiturstreites und eines universalen Papsttums, geschah es in scharfer Konfrontation ihrer nationalen Gegenwart mit ihrer für anmaßend empfundenen Politik im Schatten römisch verstandenen, supranationalen, weltherrscherlichen Kaisertums.

»Wer hat die Deutschen zu Richtern über die Nationen bestellt? Wer hat diesen dummen und aufbrausenden Menschen Autorität verliehen, nach ihrer Willkür den Fürsten über die Häupter der Menschenkinder zu setzen? Fürwahr, dies hat ihr Wüten schon allzuhäufig versucht, doch wurde es ebenso häufig durch Gott gezüchtigt und verwirrt und schämte sich seines Unrechts.« So schrieb im Jahr 1160 der in Frankreich erzogene Johannes von Salisbury im Hinblick auf das gerade ausgebrochene und von Friedrich Barbarossa geschürte Papstschisma. Er erinnerte dabei an das einzige mythische Element deutscher Frühgeschichte, den »Furor Teutonicus«, den der römische Dichter Lucan – er dachte an den Einfall jütländischer Kimbern und Teutonen in Italien – erstmals beschworen hatte, den im 10. Jahrhundert, wiederum in Italien, das Heer der ottonischen Könige, »Teutonici«, wiederbelebte und der seitdem die deutsche Geschichte begleitete. Aufbrausend, gezüchtigt, beschämt – es war das älteste Urteil über das Handeln der Deutschen als Volk, das sich erhalten hat. Ein düsterer Beginn.

Bevor die Deutschen als ein sich seiner selbst bewusstes Volk in Erscheinung traten, spürten sie bereits die Folgen einer Politik, die ihre Zukunft prägen sollte. Die römische Kaiserkrone und der Konflikt mit dem universalen Papsttum waren gleichsam die Taufgeschenke der jungen Nation. Die beiden Pole von Volksverband und Kaisertum, auf die Papst Gregor VII. oder jener gelehrte Engländer abhoben, verwiesen auf eine dialektische Bindung des werdenden Volkes an die imperiale Politik der ostfränkisch-sächsischen Könige und ihrer salischen Nachfolger im 10. und 11. Jahrhundert. Offenbar wirkte deren umstrittenes Ausgreifen über alle wahrgenommenen Volksgrenzen hinweg nach Italien und Rom, dann auch nach Burgund einheits- und identitätsstiftend nach dem Norden zurück.

Zuvor kannte man dort ausschließlich die »Stämme«, das heißt die Völker der Franken, Friesen, Lothringer, Baiern, Alemannen, Sachsen und gelegentlich auch der Thüringer, keine darüber hinausgreifende ethnische Einheit. Allein das übergentile karolingisch-ottonische Königtum fasste sie zusammen, ohne ihr Eigensein zu beenden. Fremd, sogar feindselig traten diese Völker einander gegenüber. Die Sachsen hätten sich, soweit das bei einer so großen Nation möglich sei, mit keinem anderen Volk gemischt, behauptete noch um die Mitte des 9. Jahrhunderts der fränkische Geschichtsschreiber Rudolf von Fulda. Deshalb seien so viele unter ihnen rotblond und blauäugig. Noch am Ende des 10. Jahrhunderts und im 11. Jahrhundert gerieten Sachsen, Franken und Baiern gewaltsam aneinander. Das jeweilige »Heimat«-Gefühl bezog sich lediglich auf den eigenen Stamm und seine Provinz. »Muse, Schwester, klage über meinen Schmerz, künde meine unselige Trennung von unserem Boden«, dichtete um 820 der Alemanne Walahfrid Strabo, als es ihn von der lieblichen Reichenau, aus dem Herzen Schwabens, nach dem rauen Fulda unter die Franken und Hessen inmitten der Buchonia verschlagen hatte. »Bitte, Erlöser, erhalte mein Leben, bis ich zurückgekehrt in den ersehnten Schoß der Heimat.« Jüngeren ging es nicht besser.

Das Bedürfnis nach einem zusammenfassenden Namen – nicht nach einer neuen Nation – wurde durch die ottonischen Könige und ihre Politik zweifellos geweckt und gesteigert, aber im 10. Jahrhundert noch nicht befriedigend gestillt. Wie wenig »deutsch« sich die Ottonen fühlten, vermag ein Blick auf liturgische Texte zu verdeutlichen. Die sogenannten Königs-Laudes, liturgische Bittgesänge, erflehten himmlischen Beistand auch für die Heere der jeweiligen Könige, also für das »Heer der Römer«, »Heer der Franken«, »Heer der Römer und Franken«, »Heer der Alemannen«; sie fügten dem Wortlaut der Liturgie den jeweils zutreffenden Volksnamen bei. Die ottonischen Laudes indessen sprachen gewöhnlich, soweit die Handschriften nördlich der Alpen entstanden, vom »Heer der Christen«, allein in Italien weiterhin vom »Heer der Römer und Franken«; hier wie dort mieden sie den »Sachsen«-Namen. Die Liturgen hatten also »gentile« Laudes vor Augen, doch ersetzten sie die Volksnamen durch den universalen Christennamen.

Erst im 12. Jahrhundert kam es auf, auch für das »Heer der Deutschen« zu bitten. Offenbar wuchs seit der Mitte des 10. Jahrhunderts, nachdem die Ottonen dauerhaft das »Regnum Italicum« und die Kaiserkrone gewonnen und nachhaltig in die italienischen und römischen Verhältnisse eingegriffen hatten, auf beiden Seiten die Notwendigkeit zur Abgrenzung und Differenzierung und damit zur sprachlichen Fixierung des »Regnum Teutonicum«. Diese Bezeichnung war noch um die Jahrtausendwende bloß auf italienischem Boden geläufig, doch sie breitete sich seitdem auch unter den Betroffenen aus.

