Die Deutschen - Johannes Fried - E-Book

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Johannes Fried

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Beschreibung

Die Deutschen – das stolze Volk der Dichter und Denker? Lässt man die Dichter und Denker selbst zu Wort kommen, so zeigt sich, dass es mit dem Nationalstolz nicht weit her ist: „Wir Deutschen sind von gestern“ – so lautet Goethes schonungsloses Urteil über sein Volk, und auch andere sparen nicht mit Kritik, wenn es um die deutsche Identität geht: „thatenarm und gedankenvoll“ heißt es bei Hölderlin, „willkürlich verdummt“ befand Nietzsche. Im vorliegenden Buch sind viele deutsche Geistesgrößen vom Mittelalter bis in die Gegenwart versammelt: Von Walther von der Vogelweide über Luther, Kant, Schiller bis hin zu Heidegger, Brecht und Walser. Ihnen allen gemein ist der skeptische Blick auf das eigene Land. Das Ergebnis ist ernüchternd, geradezu vernichtend: Die Deutschen – ein grobes Volk ohne Nationalcharakter, ein Land von Kulturadepten, voll „strohdummer Bürger“, wie Adenauer enttäuscht bemerkte. Souverän und kenntnisreich kommentiert Johannes Fried die ausgewählten Texte, bettet sie ins jeweilige Zeitgeschehen ein – und wartet dabei mit überraschenden Erkenntnissen auf.

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Johannes Fried

DIE DEUTSCHEN

Eine Autobiographie

Aufgezeichnet von Dichtern und Denkern

C.H.BECK

Zum Buch

Die Deutschen – das stolze Volk der Dichter und Denker? Lässt man die Dichter und Denker selbst zu Wort kommen, so zeigt sich, dass es mit dem Nationalstolz nicht weit her ist: «Wir Deutschen sind von gestern» – so lautet Goethes schonungsloses Urteil über sein Volk, und auch andere sparen nicht mit Kritik, wenn es um die deutsche Identität geht: «thatenarm und gedankenvoll» heißt es bei Hölderlin, «willkürlich verdummt» befand Nietzsche. Im vorliegenden Buch sind viele deutsche Geistesgrößen vom Mittelalter bis in die Gegenwart versammelt: Von Walther von der Vogelweide über Luther, Kant, Schiller bis hin zu Heidegger, Brecht und Walser. Ihnen allen gemein ist der skeptische Blick auf das eigene Land. Das Ergebnis ist ernüchternd, geradezu vernichtend: die Deutschen – ein grobes Volk ohne Nationalcharakter, ein Land von Kulturadepten, voll «strohdummer Bürger», wie Adenauer enttäuscht bemerkte. Souverän und kenntnisreich kommentiert Johannes Fried die ausgewählten Texte, bettet sie ins jeweilige Zeitgeschehen ein – und wartet dabei mit überraschenden Erkenntnissen auf.

Über den Autor

Johannes Fried war bis zu seiner Emeritierung Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt. 1995 erhielt er den Preis des Historischen Kollegs (Historikerpreis), 2006 den Sigmund- Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Bei C.H.Beck sind von ihm zuletzt erschienen: Karl der Große. Gewalt und Glaube (52016), Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs (2016).

Inhalt

Einleitung: Wir Deutschen sind von gestern

1. Deutsch ist völkisch: Die Implikationen des deutschen Volksnamens

2. Von der Völkermühle.Von der Kelter Europas!Tacitus’ «Germania»

3. Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes: Der Dreißigjährige Krieg

4. Was ist des Deutschen Vaterland?Napoleon und die Folgen

5. Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld: Politische Restauration

6. … uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst: Nach der gescheiterten Revolution

7. Am Deutschen Wesen wird einmal noch die Welt genesen. Die Reichsbildung von 1870/71

8. Wir müssen immer deutscher werden: Im Ersten Weltkrieg

9. Er ist Jude, er ist kein Deutscher: Die verfehlte Demokratie

10. Verwesung der Wahrheit. Entartungen der Nazi-Zeit

11. Toni, du bist ein Fußballgott!Nachkriegszeit

12. Wir haben dieses Land geliebt: Nach der «Wende»

13. Um Deutschland ist mir gar nicht bang. Jetzt und heute

14. Von Staatsangehörigkeit weiß das Unsterbliche nichts. Schluss

Anmerkungen

Einleitung: Wir Deutschen sind von gestern

1. Deutsch ist völkisch. Implikationen des deutschen Volksnamens

2. Von der Völkermühle. Von der Kelter Europas! Tacitus’ «Germania»

3. Trawrklage des verwüsteten Deutschlandes: Der Dreißigjährige Krieg

4. Was ist des Deutschen Vaterland? Napoleon und die Folgen

5. Deutschland ist jetzt ein Leichenfeld: Politische Restauration

6. … uns bliebe gleich die heil’ge deutsche Kunst: Nach der gescheiterten Revolution

7. Am Deutschen Wesen wird einmal noch die Welt genesen. Die Reichsbildung von 1870/71

8. Wir müssen immer deutscher werden: Im Ersten Weltkrieg

9. Er ist Jude, er ist kein Deutscher: Die verfehlte Demokratie

10. Verwesung der Wahrheit. Entartungen der Nazi-Zeit

11. Toni, du bist ein Fußballgott! Nachkriegszeit

12. Wir haben dieses Land geliebt: Nach der Wende

13. Um Deutschland ist mir gar nicht bang. Jetzt und heute

14. Von Staatsangehörigkeit weiß das Unsterbliche nichts. Schluss

Bildnachweis

Danksagung

Personenregister

Einleitung: Wir Deutschen sind von gestern

Wir Deutschen sind von gestern. Ein Volk von gestern? Es war der betagte Goethe, der so sprach[1]. Die Summe eines Politiker-Lebens: von gestern? Die Einsicht eines Mannes, der mitten in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit seiner Zeit stand, berühmt im In- und Ausland? «Wir»? Von gestern? Unglaublich! Wir doch nicht! In Sorge geriet wegen so resignativer Rede tatsächlich kein Patriot. Allein Friedrich Nietzsche teilte später solche Bedenken und urteilte ähnlich: Die Deutschen seien von vorgestern und übermorgen, nur nicht von heute[2]. Solch unzeitgemäßes Reden war man von diesem Philosophen gewohnt. Es überzeugte keinen Zeitgenossen. Zum Nachdenken brachte es ihn schon gar nicht. Kein Heute? Lächerlich! Unfug! «Wir» haben unser Heute. Sind «wir» doch das «Volk der Dichter und Denker». «Wir» besitzen «unsere» Kultur, unser Heute, «unsere» Werte! Goethe und Nietzsche können sie nicht beiseitewischen und hinwegkritisieren.

Die stolze, geradezu pompöse Wendung vom «Volk der Dichter und Denker» tauchte vielleicht in der Zeit des späten Goethe auf – gewiss ist es nicht. Ein Erfinder oder ein Erstbeleg wurden bislang nicht gefunden. Plötzlich war sie da[3]. Sie behagte dem bildungsbeflissenen deutschen Bürgertum. Jetzt war man wer. Nichts mehr mit gestern. Das klangvolle Lob traf seinen Geschmack, kräftigte sein Selbstbewusstsein. Bis tief ins 20. Jahrhundert kursierte es, erleichterte die Selbstvergewisserung, diente der Propaganda, der Reklame und der Karikatur. Der Spruch begeisterte die Deutschen, soweit sie Vorstellungen von Dichten und Denken hegten, und zeitigte atemberaubende Wirkungen. Er erfüllte sie erst mit Stolz, dann mit Hochmut, bald mit Arroganz, später mit Triumphgefühlen, verleitete sie zu Größenwahn und mündete nach einem Jahrhundert in schlimmste Perversionen. Heutigentags ist es auf das Niveau von Weinreklame gesunken oder ziert wie in Leipzig – leicht abgewandelt – öffentliche Leihfahrräder Für Dichter und Lenker – Lucky Bike[4]. Kritische, etwa linksstehende Dichter und Denker mochten es in den 1920er Jahren karikieren; der rechtgesinnte Deutsche ließ sich nicht irritieren. Verstärkte Zweifel regten sich erst nach zwei verlorenen Weltkriegen. Da schien man unsicher geworden zu sein, da meldeten sich Scham und Skepsis, da vertraute man der allzu schönen Sentenz nicht mehr und fragte voller Skrupel: «Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker?» (1964).

Gestrig oder das Volk der Dichter und Denker? Der Zwiespalt bleibt. Was sind «wir»? Wer sind «wir»? Was trifft die Wesensbestimmung der Deutschen? Strafen die kritischen Dichter- und Denkerworte die Pauschalzuweisung an ungenannte Poeten und Philosophen Lügen? Sind «wir» nur arrogante, aufgeblasene Leute? Bestätigten wenigstens einige der Angerufenen das erhebende Dichter-und-Denker-Wort und seine kulturellen Implikationen?

Goethes Antwort blieb unerbittlich skeptisch. Sie eröffnete eine bis heute anhaltende Diskussion. Der Weimarer Minister hielt von den Letzteren, den deutschen Berufsdenkern, trotz Fichte, Hegel oder Schelling nicht allzu viel. Von Kant empfahl der vielseitig interessierte Literat, der Isaac Newton zu widersprechen wagte, der die Urpflanze erforschte, ein Mineralienkabinett zusammentrug, der ein großer Liebender war, empfahl also seinem Sekretär Johann Peter Eckermann immerhin die «Kritik der Urteilskraft»[5]. Was aber den deutschen Denkern insgesamt seiner Meinung nach fehle? Hören wir ihn selbst[6].

Warum Ausländer, Britten, Americaner, Franzosen und Italiäner, unserer neuen Philosophie nichts abgewinnen können, schreibt sich wohl daher, daß sie nicht unmittelbar in’s Leben eingreift. Praktische Vortheile von ihr können sie nicht absehen; deshalb wenden sie sich mehr oder weniger nach der schottischen Lehre, wie von (Thomas) Reid und (Dugald) Stewart vorgetragen wird. Diese nähert sich dem Menschenverstande und dadurch gewinnt sie Gunst. Sie sucht den Sensualism und Spiritualism zu versöhnen; die Übereinstimmung des Reellen mit dem Ideellen zu vermitteln und dadurch einen vollkommenen Zustand des menschlichen Denkens und Handelns hervorzubringen. Solche ganzheitliche Philosophie imponierte Goethe; ihr mochte er folgen. Die schottische Aufklärung, der Sensualismus, die Common-sense-Philosophie, deren Vertreter er namentlich hervorhob, fanden in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Deutschland einige Verbreitung, während der «deutsche» Idealismus fast nur hierzulande fruchtete, aber nach Frankreich oder England kaum ausstrahlte. Zu Taten rief er nicht auf: ein tatenarmes Denken unter den Deutschen, schlimm für die Wirklichkeit. Dieses Manko monierte damals nicht nur Goethe. Ein Volk bloß von Dichtern und Denkern, aber nicht von Tätern?

