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Der erste Samstag im Juli.
Eine vermisste Studentin.
Die Nummer 7 ist in ihre Tür geritzt.
Der Countdown hat begonnen.
New Orleans Detective Michaela Dare ist diszipliniert und zielstrebig. Sie braucht keinen neuen Partner - schon gar nicht Zach "Hollywood" Harris, den respektlosen Charmeur und Draufgänger, der ihr vom FBI vorgesetzt wird. Obendrein soll ihre Aufgabe darin bestehen, Zachs Bodyguard zu spielen, während er die Bösen jagt. Doch Micki stellt bald fest, dass ihr Partner mehr draufhat als ein verschmitztes Lächeln - und dass es Kräfte zwischen Himmel und Erde gibt, die nur Zachs spezielle Fähigkeiten aufhalten können...
Der Auftakt der neuen Thriller-Serie der New-York-Times-Bestsellerautorin Erica Spindler.
eBook bei beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
Das sagt die Presse zu »The Final Seven«
»Rasant, mitreißend und so spannend, dass man jede Seite verschlingt.« Daily Mail
»THE FINAL SEVEN ist ein meisterhaft gestrickter Thriller mit einem paranormalen Twist und einer Prise Herzklopfen.« IndieReader
»Ich werde Spindler zu der Liste meiner liebsten Krimi-Autorinnen hinzufügen.« Evening Standard
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Seitenzahl: 431
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Der Countdown hat begonnen …
New Orleans Detective Michaela Dare ist diszipliniert und zielstrebig. Sie braucht keinen neuen Partner – schon gar nicht Zach »Hollywood« Harris, den respektlosen Charmeur und Draufgänger, der ihr vom FBI vorgesetzt wird. Obendrein soll ihre Aufgabe darin bestehen, Zachs Bodyguard zu spielen, während er die Bösen jagt. Doch Micki stellt bald fest, dass ihr Partner mehr draufhat als ein verschmitztes Lächeln – und dass es Kräfte zwischen Himmel und Erde gibt, die nur Zachs spezielle Fähigkeiten aufhalten können …
ERICA SPINDLER
THE
DAS
FINAL
SPIEL
SEVEN
BEGINNT
Aus dem Amerikanischen vonKerstin Fricke
Für all die Engel in meinem Leben
New Orleans, Louisiana
Samstag, 6. Juli 2013
02:43 Uhr
Angel Gomez hastete über den Campus der Tulane University. Wieso hatte sie sich nur von Fran überreden lassen? Eine wilde Party, die man auf keinen Fall verpassen sollte, hatte ihre Freundin ihr versprochen.
Doch stattdessen war Fran mit einem komischen Kerl abgezogen und hatte Angel mit einem Haufen betrunkener Studentenverbindungstypen zurückgelassen, die ihr auf die Nerven gegangen waren und sie zu Tode gelangweilt hatten.
Dann hatte sie auf einmal Schmerzen in der linken Seite bekommen. Es war kein Seitenstechen, eher ein Brennen – direkt über ihrem neuesten Tattoo. Sie war ins Badezimmer gegangen und hatte es sich im Spiegel angesehen.
Aber da war nichts. Keinerlei Hinweis darauf, dass damit irgendwas nicht stimmte.
Warum versuchte sie überhaupt, dazuzugehören? Das hatte noch nie geklappt und würde es auch nie. Sogar die Nonnen hatten ihr das gesagt. Sie war einfach viel zu seltsam.
Ihre Seite brannte noch immer, und sie legte eine Hand auf die Stelle. Da Fran sie einfach sitzen gelassen hatte, hatte sie jetzt auch keine Mitfahrgelegenheit mehr nach Hause. Angel blieb kurz stehen, um sich zu orientieren.
Sie könnte auf der St. Charles Avenue an der Haltestelle Broadway die Straßenbahn nehmen und damit bis in die Innenstadt fahren. Von dort aus war es nicht mehr weit nach Hause.
Daher ging sie vom Campus der Tulane University zum angrenzenden Newcomb College. Alles sah verlassen und dunkel aus, nur das schwache Licht der Straßenlaternen erhellte ihren Weg.
Aber sie war nicht allein.
Ihre Nackenhärchen richteten sich auf. Sie sah rasch über die Schulter und ließ den Blick über ihre Umgebung, die Baumreihe und die Büsche davor schweifen. Doch da war nichts, nur die dunkle Silhouette der Statue in der Mitte der Grünfläche, die im Licht des Strahlers einen langen, seltsam geformten Schatten warf.
Das ist ja wie in einem billigen Horrorfilm, dachte sie bei diesem Anblick und rechnete schon beinahe damit, dass sich der Schatten erheben und lebendig werden würde.
Reiß dich zusammen, Angel, ermahnte sie sich. Wahrscheinlich waren ihr ein paar von den Verbindungstypen gefolgt und wollten ihr einen Schreck einjagen.
Kindische Arschlöcher.
Sie ging trotzdem schneller auf den Rand des Platzes und die daran angrenzenden Gebäude zu. Eine plötzlich aufkommende Brise ließ die Baumwipfel rauschen. Angel schauderte und bekam eine Gänsehaut an den Armen. Ein eiskalter Wind mitten im Juli? Das war doch nicht möglich. Und dennoch stand sie da und fror erbärmlich.
Werde ich etwa krank? Mit einer Hand befühlte sie ihre Stirn. Zuerst dieser Schmerz und jetzt das Frösteln. Bekam sie vielleicht die Grippe? Angel wollte es nicht hoffen. Sie hatte weder die Zeit noch das Geld für …
Da erhaschte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie blieb stehen und drehte sich um. »Wer ist da?«, rief sie. »Das ist nicht witzig, sondern nur albern.«
Außer dem Rascheln der Blätter war nichts zu hören. Die Äste über ihr knarrten. Das Brennen in ihrer Seite wurde schlimmer.
Wimmernd schaute sie erneut zurück zu der Statue – zu ihrem Schatten.