An die Frage, wann, wo und wie sich der sprachliche Gattungsname zum ethnischen Eigennamen, wann sich die »deutsch« Sprechenden zu den »Deutschen« wandelten, knüpft sich eine nicht endende Diskussion. Der Name leitete sich von dem erst um das Jahr 1000 als »diutisk (völkisch)« belegten Adjektiv zu dem wiederholt auftretenden Substantiv »Theoda (Volk)« her. Es begegnete, wenn von Ulfilas gotischer Bibelübersetzung abgesehen wird, in latinisierter, adverbialer Form erstmals im Jahr 786 in einem Tätigkeitsbericht, den päpstliche Legaten aus England an Hadrian I. schickten. Man hätte, so hieß es da, die einzelnen Beschlüsse einer angelsächsischen Synode sowohl lateinisch als auch »theodisce«, in der Volkssprache, vorgelesen.

Deutsch war dieses Deutsche mithin nicht; doch engte sich der Wortgebrauch schließlich auf die Sprache der künftigen Deutschen ein. Dieselben sind, das ergibt der etymologische Befund in Verbindung mit dem bis zum 11. und 12. Jahrhundert üblichen Kontext des Wortgebrauchs, ursprünglich die »Volks- oder Gemeinsprachlichen«, jene nämlich, die sich nicht des Lateins der kirchlichen Liturgie oder des kanonischen Rechts und ihrer vulgarisierten Derivate bedienten, vielmehr »theodisce« sprachen. So sah es Walahfrid Strabo: »Theodisci« seien jene Leute, die sich »unserer barbarischen Sprache« bedienten. Von der Herkunft ihres Namens her haftete den Deutschen etwas von Unbildung, von rohem Barbarentum an, das sie auch in den Augen der Romanen des Südens und des Westens, die den künftigen Volksnamen geprägt und verbreitet hatten, lange nicht abzustreifen vermochten.

Neben »Theodiscus« tauchte seit der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts das antike »Teutonicus« auf, dem unter den Literaten die Zukunft gehören sollte; damit lief der Wandel vom Appellativum zum Eigennamen einher. Notker der Dichter rückte beide Ausdrucksweisen noch nebeneinander, als er um 886 der »Deutsch«-Sprecher gedachte; er schloss sich selbst mit ein: »wir, die wir die teutonische oder deutsche Sprache sprechen (theotonica sive teutisca lingua)«. Der neue Sprachname erinnerte an den antiken Volksnamen der Teutonen; mit ihm meldete sich erstmals ein gentiles Substrat, das sich der »deutschen« Sprache bediente.

Doch von den Teutonen führte lautgesetzlich kein Weg zu den »Deutschen«. Das illiterate Volk übernahm also nicht die gelehrte Namenmode, verharrte vielmehr bei dem eigensprachlichen Wort »deutsch«. Es konnte ihm mithin nicht völlig fremd gewesen sein, als jener Ablösungsprozess einsetzte, obwohl das Wort in den erhaltenen althochdeutschen Sprachdenkmälern vor der Jahrtausendwende nicht anzutreffen ist und die lateinischen Texte bald nur noch von den »Teutonici« sprachen. So wirkte offenkundig das werdende Volk an der Ausbildung seines künftigen Namens mit.

Die Belege für »deutsch« zunächst als Fremd-, dann auch als Selbstbezeichnung der Betroffenen verdichteten sich seit der Zeit um 1000. Der Bischof Adelbold von Utrecht, der Kanzler und Biograph Kaiser Heinrichs II., sprach um 1020 bezeichnenderweise von den »Deutschen« nur dann, wenn er sie den »Italienern« gegenüberzustellen hatte; sonst blieb er bei der Aufzählung der Stämme. Die »römische Erneuerungspolitik« Ottos III., welche kurz zuvor die Gemüter nördlich wie südlich der Alpen aufgewühlt hatte, vertiefte den Graben. Papst Gregor VII. griff den deutschen Namen später auf, um den damaligen König des ultramontanen Reiches, der nach der römischen Kaiserkrone trachtete, Heinrich IV., von seinem universalistischen, das Reformpapsttum bedrohenden Anspruch auf ein nationales, dem Papst untergeordnetes Reich zurückzudrängen: auf das »Regnum Teutonicum«. Diese Politik setzte sich im Zug der Kirchenreform durch, und seitdem begannen die fünf oder sechs Stämme, sich selbst als ein »deutsches Volk« zu begreifen. Insofern der Name Identität verlieh, verdankten die Deutschen die ihre nicht zuletzt jenem Papst, der ihren König 1077 nach Canossa zu gehen gezwungen hatte. Vor diesem Hintergrund liest sich des gefeierten Reichsarchitekten Bismarck trutziger Ausspruch, nach Canossa gingen »wir« nicht, wie eine Ironie der Geschichte; denn von Canossa kommen »wir« her.

Der Gebrauch der »Theodisca lingua« beschränkte sich zunächst keineswegs auf die späteren Deutschen. Im 9. Jahrhundert attestierte man beispielsweise den Goten und den Normannen, d. h. den dänischen oder schwedischen Wikingern, dieselbe Sprache, und noch im 10. Jahrhundert erinnerte man sich in Italien an die »Lingua Todesca«, welcher sich die Langobarden einst bedient hätten. Dieser sprachbezogene Kontext blieb bis ins 11. und 12. Jahrhundert dominant. Allein im Hinblick auf die Sprache des ungelehrten Volkes war zunächst von »deutsch« und »Deutschen« die Reden. Doch in der Regel schloss niemand von der Sprache auf die ethnische Einheit aller Menschen, die sie benutzten; kein Einziger sah sich deshalb genötigt, Normannen, Langobarden, die Goten des großen Dietrich von Bern und, was der »theodisce« Sprechenden mehr waren, zu Deutschen zu erklären. Derartige Identifikationskünste blieben den neuzeitlichen Jahrhunderten vorbehalten.