Die zeitgenössische Poesie der Deutschen konnte der große Dichter schon gar nicht loben[7]. Da wehe bloß frische Lust am unbedeutenden Daseyn (…): Ihre ganze Poesie beschränkt sich auf die alten Kirchenlieder, deren Wörtliches ihnen heilig ist. Breite der Mittelclasse. Cultur der Mittelclasse, nämlich der Geistlichkeit, der Ärzte, Professoren oder Schullehrer; jedweder Geburtstag, jedwede silberne und goldene Hochzeit, jedwedes Dienst- oder Staatsjubiläum würden poetisch gefeiert; und weil nun die lebhaftesten Segnungen auf Gesundheit, auf dauernden Ruhm und verlängertes Leben nicht ausbleiben dürfen, so fügt sich so schönen Prämissen als nothwendige Conclusion ein löbliches «Ergo bibamus» hinzu. Darauf lasst uns anstoßen! Da verschönten also Verse die Feierstunden, und die uralte Trinklust, die schon Luther moniert hatte[8], verbrämte das gesellige Tun. Das war keine Luft, in der Neues aufkeimen, gar Revolutionen reifen konnten. Noch einmal also ein Volk von gestern; mit mehr Dichterlingen gesegnet als mit Dichtern.

Der Bühnenkunst seiner Zeit attestierte Goethe (sich selbst und Schiller wohl ausgenommen) ähnliche Rückständigkeit wie der Poesie: Die Sentimentalität, die Würde des Alters und des Menschenverstandes, das Vermitteln durch vortreffliche Väter und weise Männer nahm auf dem Theater überhand. Wer erinnert sich nicht des Essighändlers, des Philosophen ohne es zu wissen, des ehrlichen Verbrechers und so vieler verwandter Stücke?[9] Das «Volk der Dichter und Denker» wäre demnach aus Goethes Sicht bloß «mittlere Klasse» gewesen, ein Bürgertum, das fromme Kirchenlieder liebte, innige Choräle sang, Geburtstagsverse reimte, das einer Art Lesehallen-Philosophie frönte und dem Volkstheater huldigte, sonst aber sich mit Nachahmung fremder Werke begnügte und sich insgesamt «von gestern» erwies. Der Hiatus zwischen jener pompösen Eloge und dem wirklichen Dichter ist eklatant. Auf wessen Urteil sollten «wir» also hören? Das breite Volk der Goethe-Zeit betraf ohnehin nicht die Zielgruppe jenes Slogans, nicht einmal die «mittlere Klasse». Das elitäre Volk der Philosophen und Poeten klammerte die Kätner, Weber, die bald sich ausbreitende Arbeiterschaft aus.

Gewiss, Goethe konnte auch wohlwollender über sein Volk sprechen. So lobte er mit hübschem Wort – und sein Sekretär Eckermann hielt es zum 23. Oktober 1827 fest –, Deutschland sei trotz der politischen Zergliederung eins in Liebe untereinander. Aber der erfahrene Beobachter, der dieser Dramatiker war, blickte tiefer in die Psyche der Deutschen. Der Heros von Weimar hatte die Erfahrungen der Französischen Revolution und des vergeblichen Kampfes deutscher Fürsten gegen sie internalisiert, hatte Napoleon bewundert und die Kriege gegen ihn nicht abgelehnt, hatte das Aufbegehren einer studentischen Jugend beachtet, die sich in ersten Burschenschaften organisierte (Uns ist ganz kannibalisch wohl, Als wie fünfhundert Säuen!), hatte in der politischen Restauration nach des Empereurs Niederlage seinem Fürsten ratend zur Seite gestanden, hatte die anbrandende Nationalbewegung scheitern, hatte Altes zusammenbrechen, Neues heraufziehen und Neu-Altes sich verfestigen gesehen. Jetzt beklagte Goethe das kulturelle Vergessen der Deutschen und verwies auf die Notwendigkeit geistiger Erneuerung, wie sie durch Herder und seine Nachfolger eingeleitet worden war, der nun aber zu geringe Aufmerksamkeit erwiesen wurde[10]. Eine Nation ohne Geist?

Das alles floss in Goethes Bemerkung über die Gestrigkeit der Deutschen ein. Sie vereinte Wahrnehmung und Erfahrung des Zeitgenossen, dessen Urteil über Gesellschaft und Politik. Dessen Blick in die Vergangenheit war von seiner Gegenwart bedingt, und solche Gegenwärtigkeit der Vergangenheit gilt heutigentags nicht anders als seinerzeit für den Dichter Goethe. Sie trifft noch immer zu. Ihr ist weiter nachzugehen, um den eklatanten Zwiespalt zwischen wirklichem, mitunter herbem Dichter- und Philosophenwort einerseits und arrogantem Pauschallob andererseits zu erhellen und in seinen Wirkungen zu verfolgen.

Halten wir deshalb fest: Was wahrgenommen wird, ist durch «heute» bedingt und soll für heute wirken. Geschichte um ihrer selbst willen verbreitet gähnende Langeweile, schafft allenfalls, wenn sie hübsch vorgetragen wird, einige vergnügliche Stunden. Doch auf die Belletristik verstehen sich Literaten besser als Historiker. Deren Wissenschaft hat über das Gewordensein der Gegenwart zu berichten, hat das Fortwirken des Vergangenen noch im Heute aufzuweisen, Konsequenzen und Perspektiven zu umreißen und kann damit, wenn es gelingt, Orientierungshilfen anbieten. In dem Reden über die Deutschen und deren Land erfasst sie – wie eben Goethe illustrierte – menschliches Leben und Erleben des Volks oder seiner Referenzgruppen[11]. Es mögen nur Ausschnitte sein, aber sie verraten Ziele, Hoffnungen und Enttäuschungen von einst, bittere Nöte und dringende Bedürfnisse; sie lassen mit deren Betrachtung zugleich die kulturelle Bedingtheit der Gegenwart erfassen. Bevor wir uns allerdings diesen Dichter- und Denkerworten zuwenden, sind einige Vorbemerkungen am Platz.

Die Fähigkeit, diese Reden auszuwerten, soll anhand des zitierten Dictums erprobt werden: Was dachten deutsche Dichter und Denker über die Deutschen und ihr Land? Folgten sie gleichartigen Impressionen wie Goethe oder priesen sie mit ihrem Volk sich selbst? Keine «Enthistorisierung» von Poesie oder Philosophie kann die Bedeutung dieser Frage kleinreden oder über deren Relevanz hinwegtäuschen[12]. Es geht um die Selbstwahrnehmung der Deutschen durch ihre eloquentesten Repräsentanten. Wir wagen damit, die Deutschen, uns selbst, über die Beobachtungen und Urteile ihrer, mithin unserer Dichter und Denker zu begreifen. Jeder Versuch einer Antwort mündet dabei in eine Art von tausendjährigen Interviews mit diesen Autoren, gleichsam in ein sich durch die Jahrhunderte hinziehendes Gespräch mit ihnen über die wahrgenommene Wirklichkeit ihres Volkes. Das Ergebnis liefert gewissermaßen ein ethnographisches Protokoll zu einer Feldstudie bei den Deutschen durch ihre Dichter und Denker. Was französische, englische oder russische Autoren zur Selbstdeutung ihrer Völker beitrugen, muss hier aus mancherlei Gründen ebenso ausgeblendet werden, wie ein Vergleich deutscher Selbstwahrnehmung mit jener. Verse wie Rule Britannia oder Sprüche wie America first werden hier also nicht weiterverfolgt. Auch bleiben bloße Gewohnheiten der Deutschen, ihre typischen Verhaltensweisen oder Lebensstile mehr oder weniger unbeachtet.

Goethes Urteil findet sich heutigentags selten wiederholt, oft missbraucht. Auch die Frage, ob «wir» noch das Volk der Dichter und Denker seien, scheint längst erledigt zu sein, doch hat sie neuerlich Brisanz gewonnen. Denn gewisse politische Gruppierungen und Parteien berufen sich jetzt, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, programmatisch auf diesen Spruch, leiten daraus politische Ansprüche und Forderungen für ihr Handeln ab, verschweigen freilich im Gegenzug, welche Dichter oder Denker sie befragt hätten, welche Werte und Traditionen sie meinten und wer «ihr Volk» sei. Dass es noch identisch sei mit dem Volk jener Dichter und Denker deutscher Zunge, die sie im Auge haben, mit Goethe, Schiller, Hölderlin, mit Kant, Fichte, Hegel und den vielen anderen, dünkt den Historiker mehr als fraglich. Sie unterstellen ein in sich gleichbleibendes, an Abstammung gebundenes Volkstum. Neueren Statistiken aber entnimmt man, dass seit Langem schon um die zwanzig Prozent der Inhaber eines gültigen deutschen Passes Menschen mit Migrationshintergrund sind, wann und woher auch immer eingewandert. Der Prozentsatz mag irrig sein, das Faktum, dass «der Deutsche» kaum mehr anders als über seinen Pass und über kein blut- oder bodengebundenes Volkstum zu definieren ist, bleibt unberührt.

Die Debatte konzentriert sich nun, angesichts weiterer Einwanderungsströme und mitgebrachter fremder Kulturen, auf die Bewahrung einer undeutlichen «deutschen Kultur», einer verschwommenen «Leitkultur» und undefinierter «deutscher Werte», die jene Dichter und Denker formuliert und repräsentiert haben sollen, die «uns» Deutsche zwar geformt hätten, doch jetzt, so wird suggeriert, durch «Überfremdung» in Gefahr seien. Die Frage von 1964 hat somit die Perspektive verschoben: aus der Formung der Deutschen hin zur Abwehr von Fremdem. Ist derartige Umorientierung berechtigt?

