Die Angst im Nacken - Erica Spindler - E-Book

Die Angst im Nacken E-Book

Erica Spindler

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Beschreibung

Vor mehr als zwanzig Jahren hat Harlow Anastasia Grail einen wahren Albtraum überlebt. Ein Verrückter hat sie entführt und ihr den kleinen Finger abgeschnitten. Um die traumatische Vergangenheit vergessen zu können, hat Harlow ihren Namen geändert und alle Brücken hinter sich abgebrochen. Nun der Schock: Der Albtraum ist nicht vorbei - der Mann von damals lebt. Aus Angst um ihr Leben beauftragt die junge Autorin Detective Quentin Malone. Schon bald verbindet die beiden eine leidenschaftliche Affäre. Doch kann sie ihm wirklich trauen? Und welche Rolle spielt der attraktive Psychologe Dr. Ben Walker? Ein dramatischer Wettlauf um Leben und Tod beginnt...

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Seitenzahl: 510

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Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder auszugsweisen Vervielfältigung, des Ab- oder Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten und bedürfen in jedem Fall der Zustimmung des Verlages.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Die Angst im Nacken

Anna North lebt als erfolgreiche Autorin in New Orleans. Jetzt holt die Vergangenheit sie ein: Die Tochter einer Hollywoodschauspielerin konnte als kleines Mädchen einem Entführer entkommen und schlüpfte aus Angst vor Rache in eine neue Existenz. Als eine Fernsehsendung ihre wahre Identität enthüllt, überschlagen sich die Ereignisse: Mysteriöse Briefe tauchen auf, ihre Patentochter wird entführt, und Frauen – rothaarig wie Anna – werden ermordet. Ist sie das nächste Opfer? Die junge Frau spürt den Atem des Entführers im Nacken.

Die Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen

sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

Erica Spindler

Die Angst im Nacken

Roman

Aus dem Amerikanischen von

Margret Krätzig

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Bone Cold

Copyright © 2001 by Erica Spindler

erschienen bei: Mira Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Konzeption/Reihengestaltung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: by GettyImages, München

Autorenfoto: © by Harlequin Enterprise S.A., Schweiz

Satz: D.I.E. Grafikpartner, Köln

ISBN (eBook, PDF) 978-3-86278-373-1 ISBN (eBook, EPUB) 978-3-86278-372-4

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

PROLOG

Juni 1978

Südkalifornien

Die dreizehnjährige Harlow Anastasia Grail litt Todesangst, während sie sich mit dem weinend an sie gekauerten Timmy in eine Ecke des dunklen, fensterlosen Raumes drückte.

Der Filzteppich roch leicht nach Urin, genau wie die Matratze, auf der sie vor Stunden mit Timmy erwacht war. Oder vor Tagen? Harlow hatte jegliches Zeitgefühl verloren, seit sie mit Timmy von Monica, der Kinderschwester, der ihr Vater vertraut hatte, in ein fremdes Auto gelockt worden war.

Er hatte drinnen gewartet, der Mann, den Monica Kurt nannte.

Harlow schauderte bei der Erinnerung an sein kaltes Lächeln. Sie hatte sofort gewusst, dass er ihr und Timmy etwas antun wollte. Schreiend hatte sie nach dem Türgriff gelangt. Er hatte sie fest gehalten, bis Monica ihr etwas spritzte, das ihre Welt in Dunkelheit versinken ließ.

„Ich will nach Hause!“ wimmerte Timmy. „Ich will zu Mom.“

Beschützend zog Harlow den Jungen enger an sich. Es war ihre Schuld, dass er hier war. Sie musste sich um ihn kümmern, sie war für ihn verantwortlich. „Es wird alles gut. Ich beschütze dich.“

Aus dem Nachbarzimmer klang eine Fernsehreportage herüber:

„… im Entführungsfall der kleinen Harlow Grail und ihresFreundes Timmy Price. Harlow Grail, Tochter der Schauspielerin Savannah Grail und des Schönheitschirurgen Cornelius Grail aus Hollywood, war aus den Stallungen des Familienanwesens entführt worden. Der sechsjährige Sohn der Haushälterin war Harlow offenbar in die Stallungen gefolgt und wurde ebenfalls entführt. Die Behörden glauben, dass er nur ein zufälliges Opfer ist, und die FBI-Agenten …“

Ein Krachen, dann das Geräusch von splitterndem Holz. „Diese Hurensöhne!“

„Kurt, beruhige dich …“

„Ich habe ihnen gesagt, was passiert, wenn sie die Polizei einschalten! Diese dämlichen Hollywood-Arschlöcher! Ich habs Ihnen gesagt …“

„Kurt, um Himmels willen, nicht …“

Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Kurt stand im Rahmen, heftig atmend, das Gesicht weiß vor Wut. Monica und die andere Frau, die sie Sis nannten, verharrten ängstlich hinter ihm.

„Deine Eltern haben nicht auf mich gehört!“ sagte er leise, mit vor Hass vibrierender Stimme. „Schade um euch.“

„Lassen Sie uns gehen!“ flehte Harlow und hielt Timmy fest. Der Junge drückte sich hysterisch schluchzend an sie.

Kurt lachte grausam. „Verwöhnte kleine Göre. Wie soll ich bekommen, was ich haben will, wenn ich euch gehen lasse?“

Er war mit wenigen Schritten bei ihr und entriss ihr Timmy.

„Ha’low!“ schrie der Junge angstvoll auf.

„Lassen Sie ihn los!“ Als sie aufsprang, ihm zu helfen, schossen Monica und Sis vor und hielten sie zurück. Harlow wehrte sich, doch die beiden waren stark. Sie hielten sie an den Armen fest, dass sich ihre Nägel in ihr Fleisch bohrten.