So ist nach weiteren Kriterien zu suchen, um aus den Volkssprachigen die Deutschen und das deutsche Volk werden zu lassen. Vier Faktoren wirkten dabei zusammen: die fränkisch-karolingische Reichsteilung von 843; der lange Bestand des ostfränkischen Reiches; die Namenlosigkeit der in mehrere Völker gespaltenen Reichsbevölkerung als einer ganzen, ihre fast völlige Einbettung in eine anderssprachige Umwelt – im Westen und Süden »welsch«, im Osten »windisch«; die zeitüberdauernde Stabilität der Merkmalsgruppe, ihre Kontinuität im politischen Verband. Die Namenlosigkeit ließ sich nicht unendlich verlängern; sie drängte nach einem übergreifenden Namen. Die anderssprachige Umwelt erneuerte regelmäßig das Erleben besonderer Zusammengehörigkeit. Die Dauerhaftigkeit des politischen Verbandes seit dem 9. Jahrhundert schuf einen kontinuierlichen Integrationsdruck.

Die Nation konstituierte sich aus einer auf ein deutsches Reich bezogenen Gruppe deutschsprachiger Völker. Die eigentümliche Spannung von Einheit des Königtums und polyethnischer Reichsstruktur wurde im Mittelalter nie völlig überwunden; sie veränderte lediglich ihr Gesicht, indem an die Stelle der Stämme kaum zählbare Landesherren traten. Das Königtum aber, dem das Reich seinen Ursprung verdankte, gewann nie die Kraft, solcher Herren-Flut Herr zu werden. Die Einheit der Deutschen bedurfte fortgesetzt des Konsenses jener exklusiven Schicht von Fürsten, die seit spätkarolingischer und ottonischer Zeit das Reich trugen; sie lebte nicht durch die breite Masse des kleineren Adels oder gar aus den Tiefen des einfachen Volkes. Die Nation verdankte der Fülle von Obrigkeit ihre Existenz. So blieb jene Spannung von imperialer Einheit und landesherrlicher Vielfalt eine Grunddominante der deutschen Geschichte. Jede staatliche Zersplitterung, bestand sie eine Weile, schlug sich in der Zersplitterung des Volkes nieder. Keine der anderen europäischen Nationen sah sich in ihrer ethnischen Substanz so regelmäßig erschüttert, hatte so viele Absplitterungen und Abspaltungen hinzunehmen wie die deutsche. Nur auf ihrem Boden entstanden in Europa nach dem Mittelalter noch neue Völker, ohne sich auf ein älteres gentiles Substrat stützen zu können.

Streng muss also zwischen der Geschichte des Volksnamens und der Volksgeschichte unterschieden werden. Denn als sich bei den künftigen Deutschen das Bewusstsein durchsetzte, Deutsche zu sein, begleitete kein Ruck nationaler Identitätsfindung den Vorgang, obwohl nicht der kleinste ethnische Traditionskern, kein nationales Samenkörnchen weiter als bis zur Jahrtausendwende zurückreichte. Niemand trennte in »davor« und »danach«, wähnte sich nun einem neuen Verband zugehörig, schien überhaupt den kollektiven Bewusstseinsprozess wahrzunehmen, der sich tatsächlich abgespielt hatte und fortwährend abspielte. Man hielt sich, als man sich erstmals dachte, offenbar schon längst für das, was man erst jetzt auf seinen Namen brachte: für »deutsch«. Doch niemand hätte sagen können, seit wann dem so war.

Die Geschichte ihres Namens spiegelt nur teilweise die Ethnogenese der Deutschen, die sich im zerbröckelnden Verband des älteren Frankenreiches vollzog und über Jahrhunderte erstreckte. Vereinzelt begegnete im 10. und 11. Jahrhundert der »Franken«- oder »Sachsen«-Name, der Name des den König stellenden Volkes, um die Gesamtheit der nachmals Deutschen zu erfassen. »Deutsch« war als Name indessen eine Fremdbezeichnung. Seine Rezeption durch die Deutschen selbst blieb von Anfang an kennzeichnend für die eigentümliche Offenheit des werdenden Volkes gegenüber den Einflüssen von außen. Er wurde vor allem aus Italien übernommen und setzte sich durch, weil es keinen besseren gab. Er half aus der peinlichen Verlegenheit, eine Vielzahl einander fremder, miteinander konkurrierender, auf ihr Eigensein stolzer Völker unter einem gemeinsamen König zu benennen. Doch er wurde weder diesseits der Grenzen sofort noch jenseits allgemein rezipiert.

Wer also sind »die Deutschen«, »les Allemands«, »the Germans«, »Niemcy«, »οἳ Γερµανοί«, »i Tedeschi«, jenes Volk, das die Völker ringsum mit einer Vielfalt von Namen belegten, von denen nur der italienische etymologisch annähernd dasselbe bedeutet wie »die Deutschen«? Wo kamen sie her? Seit wann gab es sie? Wieder gilt es zu differenzieren. Eine wissenschaftliche Wesensbestimmung der Deutschen ist freilich unmöglich. Zu viele Veränderungen und Brüche bestimmten ihre nationale Geschichte. Der »Deutschen«-Begriff von heute ist ein anderer als jener aus der Frühphase des Volkes. Wer im 11. Jahrhundert den Namen trug, war gewöhnlich deutschsprachiger Bewohner des deutschen Reiches, des »Regnum Teutonicum«, dessen Grenzen – zwischen Nordsee und Alpen, Maas, Elbe, Böhmerwald und Leitha – sich erheblich von den sprachlichen wie politischen Grenzen der Gegenwart unterschieden.