Er wirkte länger. Dunkler. Schien sich in ihre Richtung auszudehnen, nach ihr zu greifen …
Sie musste sich eingestehen, dass sie sich gar nicht gut fühlte. Ihr war ein wenig schwindlig, und ihre Haut kribbelte, als wäre sie in eine Blase aus statischer Elektrizität hineingezogen worden. Mit Ausnahme ihres Tattoos. Des Symbols, von dem immer wieder Teile in ihren Träumen aufgetaucht waren: ein Herz, das von innen heraus von Feuer verzehrt wurde, umgeben von sieben Sternbildern. Sie hatte es sich auf die linke Seite tätowieren lassen. Neben die anderen.
Angel blinzelte und versuchte, wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Das war nicht die Grippe. Man hatte sie unter Drogen gesetzt. Auf der Party musste ihr irgendjemand was in die Cola getan haben. Die Studenten hatten sich darüber amüsiert, dass sie keinen Alkohol trinken wollte. Aber sie hatte ihr Glas nicht aus den Augen gelassen, oder? Hatte sie es mal abgestellt?
Dann fiel ihr wieder ein, dass sie ja ins Bad gegangen war, um sich ihr Tattoo anzusehen.
Wieder eine Bewegung am Rand ihres Sichtfelds. Etwas regte sich. Begleitet von einem Geräusch.
Lauf!
Sie reagierte auf die Stimme in ihrem Kopf und rannte im Zickzack mit heftig pochendem Herzen los. Eine schwarze Wolke bewegte sich über ihr am Himmel. Ein Vogel, glaubte sie zuerst. Ein Urzeitvogel mit riesigen Flügeln, die ein knarzendes Geräusch erzeugten, das wie steifes neues Leder klang.
In welche Richtung sie auch lief, er folgte ihr. Wie ein Raubvogel schwebte er über ihr in der Luft.
Da lang! Nach rechts.
Sie drehte sich abrupt um und stolperte über ein Blumenbeet. Vor ihr lag der Parkplatz, dessen Beleuchtung sie zu rufen schien.
Vor Erleichterung schluchzend rannte sie darauf zu. Als sie das tröstende Licht beinahe erreicht hatte, ging es schlagartig aus.
»Nein!«, schrie sie. »Hilfe! Irgendjemand muss mir helfen! Bitte!«
Am anderen Ende des Parkplatzes wurde eine Autotür aufgerissen, und das Licht der Innenbeleuchtung erhellte die Finsternis. Ein Mann stieg aus. »Hierher«, rief er und winkte sie zu sich.
Angel rannte auf ihn zu. Als sie unter der Straßenlaterne hindurchlief, flackerte diese und ging wieder an. Sie erkannte, dass der Mann noch jung war, etwa Mitte zwanzig, und blond.
Vor Erleichterung bekam sie weiche Knie. »Jemand verfolgt mich!«, rief sie, als sie ihn fast erreicht hatte.
»Wo ist er?«
»Irgendwo bei den Bäumen«, antwortete sie. »Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich hab ihn gehört!«
Der Mann holte eine Taschenlampe aus seinem Wagen, richtete den Lichtstrahl erst auf die Bäume und ließ ihn dann über den Platz schweifen.
»Ich sehe niemanden. Warten Sie hier, ich werde …«
»Nein!« Sie packte seinen Arm und war jetzt um sie beide besorgt. »Bitte nicht. Ich möchte einfach nur noch hier weg, nach Hause!«
»Okay.« Er ging um den Wagen herum und öffnete ihr die Beifahrertür. »Steigen Sie ein.«
Angel tat es. Einen Augenblick später saß er bereits hinter dem Lenkrad. Erst in diesem Moment fragte sie sich, ob sie gerade einen furchtbaren Fehler machte.
Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper. »Bringen Sie mich einfach zur Straßenbahnhaltestelle am Broadway. Von dort komme ich dann schon heim.«
Er sah sie an, und sie stellte fest, dass er sehr seltsame Augen hatte. So strahlend und unwiderstehlich, wie sie es noch nie zuvor erlebt hatte.
»Ich werde Sie nach Hause fahren.«
»Das ist wirklich nicht nötig. Ich kann die Straßenbahn nehmen.«
»Es ist gleich drei Uhr. Ich fahre Sie.«
Er legte den Rückwärtsgang ein und setzte aus der Parklücke. Angel bemerkte, dass die Straßenlaterne wieder ausgegangen war.
Sie verschränkte die Hände im Schoß. »Vermutlich hab ich mir das alles nur eingebildet. So was passiert mir häufiger. Meine Freundin hat mich wegen eines Kerls sitzen lassen, und ich …«
Er hielt an und richtete erneut seinen strahlenden Blick auf sie. »Ich bringe Sie nach Hause.«
Sich zu einem Fremden ins Auto zu setzen und ihm auch noch ihre Adresse zu geben, war vermutlich das Dümmste, was sie je getan hatte.
Aber etwas in seinen Augen schien sie tief in ihrem Innersten zu berühren.
Du kannst mir vertrauen.
Vertrau mir, Angel.
Sie hörte seine Stimme klar und deutlich in ihrem Kopf. Dieselbe Stimme, die ihr gesagt hatte, dass sie weglaufen musste und in welche Richtung sie rennen sollte.
Angel blinzelte. Das war doch völlig verrückt. Man hatte ihr etwas ins Glas getan und jetzt halluzinierte sie. Oder sie bekam Fieber.
Es wird alles gut, Angel. Bei mir bist du in Sicherheit.
Passiert das wirklich?, fragte sie sich.
Ja, Angel, es passiert wirklich.
Sie presste die Lippen aufeinander. Wer sind Sie?
Ich bin Eli. Einer deiner Brüder.
Montag, 8. Juli 2013
06:25 Uhr
Detective »Micki« Dee Dare hatte den Anruf erhalten, als sie gerade dabei war, unter die Dusche zu gehen. Ihr Vorgesetzter wollte sie so schnell wie möglich in seinem Büro in der Innenstadt sehen. Daher war sie gezwungen gewesen, sich mit dem zufriedenzugeben, was in ihrer verfluchten Familie als Katzenwäsche bezeichnet wurde, und hatte ihr wirres dunkelblondes Haar nur schnell zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Ihre Familie war ein einziger Witz. Mama, Grandma Roberta und Tante Jo – alle drei völlig verrückt. Nicht zurechnungsfähig. Einfach nur total durchgeknallt. Ihr Gehirn war von der Sonne geröstet und in süßem Tee und Schlehenlikör ertränkt worden.