Kurt warf den zappelnden Jungen auf die schmutzige Pritsche und hielt ihn nieder. „Sieh gut hin, Prinzessin!“ forderte er sie auf. „Sieh dir an, was deine Eltern angerichtet haben. Sie haben nicht auf mich gehört. Ich hatte sie gewarnt, sich nicht an die Behörden zu wenden. Ich habe ihnen gesagt, welche Konsequenzen das hat. Sie haben das zu verantworten, diese dummen Hollywood-Arschlöcher.“ Damit schnappte er sich ein Kissen und presste es Timmy auf das Gesicht.

„Nein!“ Ihr Schrei hallte von den Wänden wider. „Nein!“

Timmy kämpfte. Er zerkratzte Kurt die Hände, heftig zunächst, dann langsam schwächer werdend. Harlow sah entsetzt zu und flehte tränenüberströmt um sein Leben.

Schließlich lag Timmy still. „Nein!“ schrie sie noch einmal. „Timmy!“

Kurt richtete sich auf. Er drehte sich ihr zu, die Lippen zu einem bösen Lächeln verzogen. „Du bist dran, Prinzessin.“

Er und Monica zerrten sie in die Küche. Sie sagte sich, dass sie kämpfen müsse, doch das lähmende Entsetzen ließ sie nur noch flehen. Monica zerrte ihr die rechte Hand über das fleckige abgesplitterte Porzellanspülbecken.

„Bereit oder nicht, es geht los“, sagte Kurt.

Harlow sah das Aufblitzen von Metall, eine Art Schere oder Zange, und wollte aufschreien.

Er nahm ihre rechte Hand, die Zange schloss sich um den kleinen Finger. Ein heißer, betäubender Schmerz, dann das Knacken von Knochen.

Der Spülstein färbte sich rot. Harlows Blick verschwamm, und die Welt versank in Dunkelheit.

Der Schmerz zog Harlow in heftigen an- und abschwellenden Wellen von der bandagierten Hand den Arm hinauf. Wenn er besonders schlimm war, erfüllte bitterer stählerner Geschmack ihren Mund und verursachte ihr Übelkeit. Sie biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht laut loszuheulen. Sie musste leise sein, absolut still. Kurt und die anderen glaubten, sie schliefe, benebelt von den Schmerztabletten, die Monica ihr gegeben hatte. Doch sie hatte nur so getan, als hätte sie sie geschluckt.

Eine neue Schmerzwelle verging, und Harlow hatte einige Sekunden Ruhe vor den Qualen. Tränen des Entsetzens und der Hoffnungslosigkeit standen ihr in den Augen. Eine neue Schmerzwelle zog heran. Schwindelig, am Rande einer Bewusstlosigkeit, bekam sie kaum noch Luft. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Sie durfte Schmerz und Angst nicht nachgeben. Nicht wenn sie überleben wollte. Ihre Eltern würden heute Nacht das Lösegeld zahlen. Sie hatte Kurt zu den anderen sagen hören, dass er sie gehen ließe, sobald er das Geld habe.

Er log, dieser gemeine Bastard. Er hatte Timmy umgebracht, obwohl der Junge ihm nichts getan hatte. Der liebe kleine Timmy. Er hatte nur nach Hause gewollt.

Und dieser dreckige Mistkerl würde auch sie umbringen, gleichgültig, was er den anderen versprach. Auch wenn sie erst dreizehn war, sie war nicht dumm, sie hatte die Gesichter von allen dreien gesehen und konnte sie identifizieren. Dieses Risiko würde Kurt nicht eingehen.

Harlow erhob sich vorsichtig von der Pritsche, damit die Federn nicht quietschten, und kroch über den Filzteppich zur Tür. Sie presste das Ohr daran. Kurt sagte etwas, aber sie konnte nicht genau verstehen, was. Es betraf sie und die Geldübergabe.

Es geschieht heute Nacht!

Harlow eilte zur Pritsche zurück, legte sich hin und schloss die Augen. Sie hörte das Klicken des Türknaufs, der gedreht wurde, dann das leise Aufschwingen der Tür. Jemand trat ein und blieb neben ihrer Pritsche stehen.

Die Tür war wieder nicht abgeschlossen. Warum sollten sie sie auch verschließen? Die gehen davon aus, dass ich wegen der Medikamente fest schlafe.

Ihr Besucher beugte sich über das Bett, und Harlow merkte, dass es die ältere Frau war, Sis. Sie erkannte es an ihrem Geruch nach Rosen und Babypuder, süße Düfte, die den Gestank von Zigaretten nur teilweise überlagerten.

Sis beugte sich zu ihr herunter. Harlow spürte ihren Atem auf dem Gesicht und zwang sich, vollkommen still zu liegen und nicht zurückzuweichen.

„Süßes Lamm“, flüsterte Sis. „Es ist jetzt fast überstanden. Sobald Kurt das Geld hat, wird alles gut.“

Er ist losgefahren, es zu holen. Die Zeit läuft ab.

„Ich konnte ihn vorhin nicht aufhalten. Er war außer sich. Er … Deine Eltern hätten sich ihm nicht widersetzen sollen. Es war ihr Fehler. Sie tragen die Verantwortung …“ Sie sprach weinerlich. „Ich habe getan, was ich konnte. Du musst verstehen, er …“

Du hast nicht getan, was du konntest. Du hättest Timmy retten können, du alte Hexe! Du hast immer so viel Aufhebens um ihn gemacht, aber du hast keinen Finger gerührt, ihn zu retten. Ich hasse dich!

„Ich komme zurück.“ Die Frau presste ihr einen Kuss auf die Stirn. Harlow hätte fast aufgeschrien. „Schlaf schön, kleine Prinzessin. Es ist bald vorbei.“

Die Frau verließ den Raum und zog die Tür zu. Harlow lauschte aufmerksam auf das Klicken, das ein Abschließen der Tür angezeigt hätte.

Nichts.

Sie öffnete die Augen einen Spalt. Sie war allein. Vorsichtig richtete sie sich mit heftigem Herzklopfen auf, besorgt, mit dem kleinsten Geräusch die ältere Frau zu alarmieren. Offenbar hatte sie sich zu schnell aufgesetzt. Benommen vor Schwindel, musste sie sich an der Pritschenkante fest halten. Sie verharrte und atmete tief ein und aus, bis ihr Kopf klarer wurde.