Lässt sich das Eigene zweifelsfrei benennen? Angebliche «nationale» Werte und ihre Ausprägungen durch deutsche Dichter und Denker geraten jetzt in den Fokus. Gab es sie? Die Auseinandersetzung mit «Fremdem» wird zu verfolgen und es wird hervorzuheben sein, wieweit und in welchen politischen oder sozialen Situationen, unter welchen Bedingungen deutsche Dichter und Denker sich auf das Werte-Thema einließen. Die Frage von Abgrenzung und Angleichung der eigenen Kultur an Fremdes schwingt dabei mit. Kulturelle Lernbereitschaft und kulturelle Formkräfte bis zur Gegenwart müssen deshalb Beachtung finden. Wandlungsreiche, nie gleichbleibende Deutungsmuster, eingeführte, durch die Jahrhunderte wechselnde Artikulationsweisen und – auch sie – divergierende, keineswegs nur im Land hervorgebrachte Agitationsmuster treten dabei hervor. Der Historiker steht da mittendrin, schaut zwar nach gestern, urteilt aber im Heute und für heute mit unbekannten Wirkungen für morgen.

Völkerwanderungen, nämlich Wanderungen von Menschengruppen, Emigrationen hier und Immigrationen dort, lassen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte verfolgen. Sie sind nicht neu. Die Deutschen bilden keine Ausnahme; ihr Land ist seit jeher Durchzugs- und Einwanderungsland. Die Wandernden kamen und kommen nie «nackt»; sie brachten und bringen Erfahrungen, Wissen und Können, ihre Traditionen und Werte mit. Das ist ihr kulturelles Kapital. Im Zeitalter verstärkter Globalisierung, eines weltweiten «Zusammenstoßes der Kulturen» und nicht aufzuhaltender Flüchtlingsströme, im Zeitalter weltweiter «Konfrontation divergierender Werte» wird das Fragen danach brandaktuell, um dieses Kapital nutzbar machen zu können, es nicht zu verschleudern und gefährliche Reibungen zu verhindern.

Die Suche darf nicht in der Gegenwart verharren. Sie besitzt, eben weil es um nachhaltige Erfahrungen, um Wissen oder Werte geht, eine zeitlose Dimension. Werte etwa, moralische, menschliche, kulturelle Werte, sind keine Erfindung von heute und keine der Deutschen. Sie wurden in vielen Vergangenheiten gestaltet und umgeformt, verbreiteten sich und hielten auch bei «uns» ihren Einzug. Das Bedürfnis nach ihnen, die Diskussion um sie, ihre Ausprägungen sind uralt und beschäftigen die Dichter und Philosophen seit jeher. Sie sind an keine Grenzen, Sprachen oder Nationen gebunden, sie stoßen fortgesetzt Kommunikations- und Lernprozesse an. Von spezifisch «deutschen» Werten war dann auch selten oder nie die Rede. Sollten sich deutsche Dichter und Philosophen dennoch, etwa unbewusst, zu deren Sprechern gemacht haben?

Moralische Werte geraten somit wieder in die Diskussion. Was sollen wir tun? Die wissenschaftliche Debatte um die Ethik kennt eine jahrtausendealte Vorgeschichte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde dann im Kontext der sog. Historismusdebatte der Werterelativismus erörtert. Berühmte Philosophen, Theologen, Soziologen oder Historiker äußerten sich zur Sache[13]. Damals gab Karl Mannheim, der später – ein Zeichen eines entsetzlichen Werteverlusts hierzulande – emigrieren musste, eine – in meinen Augen – noch heute gültige Antwort: dass nämlich Werte standortgebunden seien, nicht absolut, dass sie der Dynamik unterlägen, daß, wie er schrieb, es keine für alle Zeiten, ein für allemal gültige Forderungen gibt, sondern das Absolute sich in jedem Zeitalter anders konkretisiert. (…) So gewinnt man aus der Geschichte die konkret-inhaltlich erfüllten Forderungsmaßstäbe[14]. Der Blick zurück und in die Geschichte belehrt über das allmähliche Werden, nicht über die aktuellen Forderungsmaßstäbe.

Diesem Werden wollen wir nachgehen, um dann mit den Forderungen der Gegenwart und ihren «Werten» zu enden. Der Leitfaden, dem wir uns anvertrauen, sind die mannigfachen Äußerungen deutscher «Dichter und Denker» über die Deutschen und ihr Land, aber auch nur ihnen. Nicht jeder von ihnen wird im Folgenden zu Wort kommen, nicht jedes der einschlägigen Werke, nicht jedes Urteil angesprochen werden können. Sie alle zur Kenntnis zu nehmen würde den hier gesetzten Rahmen sprengen[15]. Mancher Leser, manche Leserin wird «unverzeihliche» Lücken entdecken. Dem Angeführten nachzugehen wird zudem nicht immer erfreuen. Manche Leser werden Anstoß nehmen, dass bloß Zitate einander folgen. Doch erschließt sich, wie ich meine, gerade durch sie, fortlaufend und im Zusammenhang gelesen, ein prägnanter, mitunter auch bedrückender, sich durch die Zeiten hindurchziehender Inhalt, der Widerspruch erregen mag, gleichwohl mehr ist als eine Kette von Zitaten.

Wie sahen also die Dichter und Denker das Volk, das sie sein sollten? Welche Qualitäten und Werte billigten sie ihm zu? Wie reagierten sie auf den Zuzug von Fremden? Ihre Antworten kommen freilich vom Schreibpult, vom Katheder herab, sind Stimmen poetischer oder philosophischer Reflexion, hoher Bildung und kunstvoller Komposition, sind Stimmen der Belehrung und Erziehung. Sie sind selten spontan formuliert und sind keinesfalls die Stimmen des «Volks von der Straße», nicht einmal jener Mittelclasse, von der Goethe sprach. Das Volk schwieg. Selbst Volkslieder und Volkssagen waren in ihrer vorliegenden Form gewöhnlich gelehrte Produkte – etwa der Gebrüder Grimm, zweier Professoren. Lässt sich diese Mauer des Schweigens durchbrechen?

Welches «Volk» repräsentieren mithin jene Dichter und Denker? Die Antwort änderte sich mit den Zeiten, in denen die Autoren wirkten und in denen sie rezipiert wurden. Erhebliches Vorwissen ist gefragt: Lesefähigkeit, Sprachempfinden, Denkformen und dergleichen mehr. Dichter und Denker bedürfen weiterhin der Medien, um zur Geltung zu gelangen. Diese Medien müssen das Publikum erreichen können, sahen aber im Laufe der Zeiten unterschiedlich aus und strahlten auf verschiedene Wirkungskreise aus. Bald waren sie enger, bald weiter, verbreiteten sich bald gemächlicher, bald schneller: Ansprachen durch Fürsten oder Heerführer, die auf geschulte Berater horchten, durch Prediger in Kirchen oder auf Marktplätzen, durch Dichter, die in der höfischen Gesellschaft zu Wort kamen, durch Universitäten, durch Abschrift oder den Buchdruck, durch Flugblatt und Zeitung, durch Rundfunk, Fernsehen und Internet. Solche Mittel kamen und kommen auch den Literaten und ihrer Publizität zugute. Mit ihnen ändern sich durch die Zeiten hindurch Kommunikationsdichte und Verbreitungsgeschwindigkeit philosophischer oder poetischer Botschaften. Also auch die Formung des Volkes?

Das Volk selbst bleibt jedoch so lange stumm, solange es keine «Sprecher» findet, die für es die Rede ergreifen. Dichter und Philosophen können in diese Rolle schlüpfen, soweit das Volk sie zu hören vermag. Es setzt neben Bildung Kommunikation voraus, die gesellschaftlicher Organisation unterliegt. Rückkopplungen sind zu registrieren, die auf die Poesien und Philosophien wirken. Patriarchalische Herrschaftsformen lassen andere «Sprecher» hervortreten als demokratische oder diktatorische, die dem «world wide web» ausgelieferte Globalgesellschaft andere als die vormoderne Welt; die Sprecher artikulieren sich jeweils anders. Stets müssen die Kommunikationsmittel dem Volk, das erreicht werden soll, gemäß sein, wenn gruppendynamische Prozesse angestoßen werden sollen, die auf die Nation, auf Nationalbewusstsein, auf Nationsbildung abzielen oder auf nationale, in unserem Fall «deutsche» Werte.

Vierzehn Publizisten, Germanisten und Philosophen, durchweg Akademiker, wurden vor einem halben Jahrhundert mit jener Frage konfrontiert: «Sind wir noch das Volk der Dichter und Denker?»[16] Ihre Antworten wurden in einem Taschenbuch publiziert, galten also von Verlagsseite als publikumsträchtig. Sie klangen durchweg skeptisch. Doch regte die Frage zur Besinnung an, zu einer Art geistiger Standortbestimmung der Gebildeten in Deutschland. Damals, 1964. Das war vor «1968», bevor durch die Studentenrevolte der Muff von tausend Jahren und mit ihm die traditionalen Werte ausgelüftet wurden und die Loblieder auf die guten alten Dichter und Denker ausgesungen waren. Es war auch, bevor jener – wie es schien – grenzenlose Glückstaumel der flower children, der «Blumenkinder» von San Francisco, uns erreichte, der alle Werte bis auf den einen über Bord warf: Make love, not war! Traditionale Werte schienen nicht mehr in die Gegenwart zu passen, die alten Dichter wurden kaum noch gelesen. Die Sprache wurde vulgärer und mit der Sprache die Kommunikation, das Denken. Schwingt der Bogen wieder einmal zurück? Oder ist er zerbrochen?

Doch 1964 las man in Deutschland noch Goethe. Die Frage galt also «uns», wer immer «wir» waren. Wie hielten «wir» es mit «unseren» Dichtern und Denkern? Kategorisch und streng gleich eingangs der Literaturwissenschaftler Hans Mayer: Wir Deutsche seien niemals ein solches Volk gewesen. Der Philosoph Helmuth Plessner pflichtete bei. Gemeint mit den Dichtern und Philosophen waren vor allem Wieland, Klopstock, Goethe, Schiller, die beiden Schlegel, Lessing, Kant, Fichte, Hegel, der philosophische «deutsche Idealismus», auch Pestalozzi. Sind «wir» mit ihnen nicht doch das Volk der Dichter und Denker? Systematisch wurden die Literaten zur Sache freilich nicht befragt, auch nicht nach Taten, was gelegentlich einschlägige Zitate nicht ausschloss.