Dann war da noch ihr riesiger Onkel Beau, der immer lautlos durch den Flur schlich und den man anhand des Geruchs nach billigen Zigarren und Kentucky Bourbon trotzdem schon von Weitem bemerkte. Bei dieser Kombination drehte sich ihr heute noch der Magen um.
Kein Wunder, dass sie selbst auch nicht ganz normal war.
»Entschuldige, Hank«, murmelte sie, als sie die Stimme ihres Freundes mit dem ausgeprägten Südstaatenakzent in ihrem Kopf hörte. »Du bist völlig normal, Süße. Wie wir alle bist du einfach nur noch nicht am Ziel angekommen.«
Hank, der ihr durch sein kaputtes Herz genommen worden war. Es war ihr schon immer wie grausame Ironie vorgekommen, dass sein großes, gütiges Herz, das ihn zum einzigen anständigen Menschen gemacht hatte, dem sie je begegnet war, ihn letzten Endes umgebracht hatte.
Micki lenkte ihren ’71er Nova 396 V auf den Parkplatz an der Broad Street, der für das NOPD reserviert war. Der Wagen hatte früher Hank gehört – eine heruntergekommene Karre, die er von einem Schrottplatz geholt hatte, um sie irgendwann wieder in ihrem früheren Glanz erstrahlen zu lassen.
Sie hatte diesen Traum für ihn erfüllt. Seltsamerweise hatte sie währenddessen auch ihr eigenes Leben wieder aufgebaut und dabei immer seine tiefe, ruhige Stimme im Kopf gehabt, die sie leitete und ermutigte. Nur seinetwegen war sie Polizistin geworden.
Der Nova war mehr als ein bloßes Transportmittel, er war ihr ganzer Stolz. Ihr Baby. Sie liebte diesen Wagen.
Micki parkte und stieg aus. Ihr Commander hatte irgendwie komisch geklungen. Als wäre etwas gewaltig im Argen. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht in einen PID-Hinterhalt lief. Die Public Integrity Division ging Vorwürfen gegen NOPD-Mitarbeiter nach, und obwohl Micki nichts zu verbergen hatte, wusste sie doch, dass immer die Möglichkeit bestand, zu Unrecht beschuldigt zu werden.
Im Revier fuhr sie mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock. Major Nichols hatte gesagt, er würde in Captain Patti O’Shays Büro auf sie warten. Als sie dort ankam, schickte die Sekretärin sie jedoch zum Besprechungszimmer am Ende des Flurs, was Micki mehr als nur ein bisschen nervös machte.
Sobald sie den Raum betreten hatte, wusste sie mit Sicherheit, dass irgendetwas nicht stimmte. Es waren viel zu viele Anzugträger da. Einige bedachten sie mit merkwürdigen – sehr merkwürdigen – Blicken.
Sie entdeckte ihren Vorgesetzten sofort. »Major Nichols, entschuldigen Sie, dass ich nicht schneller herkommen konnte.«
»Eigentlich kommen Sie genau zur rechten Zeit. Captain O’Shay kennen Sie ja bereits, oder?«
»Natürlich.« Sie nickte der Frau zu. »Captain.«
Nichols stellte ihr die anderen Anwesenden vor: Krohn, den Deputy Chief, Richards, der für die Beziehungen zur Gemeinde zuständig war, und Roberts, Special Agent und Leiter des FBI-Büros in New Orleans.
Der Agent nickte. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Detective.«
Okay, keiner vom PID. Aber das FBI? Was zum Teufel ist hier eigentlich los?
Sie bekam ein ungutes Gefühl in der Magengegend. »Mich auch, Agent Roberts.«
Nichols deutete auf den Stuhl, der seinem gegenüberstand, sah ihr jedoch nicht in die Augen. »Setzen Sie sich, Micki. Chief Howard müsste auch gleich kommen.«
Sie nahm Platz. Keiner sagte etwas. Eine seltsame Energie knisterte in der Luft, und hin und wieder bemerkte sie, dass einer der anderen sie nachdenklich musterte.
Was in aller Welt wird hier gleich passieren?
Chief Howard kam in den Raum gestürmt – geschniegelt, selbstsicher und seltsam überschwänglich. »Wo ist Detective Dare?«
»Chief Howard«, begrüßte sie ihn und erhob sich.
Er strahlte sie an. »Da sind Sie ja. Perfekt.« Dann kam er mit ausgestreckter Hand auf sie zu. »Das ist ein großer Tag für Sie. Wir sind begeistert. Wirklich entzückt.«
Sie schüttelte ihm die Hand. »Danke, Chief.«
Anstelle des kurzen Händeschüttelns, das sie erwartet hatte, drückte er ihre Hand und umfasste sie dann mit beiden Händen. Dabei sah er ihr direkt in die Augen. »Sie sollten wissen, dass wir Großes von Ihnen erwarten.«
»Okay, Chief. Ich wüsste nur gern, worum es überhaupt geht.«
Er lachte laut, ließ ihre Hand los und machte eine ausschweifende Geste. »Bitte setzen Sie sich doch alle.«
Wie erwartet, nahm Chief Howard am Kopfende des Tisches Platz. Er sah Micki direkt an. »Major Nichols hat erst vor wenigen Stunden von diesem Einsatz erfahren, aber wir wussten schon seit einigen Wochen, dass er möglicherweise bevorsteht. Unser Job verändert sich, Detective Dare. Und Sie werden ein Teil dieser Veränderung sein.«
Er machte eine kurze Pause, als würde er auf eine Reaktion warten, und so sagte sie das, was er vermutlich hören wollte. »Ich bin dankbar für diese Gelegenheit, Chief, und werde Sie nicht enttäuschen.«
Als er sich vorbeugte, konnte man ihm seine Begeisterung deutlich ansehen. »Es geht um Folgendes, Detective: Die Regierung hat die Existenz eines sechsten Sinns offiziell anerkannt. In Zusammenarbeit mit dem FBI wurde daher ein experimentelles Programm ins Leben gerufen, das ›Sixers‹ genannt wird. Im Wesentlichen beinhaltet es …«
»Entschuldigen Sie, Chief, haben Sie gerade sechster Sinn gesagt? Als könnte ich Ihre Gedanken lesen oder Dinge nur durch meine Geisteskräfte bewegen?«
»Ja, Detective, genau davon spreche ich.«
Sie hatte erwartet, dass er lachen würde. Dass alle in sein Gelächter einfallen würden. Nur, um Gewissheit zu haben, war sie bereit gewesen, sich zum Gespött zu machen.