Reglos wartete sie noch einen Moment und sammelte ihre Gedanken. Soweit sie es in den letzten Tagen mitbekommen hatte, wurde sie in einem kleinen, relativ abgelegenen Haus festgehalten. Sie hatte keine Geräusche von Verkehr oder Passanten gehört, und niemand hatte an der Tür geläutet. Am Morgen hatten die Vögel gezwitschert, und nachts hörte sie zweimal Kojoten heulen.

Wenn ich nun niemand finde, der mir hilft? Was, wenn ich mich verlaufe? Wenn der heulende Kojote mich findet und zerreißt?

Handle oder stirb, sagte sie sich zitternd. Kurt würde sie töten. Wenn sie davonlief, hatte sie zumindest eine Chance. Ihre einzige.

Harlow erhob sich von der Pritsche und schwankte leicht. Vorsichtig schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Der Raum dahinter schien leer zu sein. Der Fernseher lief, war aber ohne Ton. Eine Zigarette brannte im Aschenbecher auf der Armlehne des Sessels, und ein Kringel beißender Rauch stieg zur Decke.

Ich muss los! Ich muss rennen!

Bei dem Gedanken setzte sie sich auch schon in Bewegung. Sie erreichte die Haustür, entriegelte sie und riss sie auf. Mit einem leisen, unwillkürlichen Aufschrei taumelte sie in die dunkle, sternenlose Nacht und begann zu rennen, blindlings, schluchzend, über verdorrte Erde und durch ein Dickicht. Sie fiel kopfüber in einen Graben, zog sich wieder heraus, rappelte sich auf und lief weiter.

Sie erreichte eine verlassene Straße. Und sofort keimte Hoffnung in ihr. Hier musste jemand sein, irgendwer …

Im selben Moment kam ein Auto den Hügel herauf. Seine Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit, trafen auf sie. Sie stand wie erstarrt, zitternd, zu schwach und erschöpft, um auch nur zu winken. Die Lichter kamen näher, der Fahrer hupte.

„Helft mir!“ flüsterte sie und fiel auf die Knie. „Bitte, helft mir!“

Das Auto kam mit kreischenden Rädern zum Stehen. Eine Tür ging auf, Schritte auf dem Asphalt.

„Frank, nein!“ bat die Frau. „Was ist, wenn …“

„Um Himmels willen, Donna, ich kann nicht einfach … Oh mein Gott, es ist ein Kind!“

„Ein Kind?“ Die Frau stieg aus dem Wagen. Harlow hob den Kopf, und die Frau japste: „Du lieber Himmel, sieh dir ihr rotes Haar an. Sie ist es. Die Kleine, nach der alle suchen. Harlow Grail.“

Der Mann gab einen ungläubigen, skeptischen Laut von sich. Er sah sich um, als werde ihm plötzlich klar, dass sie in Gefahr sein könnten.

„Das gefällt mir nicht“, sagte die Frau ängstlich. „Lass uns weiterfahren.“

Der Mann stimmte zu. Er hob Harlow hoch und hielt sie vorsichtig auf den Armen. „Es wird alles gut“, tröstete er leise auf dem Weg zu seinem Auto. „Wir bringen dich heim. Du bist in Sicherheit.“

Harlow ließ sich zitternd an ihn sinken und wusste, dass sie sich nie wieder sicher fühlen würde.

1. KAPITEL

Mittwoch, 10. Januar 2001,

New Orleans, Louisiana.

„Timmy! Nein!“

Anna saß kerzengerade im Bett, in kalten Schweiß gebadet. Timmys Name und ihr Schrei schienen von den Schlafzimmerwänden zurückzuhallen.

Erschrocken zog sie sich die Bettdecke unters Kinn und sah sich ängstlich um. Als sie eingeschlummert war, hatte die Nachttischlampe noch gebrannt. Sie schlief immer bei Licht. Doch jetzt war alles dunkel. Die Schatten in den Zimmerecken schienen sie zu necken. Versteckte sich dort jemand? Wenn ja, wer?

Kurt. Er holte sie, um zu beenden, was ihm vor dreiundzwanzig Jahren nicht gelungen war. Um sie zu strafen – für ihre Flucht und das Durchkreuzen seiner Pläne.

Bereit oder nicht, es geht los.

Anna sprang aus dem Bett und lief den Flur hinunter ins Bad. Sie konnte gerade noch den Toilettendeckel hochreißen, beugte sich vor und übergab sich, bis ihr Magen leer war.

Sie wischte sich den Mund mit einem abgerissenen Streifen Toilettenpapier ab, den sie in die Toilette warf und abzog. Ihre rechte Hand schmerzte. Sie brannte, als hätte Kurt ihr soeben den kleinen Finger abgetrennt, um ihn als Warnung an ihre Eltern zu schicken.

Doch dieses Verbrechen war vor einer Ewigkeit geschehen. Sie war noch das Kind Harlow Anastasia Grail gewesen, die kleine Hollywoodprinzessin. Heute hatte sie eine andere Identität.

Sie drehte den Hahn am Waschbecken auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser.

Sie lebte in Sicherheit, in ihrem eigenen Apartment. Außer zu ihren Eltern hatte sie alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt. Keiner ihrer Freunde oder Geschäftspartner kannte ihre wahre Identität. Nicht mal ihr Verleger oder ihr Literaturagent. Sie war jetzt Anna North, und das schon seit vielen Jahren.

Selbst wenn Kurt nach ihr suchen sollte, würde er sie nicht finden. Sie zog das Handtuch aus der Ringhalterung und trocknete sich das Gesicht. Kurt würde nicht nach ihr suchen. Dreiundzwanzig Jahre waren vergangen. Das FBI war damals sicher gewesen, dass der Mann, den sie als Kurt kannte, keine Gefahr für sie darstellte. Sie glaubten, dass er nach Mexiko geflohen war. Die Entdeckung von Monicas Leiche in der Grenzstadt von Baja California sechs Tage nach ihrer Flucht hatte diese Annahme gestützt.