Die Frage scheint heute jedoch, um das Jahr 2020, obsolet zu sein und keinen Literatur- oder Philosophieprofessor mehr zu einer Talkshow zu locken. Der griffige Slogan wurde gleichwohl nicht völlig vergessen und dient unverdrossen zu Propaganda- und Reklamezwecken. Welche Kapriolen er dabei schlägt, wird am Ende dieser Reflexion zu beachten sein. Jedenfalls kursierte seit dem 19. Jahrhundert jene Selbstdeutung der Deutschen und zeitigt, allen Erkenntnissen zum Trotz, bis zum heutigen Tag ihre skurrilen und beschämenden Nachwehen.

Diese Vergangenheit und dieses Geschick zu prüfen fällt in das Metier des Kulturhistorikers. Nicht nur, ob wir je ein solches Volk waren, ist dabei zu fragen. Auch die Zuspitzung: dass wir, wir, die Deutschen, je das Volk der Dichter und Denker gewesen sein sollen, irritiert nicht minder. Der bestimmte Artikel schließt andere Völker aus und fällt damit ein Urteil, das – wie wir wissen – in der Vergangenheit verhängnisvoll wirksam geworden ist. Doch hatten nicht die Griechen die Philosophie erfunden, und fanden sie nicht viele Schüler, nicht nur unter den Deutschen? Auch die letzte Zuspitzung erschreckt: wir «das Volk der Dichter und Denker». Wieder ein bestimmter Artikel. Standen Dichter und Denker je für das ganze Volk und verbannten anderes Tun?

Kritik an derartiger deutscher Selbstein- und Selbstüberschätzung regte sich früh unter den Philosophen. Angesichts des sich im klein-deutschen, von Arbeitsgeist und Militarismus geprägten Bürgertum artikulierenden Wahns und seiner psychischen Folgen mahnte mitten im Ersten Weltkrieg, als jeder Gedanke an eine Niederlage fern lag, der Philosoph Max Scheler Selbstkritik an und forderte Respekt für andere Völker (1917). Das war keineswegs zu erwarten gewesen. Scheler selbst hatte noch 1914 formuliert, dieser Krieg sei gerecht, weil er (…) ein Krieg um die Macht im Herzen der Welt, – ja um das Herz des Herzens der Welt, um die Hegemonie in Europa sei[17]. Da hatten auch ihn noch Selbstbetrug und Wahn, Selbstüberschätzung geblendet.

Dergleichen Widersprüchen hat der Historiker nachzugehen. Er hat dabei zu bedenken, dass Deutschland durch seine Lage stets offen für Anstöße von allen Seiten, für Kultureinflüsse aus allen Himmelsrichtungen und von allen Völkern ist. Die Nachbarn mögen ihre eigenen Selbst- und Identitätsdeutungen vorweisen; hier geht es nur um «uns», um die eigene Selbstsicht bei deutschen Dichtern und Denkern. Der Wahn ist nicht verrauscht; er gipfelt heute in suggestiver Unterstellung, dass an den «Großen Deutschen» der Charakter überhaupt der Deutschen abzulesen sei[18]. Da quillt der Spruch von den Dichtern und Denkern hoch wie fauliges Wasser aus einem überfüllten Gully.

Deutsche Dichter und Denker und ihre Beobachtungen zu den Deutschen und Deutschland also. Wir wollen uns als Protokollant eines Geschehens ihren Urteilen als Symptomen nationaler Befindlichkeit und Selbstreflexion anvertrauen, der Sprache mithin, der Formung von Moral und Gedanken, der geistigen Kultur im Land, die bis in den politischen und gesellschaftlichen Alltag ausstrahlen, aber auch missbraucht werden können. Wir wollen die Literaten als «Sprecher» ihres Volkes anhören, als keineswegs einmütige Sprecher. Die zeitliche Folge der Zitate bedarf keiner besonderen Erläuterungen, sie ergibt ein Ganzes in sich. Was beachteten diese Dichter und Denker, die sich der deutschen Sprache bedienten? Was schrieben sie den Deutschen ins Stammbuch? Konnten oder durften diese sich daran berauschen? Goethe und Nietzsche mahnten ja schon zu mehr Demut.

Es geht im Folgenden nicht um eine Geschichte der Deutschen, schon gar nicht um jene ihrer Literatur und Philosophie. Es geht um Reflexe bei Dichtern und Denkern deutscher Zunge, die sich explizit über Deutsche, ihre Werte und Leistungen und über Deutschland äußerten. Verse also oder Maximen wie: Edel sei der Mensch, hilfreich und gut (Goethe). Auch die eigentlichen philosophischen Ideen und Gedanken sehen sich aus dieser Betrachtung ausgeklammert, so schön sie auch seien. Sie gelten dem allgemein Menschlichen, nicht bloß dem Deutschen, und nur diesem Letzteren gehen wir hier nach. Ein literaturwissenschaftliches Eindringen in die poetischen Leistungen der Dichter oder ein fachspezifisches in die Systeme deutscher Philosophen entzöge sich meiner Kompetenz. Ich muss mich mit dem Einbinden ihrer Urteile und Beobachtungen in den historischen Kontext, mit dem Festhalten ihrer Hoffnungen und Enttäuschungen begnügen.

Das gesellschaftliche Umfeld und der jeweilige geschichtliche Kontext wollen für diese Äußerungen Beachtung finden, ohne dass hiermit eine soziologische Betrachtung angestrebt wird. Die mannigfachen Bemerkungen deutscher Politiker, Wissenschaftler oder Journalisten zum Thema bleiben nicht völlig außer Betracht, auch wenn sie hintanstehen. Erfasst werden Spiegelungen der jeweiligen Zeitgeschichte und deren Wandel im Laufe der letzten Jahrhunderte im Werk von Poeten und Philosophen. Nur in den ersten zwei bis zweieinhalb Jahrhunderten, die hier zur Debatte stehen, von etwa der Mitte des 10. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts, tritt mit den Dichtern noch mehr hervor als bloß Spiegelung, nichts weniger nämlich als die Geburt der Deutschen. Es sind eben Dichter, denen die schönsten Belege dafür verdankt werden; nur gelegentlich tritt ihnen ein Geschichtsschreiber zur Seite. Doch Dichter hielten (und halten auch heute noch) ihre Eindrücke, Visionen und Urteile unmittelbar, durch keine fremden Erinnerungen getrübt, mit ihrer Sprache und ihren Bildwelten fest, selbst wenn sie im Auftrag eines Mäzens ihre Verse komponierten. Sie bieten authentische Zeugnisse der Vergangenheit par excellence. Ihnen wollen wir uns nicht verschließen.

Jener seltsame Spruch von den deutschen Dichtern und Denkern kursierte vielleicht seit dem früheren 19. Jahrhundert. Madame de Staël soll ihn erfunden haben. Schweizerin von Geburt, Französisch durch Erziehung, verehelicht mit einem schwedischen Baron, über Russland nach England emigriert, habe sie ihn in ihrem Buch «Über Deutschland» («De l’Allemagne», 1810/13), einer Kampfansage an das militaristische Land Napoleons und doch einer Liebeserklärung an Frankreich[19], mit Blick auf das kulturelle Weimar geprägt: peuple des poètes et penseurs[20]. Doch so viel Madame über deutsche Poeten und Philosophen (auch über Komponisten und Theologen) schrieb, die griffige Wendung findet sich in diesem Buch nicht. Sie widerspricht dem gesamten Inhalt[21]. Wohl aber erwähnte Heinrich Heine im französischen Vorwort seines «Wintermärchens» (1855) nos grands maîtres, les penseurs et les poètes[22]. Das mag sachlich, nicht wörtlich zur Madame führen.

Die Schelte Frankreichs schadete Germaine de Staël selbst. Ihr eben gedrucktes Buch unterlag der staatlichen Zensur und wurde umgehend eingestampft (1810). Nur ein Zufall rettete es, denn August Wilhelm Schlegel besaß Korrekturfahnen, die, herausgeschmuggelt, 1813 in London zur Druckvorlage dienten; zwei Jahre später erschien das Werk in drei Bänden auf Deutsch in Tübingen. Das «Teutonische» wurde gepriesen. Den Lobspruch, aus Frankreich oder England souffliert, eigneten sich die Deutschen freilich nur zögerlich an; ihnen erschien das Werk «Über Deutschland» zunächst nicht genug preisend, zu sehr mit Kritik aufgeladen. Erst allmählich akzeptierte man es – wieder nach dem Vorbild Frankreichs – als eine Kulturgeschichte der vergangenen Goethezeit[23]. Dennoch, «das Volk der Dichter und Denker» wurde, ohne seinen Urheber zu kennen, zu einem geflügelten Wort, das mit der Zeit die eigene Rückständigkeit vergessen lassen konnte, wurde Deutungsmuster, Weisung, Zielvorgabe.

Der Slogan verselbständigte sich hierzulande[24] und entfaltete mitunter eine Arroganz, die erschrecken muss. Gab es denn sonst keine Dichter, Denker, Komponisten oder Künstler? Hier und da und dort, in allen Kulturvölkern? Man möge sich doch einmal die Zeichnungen der Chauvet-Höhle im Ardèche-Tal ansehen, 42.000 Jahre alt, das Mammut oder die Flöte aus der Geißenklösterle-Höhle in der Schwäbischen Alb, nur wenige tausend Jahre jünger. Kunst, Dichtung und Denken besitzen eine jahrtausendealte Tradition, die in Europa seit der Antike und durch zahlreiche Nationen gestreut und variiert ihre je eigenen Ausprägungen fand. Ihre Herkunft weist ins Alte Ägypten, nach Assyrien, Babylon und Persien, in den Orient, die Wiege menschlicher Hochzivilisation, zu den frühen Israeliten. Was wäre Dürer ohne die Italienische Renaissance oder den Flamen Jan van Eyck? Hat Lessing die Toleranz erfunden? Goethe das Streben? Schiller das Pflichtgefühl? Kant die Vernunft? Hegel die Dialektik? Gewiss, Bach entdeckte den Kontrapunkt, aber nicht die Musik und die Komposition, nicht einmal die Notenschrift. Sie alle und viele mehr setzten vielmehr fort und entwickelten weiter, was andere vor ihnen gedacht, geplant, geleistet hatten, erklommen welche Geisteshöhen auch immer, gaben weiter, was sie entdeckt hatten und fanden gelehrige Adepten, ein aufnahmebereites und zunehmend sachverständiges Publikum – in aller Welt.