Aber mit dieser Reaktion hatte sie nicht gerechnet und gab sich die allergrößte Mühe, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen.
»Wie ich bereits sagte«, fuhr er fort, »hat das FBI ein Team aus Sixers zusammengestellt, ihre …«
Chief Howard stockte, als wäre er unsicher, wie er ihre Qualifikation bezeichnen sollte. Als Gaben? Talente? Superkräfte?
»… Fähigkeiten«, fuhr er schließlich nach kurzem Überlegen fort, »ausgewertet und sie an einer speziellen Polizeiakademie ausgebildet. Die ersten Rekruten haben nun ihren Abschluss gemacht …«
»Heute ist nicht mein Geburtstag«, fiel sie ihm ins Wort. Ihr Blick wanderte zu ihrem Commander. »Das wissen Sie doch alle, oder?«
»Wie bitte, Detective?«
»Ich weiß wirklich nicht, wer Sie dazu angestiftet hat oder wie man es geschafft hat, Sie da mit reinzuziehen, Chief Howard, aber …«
»Das hier ist kein Witz.«
Er sah sie todernst an – ebenso wie alle anderen –, aber das konnte doch unmöglich wahr sein. Anerkannter sechster Sinn? Spezielle Polizeiakademie? Sie wurde hier gewaltig auf den Arm genommen.
»Das ist eine dieser Fernsehshows, richtig? So hat man Sie dazu gekriegt. Bestimmt folgt dann eine dicke Spende an das Department. Ich mache das Ganze ja nur ungern zunichte, aber ich spiele da nicht länger mit.«
Sie stand auf, drehte sich langsam im Kreis und hielt Ausschau nach den Videokameras. »Sie können jetzt aufhören zu drehen und rauskommen. Verarschen Sie einfach den Nächsten, den Sie hier reinrufen.«
Eigentlich hatte sie damit gerechnet, einen grinsenden Showmaster zu sehen, der auf magische Weise aus seinem Versteck auftauchte. Vielleicht sogar mit der entsprechenden Musik und Konfettiregen.
Zumindest mit irgendetwas anderem als dieser unglaublichen, fast schon lähmend peinlichen Betretenheit.
Major Nichols brach schließlich das Schweigen. »Sie sollten sich lieber wieder hinsetzen, Micki. Das hier ist kein Scherz.«
Wie benommen ließ sie sich wieder auf ihren Stuhl sinken. »Entschuldigen Sie bitte, Chief«, sagte sie. »Aber ganz ehrlich, Sie alle machen mich gerade völlig verrückt.«
Er kicherte. »Ich habe ähnlich reagiert. Es hat sogar noch etwas länger gedauert, bis sie mich davon überzeugt hatten, dass meine Frau nicht hinter der ganzen Sache steckt.« Bei diesen Worten beugte er sich vor und faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte. »Das klingt alles sehr weit hergeholt, aber es passiert wirklich. Die ersten Rekruten haben graduiert. Ein volles Dutzend.«
Als wollte er einen dramatischen Effekt erzielen, hielt er kurz inne. Micki hätte ihn am liebsten gedrängt weiterzusprechen, aber sie vermutete, dass er das nicht wohlwollend aufnehmen würde.
»Das NOPD wurde als eines der Reviere ausgewählt, denen einer dieser Rekruten zugeteilt wird. Er kommt in den achten Distrikt. Herzlichen Glückwunsch, Detective Dare, Sie haben einen neuen Partner.«
Micki starrte ihn an. Das meint er doch nicht ernst … Damit will er doch nicht etwa sagen …
»Sie werden ihn sehr bald kennenlernen. Sein Name ist Detective Zach Harris.«
Dann sickerten seine Worte richtig zu ihr durch, und sie sprang auf. »Bei allem nötigen Respekt, Chief: Auf gar keinen Fall! Nein!«
»Es ist längst beschlossene Sache, Detective.«
Sie sah den Major hilfesuchend an, merkte jedoch sofort, dass er ihr nicht beistehen würde. In dieser Sache war sie auf sich allein gestellt. »Ich muss Sie, erneut mit allem nötigen Respekt, darum bitten, sich jemand anderen dafür zu suchen, Chief Howard.«
»Die Wahl ist auf Sie gefallen, Detective Dare. Das war nicht meine Entscheidung. Daher schlage ich vor, dass Sie es als Ehre ansehen. Ich tue es jedenfalls.«
»Als Ehre«, wiederholte sie. »Mir ist völlig schleierhaft, wie …«
»Sie haben hier die Gelegenheit, Geschichte zu schreiben«, fiel Howard ihr ins Wort. »Ebenso wie wir alle. Gefährden Sie das nicht.«
»Sixers werden mit zähen, erfahrenen Cops zusammengespannt«, schaltete sich Nichols ein. »Sie sind unter anderem dafür zuständig, Ihren Sixer zu beschützen. Die Regierung hat zu viel Zeit und Geld in seine Ausbildung investiert, um ihn von irgendeinem Straßengangster oder Gangmitglied umbringen zu lassen.«
Ihr lagen diverse Erwiderungen auf der Zunge, in denen unter anderem die Worte »besserer Babysitter« vorkamen, aber Major Nichols’ Miene gab ihr zu verstehen, dass sie die lieber für sich behalten sollte.
»Was für ein Polizist ist dieser Mann überhaupt?«, wollte sie stattdessen wissen. »Was steht in seiner Dienstakte?«
»Er hat keine Dienstakte, Detective.«
»Das verstehe ich nicht. Wenn er den Rang eines …«
Doch dann dämmerte es ihr. »Er hat nach seinem Abschluss an dieser Hokuspokus-Akademie direkt den Rang eines Detectives erhalten, richtig? Wollen Sie mir das damit sagen?«
Sie konnte anhand der Reaktionen erkennen, dass sie richtig geraten hatte. Das machte sie wütend. Stinksauer sogar. Wie jeder andere vereidigte Officer hier im Raum hatte sie hart für ihren Rang gearbeitet und jeden verdammten Tag ihr Leben im Dienst aufs Spiel gesetzt.