Verärgert über ihre Angst, warf sie das Handtuch auf die Ablagefläche. Wann würde sie das alles endlich hinter sich lassen? Wie viele Jahre mussten noch vergehen, ehe sie ohne Licht schlafen konnte?

Wenn Kurt gefasst worden wäre, hätte sie ihn vergessen und nie mehr darüber nachgedacht, ob er sich rächen wollte. Ihre Flucht hatte die Lösegeldübergabe hinfällig gemacht. Vermutlich hatte er sie verflucht.

Sie betrachtete sich streng im Spiegel. Wenn sie ihre Albträume schon nicht kontrollieren konnte, dann wenigstens ihr Leben. Sie hatte nicht vor, sich von ihren Ängsten beherrschen zu lassen.

Wieder im Schlafzimmer, holte sie Shorts aus der Kommode und zog sie zu ihrem T-Shirt an. Da sie nicht schlafen konnte, wollte sie wenigstens arbeiten. Sie hatte eine neue Idee für eine Geschichte. Warum nicht jetzt damit anfangen? Aber zunächst brauchte sie Kaffee.

Auf dem Weg in die Küche kam sie an ihrem Büro vorbei – ein Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers – und schaltete den Computer ein. Im Flur ging sie zur Wohnungstür und prüfte gewohnheitsmäßig den Sicherheitsriegel.

Im selben Moment pochte jemand an die Tür, und sie sprang erschrocken zurück.

„Anna! Ich bin es, Bill …“

„Und Dalton!“

„Alles in Ordnung bei dir?“

Bill Friends und Dalton Ramsey, ihre Nachbarn und besten Freunde. Gott sei Dank!

Sie öffnete, und die beiden standen besorgt im Flur. Von dort kam auch das Jelpen von Judy und Boo, den beiden Hunden des Paares. „Was um alles in der Welt … du hast mich zu Tode erschreckt.“

„Wir hörten dich schrei…“

„Ich hörte dich schreien“, korrigierte Bill. „Ich war auf dem Rückweg …“

„Er hat mich sofort geholt.“ Dalton hielt eine kleine Marmorbuchstütze hoch, eine Kopie von Michelangelos David. „Den habe ich mitgenommen, nur für alle Fälle.“

Anna unterdrückte ein Lächeln. Sie stellte sich vor, wie Dalton – in den Fünfzigern und sanftmütig – ein Stück Marmor gegen einen Einbrecher schleuderte. „Für welche Fälle? Dass meine Bibliothek aufgeräumt werden muss?“

Bill kicherte, Dalton schniefte pikiert. „Für den Fall der Verteidigung natürlich.“

Zur Verteidigung gegen einen Einbrecher, der längst über alle Berge ist, bis meine Freunde sich gesammelt, eine Waffe ausgewählt und sich zu meiner Tür durchgeschlagen haben. Dem Himmel sei Dank, dass ich nie wirklich Hilfe gebraucht habe.

Sie verkniff sich ein Lachen und schwang die Tür weiter auf. „Ich danke für eure Fürsorge. Kommt herein, ich mache uns Kaffee zu den Beignets.“

„Beignets?“ fragte Dalton unschuldig. „Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst.“

Anna drohte mit dem Zeigefinger. „Netter Versuch, aber ich rieche sie. Weil ihr mir zu Hilfe gekommen seid, müsst ihr sie zur Strafe mit mir teilen.“

Beignets, die schmalzgebackenen, üppig mit Puderzucker bestreuten Teigrechtecke machten – wie alles in New Orleans – süchtig.

Und sie waren bestimmt nicht für Leute wie Dalton geeignet, der angeblich auf sein Gewicht achtete.

„Er hat mich dazu verleitet“, sagte er beim Eintreten mit einem vorwurfsvollen Blick zu Bill. „Du weißt, ich schlage nie solche Schwelgereien vor.“

„Richtig.“ Bill verdrehte die Augen. „Und wessen Figur deutet eine gewisse Neigung zu Schwelgereien an?“

Dalton wandte sich Hilfe suchend Anna zu. Bill war zehn Jahre jünger als er, schlank und athletisch. „Das ist nicht fair. Er isst alles und setzt nicht an. Ich esse nur eine Winzigkeit und …“

„Winzigkeit? Hah! Frag ihn nach den Knabbereien.“

„Ich hatte einen schlechten Tag. Ich brauchte etwas, um mich aufzumuntern.“

Anna hakte sich bei beiden unter und führte sie in die Küche. Ihr Albtraum war schon fast vergessen. Die beiden brachten sie stets zum Lachen. Es erstaunte sie immer wieder, dass diese unterschiedlichen Typen ein Paar waren. Sie erinnerten sie an einen Pfau und einen Pinguin. Bill war unverblümt und manchmal provozierend, Dalton hingegen ein spröder Geschäftsmann, dessen Pingeligkeit oft ziemlichen Wirbel verursachte. Trotz aller Unterschiede waren sie seit zehn Jahren zusammen.

„Ich weiß nicht, wer schuld ist an der Schwelgerei, ich bin nur froh, dass jemand die Idee dazu hatte. Eine Beignet-Orgie morgens um zwei ist genau das, was ich brauche.“

Vor allem aber war sie dankbar für die Freundschaft der beiden. Sie war ihnen in ihrer zweiten Woche in New Orleans begegnet, als sie sich auf eine Anzeige als Verkäuferin in einem Blumenladen im French Quarter gemeldet hatte. Obwohl sie keine besondere Erfahrung mitbrachte, war sie immer sehr geschickt im Arrangieren von Blumen gewesen. Außerdem brauchte sie einen Job, der ihr Zeit und die notwendige Energie ließ, ihrem eigentlichen Traumberuf nachzugehen, dem der Schriftstellerin.