Diese Grenzen waren durch eine Reihe fränkischer Teilungsverträge vorgegeben. Die durch sie entstandenen Teilreiche mussten sich auseinanderleben, in sich selbst aber zusammenbleiben, um neue Völker hervorbringen zu können. Doch die Franzosen behielten den »Franken«-Namen und mit ihm die ungebrochene Kontinuität fränkischen Selbstbewusstseins. Selbst Normannen, Provençalen oder Lothringer konnten ihn adaptieren, während die Deutschen bei aller politischen Kontinuität zum Reich Karls des Großen sich selbst, sieht man von jenen Anleihen der Humanisten ab, nie als Franken, Sachsen oder Alemannen begriffen, mithin als Volk eine vergangenheitslose Neubildung darstellten.

Zwischen Volksgeschichte und Reichsgeschichte lässt sich für damals schwerlich trennen. Differenzierungen, wie »Staatsnation«, »Sprachnation«, »Kulturnation«, die für die jüngere deutsche Geschichte und die Gegenwart Bedeutung besitzen mögen, waren undenkbar und wären als Beurteilungsmaßstäbe für die Zeit bis ins 11. Jahrhundert und lange danach anachronistisch. »Deutsch« ist also eine relative Größe. In der hier behandelten Epoche gehören die Territorien heute fremder Nationen hinzu: Österreich, Tirol, die Schweiz, Elsass, Lothringen mit seinen romanischsprachigen Teilen, die Niederlande, Teile Belgiens, Luxemburg. Das »Regnum Teutonicum« in den Grenzen von 1024 bestimmt im Folgenden den Horizont. Das »deutsche Reich«, den Namen, nicht die Sache betrachtet, ist älter als das »deutsche Volk« und seine Einwohnerschaft mit diesem nicht ohne weiteres identisch.

Nördlich der Alpen wird das deutsche Volk als ein multigentiler Verband erstmals um 1090/1100 in der Lebensbeschreibung des Bischofs Benno von Osnabrück fassbar. Ihr Verfasser, Abt Norbert von Iburg, behandelte die Unterwerfung der Sachsen durch die Franken in der Zeit des Herzogs Widukind und Karls des Großen, um alsbald »das gesamte deutsche Volk (universa gens Teutonica)« als die jenen Stämmen übergeordnete Einheit in seine Darstellung einzuführen. Karl habe nach dem gemeinsamen Rat der Großen des Reiches den Beschluss gefasst, »dass das ganze deutsche Volk unter gleicher Bedingung stets unter einem König in gleicher Untertanenschaft stehe«, und daraufhin in seinem Reich den Frieden geboten, um Kirchen zu errichten, Burgen zu brechen, den Gebrauch der Waffen einzuschränken und Fehden zu beenden. Die Vielzahl der Völker verschmolz zu dem einen Volk, das nach einem für alle in gleicher Weise gültigen Recht lebte, vereinte sich zu dem einen Friedensverband, der das ganze Reich umfasste. Untertanenschaft, Einheit und Gleichheit konstituierten das neue Volk.

Auch ein Anfang wurde gesetzt: die Niederlage der Sachsen gegen Karl den Großen und damit die Einbeziehung des letzten noch außenstehenden Stammes des nachmals deutschen Volkes. Dasselbe erschien geradezu als Planungsprodukt. Norbert war keineswegs der Erfinder einer aus dem Verschmelzen einst selbständiger Völker geschaffenen Einheit. Er rezipierte nur ein theoretisches Modell, das auf die Formulierungskunst Einhards, des Biographen Karls des Großen, zurückging und seit über zweihundert Jahren unter den Sachsen kursierte. Karl hatte nämlich, um deren Widerstandskraft vollends zu zermürben, Deportationen und Zwangsumsiedlungen angeordnet, deren Effizienz durch Einsiedlung fränkischer Adelsfamilien in Sachsen gesteigert wurde. Einhard indessen verbrämte die gewaltherrscherliche Tat mit staatsmännischer Weitsicht: Die Sachsen sollten, mit Franken vermischt, ein Volk mit ihnen werden. Karl plante damit keine »deutsche« Nation; gerade romanische Westfranken wurden an der Einbindung der Sachsen in sein Reich beteiligt.

Die Rechnung ging dennoch auf, anders jedoch, als Karl oder Einhard erwartet haben mochten: Die umgesiedelten Franken wurden Sachsen, so wie sie andernorts zu Baiern oder Alemannen wurden. Einhards Wendung wurde in der Folge von sächsischen Autoren – etwa von dem um 900 dichtenden Poeta Saxo, seit 936 von König Ottos I. Notaren oder um 970 von dem Geschichtsschreiber Widukind von Corvey – regelmäßig aufgegriffen; Alemannen, Baiern oder Franken indessen überging sie mit Schweigen. Das erlaubte, die Schmach der sächsischen Niederlage gegen die Franken leichter zu bewältigen, und bot dem König aus Sachsen, der Karls Nachfolge anstrebte, eine ideologische Basis zur Legitimation seiner Herrschaft gerade auch über Franken. Bei Norbert von Iburg schließlich ward Einhards Modell zum Muster deutscher Ethnogenese. Ganz verkehrt war diese Sicht zweifellos nicht.