Indes, was war – von der Sprache abgesehen – das «Deutsche» an Lessing, Goethe oder Kant? Waren ihre Werke nicht ihre ureigensten Schöpfungen? Griffen die Dichter nicht Anregungen von hier und von dort, von überall her auf, um daraus ihre ganz individuellen Kunstwerke, Dichtungen und Philosophien zu schaffen? Allein schon «ihre» Sprache unterschied sie von jedem zweiten Menschen. Dabei hatte ihre deutsche Sprache seit über anderthalb Jahrtausenden von Fremden lernen müssen, hatte sich etwa, um Geschmeidigkeit, um Dichtungen à la Goethe oder Gedanken wie die von Kant zu entfalten, jahrhundertelang mit Inhalten, mit Lehnworten, Lehnsübersetzungen, entlehnten Redefiguren an das Latein «anlehnen» müssen, um vom jahrhundertelangen Nachdenken der Gedanken und Methodik eines Aristoteles, eines Cicero oder eines Augustinus oder von der späteren Rezeption des griechischen Platon zu profitieren, den Versen der Bibel oder des Psalters ganz zu schweigen. Nun also: Deutschland ein Land von Kulturadepten.

Die Zeugnisse der Sprache beleuchten den geistigen Horizont eines Volkes, das zum Lesen bereit ist. Nur in der Literatur finden wir unsere Physiognomie, so leitete Hugo von Hofmannsthal im Jahr 1922 sein «Deutsches Lesebuch» ein. Was also wird gelesen? Es sei nichts Geringes, ob eine Nation ein waches und literarisches Gewissen besitze oder nicht, und gar die unsere; denn wir haben nicht die Geschichte, die uns zusammenhalte – da sind bis ins sechzehnte Jahrhundert zurück keine allen Volksteilen gemeinsamen Taten und Leiden, und auch das Geistige, das hinter den Leiden noch steht, und diese zu einem Besitz machen könnte, ist nicht gemeinsam – die ferne Geschichte aber, die des Mittelalters, ist zu schattenhaft: mit alten Märchen kann man eine Nation nicht zusammenbinden. Nur in der Literatur finden wir unsere Physiognomie.

Das Jahrhundert seit Lessing bis etwa Adalbert Stifter, von 1750–1848, aber sei, so Hofmannsthal, das Jahrhundert des deutschen Geistes. Seit damals ist deutsches geistiges Wesen neuerdings in der Welt erkannt (…) Damals ist der Sprachquell hervorgebrochen, aus dem wir unser ganzes geistiges Leben schöpfen. Dem ist nicht zu widersprechen, wohl aber bedarf es der Ergänzung. Denn haben wir auch keine gemeinsame Geschichte, so haben wir doch eine gemeinsame Kulturgeschichte und einen gemeinsamen Namen, und auch er entstand und verbreitete sich im Mittelalter; doch kam er von außen, nicht aus dem Volk. Dieser Name gilt über alle Nationen und Staaten hinweg noch immer der gemeinsamen Sprache. Unser literarisches Gewissen weckten antike, zumal römische, biblische und überhaupt fremde Zeugnisse, vertieften und schärften es, nicht etwa Karl May, Ludwig Ganghofer oder Hedwig Courths-Mahler.

Der Quell mag fließen, aber wer trinkt aus ihm? Wie steht es um die Klassiker-Lektüre der Millionen Deutschen? Wer las einstmals Goethe? Wer verlangt heute nach ihm? Viele dürften es nicht sein. Wie also sollten diese wenigen «das Volk» repräsentieren? Kein «Faust»-Film kann eigene Lektüre ersetzen. Kollektive Deutsche gebärden sich weder als Poeten noch als Denker. Das Volk dichtet nicht, das Volk denkt auch nicht. Deutsches geistiges Wesen? Klar urteilte der junge Beobachter Victor Klemperer in seinem Revolutions-Tagebuch zum 17. April 1919: Die vollkommene Ahnungslosigkeit ist der Seelenzustand, der sich bei allen Bevölkerungsschichten (…) immer wieder beobachten läßt[25].

Deutsche Romantiker dachten anders und hofften auf die geistige und sprachliche Schöpfermacht des Volkes. Märchen und Lieder und die Reinheit der Sprache sollten, so meinten sie, vom Volk ausgehen. So etwa Ludwig Uhland (1817)[26]: Gelehrte deutsche Männer,/Der deutschen Rede Kenner,/Sie reichen sich die Hand,/Die Sprache zu ergründen,/Zu regeln und zu ründen/In emsigen Verband.//Indes nun diese walten,/Bestimmen und gestalten/Der Sprache Form und Zier:/So schaffe du inwendig,/Tatkräftig und lebendig,/Gesamtes Volk, an ihr! Gelehrte Gesellschaften und Instanzen mögen in der Tat orthographische, syntaktische oder semantische Regeln vorschreiben, das Volk hält sich nur bedingt an sie. Dem Volk «aufs Maul geschaut» führt selten zu großer Sprachschöpfung. Schöpferisch wirken die Literaten, die Dichter und Denker, die sich der Sprache bedienen, neuerdings auch Journalisten, globale Einflüsse und fremde Kommunikationskreise. Doch – und darauf kam es Uhland an – das «Volk» muss diese Schöpfungen annehmen, kollektiv internalisieren, wenn sie inwendig werden sollen. Wie steht es damit bei der Masse des Volkes?

Bestenfalls nehmen die Vielen zur Kenntnis, was Einzelne geschaffen haben und ahmen es nach. Gedanken und Gedichte aber wirken über alle Volksgrenzen hinaus. Die «Dichter und Denker» der Franzosen oder Engländer, der Italiener oder Spanier, nicht zuletzt der Russen wurden auch von Deutschen gelesen. Und umgekehrt: Die Rezeption deutschsprachiger Dichter und Denker brachte neue Dichtungen und Gedanken hervor, doch eben nicht nur bei den Deutschen. Die geistige Kultur strahlt über sprachliche, nationale oder staatliche Grenzen hinweg. Das «Wir» ändert sich eben gerade auch durch Einflüsse von «außen». Welches «Wir» drängt sich nun hervor? Eines der Goethezeit? Des Preußen-Deutschlands? Das der Nazis[27]? Das «Wir» der Sportfans von heute? Das «Wir» irgendwelcher Leser? Jedes «Wir» dieser Art verlässt die Vorgaben jener Eloge, verändert deren Sinn und Substanz, droht, sie zu konterkarieren.

Doch fangen wir von vorne an. In vierzehn vom Objekt und seiner Entfaltung nahegelegten, nicht willkürlich gewählten Etappen wollen wir unser Ziel erreichen: 1. durch einen Blick auf die genetischen Implikationen des deutschen Volksnamens, 2. durch die Folgen der Wiederentdeckung der taciteischen «Germania» im 15. Jahrhundert, 3. durch ein Streiflicht auf den Dreißigjährigen Krieg, 4. durch eine Betrachtung der Epoche Napoleons und ihrer Nachwehen, 5. durch die Bedrängnisse der Restauration und 6. der gescheiterten Revolution, 7. durch die Wirkungen der Reichsbildung von 1870/71, 8. durch Ausbruch und Folgen des Ersten Weltkriegs, 9. durch die verfehlte Demokratie, 10. durch «Entartungen» der Nazi-Zeit, 11. durch die Nachkriegszeit, 12. durch die Gegenwart nach der «Wende» und 13. durch das aktuelle «Jetzt»; in diesem letzten Kapitel kommen nicht nur Dichter und Philosophen zu Wort, sondern vor allem auch aktuelle Gesellschaftsprogramme und Umfrageergebnisse, 14. zuletzt ein resümierendes Schlusskapitel. Die Einschnitte erfolgten in immer kürzeren Intervallen, die Zuwendung der Deutschen zu einer deutschen Nation und deren Formung wurde mit den Jahrhunderten eindringlicher und nachhaltiger.

1. Deutsch ist völkisch: Die Implikationen des deutschen Volksnamens

Wer sind wir? Wir, die Deutschen? Woher kommen wir? Seit wann gibt es uns? Mit welchem Selbstverständnis traten wir in die Welt? Wie brachte und bringt es sich zur Geltung? Wie wirkt es nach? Was haben zeitgenössische Dichter und Denker damit zu schaffen? Der Mediävist kann zur Beantwortung derartiger Fragen in langfristiger Perspektive außerliterarische Kontinuitätslinien der Dichtung und Reden aufweisen, die von den Ursprüngen bis zur Gegenwart reichen. Die folgende Betrachtung will – das sei noch einmal betont – keinen deutschen Nationalcharakter aufspüren oder konstruieren, sondern verfolgt deutsche poetische oder philosophische Selbstzeugnisse von den Anfängen bis zur Gegenwart je in ihrer Zeit. Der Historiker ist freilich seinerseits ein Zeitgenosse, den die Fragen und Probleme von heute ebenso bewegen wie andere Zeitgenossen sonst in der Welt. Er ist ein Beobachter einstiger Sachverhalte, der Deutungen wagt und damit Urteile trifft, die nicht jedermann schmecken. Diese Urteile sind gegenwartsbedingt und relativ, sind subjektiv; sie unterliegen den Spannungen aktueller gesellschaftlicher Prozesse.

Die Deutschen sind keine Gabe Gottes, nicht aus seiner Hand entlassen; sie sind nicht von jeher, sind nicht einmal eines der antiken Kulturvölker, sie sind ein vergleichsweise junges Volk, erst aus den Wirren und Turbulenzen nachantiker Geschichte vor nicht allzu langer Zeit hervorgetreten, haben mühselig zu sich selbst gefunden, wenn sie denn je zu sich gefunden haben. Immer wieder traten retardierende Momente der Volksentstehung hervor, immer wieder bedrohten Abspaltungen die Existenz als eines einigen Volkes, immer wieder machten äußere Feinde sich seine schwankende Eintracht zunutze, um die Spaltung zu vertiefen. Beobachtet hat es niemand, erlitten haben es viele. Düstere Schatten fielen von hier auf die Zukunft. Kein Mythos erzählt diese Geschichte, kein Mythenerzähler tat sich hervor; er hätte nichts zu erzählen gehabt. Kein Gründungsheld trat auf. Kein Barde sang eine Gründungssaga, wie aus dem «Völkergewimmel»[1] der vielen, noch heute bekannten Völkerschaften der Friesen, Sachsen, Sorben, Wenden, Thüringer, Franken, Alemannen, Baiern und Karantanen die Deutschen wurden. Vom «Volk der Deutschen» sprach niemand.