Dalton erwies sich als Besitzer des Ladens, und sie hatten sich auf Anhieb gemocht. Er hatte Verständnis für ihre Träume gezeigt und ihr gratuliert, dass sie den Mut aufbrachte, sie zu verfolgen. Und im Gegensatz zu den anderen Arbeitgebern, mit denen sie gesprochen hatte, war er nicht pikiert gewesen, weil sie die Arbeit in seinem Laden „Die Perfekte Rose“ als Job betrachtete und nicht als Lebensaufgabe.

Dalton hatte sie mit Bill bekannt gemacht, und die beiden Männer hatten sie unter ihre Fittiche genommen. Sie hatten ihr auch die leere Wohnung in Daltons Mietshaus im French Quarter angeboten. Die zwei lebten ebenfalls in dem Haus, quasi Tür an Tür mit ihr. Nach ihrem Einzug hatten sie ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden, damit sie sich schneller eingewöhnte. Sobald sie die zwei besser kannte, hatten sie Anteil an ihren schriftstellerischen Versuchen nehmen dürfen. Und es waren Bill und Dalton gewesen, die ihr nach jeder Ablehnung Mut gemacht und jeden Erfolg mit ihr gefeiert hatten.

Es waren liebe Freunde, und sie würde es mit dem Teufel persönlich aufnehmen, für sie einzutreten. Die beiden täten dasselbe für sie, davon war sie überzeugt.

Es gibt nur einen Teufel. Kurt.

Als lese er ihre Gedanken, sagte Dalton plötzlich besorgt: „Mein Gott, Anna, wir haben dich gar nicht gefragt, ob du in Ordnung bist.“

„Mir geht es gut.“ Sie gab Milch in eine Kasserolle und stellte sie auf den Herd. Dazu holte sie drei Becher aus dem Schrank und gefrorene Kaffeewürfel aus dem Eisfach. „Es war nur ein böser Traum.“

Bill half ihr und gab einen Würfel des gefrorenen Kaffeekonzentrats in jeden Becher. „Nicht schon wieder.“ Er drückte sie kurz. „Arme Anna.“

„Das kommt von diesen krankhaften Geschichten, die du schreibst“, vermutete Dalton und arrangierte kunstvoll die Beignets auf einer Platte. „Davon bekommst du Albträume.“

„Krankhafte Geschichten? Danke, Dalton.“

„Finster meinetwegen“, schränkte er ein. „Verdreht. Angsteinflößend. Besser?“

„Ja, danke.“ Sie goss die heiße Milch in die Becher und reichte jedem seinen Café au lait.

Sie trugen Kaffee und Gebäck zu dem kleinen Bistrotisch, nahmen Platz und langten zu. Dalton hatte Recht. Ihre Krimis waren von der Kritik genau mit seinen Worten beschrieben worden, allerdings auch als packend und fesselnd. Es wäre schön, wenn sie genügend Auflage hätten, dass sie davon leben könnte.

Sie stehen sich nur selbst im Weg, hörte sie ihren Agenten sagen.

„Und das von einer so nett und normal wirkenden Lady“, bemerkte Bill gespielt entsetzt. „Woher stammen nur diese Ideen? Welche Horrorvorstellungen lauern hinter diesen arglosen grünen Augen?“

Anna gab sich amüsiert. Bill konnte nicht wissen, wie nah er mit seiner Neckerei der Wahrheit gekommen war. Sie war Zeugin größter menschlicher Rohheit geworden. Sie wusste aus erster Hand, zu was Menschen fähig waren.

Dieses Wissen stahl ihr den Seelenfrieden und manchmal, wie heute Nacht, auch den Schlaf. Es beflügelte aber auch ihre Fantasie, was sich in dunklen, unheimlichen Geschichten über Gut gegen Böse niederschlug.

„Wusstet ihr denn nicht“, begann sie leichthin, „dass alle meine Recherchen authentisch sind? Also schaut bitte nicht in den Kofferraum meines Wagens, und vergewissert euch, dass eure Türen nachts verschlossen sind.“ Sie senkte die Stimme. „Wenn ihr wisst, was gut für euch ist.“

Für den Bruchteil einer Sekunde starrten die Männer sie an, dann lachten sie. „Sehr witzig, Anna. Besonders, da das Homo-Pärchen in deiner geplanten neuen Geschichte verprügelt wird.“

„Da wir gerade davon sprechen“, wandte Bill ein und wischte an seinem Platz den Puderzucker von der Tischplatte. „Hast du schon eine Reaktion auf deine neue Buchidee bekommen?“

„Noch nicht, aber ich habe sie ja erst vor ein paar Wochen eingeschickt. Ihr wisst, wie langsam Verlage sein können.“

Bill schnaubte angewidert. Als Werbe- und Public-Relations-Experte stand er die meiste Zeit beruflich unter Dampf. „In meinem Metier könnten die keine zwei Minuten bestehen. Die gingen unter wie nix.“

Anna stimmte gähnend zu, legte eine Hand vor den Mund und gähnte wieder.

Dalton sah auf seine Uhr. „Großer Gott, ich hatte keine Ahnung, dass es schon so …“ Er wandte sich Anna zu. „Ach, ich hätte fast vergessen, dir zu sagen, du hast wieder einen Brief von deinem kleinen Fan bekommen. Von der aus Mandeville, auf der anderen Seite des Lake Pontchartrain. Er kam heute in die ,Perfekte Rose‘.“

Einen Moment wusste Anna nicht, wovon er sprach. Dann erinnerte sie sich. Vor einigen Wochen hatte sie den Fanbrief einer Elfjährigen namens Minnie erhalten. Ihr Agent hatte ihn mit einem Packen anderer Briefe an sie weitergeleitet.