»Das darf doch nicht wahr sein! Weiß er wenigstens, wie man eine Waffe abfeuert?«
Chief Howard ignorierte ihre Frage. »Das Sixers-Programm ist streng geheim. Niemand außer den Personen, die direkt damit zu tun haben, darf etwas darüber wissen. Außerhalb dieses Raumes ist Detective Harris genau wie jeder andere Polizist zu behandeln.«
Es dauerte einige Sekunden, bis das zu ihr durchgedrungen war und sie den Kopf schüttelte. »Und wie soll ich sein Auftauchen erklären?«
»Das müssen Sie nicht, Detective. Ihr Partner wird befördert, und wir stellen Ihnen Harris zur Seite.«
»Damit ich das richtig verstehe: Carmine klettert die Karriereleiter hoch, aber statt ihn durch jemanden aus unserer Einheit zu ersetzen, holen Sie diesen Harris von außerhalb?«
»Korrekt.«
Wieder schüttelte sie den Kopf. »Da werden aber einige ziemlich angefressen sein. Aus dem Stegreif fallen mir bestimmt fünf oder sechs Kandidaten allein aus dem Achten ein, die es verdient hätten.«
»Das soll nicht Ihre Sorge sein.«
Das war es aber, weil sie Teil des Teams war. »Da die Wahrheit keine Option ist, wie lautet dann die offizielle Erklärung? Und die sollte lieber richtig gut sein, sonst rennt mein neuer Partner mit einem riesigen Fadenkreuz auf dem Rücken herum.«
»Da kann ich Ihnen weiterhelfen, Detective«, erwiderte Captain O’Shay. »Er hat Verbindungen zur Truppe.«
Micki sah zu Patti O’Shay hinüber, die selbst einiges innerhalb des NOPD erreicht und der nächsten Generation von Polizistinnen vieles erleichtert hatte, Micki eingeschlossen. Auch bei ihr hatte es viele gegeben, die von »Vetternwirtschaft« gesprochen und auf O’Shays familiäre Bindungen innerhalb der Polizei hingewiesen hatten, vor allem auf ihren Mann Sammy. Aber diese Leute waren Mickis Meinung nach nur neidisch, da sich Patti O’Shay ihren Rang redlich verdient hatte.
»Was für Verbindungen?«, hakte Micki nach.
»Mich.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Sammy hatte eine jüngere Schwester namens Erin. Sie ist mit siebzehn mit ihrem Freund durchgebrannt. Mit achtzehn bekam sie ein Baby, einen Jungen.«
»Zach Harris?«
»Das ist die offizielle Geschichte. Sie hat ihn zur Adoption freigegeben.« O’Shay reichte Micki einen Aktenordner. »Ohne es zu wissen, ist er der Familientradition gefolgt und Polizist geworden.«
»Das ist so weit ein nettes Szenario. Wie haben Sie ihn gefunden?«
»Er hat uns gefunden, als er auf der Suche nach seinen Wurzeln war.«
»Und seine Mutter?«
»Die konnte er bisher noch nicht ausfindig machen.«
Micki schlug die Akte auf. Die besten Lügen enthielten immer ein Fünkchen Wahrheit. Je elementarer diese Wahrheiten waren, desto glaubhafter waren die Lügen. Die Wahrheit: Sammy O’Shay war ebenso wie seine Frau Captain gewesen. Während des Hurrikans Katrina war er im Dienst ums Leben gekommen. Ebenfalls wahr: Er hatte einen Bruder namens Sean, der kurz darauf in Rente gegangen und mit seiner Frau nach Florida gezogen war.
Die Geschichte mit seiner Schwester stimmte anscheinend ebenfalls. »Sammy hatte tatsächlich eine Schwester namens Erin, die mit siebzehn von zu Hause weggelaufen ist«, sagte Micki.
Captain O’Shay nickte. »Sie war wild und steckte ständig in Schwierigkeiten. Als sie weglief, war sie schwanger – jedenfalls hat sie das behauptet.«
»Und Sammy hat nie versucht, sie zu finden?«
»Das haben sowohl er als auch Sean versucht, aber sie hatten keinen Erfolg.«
»Was wissen Sie wirklich über ihr Kind?«
»Nichts. Wir wissen nicht mal, ob es wirklich zur Welt gekommen ist.«
»Und die Adoptionsgeschichte ist Teil der Lügenstory?«
»Nicht ganz. Detective Harris wurde tatsächlich adoptiert. Er weiß über seine leibliche Mutter nur, dass sie jung war und aus dem Süden stammte.«
Micki ließ das kurz sacken. »Und Carmines Beförderung … Da haben Sie ein wenig nachgeholfen.«
»Ja.« Captain O’Shay hielt kurz inne. »Wenn überhaupt, dann bin ich hier diejenige mit dem Fadenkreuz auf dem Rücken.«
Aber Micki wusste, dass das auch für Harris gelten würde. Daran hatte sie nicht den geringsten Zweifel. Und je nachdem, wie sehr sie sich auf die Sache einließ, würde auch sie selbst zur Zielscheibe werden.
»Bei allem nötigen Respekt, Chief Howard, aber das geht in die Hose.«
Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Willkommen im Sixers-Programm, Detective Dare. Sie haben eine Stunde, um sich mit Ihrer neuen Rolle vertraut zu machen, danach geht die richtige Party los.«
»Die richtige Party?«
»Dann trifft Ihr Sixer ein.« Er stand auf. »Herzlichen Glückwunsch. Die Zukunft beginnt jetzt.«
Montag, 8. Juli
07:40 Uhr
Micki hielt Major Nichols auf dem Weg nach draußen auf. »Können wir kurz unter vier Augen reden?«
Sie konnte sich gut vorstellen, dass Frank Nichols zu seinen Glanzzeiten eine stattliche Figur abgegeben hatte. Er war einen Meter neunzig groß und hatte die Schultern eines Footballspielers. Obwohl sein Sixpack inzwischen einem Bierbauch gewichen war, flößte er einem allein durch sein Auftreten Respekt ein.
Aber sie war so sauer, dass ihr das völlig egal war. Und wenn Micki Dee Dare wütend wurde, zogen kluge Menschen lieber den Kopf ein.