Hier schlug sich ferner eine bestimmte Vorstellung dessen nieder, was ein Volk sei. Norbert fasste das soziale Gebilde explizit durch die wechselseitige Zuordnung von König, Land und Recht sowie – mit der »Universa Gens Teutonica« – der Sprache und schließlich – mit der Rückführung der Gründung seines Klosters auf Karls Maßnahme – der Gemeinsamkeit der Geschichte. Auch dieses Kriterienbündel knüpfte an ältere, auf die antiken griechischen Ethnographen zurückweisende und von den Römern vermittelte Vorstellungen an, wie sie im 9. Jahrhundert in der karolingischen Historiographie und zu Beginn des 10. Jahrhunderts auch bei Regino von Prüm begegneten. Der modernen Ethnologie steht für die Beschreibung ihres Gegenstandes kein grundsätzlich anderes oder besseres Raster zur Verfügung; allenfalls das »Wir«-Bewusstsein und sein Träger, der ethnische Kern, das gentile Substrat des Verbandes, ließen sich noch ergänzen. Beide Größen sind im früheren Mittelalter zwar nachzuweisen, doch über sie wurde nicht eigens reflektiert. Allerdings fehlte bei Norbert wie bei den meisten frühmittelalterlichen Autoren der Sinn für die funktionale Seite der einzelnen Faktoren, für ihre systemische Verflechtung und dynamische Wechselwirkung.

Aber das Land, von dem Norbert sprach und zu dessen Einwohnern er sich selbst zählte, nannte er nicht »Heimat«, »Vaterland«, »Patria«; er umschrieb es vielmehr mit »das ganze Reichsgebiet (omnes regni termini)«. Auch andere Autoren mieden den affektiv besetzten »Heimat«-Begriff; allein Landfremde, wie im 10. Jahrhundert der Aquitanier Gerbert von Aurillac, bedienten sich frühzeitig des Wortes »Patria«, um den Herrschaftsraum der ottonisch-salischen Könige zu bezeichnen. Die Betroffenen selbst, die werdenden Deutschen, nannten ihn nahezu ausschließlich »Regnum (Reich)«, den Herrschaftsbereich ihres Königs. Das unterschied die Deutschen von den umliegenden Völkern. Franzosen, Dänen, Polen, Böhmen, Baiern, Alemannen, Friesen, Sachsen, sie alle besaßen ihre »Heimat«, ihr »Vaterland«, auch im 12. Jahrhundert. Doch eine »Patria Teutonica« war unbekannt. Was so hätte benannt werden können, besaß nicht einmal einen allgemein verbreiteten Namen. »Teutonia« tauften es nur vereinzelt Gelehrte; im Volk fasste dieser Name nie Fuß.

Ein affektiv besetztes »Deutschland« gab es nicht. Wie zärtlich dachte hingegen ein Franzose im frühen 12. Jahrhundert an sein Land, »das süße Frankreich (la douce France)«. Der »Francia«-Name war alt. Der Deutschen Land indessen hieß »Reich«, »heiliges Reich«; es war seinem Anspruch nach römisch, konkurrierte mit Byzanz und gerierte sich als Weltreich. Allein die Unterwerfung unter seinen König wahrte die Zugehörigkeit zu Reich und Volk der Deutschen. Affektive Bindung artikulierte sich selten, spät und keineswegs allgemein. Der älteste Beleg blieb auf lange Zeit isoliert; er war Verteidigung, Abwehr verletzender Schmähungen durch Provençalen, nicht nationales Bekenntnis. Walther von der Vogelweide lieh ihm um 1200 seine Stimme: »Tiusche man sint wol gezogen, / rehte als engel sint diu wip getan. / Swer si schilt, derst betrogen: / ich enkan sin anders niht verstan. / Tugent und reine minne, / swer die suochen wil, / der sol komen in unser lant: da ist wünne vil! / Lange müeze ich leben dar inne!« Unser Land: »Von der Elbe unz an den Rin / und her wider unz an Ungerlant« – unser Land, voll der Herrlichkeit des Lebens. In »unserem Land« leben »wir«. Walther dachte entsprechend, als er die päpstliche Kreuzzugssteuer schalt, die »uns Deutschen (uns Tiutschen)« auferlegt war.

Die Vorstellung von dem einen deutschen Volk gewann allmählich seit dem 12. Jahrhundert deutlichere Konturen. Die Geschichtsschreiber nahmen sich seiner an und begannen, seine Vergangenheit zu prüfen. Der Anfang der deutschen Geschichte verschob sich zuweilen dabei. Er lag nun nicht mehr wie bei Norbert von Iburg in der Zeit Karls des Großen, sondern konnte ins 10. Jahrhundert fallen, zum Beispiel bei Otto dem Großen zu suchen sein. Doch folgten keineswegs schon alle Betroffenen dieser Sicht. Ein so gelehrter Mann wie Otto von Freising sah um die Mitte des 12. Jahrhunderts in den Deutschen, im Unterschied zu den Sachsen oder den Franken, kein Volk, erkannte in ihnen vielmehr noch immer die Gemeinschaft der deutschsprachigen Völker. Das »Reich der Deutschen«, über das zu reflektieren er nicht müde wurde, war mithin kein »Reich des deutschen Volkes«, sondern nach wie vor das »Reich der deutschsprachigen Völker«.

Im späten 11. und 12. Jahrhundert waren also jene Elemente zu einem Ganzen vereint, deren Zusammenwirken die deutsche Nation konstituierte. Es wäre müßig, nach einem Gründungsdatum des deutschen Reiches oder des deutschen Volkes Ausschau zu halten. Ebenso fruchtlos wäre es, ein Ereignis namhaft zu machen, bei dem sich das Deutschtum ein erstes Mal geregt und handelnd in die Geschichte eingegriffen hätte. Wer nach derartigen Fixpunkten sucht, hat ein lineares Entwicklungsschema vor Augen, kein systemisches. Die Geschichte eines sozialen Systems entfaltet sich nicht wie eine Pflanze, deren Keim bereits ihr genetisches Programm in sich trägt und, einmal in fruchtbare Erde gesteckt, ausschlagen muss; sie verläuft schon gar nicht nach dem mechanischen Prinzip einer Maschine, die gebaut und gestartet wird, um dann in Schwung zu kommen, und deren Erfindung mitunter auf den Tag genau zu datieren ist. Offene Systeme sind bei allem Gleichgewicht, das sie im Fluss der Zeiten halten müssen, um nicht zu zerfallen, transitorisch und transformieren sich fortgesetzt selbst.