Obwohl sie leicht beunruhigt gewesen war, dass ihre für Erwachsene geschriebenen Romane von einem Kind gelesen wurden, war der Brief charmant gewesen. Die Kleine hatte sie an das Mädchen erinnert, das sie selbst vor der Entführung gewesen war, ein Kind, das die Welt als wunderbaren Ort voller lächelnder Gesichter erlebte.

Minnie hatte ihr versprochen, falls Anna ihr antworte, werde sie auf ewig ihr treuester Fan sein. Auf die Rückseite des Umschlags hatte sie Herzen und Blümchen gemalt und die Buchstaben V.M.E.K., versiegelt mit einem Kuss.

Anna war so angetan gewesen, dass sie den Brief sofort beantwortet hatte.

Dalton zog den neuen Umschlag aus der Jacke seines Trainingsanzugs und reichte ihn ihr. Anna runzelte die Stirn. „Du hast ihn mitgebracht?“

Bill verdrehte die Augen. „Er hat ihn sich geschnappt, nachdem er den David aus seiner Waffenkollektion ausgewählt hatte. Ich konnte ihn gerade noch daran hindern, auch noch Muffins zu backen.“

Dalton schnaubte gekränkt. „Ich habe versucht zu helfen. Das nächste Mal lasse ich es.“

„Hör nicht auf ihn“, riet Anna ihm, nahm den Brief und warf Bill einen warnenden Blick zu. „Du weißt, was für ein Lästermaul er ist.“

Bill deutete auf den Brief. Der Umschlag war wie der vorherige mit Herzchen, Blümchen und den Buchstaben V.M.E.K. verziert. „Er kam direkt zur ,Perfekten Rose‘, Anna. Nicht über deinen Agenten.“

„Direkt in den Laden?“ Erschrocken erkannte sie ihren Fehler. In ihrem Eifer, dem Kind zu antworten, hatte sie, alle Vorsicht außer Acht lassend, das Briefpapier der „Perfekten Rose“ genommen, einige Zeilen darauf gekritzelt und den Brief in die Post gegeben.

Wie hatte sie so dumm sein können? So sorglos?

„Öffne ihn“, drängte Bill. „Lass uns schauen, was drinsteht. Du bist doch neugierig.“

Sie war neugierig. Nichts war so befriedigend wie von einem Leser zu hören, wie gut ihm ihr Werk gefiel. Andererseits hatte dieser Kontakt zu Fremden und das Wissen, dass sie durch die Romane Einblick in ihre Gefühle und Gedanken bekamen, auch etwas Beklemmendes.

Durch ihre Arbeit bekamen diese Menschen irgendwie Zugang zu ihrem Leben.

Sie öffnete den Umschlag, zog den Brief heraus und las. Bill und Dalton ebenfalls, indem sie ihr über die Schulter blickten.

Liebe Miss North,

ich war ganz aufgeregt, als ich Ihren Brief bekam! Sie sind meine liebste Autorin auf der ganzen Welt. Ehrlich. Mein Kätzchen denkt, Sie sind auch die beste. Sie ist weiß und gold und hat grüne Augen. Sie ist meine beste Freundin.

Unsere Leibgerichte sind Pizzas und Chee-tos, aber die bekommen wir nicht so häufig von ihm. Einmal habe ich einen Beutel stibitzt und mit Tabitha alles aufgegessen. Meine Lieblingsgruppe sind die Backstreet Boys. Und wenn er mich rauslässt, sehe ich mir Dawsons Creek an.

Ich bin so froh, dass Sie meine Freundin sind. Manchmal wird es hier sehr langweilig. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil Sie mir gesagt haben, ich wäre zu jung für Ihre Bücher. Ich glaube, Sie haben Recht. Und wenn Sie nicht möchten, dass ich sie lese, werde ich es nicht tun. Das verspreche ich. Er weiß sowieso nicht, dass ich sie lese, und er wäre sehr böse, wenn er es herausfände.

Er macht mir manchmal Angst.

Ihre (Brief)Freundin Minnie

Anna las die letzten Zeilen mehrfach und mit Beklemmung. Er machte ihr Angst? Er gab ihnen nicht häufig Pizza und Chee-tos?

„Was glaubst du, wer dieser ,er‘ ist?“ fragte Dalton. „Ihr Dad?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte sie stirnrunzelnd. „Er könnte ihr Großvater oder ein Onkel sein. Offenbar lebt sie mit ihm zusammen.“

„Wenn ihr mich fragt, klingt das ein bisschen unheimlich.“ Bill verzog skeptisch das Gesicht. „Und was meint sie damit, ,wenn er sie rauslässt, sieht sie sich Dawson’s Creek an‘? Das klingt, als wäre sie eine Gefangene oder so.“

Die drei sahen sich stumm an. Anna räusperte sich und zwang sich zu lachen. „Kommt schon, Jungs, ich bin hier die Autorin. Ihr zwei sollt mich auf den Boden der Realität zurückholen.“

„Richtig.“ Dalton lächelte schwach. „Welches Kind bekommt schon genug Fastfood? Als ich dreizehn war, hielt ich meine Eltern für Monster und fühlte mich missbraucht.“

„Dalton hat Recht“, stimmte Bill zu. „Außerdem, wenn dieser Typ so schlecht wäre, wie wir unterstellen, würde er Minnie kaum gestatten, mit dir zu korrespondieren.“

„Stimmt.“ Anna seufzte erleichtert, faltete den Brief und steckte ihn in den Umschlag zurück. „Es ist zwei Uhr früh, und wir sind alle überspannt. Ich glaube, wir brauchen Schlaf.“

„Einverstanden.“ Bill erhob sich. „Trotzdem, Anna, ich wünschte, du hättest ihr nicht auf dem Briefpapier des Ladens geantwortet. Wenn man bedenkt, was für Bücher du schreibst, kann man nicht ausschließen, dass mal ein durchgeknallter Fan dich auszuforschen versucht.“

„Ist schon okay.“ Sie rieb sich die Gänsehaut auf den Armen. „Was kann es schon schaden, wenn eine Elfjährige weiß, wo ich arbeite?“

2. KAPITEL

Donnerstag, 11. Januar,

French Quarter.