Auch Poeten und Philosophen beobachteten keinen Einigungsprozess. Sie traten erst im Nachhinein mit ihren Reflexionen hervor. Gleichwohl sind es Literaten, denen die ersten Spuren der Volksentstehung zu verdanken sind. Dichter meldeten sich dabei, wenn auch nur vereinzelt, eher beiläufig und ohne Emphase, vergleichsweise früh zu Wort; aber Denker spitzten erst spät die Federn, um über die Deutschen nachzusinnen. Einer der ersten, der aus Deutschland stammte, war im 15. Jahrhundert Nikolaus von Kues, zuletzt ein Kardinal der römischen Kirche, ein anderer, der wenigstens das Land lange Zeit und weiträumig bereist und am Kaiserhof gedient hatte, war der Humanist Enea Silvio Piccolomini, zuletzt Papst Pius II.

Die Geschichte dieses Hervortretens ist merkwürdig genug, war planlos, ziellos, voller Widersprüche und Ungereimtheiten. In der Tat kein Stoff für Dichter. Die «deutsche» Geschichte begann prosaisch mit dem Adjektiv «deutsch», das trotz ursprünglich anderer Bedeutung zu einem Namen wurde, und dieser brachte mit der Zeit und über mancherlei Umwege und Widerstände das Volk der «Deutschen» hervor. Der Name war vor dem Volk. Ein holpriger Weg also vom «Wort» zur «Sache», den zudem Fremde ebneten. Über ihn hat kein mittelalterlicher Philosoph reflektiert, wohl aber manch ein Dichter aufschlussreiche Verse hinterlassen. Einzig moderne Philologen und Historiker dröselten den Sachverhalt auf. Dennoch, die Frühgeschichte, die Geschichte nämlich des allmählichen Hervortretens des Namens und des zugehörigen «deutschen Volkes» spiegelt sich allein bei den Literaten. Sie sind es und zumal die Dichter, und zwar nur sie, die uns durch ihre Hinterlassenschaften Einblicke in die ersten Jahrhunderte dieses Prozesses geben. Dichter also an der Wiege der Deutschen, nicht als Ammen, wohl aber als Herolde.

Wir müssen ein wenig in die Wortgeschichte eintauchen, um den Verlauf des Weges zu erkunden und zu deuten und den Beitrag der Dichter zu würdigen. Der heutige Volksname leitet sich von einem erschlossenen germanischen Adjektiv thiutisk, dann dem gesicherten westfränkisch latinisierten theodiscus, resp. dem ostfränkischen thiutiscus, endlich dem althochdeutschen diudisc her[2]. Das alles sind Frühformen des Wortes «deutsch» und sind ihrerseits das Adjektiv zu dem erschlossenen germanischen Nomen theudo und dem gesicherten althochdeutschen dîet, einem untergegangenen Wort mit der Bedeutung «Volk» oder auch «Volksmenge», «Leute». (Man vergleiche die semantisch identischen Namen Dietmar und Volkmar, je «Volksruhm» oder «berühmt im Volk», oder auch Volker und Dieter, je «Volksheer») «Deutsch» bedeutet ursprünglich mithin «zum Volk (zur Volksmenge) gehörig», «völkisch», was hieß: «illiterat», «ungebildet». Diese Bedeutung gefiel den Dichtern nicht und von den Denkern allenfalls Nietzsche.

Die ältesten Zeugnisse für das Wort – beginnend im Jahr 786 mit einem für den Papst bestimmten Bericht über eine angelsächsische Bischofssynode[3] – sind ganz prosaisch. Sie galten in latinisierter Gestalt der «Sprache der Leute», nämlich jener Leute, die nicht wie die Kleriker Latein sprachen, jetzt eben einige Angelsachsen. Die theodisca lingua ist mit Hilfe eines neulateinischen Worts frühzeitig, nämlich im Jahr 788, auch im Umfeld des Frankenkönigs Karls des Großen bezeugt; vielleicht ist der Begriff überhaupt eine Schöpfung fränkischer Sachkenner. Leute, die kein Latein sprachen, fehlten auf dem Festland natürlich nicht. Sie gehörten aber zu diversen, einander fremden, vielfach verfeindeten Völkern (den frühmittelalterlichen gentes), den schon erwähnten Franken, Friesen, Sachsen, Thüringern, Alemannen und Baiern, zu denen einige slawische Völkerschaften traten, um von den Kelten, Romanen, Burgundern oder Goten zu schweigen, die in kleinen Resten ebenfalls an der deutschen Ethnogenese mitwirkten. Die letzten «Welschen» (das sind Romanen) hatten sich in die Alpentäler zurückgezogen, wo sie mancherorts bis heute fortleben, «Ladinisch» sprechen, aber dennoch auf die Formierung der Deutschen einwirkten. Auch in den Winzergebieten des Moseltales überlebten Reste des Lateins und des Keltischen bis zur Gegenwart[4]. Alle diese Völker und Volksgruppen standen erst im Reich der Karolinger unter einem König, an dessen Hof ihre Eliten hervortraten, in dessen Heer ihre Krieger dienten und die sich in ihren, vom gelehrten Latein und untereinander unterschiedenen Volkssprachen verständigen konnten. Tatsächlich begegneten thiudiscus und die analogen lateinischen Wortformen stets auf die Idiome der Nichtlateiner und Nichtromanen bezogen[5]. So grenzte die Sprache ab, ohne schon Völker zu trennen.

In Gebrauch standen diese Sprachen vor allem im Volksgericht, auch im Heer, am Königshof und an weiteren Fürstenhöfen, soweit dort nicht das «Vulgärlatein», die lingua Romana rustica, Anwendung fand, oder man in die klerikale «Hochsprache» des Lateins etwa für eine Niederschrift wechselte. Allein in kirchlichem oder klösterlichem Kontext waren die «Lateiner», die literati, zu Hause, doch sprachen oder verstanden damals auch der König, seine Kinder und einige gebildete Laien Latein. Nichts verwies darauf, dass thiudiscus einmal für die linguistische Grundlage des Namens eines bislang unbekannten, noch gar nicht existenten Volkes herhalten, «volksschöpferisch» wirken würde. Seit dem früheren 9. Jahrhundert sind Spannungen zwischen den romanischen und «theudisken» Sprachgruppen bis hin zu Totschlag bezeugt[6]. Sie ziehen sich durch das gesamte Mittelalter; doch zu Kämpfen zwischen «Völkern» wurden sie erst, nachdem die Sprachen ethnisch gedeutet waren.

Eine gens teudisca erscheint zwar bei dem Dichter Gottschalk um das Jahr 860, darf aber nicht als «deutsches Volk» missverstanden werden. Die Wendung galt vielmehr eindeutig noch immer den «volkssprachlichen Leuten» im Unterschied zu jenen, die Latein sprachen; zu ihnen, den Lateinern, rechnete der Autor, ein Sachse von Geburt, sich selbst[7]. Entsprechendes trifft auf seltene Glossenbelege zu, die etwa apud Thiudiscos, «bei den Volkssprachlern», überliefern. Sie bezeichneten noch immer ein Sprecherkollektiv im Unterschied zu den Latini[8]. Ein Volksname wurde damit nicht festgehalten. Für Gottschalk den Sachsen lagen übrigens das fränkische Fulda und die alemannische Reichenau, wo er jeweils einige Jahre verbrachte, unter «fremdem Volk in fremdem Land» (coram gente/aliene nostre terre) (carm. 6,5). Das Wort «Volk» (ahd. folc, deota, liut) besaß damals – anders als natio oder gens – keinerlei ethnische oder nationale Bedeutung, spiegelte kein Volksbewusstsein, bezeichnete vielmehr bloß eine Menschenmenge (vgl. lat. vulgus); Zusammensetzungen wie dietfurt oder volcweg verweisen auf eine «allgemeine Furt» oder einen «Hauptweg», analog zu lat. publicus, dem Adjektiv zu populus[9]. Ein «deutsches Volk» gab es damals also noch immer nicht; es stand auch nicht zu erwarten.

Dann aber zerfiel das Reich der Karolinger und hinterließ (soweit hier relevant) ein West- und ein Ostfrankenreich. Letzteres wurde etwa seit dem Jahre 920 von einem König beherrscht, der ein Sachse war. Er drängte mit Otto dem Großen und seinen nächsten Nachfolgern nach Italien, um in Rom die Kaiserkrone zu erwerben. In seinem Heer zogen Franken, Friesen, Sachsen, Thüringer, Alemannen und Baiern dorthin; sogar Slawen konnten inbegriffen sein[10]. Dieses Heer war indessen kein «Frankenheer» mehr wie die Heere der karolingischen Könige noch durchweg; ein Sachsenheer aber war es ebenso wenig. Was war es dann?

Erst seit dieser Zeit, seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert, lässt sich der semantische Wandel beobachten, der zum deutschen Volksnamen führte. In Italien dürfte nämlich im Laufe des späteren 10. Jahrhunderts das aus jenen Völkerschaften zusammengesetzte Heer zur Gesamtheit der Sprecher «der Sprache des Volkes» und damit zum Träger der Kollektivbezeichnung der «Volkssprachler» geworden sein; jedenfalls weisen die ältesten Belege dorthin. Nur hier in der Fremde und durch die Fremden konnte das bislang gegen das Latein abgehobene thiudiscus eine neue Bedeutung gewinnen, die eben nicht wie bislang bloß von den «Lateinern» unterschied, sondern die Gesamtheit der im Heer der Ottonen über die Alpen ziehenden Leute meinte.