Alle Traditionen des Frankenreiches wirkten fort, als Deutschland entstand. Eine Fülle in sich gleichfalls dynamischer Komponenten, Einzelereignisse und Geschehensbündel traf zusammen, die jeweils für sich genommen wenig bedeuteten, wenn sie sich nicht wechselseitig filterten oder verstärkten und dadurch als Ganzes in eine nicht mehr umkehrbare Richtung drängten. Das Ehebett Ludwigs des Frommen, jenes Kaisers, der die Söhne zeugte, welche die bis heute nachwirkenden Teilungen realisierten, dieses Bett war so gut oder so wenig der Anfang deutscher Geschichte wie die Schlacht von Fontenoy (841), die jene Teilung erzwang, wie der Vertrag von Verdun (843), der sie durchführte, wie die Königserhebungen Arnulfs von Kärnten (887) oder Heinrichs von Sachsen (919), die Kaiserkrönung Ottos des Großen (962) oder wie jedes andere Einzelereignis, das auf die Autokatalyse des Systems einwirkte. Jede engere zeitliche Fixierung eines Beginns deutscher Geschichte wäre ein willkürlicher Einschnitt. Weder das deutsche Volk noch das deutsche Reich können Geburtstag feiern. Weder dieses noch jenes ging, die Sache, nicht den Namen betrachtet, dem jeweils anderen voraus und brachte es hervor. Die Deutschen und ihr Reich waren vielmehr Wandlungsprodukte eines sich transformierenden Frankenreiches. Hier etablierte sich ein ostfränkisches Königtum, fand sich ein multigentiler Adel, der es zu erhalten bereit war, konvergierten notwendige Bedingungen und Umstände, die es zuließen. Zeitlich determinierbar ist lediglich das erste Auftreten einzelner Komponenten – die Kriege, Verträge, Herrscherleben, Rechtsakte, Wissensschübe, der Gebrauch des Namens, Erkenntnisschritte oder Willensentscheidungen –, nicht aber der ewige Fluss des Systems.

Dennoch sollte es eine deutsche Geschichte geben. Wie war es möglich geworden? Einzelne Faktoren lassen sich klar erkennen. Konstitutiv war das Königtum, katalytisch wirkte der Reichsverband, ethnisch hervorstechendes, Namen gebendes, geistig prägendes und damit identifizierendes Merkmal war indessen die Sprache, weshalb die Zugehörigkeit der Reichsromanen zum neuen nationalen Verband locker blieb und schon im 12. Jahrhundert abzubröckeln begann. Für »deutsch« hatte damals zu gelten, wer den prinzipiell in Aachen zu krönenden König nächst Gott als seinen höchsten weltlichen Herrn anerkannte. Die reichsintegrative Wirkung der Königswahl, des Königshofes, auch der Reichskirche kann kaum überschätzt werden. Die Wahl erschien den Zeitgenossen schon des 12. Jahrhunderts als eine Besonderheit des »Regnum Teutonicum«. Mit vollem Recht. Denn sie war nötig, um den Zusammenhalt des Reichsverbandes zu gewährleisten; sie war – um die 1882 von Ernest Renan formulierte Definition der Nation abzuwandeln – zwar nicht das »tägliche«, wohl aber das generationenweise »Plebiszit« zur Nation; sie war der Vertrag, auf dem die Einheit der Deutschen, ihre nationale Existenz, beruhte.

Der Königshof vereinte in regelmäßigen Abständen die Fürsten, die gemeinsam mit dem König das Reich trugen. Die Reichskirche sorgte nicht nur durch stammesfremde Prälaten in den einzelnen Bistümern und Reichsabteien für einen Ausgleich zwischen den deutschen Völkern und Regionen; die Bischöfe stellten überhaupt die überwiegende Mehrzahl der reichstragenden Fürsten und hegten als Gruppe das größte Interesse am Erhalt des römisch-deutschen Reiches.

Die deutsche Sprache endlich einte die Deutschen, isolierte sie aber zugleich von den Nachbarn und prägte sie; denn sie bedeutete, primitiv wie sie noch in ottonischer Zeit und später war, eine schwere Hürde vor jeder höheren geistigen Kultur, zu der allein die Rezeption fremdsprachiger Kultur die Tore öffnete. Durchlässig freilich waren diese Pforten gewöhnlich nur nach einer Seite: von Westen und Süden nach Osten und Norden. Das blieb auf Jahrhunderte so und wurde eine Grundkonstante der europäischen Kultur; sie zeitigte mitunter fatale Folgen, denn sie verzerrte die Bilder, welche sich die Nachbarn voneinander machten.