„Was sagst du da, Anna?“ fragte Jaye Arcenaux. „Glaubst du, diese Kleine ist so ein Fan, der dich verfolgt? Das wäre ja cool.“

Jaye, Annas „kleine Schwester“, war vor einigen Wochen fünfzehn geworden, und jetzt war alles „cool“ oder „total abartig“.

Anna zog amüsiert eine Braue hoch. „Cool? Das glaube ich kaum.“

„Du weißt, was ich meine.“ Sie beugte sich zu ihr hinüber. „Also, glaubst du das?“

„Natürlich nicht. Ich sage nur, dass etwas an diesem Brief eigenartig war und dass ich nicht weiß, ob ich ihn beantworten soll.“

„Was meinst du mit eigenartig?“ Jaye langte über den Tisch und naschte einen von Annas Schokokeksen. „Dalton sagte, ihr hättet alle drei Gänsehaut bekommen.“

„Er übertreibt. Es war spät, und wir waren müde. Aber es klang ein wenig so, als ginge es bei ihr zu Hause recht eigentümlich zu. Ich bin ein bisschen besorgt.“

„Jetzt redest du von meinem Fachgebiet. Ich habe so ziemlich alles an häuslichen Eigentümlichkeiten erlebt, was sich denken lässt.“

Das stimmte, und es tat Anna unendlich Leid. Allerdings zeigte sie das nicht. Jaye wollte kein Mitleid. Sie akzeptierte ihre Vergangenheit, wie sie war, und erwartete, dass andere das auch taten.

„Eigentlich wollte ich ganz gern deine Meinung dazu hören.“ Anna zog den Brief hervor und zeigte ihn Jaye. „Vielleicht interpretiere ich mehr hinein, als da ist. Spannende Geschichten zu erfinden, ist schließlich mein Beruf.“

Während Jaye las, betrachtete Anna sie. Jaye war trotz ihrer Jugend bereits eine hinreißende Schönheit mit ihrem ebenmäßig geschnittenen Gesicht und den großen dunklen Augen. Bis vor einer Woche, als sie einer schockierten Anna die soeben flammend rot gefärbte Mähne gezeigt hatte, waren ihre Haare von einem warmen Mokkabraun gewesen.

Jayes Schönheit wurde nur von der Narbe gestört, die ihr diagonal über den Mund verlief. Ein Abschiedsgeschenk ihres brutalen Vaters. Volltrunken hatte er wütend eine Bierflasche nach ihr geworfen, die sie am Mund traf und ihr die Lippen spaltete. Der Bastard hatte nicht mal für ärztliche Hilfe gesorgt. Als die Schulkrankenschwester am folgenden Montagmorgen die Verletzung untersuchte, war es zu spät gewesen, die Wunde zu nähen.

Allerdings war es noch rechtzeitig gewesen, den Sozialdienst einzuschalten. Ab da war Jaye auf dem Weg in ein besseres Leben gewesen und ihr Vater auf dem Weg in den Knast.

Bei Recherchen für ihren zweiten Roman hatte Anna Kontakt zur Organisation B.B.B.S.A., Big Brothers and Big Sisters of America, „Große Brüder und Schwestern Amerikas“, bekommen, die Jugendlichen in Not zur Seite stand. Sie hatte einige der älteren Mädchen interviewt und war tief bewegt gewesen von ihren Geschichten, die von Not, Rettung und Zuneigung handelten.

Die Mädchen hatten sie an sich selbst in diesem Alter erinnert. Auch sie war verstört und einsam gewesen und hatte in Zeiten emotionaler Turbulenzen dringend einen Halt gebraucht.

Kurz entschlossen war sie selbst eine „große Schwester“ geworden. Schließlich hatte sie nichts zu verlieren, wenn sie versuchte, in dem Programm mitzuarbeiten.

Sie und Jaye waren jetzt zwei Jahre „Schwestern“.

Im Laufe dieser Zeit waren sie sich nahe gekommen. Das war nicht einfach gewesen. Zunächst hatte Jaye nichts mit ihr zu tun haben wollen. Sie war zynisch gewesen für ihr Alter. Da sie ein Leben lang gekränkt und belogen worden war, reagierte sie auf Annäherung mit Zorn und Misstrauen. Sie hatte aus ihrer Ablehnung keinen Hehl gemacht.

Doch Anna war beharrlich geblieben. Zwei Jahre lang hatte sie jedes Versprechen gehalten, zugehört, anstatt zu tadeln, und einen Rat nur erteilt, wenn sie darum gebeten wurde. Dabei war sie ihren Ansichten treu geblieben und hatte jeden Test bestanden. Schließlich hatte Jaye angefangen, ihr zu vertrauen und sie zu mögen.

Diese Zuneigung beruhte auf Gegenseitigkeit, womit Anna beim Einstieg in das Programm nicht gerechnet hatte. Sie hatte nur helfen wollen und bekam im Gegenzug eine Freundschaft geschenkt, die eine Lücke in ihrem Leben ausfüllte, von der sie nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.

Jaye sah auf. „Du bildest dir das nicht ein. Dieser Typ klingt nach einer üblen Bazille.“

„Bist du sicher?“

„Du wolltest meine Meinung hören.“

„Was meinst du mit übler Bazille?“

„Dass er alles sein kann von einem Riesen A-loch bis zu einem Perversen, der lebenslang hinter Gitter gehört.“

Anna hörte den bitteren Unterton. „Das ist ein ziemlich breites Spektrum.“

„Ich bin kein Psychiater.“ Jaye gab ihr achselzuckend den Brief zurück. „Ich denke, du solltest ihr antworten.“

Anna verzog die Lippen, nicht so sicher wie ihre junge Freundin, dass sie die Korrespondenz fortsetzen sollte. „Ich bin erwachsen, sie ist ein Kind. Das macht die Kommunikation nicht gerade einfach. Ich möchte schließlich nicht, dass mir ihre Eltern Einmischung vorwerfen. Und ich kann sie ja nicht gut nach ihrem Vater ausfragen.“

„Dir fällt schon was ein.“ Jaye wischte sich mit der Serviette den Mund ab. „Dieses Kind braucht eine Freundin.“

Anna zog unsicher die Stirn kraus. Ein Teil von ihr, der, der immer auf Nummer sicher gehen wollte, drängte sie, den Brief in den Abfall zu werfen und Minnie und ihre Probleme zu vergessen. Der andere Teil stimmte Jaye zu. Minnie brauchte sie. Und sie konnte einem Kind in Not keine Hilfe verweigern.