Noch als Otto der Große, um dessen Latein es gewiss nicht zum Besten stand, im Jahr 962 nach Rom zur Kaiserkrönung rückte, kannte man keinen Einheitsnamen für seine Krieger unterschiedlicher Ethnizität. Man freute sich nicht über diese Horden, fremde Barbaren, die sie waren, erblickte Räuber in ihnen. Wehe Roma, die du bedrückt und erniedrigt warst von so vielen Völkern. Jetzt hat dich der sächsische König genommen. Dein Volk hat er mit dem Schwert gerichtet und deine Stärke vernichtet. Dein Gold und Silber schleppen sie in ihren Beuteln mit sich fort. So klagte um 968 Benedikt, ein römischer Geschichtsschreiber und Mönch vom Andreaskloster auf dem Monte Soratte, gegen Ottos des Großen Beutezug. Es traf zu. Manch ein Kirchenschatz in Deutschland zeugt noch heute von dem ungeheuren, kaum zu ermessenden Wert der Kriegsbeute und ihrer schöpferischen Verwendung. Der beobachtende Mönch aber, und darauf kommt es hier an, verfügte noch über keinen Namen für die sein Land überschwemmenden Volksmassen aus dem Norden; er nannte sie gens Gallearum, «Leute aus den Gallien». Eine deutliche Verlegenheitslösung des italischen Historiographen. Immerhin bieten seine Ausführungen den doppelten Hinweis zunächst auf die künftigen Deutschen, die (anders als die Franken Karls des Großen) als Plünderer großen Stils auftraten, sodann auf den kaum zu überschätzenden Kulturschub, den diese Beutejäger zu Hause, im Norden, mit der Beute zu initiieren vermochten: Kultur mit geraubtem Gold.

Diese Leute aber besaßen eine Gemeinsamkeit, ihre den Romanen barbarisch klingenden Sprachen. So bezeichneten diese bald die zunächst namenlosen Kriegermassen mit einem tatsächlich schon länger vertrauten Wort als jene Leute, die in ihren Sprachen redeten, als Thiudisci, «die Völkischen». Sie waren es, eben gerade weil sie kein «Volk» waren, als man sie so zu benennen begann, vielmehr bloß ein supragentiles Sprecherkollektiv aus vielen Ethnien, dessen König ein Sachse, dessen Tradition fränkisch war, dessen Sprachen aber in romanischen Ohren gleich erschienen; und sie waren es nun, obgleich diese Volksmassen auch Kleriker einschloss. Manch ein Truppenkontingent stand tatsächlich unter der Führung von Bischöfen oder Äbten. Zum Verband einte dieses Völkergewimmel das Heer der Ottonen in Italien, in der Fremde, und das gemeinsame Königtum, vor allem aber und nicht zuletzt das Bedürfnis der Bevölkerung Italiens und Roms, diesen unverständlichen bewaffneten, nicht mehr von einem Frankenkönig geführten Volkshaufen unter einer gemeinsamen Bezeichnung erfassen zu müssen. Kurzum: Die «Deutschen» machte das Heer. Und diese Prägung hielt lange vor. Im Jahr 1914 unterschrieben 93 Gelehrte, Literaten und Künstler, durchweg Berühmtheiten, einen Kriegsaufruf: Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. So riefen sie der Öffentlichkeit zu, der deutsche Militarismus habe das Volk aus den vielen Gefahren seiner Geschichte gerettet. Elias Canetti wird später das Heer wie den Wald zu Sinnbildern der Deutschen erklären. Mann stehe da neben Mann so wie Baum neben Baum[11].

Damals, um das Jahr 1000, erklang der älteste heute noch fassbare volkssprachliche Beleg, für die bislang nur neulateinisch anzutreffende Vokabel. Notker dem Deutschen, einem der großen Sprachschöpfer und Denker um die Jahrtausendwende, einem Mönch auf der Reichenau, ist dieser Beleg zu verdanken[12]. In seiner Übersetzung der «Kategorien» des Boethius und von dessen «De interpretatione» sowie zu Psalm 80,3 formulierte er in Anlehnung an die neulateinische Wendung vielleicht als sprachliche Neubildung «auf deutsch», in diutiskun. Zwischen Karl dem Großen und Notker dem Deutschen liegt der semantische Wechsel von «völkisch» zu «deutsch», doch noch immer war das Adjektiv «deutsch» vorwiegend auf die Sprache bezogen. Wann genau der Wandel erfolgte, ist nicht ohne weiteres auszumachen.

Neben die lateinische Neubildung theodiscus traten das alte, aus Versen des antiken Dichters Lucan bekannte und verwandt klingende Adjektiv Teutonicus und mit ihm die Teutonici. Diese «Teutonischen» erinnerten an die Teutonen, die vorchristlichen Teutoni oder Teutones, an das Brudervolk der Kimbern. Noch einmal steigerte sich also ein Adjektiv zum Namen und noch einmal war entscheidend ein Dichter beteiligt, dessen Werk, die «Pharsalia», eine Darstellung des Bürgerkriegs zwischen Pompeius und Caesar in Versen, seit der Zeit Karls des Großen fleißig gelesen wurde. Der künftige Volksname ist, das verdeutlichen die skizzierten Etappen, eine gelehrte, keine volkstümliche Bildung, Frucht auch poetischer Bemühungen der Karolinger- und Ottonenzeit. Das schriftunkundige Volk bedurfte weiterer Jahrhunderte, um sich an den fremdartigen Namen zu gewöhnen.

Die Aneignung bekundeten die Dichter, indem sie den lateinischen Namen im Volk heimisch machten. Der entlehnte Name schuf freilich aus den vielen Völkern, die mit den Ottonen nach dem Süden marschierten, ebenso wenig ein in sich geeintes Neues, wie es die Neubildung thiudiscus zuvor vermocht hatte. Er schien nur ein ethnisches Substrat für die barbarischen, fremdsprachigen Kriegerhorden zu offerieren, die in Italien einfielen, das diese dann aufgriffen.

Auch Teutonicus kursierte schon im 9. Jahrhundert nördlich der Alpen und galt wie thiudiscus ohne Wertung zunächst bloß den nichtromanischen Sprachen. Um die Jahrtausendwende aber wurde die Wendung zum lateinischen Namen für die «Deutschen», Teutonici. Deutlich etwa wird es in der Vita des Kaisers Heinrichs II. aus der Feder Adelbolds von Utrecht (vor 1024). Für den Raum nördlich der Alpen nannte der Autor ausschließlich die einzelnen Völker: die Franken, die Baiern, die Sachsen etc.; in Italien hingegen, und nur hier, erschienen sie zusammen als Teutonici oder als Thiudisci. Die Italiener nennen tatsächlich – als einzige in Europa – die Deutschen seit jeher und noch immer mit dem diesen von ihnen geschenkten und seitdem nicht einmal sonderlich abgeschliffenen Namen: Thiudisci > «Tedeschi», mithin wörtlich die «Völkischen». (Nur nebenbei: Wer würde jemals darauf verfallen, das Volgare eines Dante zur Bezeichnung des Volkes der «Vulgären» zu machen?)

Aus Italien also brachten die Krieger der Ottonen die Fremdbezeichnung mit, die zum Eigennamen wurde. Ihnen behagte zugleich die in Italien verbreitete Identifikation mit den «Teutonischen». Noch die Heere der Frankenkönige galten, wie gesagt, in Italien nur als «Franken». Erst unter den Sachsenkönigen änderte es sich. Auf Dauer zeigt sich indessen, dass die Volkssprachen Deutsch und Italienisch für den neuen Volksnamen kontinuierlich dem aus dem Althochdeutschen gebildeten neulateinischen Adjektiv (Thiudisci > Deutsche/Tedeschi) folgten, während das Mittellatein an den antiken Namen der Teutonen erinnerte und in adjektivischer Form dauerhaft von den «Teutonischen» > Teutonici handelte und thiudiscus aufgab. So kursierten also – Zeichen mangelnder Einheit – zwei gleichberechtigte Namen nebeneinander.

Auch galt es abzugrenzen, denn in Gallien waren die Franken, Franci, zuhause. Ihre Patria erstreckte sich von Orléans über Chartres, Reims bis nach Fritzlar, Würzburg und Forchheim. Man musste zwischen den Franken des Westens und jenen des Ostens differenzieren. Die im Westen besaßen ihr eigenes Königtum, ihre romanische Sprache und trugen ohne fremde Völker in ihrem Land zu Recht den Frankennamen, Franci, wurden zu «Franzosen». Aber sie vergaßen nicht die einstige Ausdehnung ihrer Heimat, die über den Rhein hinaus noch weit nach Osten reichte. Die Franken des Ostens, die sich in einem Vielvölkerreich zu arrangieren hatten und sich von jenen des Westens durch Sprache, geistige Kultur und Herrschaft immer weiter entfremdeten, konnten so zu den «deutschen Franken», den Franci Teutonici, kurz: zu den «Deutschen» werden. Indes, «das deutsche Volk» trat damit noch nicht in die Welt. Die Germanica natio pries erst Enea Silvio Piccolomini im 15. Jahrhundert; das deutsche Volk besangen sogar erst die Dichter im Zeitalter Napoleons.

Das Nomen «die Deutschen» als Namen für alle «Deutschen» (cunctos Theotiscos, sanguinem meum) könnte in lateinischer Form erstmals in den 1020er Jahren bei Thangmar anzutreffen sein, dem Biographen des hl. Bernward von Hildesheim, (c. 25), und zwar mit Rückblick auf Ottos III. Rede an die aufständischen Römer im Jahr 1001[13] – wenn das Zeugnis tatsächlich in das frühere 11. Jahrhundert zurückführt, was indessen fraglich geworden ist und heute eher ins späte 12. Jahrhundert verlegt wird. Thangmar freilich dürfte als Gesandter des Kaisers den Sprachgebrauch in Italien kennengelernt haben[14].

Im Althochdeutschen und in dessen Sprachraum, verständlich also für die damaligen Nichtlateiner, finden sich «die Deutschen» erst ein Jahrhundert später im «Annolied» (v. 28,12 und v. 28,17) und zwar als diutischi liuti oder diutisch man, also in einem mit Hilfe des Adjektivs zusammengesetzten Ausdruck; zum eigenen Nomen für den Namen erscheinen die «Deutschen» noch einmal ein halbes Jahrhundert später in der bairischen «Kaiserchronik», einem Werk in Versen, als Diutisce oder Diutiske (vv. 497, 16038, 16063, 16898), dann endlich bei Walther von der Vogelweide um 1200: daz ir (…) uns Tiutschen ermet, «daß ihr (nämlich die vom Papst angeordneten Kreuzzugssteuern) uns Deutsche arm macht» (34,14 v. 2)[15]. Poeten also stehen am Anfang.