Wenn irgendwo, dann trat in der Genese und der Frühgeschichte der europäischen Nationen der Primat weltlicher Machtpolitik hervor. Denn die ethnogenetischen Prozesse waren unauflöslich an das Zusammenwirken von Herrschaftsträgern gebunden. Macht- und Kulturgeschichte erschienen geradezu als zwei einander entgegengerichtete Trends. Die Geschichte der Könige, der übrigen kleinen und großen Herrschaftsträger, der adeligen Verwandtengruppen und der durch sie alle gestalteten Friedensordnungen und politischen Verbände differenzierte und zergliederte, schuf neue Einheiten und grenzte sie gegeneinander ab. Sie brachte Gewohnheiten und Rechte hervor, gab menschlichen Gruppen ihr Eigensein. Jede mittelalterliche Nationalgeschichte entpuppt sich, so gesehen, in ihrem entscheidenden Kern als Macht- und Verfassungs-, als Friedens-, Ordnungs- und Loyalitätsgeschichte, war Geschichte der Könige und Reiche, der Herrscher und Beherrschten und ihrer Auseinandersetzungen mit ihren inneren und äußeren Gegnern und musste es sein, sollte sie ein klar umrissenes Subjekt besitzen. Eine pure Sprachnation konnte es nicht geben, so segmentierend die Sprachen auch wirken mochten. Den zergliedernden, abgrenzenden und nationale Einheit stiftenden Faktoren gilt im Folgenden die vordringliche Aufmerksamkeit.

Immerhin begleiteten übergreifende Faktoren wie Wirtschaft, Fernhandel, geistige Kultur oder universal-christliche Kirche das politische Geschehen; soziales Wissen und Mentalitäten wirkten gestaltend ein. Doch welche Wirkungen sie unter den Nationen auch hervorriefen, ihrem Wesen nach konnten sie nicht oder allenfalls partiell in politische oder nationale Reichsgrenzen eingezwängt werden. Sie sprengten diese und verbanden in eigentümlicher Weise unterschiedliche Regionen und Völker miteinander. Sie schufen spezielle Kommunikationsgemeinschaften oder Kulturregionen. Märchen und Mythen, Religionen, Wahrnehmungs- und Deutungsweisen, Rechtsinstitutionen und wissenschaftliche Erkenntnisse gelangten mit den Kaufleuten, den beutehungrigen Gefolgschaften, den landsuchenden Siedlern, reisenden Baumeistern und Künstlern oder den in die Fremde ziehenden Lehrern und Scholaren von Region zu Region; allenfalls differierte die Verbreitungsgeschwindigkeit. Kultur, hier im umfassenden Sinne menschlicher Leistungen verstanden, ging selten in den machtpolitischen Planungen auf und passte sich ihnen nie völlig an; sie folgte ihren eigenen Gesetzen, überwand Traditionen und brachte neue hervor. Wo immer sie entstand, teilte sie sich über kurz oder lang allen mit, lebte vom Austausch unter Nachbarn und Fremden. Ihre Leistungen, wer immer sie erstmals vollbrachte, verharrten nicht in völkischer Isolation, überwanden vielmehr die natürlichen Barrieren oder von Menschen gezogenen Grenzen und eroberten sich eigene, von den Siedlungs- und Sprachgebieten der einzelnen Völker unabhängige Einflusszonen. Doch reine Kulturnationen gab es deshalb noch lange nicht. Ein anthropologischer Verstehensansatz wird Nationalgeschichte ohnehin nur als einen komplexen Faktor, nicht aber als ein abgeschlossenes Ganzes akzeptieren.

Die Interdependenz einer derart verstandenen Kultur und politischer Macht- und Verfassungsgeschichte soll damit keineswegs geleugnet werden. Im Gegenteil: Sie führte zu spezifischen Spannungen von nationalen und transnationalen Prinzipien, welche das Eigensein der Nationen beherrschten und dem Wandel in der Geschichte Richtung verliehen. Selbst der Gebrauch der, um ein frühmittelalterliches Beispiel anzuführen, den Volksnamen tragenden Waffen wie der »Francisca«, der Wurfaxt der Franken, oder des »Sax«, des Kurzschwerts der Sachsen, blieb nicht auf die jeweiligen Volksgrenzen beschränkt, wenn sie überhaupt je auf diese bezogen waren. Dies gilt für alle höhere Kultur in einem noch viel ausgeprägteren Maß. Im Blick auf sie löst sich jede Nationalgeschichte in einem übergangsreichen Kontinuum zahlreicher kultureller Tönungen auf.

Kein Volk brachte, was es vorzuweisen hatte, allein aus sich hervor; keines behielt, was es einmal besaß, lange für sich. Jedes stand, seitdem es seiner Ethnogenese unterlag, in unauflöslichem Systemverbund mit den übrigen europäischen Nationen. Was es wurde, ist es geworden, weil die anderen so wurden, wie sie geworden sind. Was wäre mit Frankreich und Deutschland geschehen, hätte im Jahr 878 Ludwig der Stammler tatsächlich, wie Papst Johannes VIII. wünschte, an Stelle seines Vetters Karl III. die Kaiserkrone übernommen und hätten seine Nachfolger sie behalten? Oder wenn in der Mitte des 10. Jahrhunderts der Wunsch Adsos von Montier-en-Der in Erfüllung gegangen wäre und einer der westfränkischen Karolinger, nicht der ostfränkisch-sächsische Otto I., das Kaisertum erneuert hätte? Oder wenn die Westfranken im 12. Jahrhundert noch so wacker »Deutsch« gelernt hätten, wie sie es im Reich Karls des Großen und Ludwigs des Frommen mussten? Die Folge derartigen Austauschs war ein spannungsreiches Neben- und Ineinander von nationalen und internationalen Komponenten und Faktoren, mit mannigfachen Wechselwirkungen und Rückkopplungseffekten.

Kein König, kein Adelsherr, kein kirchlicher Prälat, letztlich kein Bauer des früheren Mittelalters konnte unabhängig von den geistigen Bedingungen seiner Zeit und seiner Welt Macht entfalten, Fürstentümer und Reiche gründen, einen Acker bestellen. Seine Ziele, ihre Artikulation, die Mittel zu ihrer Verwirklichung und diese, die Realisierung, selbst, die Wertmaßstäbe und Urteile, die verinnerlichten Handlungsmuster, das nötige sachliche und soziale Wissen, die alles filternden und selektierenden Wahrnehmens- und Verstehensweisen, die materiellen Gegebenheiten – sie ketteten auch die ausgeprägtesten Machtpolitiker an die Kulturströmungen ihrer Zeit und damit an die der anderen. Die Kultur aber unterlag ihrerseits der Wechselspannung von übernationaler Geschichte und eigenständigen Trends.