„Isst du den letzten Keks noch?“ unterbrach Jaye ihre Gedanken.

„Gehört dir.“ Anna schob ihr den Teller zu. „Du bist in letzter Zeit ziemlich hungrig. Ist Fran keine gute Köchin?“ fragte Anna mit Bezug auf Jayes Pflegemutter.

„Gute Köchin?“ Jaye schnitt eine Grimasse. „Sie ist die schlechteste Köchin auf diesem Planeten.“

„Aber sie ist nett, oder?“

Jaye zuckte die Achseln. „Ich glaube, sie ist ganz okay. Wenn sie nicht gerade auf ihrem Besenstiel reitet oder im Mondschein schwarze Katzen und kleine Kinder opfert.“

„Sehr lustig, Naseweis.“

Eigentlich mochte Anna Jayes neue Pflegemutter, aber irgendetwas störte sie. Sie schien sich zu sehr zu bemühen, als müsse sie die Rolle der Pflegemutter spielen, da sie nicht aus ihrem Herzen kam. Dieser Eindruck hatte Anna vom ersten Moment an beunruhigt. Trotzdem hatte sie immer gehofft, dass Jaye Fran Clausen und ihren Mann Bob mochte.

Minuten später verließen sie das CC Coffeehouse im French Quarter. Auf dem Gehweg fragte Anna: „Also, wie läufts denn so?“

„Schule oder zu Hause?“

„Beides.“

„Schule ist okay. Zu Hause auch.“

„Überschütte mich bitte nicht mit so vielen Details. Ich bin ja überwältigt.“

Jaye grinste. „Sarkasmus, Anna? Cool.“

Anna lachte. Gut gelaunt setzten sie ihren Weg fort und blieben gelegentlich vor einer Geschäftsauslage stehen. Anna gefielen die Gerüche, die Geräusche und die pittoresken Ansichten, die das Flair des French Quarter ausmachten: eine Mischung von meist alt und manchmal neu, von aufgetakelt und elegant, von köstlich und widerlich. Inmitten von Touristen und Einheimischen, Straßenkünstlern und Obdachlosen, hatte es ihr hier auf Anhieb gefallen.

„Sieh dir das an“, sagte Jaye und blieb vor einer Auslage mit Pelzimitatjacken stehen. Sie deutete auf eine Bomberjacke im Zebramuster. „Ist das cool oder was?“

„Es ist cool“, stimmte Anna zu. „Möchtest du sie anprobieren?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nur wenn sie sie verschenken. Außerdem passt sie nicht zu meinem Haar.“

Anna warf Jaye einen Seitenblick zu. „Ich gewöhne mich langsam an deinen Rotschopf. Jedenfalls könnten wir jetzt echte Schwestern sein.“

Jaye errötete erfreut. Sie gingen weiter, und nach einer Weile fragte sie: „Habe ich dir eigentlich von dem Typen erzählt, der mir gefolgt ist?“

Anna blieb erschrocken stehen. „Jemand ist dir gefolgt?“

„Ja, aber ich bin ihm entwischt.“

„Wann und wo ist das passiert?“

„Neulich. Auf dem Heimweg von der Schule.“

„Wie sah er aus? War das nur das eine Mal, oder ist er dir schon früher gefolgt?“

„Ich habe ihn nicht so genau gesehen. Aber soweit ich feststellen konnte, war er bloß so’n oller Perverser.“ Jaye zuckte wieder die Achseln. „Keine große Sache.“

„Es ist eine sehr große Sache. Hast du es deiner Pflegemutter erzählt? Hat sie die Polizei …“

„Mein Gott, Anna, krieg dich wieder ein. Wenn ich gewusst hätte, dass du ausflippst, hätte ich nichts gesagt.“

Anna beherrschte sich. Wenn sie überreagierte, würde Jaye ihr in Zukunft nichts mehr erzählen. Das musste sie vermeiden. Jaye besaß die Gewitztheit des Straßenkindes. Sie war kein Naivchen, das sich leicht von einem Fremden hereinlegen ließ. Sie hatte eine Weile auf der Straße gelebt, ein Umstand, der Anna stets schaudern ließ. „Tut mir Leid, alte Leute machen sich eben schnell Sorgen.“

„Du bist nicht alt“, korrigierte Jaye.

„Alt genug, darauf zu bestehen, dass du zur Polizei gehst, solltest du diesen Typen noch einmal sehen. Einverstanden?“

Jaye zögerte und nickte dann. „Einverstanden.“

3. KAPITEL

Donnerstag, 11. Januar,

der Irische Kanal.

Detective Quentin Malone betrat Shannons Taverne und rief einer Gruppe Kollegen einen Gruß zu. Für viele Bewohner von New Orleans läutete der Donnerstagabend den offiziellen Beginn des Wochenendes ein. Bars, Restaurants und Clubs der Stadt profitierten von dem Wunsch, es sich gut gehen zu lassen. Shannons Taverne bildete keine Ausnahme.

In dem Stadtteil gelegen, den man den Irischen Kanal nannte, – nach den irischen Einwanderern, die sich hier niedergelassen hatten – trafen sich bei Shannon vor allem Arbeiter, Anwohner und Polizisten. Der 7. Distrikt des New Orleans Police Department hatte Shannon zu seinem Stammlokal erkoren.

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