»Das ist doch völliger Blödsinn!«, brach es aus ihr heraus, sobald die Tür ins Schloss gefallen war. »Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde da mitspielen?«
»Sie sollten sich wieder beruhigen, Detective Dare, und zwar sofort.«
Sie blieb noch einen Moment vor ihm stehen, machte dann einen Schritt nach hinten, sah ihm jedoch weiterhin in die Augen. »Ich soll in meinem eigenen Department undercover arbeiten? Nein! Das werde ich auf gar keinen Fall tun.«
»Sie haben Ihre Befehle, Detective.«
Sein leicht amüsierter Tonfall machte sie nur noch wütender. »Ich bin nicht die Einzige, die hier verarscht wird. Wir reden hier über das Achte, meine Familie.«
»Ich bin auf Ihrer Seite, Micki, aber mir sind die Hände gebunden. Diese Sache ist größer als Sie, ich oder auch das Revier. Diese Leute wollen Sie, und daher werden sie Sie auch kriegen.«
»Verdammt! Warum ich?«
»Das kann ich Ihnen leider nicht so genau sagen. Soweit ich weiß, haben sie sich die Dienstakten aller Detectives aus dem Achten angesehen.«
»Was hab ich für Optionen?«
»Ich denke, das wissen Sie bereits.«
Spiel mit oder ertrag die Konsequenzen. Degradierung. Dann darfst du wieder Streifendienst schieben. Micki stand einen Augenblick da, machte sich das alles bewusst und bebte vor Entrüstung und Wut. Sie war sauer auf die Arroganz des FBIs, Chief Howards Verrat und ihre eigene Hilflosigkeit.
Nichts davon war leicht zu ertragen, und einen Sekundenbruchteil überlegte sie schon, ob sie kündigen sollte – sie konnte Nichols einfach ihre Waffe und ihre Dienstmarke in die Hand drücken und allen auf dem Weg nach draußen den Stinkefinger zeigen.
Aber was sollte sie dann machen? Das hier war alles, was sie tun und sein wollte.
»Was ist mit Carmine?«, wollte sie wissen.
»Machen Sie sich um Detective Angelo keine Sorgen. Er wird der Abteilung für ungeklärte Fälle zugeteilt. Damit hat er endlich seinen Traumjob.«
»Na, das ist ja ganz wunderbar.« Sie lockerte die Schultern. »Was hab ich doch für ein Glück, dass man mich auserkoren hat.«
»So ist es nun mal.«
»Ich begreife immer noch nicht, warum sie mich dafür haben wollen. Das ergibt doch keinen Sinn.«
Er senkte die Stimme. »Ich denke, die weitaus wichtigere Frage lautet: Warum New Orleans?«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Wenn die Sixers scheitern, wird man uns die Schuld geben und nicht ihrer brillanten Idee. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Ein Großteil des Landes macht immer noch das NOPD für die Zustände nach Katrina verantwortlich. Denken Sie nur an die ›Danziger Five‹, die fünf Officers, die in die Schießerei auf der Danziger Bridge verwickelt waren. An das Chaos vor dem Convention Center und die wilden Gerüchte aus dem Inneren des Superdomes. Für viele Menschen ist New Orleans eine versoffene, dreckige, unmoralische Stadt mit einer der höchsten Kriminalitätsraten des Landes. Ein Ort, der für Touristen reizvoll ist, an dem aber niemand wirklich leben möchte.«
Sie nickte verständnisvoll. »Der Rest des Landes rechnet so oder so damit, dass wir scheitern.«
»Genau das denke ich auch. Das FBI versucht zu tun, was nötig ist, hat jedoch nur geringe Erwartungen.«
Das machte sie erst recht zornig. New Orleans mochte nicht ideal sein, aber diese Stadt war ihre Heimat, und das NOPD lag ihr zwar nicht im Blut, war jedoch die einzige Familie, die sie hatte.
»Dann bin ich also eher so was wie ein Opferlamm«, stellte sie fest.
»Nicht unbedingt. Gut, man würde nicht zögern, Sie den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen, aber sie wollen wirklich, dass diese Sache funktioniert. Und sie haben, aus welchen Gründen auch immer, beschlossen, dass sie mit Ihnen die besten Erfolgsaussichten haben.«
Micki stieß zischend die Luft aus. Na gut. Sie würde ihr Bestes tun, um dafür zu sorgen, dass diese ganze verdammte Sixers-Sache richtig gut wegkam.
Als sie bemerkte, dass er sich ein Grinsen verkneifen musste, runzelte sie die Stirn. »Sie wussten, dass ich so reagieren würde.«
»Ja. Und da diese Leute Ihre Akte gelesen haben, sind sie vermutlich auch davon ausgegangen.«
Wie sie es hasste, derart vorhersehbar zu sein, und diese Hilflosigkeit konnte sie ebenso wenig ausstehen. »Nur, damit das klar ist: Ich bin nicht glücklich.«
»Zur Kenntnis genommen.«
Ihr Handy, das an ihrem Gürtel hing, vibrierte, und sie sah die Nummer ihrer Freundin Jacqui auf dem Display. Micki nahm den Anruf an, doch noch bevor sie sich melden konnte, blieb Nichols stehen und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Es ist nicht alles schrecklich, Micki. Ich hab ein Foto Ihres neuen Partners gesehen. Er ist attraktiv. Sehr attraktiv sogar.«
»Na wunderbar«, murmelte sie. »Ein Schönling mit Superkräften. Gott steh mir bei.«
»Micki? Hörst du mich?«
Ach ja, der Anruf. Jacqui. »Entschuldige«, sagte sie und klang genauso frustriert, wie sie war.
»Passt es dir grade nicht?«
»Heute ist hier einiges passiert. Ist alles okay?«
»Alles bestens.«
Micki runzelte die Stirn. Vor vier Jahren hatte sie die siebzehnjährige hochschwangere Jacqui dabei erwischt, wie sie auf der Suche nach etwas Essbarem ins Haus ihrer Nachbarn eingebrochen war. Das Mädchen hatte sie an sich selbst in diesem Alter erinnert, als sie ebenfalls allein, hungrig und verzweifelt gewesen war.
Damals hatte Hank sie aufgefangen. Er war ihr Schutzengel gewesen.
In diesem Augenblick hatte sich Micki selbst überrascht. Anstatt den Teenager zu verhaften, hatte sie dem Mädchen etwas zu essen und letzten Endes einen Schlafplatz angeboten.