Nur allmählich gewöhnten sich die vielen Völker an einen gemeinsamen Namen «die Deutschen». Erschien die nominale Namensform so fremdartig, dass es fast anderthalb Jahrhunderte bedurfte, um sie aus dem fremden Latein in die Sprache des Volkes zu übertragen? Oder lagen die Kommunikationskreise so weit auseinander, dass es eben vieler Jahrzehnte bedurfte, um den Weg aus dem einen zu den anderen zu überwinden? Umso wichtiger war die Vermittlung durch die Dichter. Der Vogelweidler bot – und es geschah, soweit bekannt, erstmals – eine die kollektive Identität vergewissernde Selbstaussage: «wir Deutschen». Es war vielleicht der Hof des Herzogs von Österreich, wo diese «deutsche» Wir-Gruppe sich regte und artikulierte; aber die Dichter wanderten umher, weilten in Thüringen so gut wie in Schwaben. Einige Jahrzehnte später bestritt der Autor des «Sachsenspiegels» (Ldr. III,57,2) das Königswahlrecht des Böhmenkönigs (den die «Goldene Bulle» Karls IV. von 1356 zu einem der Kurfürsten erklärte): denn er ist nicht deutsch (důisch/dutsh). Das war nationale Ausgrenzung durch den gelehrten Sachsen.

Die zwar regelmäßigen, aber nicht eben häufigen Belege des deutschen Volksnamens spiegeln noch immer kein nachhaltiges übergentiles Volksbewusstsein. Der Name dient vielmehr weiterhin dazu, die Vielfalt der «deutschen» gentes, die ohne Ausnahme das eine Reich vereinte, als Kollektiv zu erfassen. Das Reich selbst war bald ein «römisches», bald ein «sächsisches», bald ein «fränkisches», dann um die Mitte des 12. Jahrhunderts das Reich der «deutschen Franken» (so der Chronist und Bischof Otto von Freising, ein Onkel Friedrich Barbarossas), seit damals aber gewöhnlich ein «(Heiliges) Römisches Reich». Als «Reich der Deutschen» oder «deutsches Reich» erschien es in einigen Schreiben des Papstes Gregors VII. in einem gegen den römischen Anspruch gerichteten Sinn, ohne dass sich dieser Namensgebrauch sogleich durchsetzte.

Das bisherige Ergebnis ernüchtert: Nicht einmal der Volksname war das geistige Eigentum derer, die sich seiner zur Selbstvergewisserung bedienten, sondern eine späte, einigermaßen mühsame Entlehnung aus fremdem Import. Wie könnte man sich auch mit einem so verquollenen Begriff wie die «Völkischen» identifizieren? Ein «deutsches» Nationalbewusstsein, ein völkisches Volksbewusstsein, verband sich mit diesem fremdartigen Namen so lange nicht, wie seine etymologische Grundbedeutung noch mitklang. Die alten gentes traten stattdessen noch immer mit ihrem Recht (lex), ihrer Heimat (patria) oder ihrem Selbstbewusstsein in den Vordergrund. Der «Sachsenspiegel» war sächsisches Recht, nicht deutsches. Das kann als symptomatisch gelten und war nicht weiter verwunderlich, denn diese gentes zeichnete aus, was den «Deutschen» noch auf Jahrhunderte fehlte: eine je eigene, Identität stiftende Volks- oder Herkunftssage, die zumindest den «Sprechern» dieser Völker vertraut war. Zugleich treten weiträumige Wanderungsbewegungen hervor, Migrationen von Menschen, von Verwandtengruppen, von Wissen und Ideen. Real oder erdichtet: Sie sind der Nerv der Weltgeschichte.

Für autochthon galt (ganz im Unterschied zu des Tacitus’ Behauptung: Germani indigenae: Germ. c. 2) keines der Völker, die in diesen mittleren Jahrhunderten zu einem «deutschen» Reich vereint wurden. Immigranten waren sie ihrer Sage nach alle: Die Franken waren aus Troja, mithin aus der heutigen Türkei an den Rhein gerückt; noch im 15. Jahrhundert glaubte man, in der türkischen Eroberung des byzantinisch-griechischen Konstantinopel die späte Rache der Trojaner an den Griechen zu erkennen. Enea Silvio Piccolomini, der große Humanist, widersprach mit dem Argument: Die Nachkommen der Trojaner seien in erster Linie die Römer, dann auch die Franken und die Briten, so könnten es keinesfalls die Türken sein[16].

Die Schwaben waren, so hieß es, übers Meer gekommen, woher auch immer, die Baiern aus Armenien nach Noricum, dem Baiernland, gezogen, die Sachsen aus Babylon ins Land gesegelt, auch sie also aus dem heutigen Irak. So erzählte es der unbekannte Verfasser des selten überlieferten «Annoliedes» um 1080, ein Preisgesang auf den Erzbischof Anno von Köln, das vermutlich im Kloster Siegburg entstanden war, durch ein oder zwei Handschriften erhalten blieb, deren eine dem Erstdruck durch Martin Opitz 1639 zugrunde lag. Gewiss, der dichtende Mönch lieferte ein gelehrtes Konstrukt, kolportierte bestenfalls Volkssagen aus dem früheren Mittelalter, die heute kein Forscher mehr ernst nimmt. Aber dieses kostbare Stück Literatur verweist immerhin auf die Verbreitung der Sagenstoffe und ihre Formung.

Variationen in den Wandergeschichten waren nicht ausgeschlossen. Dennoch überrascht die Bereitschaft der Erzähler und Dichter und ihres Publikums, keines der «deutschen Völker» für heimisch zu erklären, sie vielmehr durchweg als Fremde hierher gelangt sein zu lassen. Migrationen und Namensimport mithin am Beginn der «deutschen» Geschichte und ihres Innewerdens. Einwanderung erweist sich als ein Konstitutionsmoment deutscher Frühgeschichte; es wird bis zur Gegenwart wirksam bleiben. Das passt zur Namengebung der Deutschen aus der Fremde. Die Fremdbenennung teilen die Deutschen übrigens mit anderen Völkern Europas, nicht zuletzt mit den Franken («die Freien») und den Alemannen («alle Leute»), die beide trotz des germanisch-sprachigen Grundworts ihren Namen von den Römern erhielten.

Ganz falsch war diese Einwanderungssicht nicht, auch wenn die Erzählhorizonte in die Irre führten. Fremde über Fremde wirkten in der Tat zusammen, um das neue Volk der «Völkischen» hervorzubringen. Derartiges fing schon, was deutsche Dichter oder Philosophen natürlich nicht thematisieren, wohl aber Archäologen unzweifelhaft nachweisen, in der Steinzeit an. Damit sieht sich ein realer Grundzug der künftig deutschen Lande und seiner Einwohnerschaft angesprochen. Die frühesten dauerhaften Bewohner in den später deutschen Landen, die ersten Siedler, die hier rodeten, Dörfer und Fluren anlegten, kamen mit Sicherheit von weither, aus Anatolien, aus Regionen des heutigen Irak und der Türkei, aus Syrien, dem Balkan. Sie brachten vor etwa 8000–7500 Jahren ihr Wissen um Ackerbau, Getreide und Viehzucht hierher und überlagerten mit ihrer innovativen Kultur die hiesigen Wildbeuter und Jäger, Höhlenbewohner, die vor etwa 42.000 Jahren aus Afrika kamen und durch die endlosen Urwälder streiften. Sie vermischten sich mit ihnen auch und verdrängten sie mit der Zeit.

Welle um Welle fremder Einwanderer traf fortan ein, die alle über kurz oder lang mit den früheren Siedlern verschmolzen. Eine nächste sich genetisch manifestierende Welle schwappte vor ca. 4800 Jahren aus der pontischen Steppe und Sibirien heran. Sie drängte die früheren Landbewohner zurück, doch vermischten die Neuankömmlinge sich wiederum mit ihnen. Ein genetischer und, wie man hinzufügen darf, kultureller Schmelztiegel: das war und ist Europa seit jeher, seitdem es eine kontinuierliche Bevölkerung aufweist, wirksam bis heute. Sprachen, religiöse Kulte, Lebensformen waren betroffen. Die Genanalyse der KernDNA heutiger Europäer verrät diese Vergangenheit. Sie zeigt ein Erbgut von ca. 30 % der mesolithischen Jäger und Sammler, 50 % der neolithischen Ackerbauern und 20 % jener Steppenbewohner. Europäische Binnenwanderungen blieben nicht aus und verstärkten das Zusammenfließen unterschiedlicher Kulturen. Bei derartigen Migrationsprozessen ging es nicht immer friedlich zu und nicht immer krankheitsfrei. Der Pestbazillus etwa wanderte vor über 4000 Jahren mit den Steppenvölkern nach Europa[17].

Bald kamen Kelten. Ihre kulturellen Spuren – Märchenstoffe, Kultmale, Ruinen, Ortsnamen – finden sich heute von der Rheinpfalz und Hessen bis nach Bayern; sie drängten aus dem Westen herzu. Einwanderer waren auch sie. Im Norden fielen noch später, vermutlich von der östlichen Ostsee her, Leute mit germanischen Sprachen ins Land, organisierten sich als eine Vielzahl kleiner Völkerschaften, die sich wiederum mit der bäuerlichen Vorbevölkerung vermischten. Manche – wie etwa die Teutonen – brachen weiter nach Süden auf. Da strömten Slawen in die Länder östlich der Elbe und ins obere Maingebiet, um sich dauerhaft niederzulassen. Wie viele Quaden, iranische Alanen und Sarmaten, über die römische Armee ins Land gekommen, siedelten rechts und links der Donau, heirateten über alle Flussgrenzen hinweg, vermischten sich mit Romanen, Kelten und anderen Völkern, wie viele Vandalen, Burgunder, zentralasiatische «Hunnen» blieben im Rhein-Main-Gebiet, durch das sie tatsächlich zogen? Brutale Kriege germanischsprachiger Völker gegeneinander ergänzten die endlosen Migrationen. Nibelungensage oder «Hildebrandslied» zeugen bis heute davon. Die Anfänge der «deutschen» Geschichte oder genauer, die deutsche Vorgeschichte: Wanderungen über Wanderungen, transgentile Familienverbände allenthalben, ein Völker- und Kulturgemisch im «melting pot» abendländischer Weltgeschichte; so sollte es bis zur Stunde bleiben.