So erfolgte jedes politische Handeln im entstehenden Deutschland aus einem Eingebundensein der Protagonisten in ein komplexes, bald eng-, bald weitmaschiges Beziehungsnetz und Faktorenbündel, die beide mehr umfassten als lediglich eine deutsche Kultur, wenn sie auch in dieser wiederbegegneten, von ihr assimiliert wurden und sie fortan mitgestalteten. Keine Nation war in ihrer Existenz und mit ihren Leistungen ohne die anderen denkbar, kein nationales Handeln vollzog sich in nationaler Absonderung, ohne Rückkopplungen an eine multinationale Umwelt. Die Volkwerdung der Deutschen war ebenso ein Faktor französischer oder polnischer Ethnogenese, um die beiden Nachbarnationen zu nennen, die etwa zur selben Zeit wie die Deutschen Kontur gewannen, wie umgekehrt. Die deutsche Geschichte war von Anfang an ein Teil der französischen, wie die französische ein gut Teil deutscher Geschichte war und bis heute blieb.

»Deutsch« war nicht zuletzt die Summe des Fremden, des Nicht-Deutschen, von dem es sich abgrenzte, das es nachahmte und sich aneignete, sogar des ihm Feindlichen, das es mit komplementärem Verhalten beantwortete. Auch wenn primär politische Faktoren wie König, Verfassung oder staatliche Grenzen, das auf ihren König fixierte Handeln der Großen und die Reichskirche die europäischen Nationen aus ihrer vornationalen Umwelt ausgliederten, so wäre es doch falsch, die nationale Geschichte allein dem Primat der Politik zu unterwerfen. Erst in der kulturellen Gemeinschaft der Völker, in der Gegenseitigkeit des Nehmens und Gebens, der Feindschaften und Freundschaften, erfüllten die einzelnen Nationen, was sie zu leisten vermochten, im Guten ebenso wie im Bösen.

Der Aufstieg, der Niedergang und die Metamorphosen des Frankenreiches in einer von Romanen, Germanen und Slawen besiedelten Umwelt schufen die Voraussetzungen und Bedingungen deutscher Ethnogenese. Wenngleich diese Reichsgeschichte in die römische Kaiserzeit, die Spätantike und germanische Völkerwanderung zurückreicht, bleibt die scharfe Abgrenzung der Deutschen von den Germanen davon unberührt. »Germanisch« wird hier und im Folgenden stets im sprachwissenschaftlichen Sinne gebraucht, nicht anthropologisch, somit lediglich auf die Sprecher germanischer Sprachen bezogen, nicht auf Recht, Verfassung, Mentalitäten oder sonstige Merkmale und schon gar nicht auf eine irgendwie geartete Abstammungsgemeinschaft, auf die es seit der Entdeckung der Taciteischen »Germania« von Humanisten, Publizisten und Juristen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und noch von Historikern des 19. und 20. Jahrhunderts regelmäßig appliziert wurde. Auch »deutsch« gilt gewöhnlich der Sprachgruppe, nicht einer noch imaginären Nation.

Die Germanen bildeten in historischer Zeit nie einen integriert handelnden Verband mit gemeinsamen Institutionen, und die Deutschen waren keine gradlinige Fortsetzung solcher Germanen. Sie organisierten sich in einem neuartigen Vielvölker- und Vielsprachenverband, und wie bei allen supragentilen oder supranationalen Verbänden beherrschten starke Spannungen und Differenzen die Konsensbildung im Innern. Gleichwohl: Ohne die Wanderungen germanischer Völkerschaften gäbe es keine Deutschen. Das besagt wenig, da ohne diese auch keine gotisch-spanische, fränkisch-französische, angelsächsisch-englische oder langobardisch-italienische Geschichte denkbar wäre. Zudem war die germanische Herkunft nur ein Wurzelstrang; mindestens ebenso stark prägten die römische Zivilisation und das Christentum die entstehende Nation, von aller keltischen oder indogermanischen Vorbevölkerung, die bodenständig blieb, ganz zu schweigen. Ohne die römischen Legionen und ohne die christlichen Missionare gäbe es keinen Anschluss an die reiche Tradition und die überlegene Kultur der mittelmeerischen Welt, keine höhere Zivilisation im werdenden Deutschland, ohne die im Vorfeld des spätantiken Imperiums sich vollziehenden ethnogenetischen Prozesse keine deutschen Stämme. Altgermaniens Wälder, Auen und Sümpfe waren noch frei von höherer Zivilisation, auch von Deutschen, und niemand, der dort lebte, hatte die geringste Ahnung, dass es sie einst geben könnte. Pointiert formuliert: Ein Kirchenvater wie der hl. Augustin, dieser Afrikaner und römische Christ, besaß für die Geschichte der Deutschen nicht minderes Gewicht als die gesamte Götterdämmerung der nordischen »Edda«.

»Uuerpistdu?« Einer von vielen, die den großen Transformationen der Geschichte ausgeliefert waren, auf sie einzuwirken suchten, Opfer wurden und Opfer erzwangen, Angst litten und Angst weckten. »Uuana pistdu?« Hervorgegangen aus einem Prozess der Verschmelzung einander feindlicher, barbarischer Nationen. Dein Name? Von außen aufgedrängt, Erinnerung an das einzig Vertraute in einem Meer von Fremdem.