»Bist du dir sicher? Was ist mit Alexander? Er ist doch nicht …«, begann Micki.
»Zander geht es super. Wirklich.«
»Warum rufst du dann an?«
Jacqui stöhnte gequält auf. »Keine Ahnung. Um mal Hallo zu sagen? Um deine Stimme zu hören? Außerdem hab ich gedacht, ich würde dich noch auf dem Weg zur Arbeit erwischen, aber da komme ich wohl zu spät.«
Micki lachte, doch das klang eher verlegen als amüsiert. »Entschuldige. Hier ist wie gesagt eine Menge los. Ich muss jetzt auflegen, aber ich ruf dich ganz bestimmt zurück, sobald sich der Staub gelegt hat.«
Noch während sie das sagte, musste sie sich eingestehen, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was genau eigentlich passieren würde. Aber sie brauchte keinen Hellseher, um zu wissen, dass ihr Leben zumindest in nächster Zeit alles andere als ruhig verlaufen würde.
Montag, 8. Juli
08:05 Uhr
Zach Harris stand im fünfundzwanzigsten Stock am Fenster seinem Hotelzimmers. Unter ihm lag die Canal Street mit den Straßenbahnwaggons und den importierten Palmen, dahinter das wunderschöne, verfallende French Quarter. Der Mississippi schmiegte sich an den Südrand der Stadt und sorgte für deren namensgebenden halbmondförmigen Umriss, und von seinem hohen Aussichtspunkt konnte er einen Dampfer erkennen, der am Kai an der Toulouse Street angelegt hatte.
In New York herrschte Hektik und in Los Angeles Arroganz, aber Zach hatte bereits herausgefunden, dass in New Orleans alles wie ein Tanz wirkte.
Eine Liebesgeschichte hatte begonnen.
Er lächelte. Immer wieder gelang es ihm, andere Menschen zu verärgern, und indem er seine Reservierung geändert und zwei Tage früher angekommen war, als vom FBI vorgesehen, war ihm das wieder einmal gelungen. Parker, sein Sixers-Kontaktmann, war sehr wütend geworden, als ihm klar geworden war, was Zach getan hatte.
Doch das war sein Pech. Zach war nicht hier, um Parkers Agenda zu erfüllen, vielmehr wollte er sich um seine eigene kümmern.
Parker hatte ihn in einem Klub entdeckt. Sein Angebot war verlockend gewesen: Er sollte Teil einer Elitetruppe aus Verbrechensbekämpfern werden, wie man sie bisher nur aus Büchern und Filmen kannte. Gewissermaßen Superhelden. Die möglicherweise sogar berühmt wurden und sich entsprechende Vorteile verschaffen konnten.
Welcher Mann träumte nicht davon?
Außerdem würde er einfach weiterziehen, wenn es nicht funktionierte.
So, wie er es immer tat.
Aber aus dieser Sache würde er nicht so leicht wieder herauskommen. Das war ihm in dem Augenblick klar geworden, als er den Flughafen von New Orleans verlassen hatte und in die schwüle Nacht hinausgetreten war. Sofort war da dieses Brummen in seinem Kopf gewesen. Ein tiefes Vibrieren, als hätte man ein Radio genau zwischen zwei Sendern eingestellt. Je näher er der Innenstadt kam, desto lauter und beharrlicher wurde dieses Geräusch.
Die Stadt sprach zu ihm.
Er hatte so etwas schon früher erlebt, aber noch nie in diesem Ausmaß. Es verwirrte ihn und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er fühlte sich, als hätte er etwas getrunken, doch das Gefühl glich nicht etwa einer angenehmen Berauschtheit – zumindest nicht am Anfang –, sondern eher dem Zustand, wenn sich alles um einen herum drehte, man nicht mehr geradeaus gehen konnte und sich am liebsten übergeben wollte.
Anstatt zu versuchen, es zu unterdrücken, oder in den nächsten Flieger zu steigen und an die Westküste zurückzukehren, hatte er sich dem Ganzen gestellt.
Bekämpf das Feuer mit Feuer, Baby. Saug es einfach auf und biete ihm die Stirn.
Währenddessen hatte er sich auch gleich in diese Stadt verliebt. Sie war ein richtiggehend magischer Ort voller Schatten und Geflüster, Frohlocken und Verzweiflung.
Und mit lauter Menschen wie ihm. Sehr vielen sogar. Mehr, als er jemals zuvor gespürt hatte. Zach wandte sich vom Fenster ab. Wissen sie, was sie sind?, fragte er sich. Haben sie gelernt, wie sie ihre Gaben nutzen können? Oder haben sie sich entschieden, sie zu vergessen?
Parker ist da.
Direkt nachdem sich diese Erkenntnis eingestellt hatte, summte sein Handy und wies ihn auf eine eintreffende SMS hin.
Bin in der Lobby. Wir kommen zu spät.
Typisch Parker. Nur wenige Worte. Alles rein geschäftlich. Dieser Mann hatte etwas an sich, das Zach immer wieder reizte, seinen Verstand zu manipulieren. Da er sich aber ohnehin schon auf dünnem Eis befand, widerstand er diesem Drang – vorerst zumindest.
Zach schnappte sich seine Jacke und fuhr hinunter in die Lobby. Er stieß am Hoteleingang zu Parker, und sie gingen gemeinsam zu einem wartenden SUV. Der Agent, der hinter dem Lenkrad des glänzenden schwarzen Wagens saß, trug eine dunkle Sonnenbrille, die beinahe genauso aussah wie Parkers. Zach kicherte und stieg ein.
»Ist irgendwas witzig?«, fragte Parker.
»Dieser Wagen. Ihre Brille. Und seine.« Zach deutete auf den Fahrer. »Das ist alles so klischeehaft.«
Parker nahm die Sonnenbrille ab und bedachte Zach mit einem eiskalten Blick. »Ist das alles für Sie ein Spiel, Harris?«
Zach machte es sich auf dem Rücksitz bequem. »Das könnte man durchaus so sehen.«
»Ich sollte Sie nach dem, was Sie sich jetzt wieder geleistet haben, einfach rauswerfen.«
»Machen Sie das.«
Für einen Sekundenbruchteil glaubte Zach schon, Parker würde es tatsächlich tun. Stattdessen beugte sich dieser vor. »Sie sind ein elender Mistkerl und sollten eines nicht vergessen: Wir stellen hier die Regeln auf, nicht Sie. Wenn wir Ihnen sagen, dass Sie am Siebten um vierzehn Uhr in ein Flugzeug steigen sollen, dann steigen Sie gefälligst auch dann in den Flieger – nicht früher und nicht später.«
Zach wusste, dass er nachgeben sollte. Es wäre klüger, jetzt einfach klein beizugeben und mit dem Strom zu schwimmen. Aber diese Stimme in seinem Kopf konnte nicht mit der anderen mithalten, die ihn schon sein ganzes Leben lang anstachelte. »Lassen Sie mich auch etwas klarstellen, Parker: Sie besitzen mich nicht. Ebenso wenig wie mich dieses Programm besitzt. Und im Augenblick brauchen Sie mich mehr als ich Sie. Das könnte sich irgendwann ändern, aber vorerst sollten Sie mich lieber in Ruhe lassen.«
»Vergessen Sie nicht, dass man uns genau beobachtet und Berichte über uns anfertigt. Über Sie und über mich.« Parker hielt kurz inne. »Ich hab meinen Arsch für Sie riskiert.«
Da hatte er recht, und Zach nickte. »Okay. Da es Ihr Arsch ist, werde ich versuchen, etwas rücksichtsvoller zu sein.«
Er bekam kein Lächeln als Antwort und auch keine andere Reaktion auf sein Zugeständnis. Parker reichte ihm einen braunen Briefumschlag. »Alles, was Sie brauchen, ist hier drin.«
Zach holte den Inhalt heraus, ging die Papiere durch und verharrte beim Foto einer blonden Frau in Polizeiuniform. Sie hatte direkt in die Kamera gesehen, und ihr nach oben gerecktes Kinn ließ darauf schließen, dass sie entweder arrogant oder komplexbehaftet war, während ihr entschlossener Mund erkennen ließ, dass mit ihr nicht zu spaßen war. Er legte den Kopf schief. Wenn sie diese wunderschönen Lippen entspannte, würde sie ein bisschen so aussehen wie eine blonde Angelina Jolie.
Er tippte das Foto an und musterte Parker. »Ist das meine neue Partnerin?«
»Detective Michaela Dare. Sie wird Micki oder Mick genannt. Manchmal auch Double-D oder Mad Dog.«
»Mad Dog?«
»Sie hat ein ziemliches Temperament und scheut sich nicht, es von der Leine zu lassen.«
Zach lachte auf. »Eine attraktive Frau.«
»Sie soll Sie beschützen und dient nicht zu Ihrer Unterhaltung.«
»Sie sind wirklich ein Spielverderber.« Zach tippte erneut auf das Foto. »Warum sie?«
»Sie ist eine knallharte Polizistin. Einsatzbereit und loyal.« Parker machte eine vielsagende Pause. »Und sie musste es sich hart erkämpfen.«
»Es?«
»Alles.«
Das musste Zach erst einmal verdauen. Sein Leben war völlig anders verlaufen, denn er hatte alles auf einem Silbertablett serviert bekommen.
Alles bis auf eine Sache.
»Erzählen Sie mir mehr über sie«, verlangte er.
»Sie lässt sich nicht korrumpieren.«
»Jeder Mensch ist korrumpierbar.«
»Sie nicht.«
Erneut starrte Zach ihr Foto an. Diese offenen braunen Augen schienen Ehrlichkeit zu vermitteln. Und die Loyalität, die Parker erwähnt hatte.
»Warum?«
»Sie lebt für ihren Job. So gut wie kein Privatleben, keine Romanzen. Hat sich von ihren wenigen Verwandten entfremdet. Das NOPD ist jetzt ihre Familie. Wenn sie beschließt, dass Sie gut für die Familie sind, dann wird sie Sie mit ihrem Leben beschützen.«
»Sie würde sich für mich opfern.«
»Ganz genau.«
Das statische Rauschen in seinem Kopf wurde noch intensiver, und Zach klappte den Ordner zu. »Das klingt nicht gerade heroisch, was mich betrifft.«
»Überlassen Sie ihr die Heldentaten, und konzentrieren Sie sich lieber auf ihre eigenen Fähigkeiten.«
»Und was ist, wenn sie nicht denkt, ich wäre gut für die ›Familie‹?«
»Das wäre nicht in Ihrer beider Interesse.«
»Ist das eine Drohung?«
Der Hauch eines Lächelns umspielte Parkers Mundwinkel, was nur sehr selten passierte. »Ganz und gar nicht, Detective. Es entspricht schlicht und einfach den Tatsachen.«
Montag, 8. Juli
08:35 Uhr
»Attraktiv« traf es nicht mal ansatzweise, stellte Micki fest, als ihr neuer Partner das Besprechungszimmer betrat. »Schönling« ebenso wenig.
Zach Harris war schlichtweg umwerfend. Braunes, leicht sonnengebleichtes Haar, das sich genau richtig wellte. Die blauesten Augen, die sie jemals gesehen hatte. Ein strahlendes Lächeln.
Er erinnerte sie an diesen Schauspieler – Bradley Cooper. Nein, eigentlich sah er noch besser aus, auch wenn sie selbst nicht genau wusste, wie das überhaupt möglich sein sollte.
Warum kann er nicht aussehen wie ein Troll?
Hinter ihm betrat ein Mann im Anzug den Raum. Er wirkte sehr routiniert und geschniegelt. Seine Haltung ließ vermuten, dass sein Rückgrat aus einem Stahlrohr bestand – oder dass er einen Stock im Arsch hatte.
FBI oder Militär, sie tippte auf Ersteres.
Während sie zusah, ging Harris direkt auf Captain O’Shay zu. »Tante Patti«, sagte er herzlich und umarmte sie. »Wie schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen.«
Micki schoss durch den Kopf, dass er ein unglaublich guter Schauspieler war. O’Shay schien ebenfalls überrascht zu sein. Wow!
Wenn er das die ganze Zeit durchhalten konnte und nicht von seiner Geschichte abwich, würde dieser Auftrag doch weitaus weniger chaotisch ablaufen, als sie befürchtete.
Harris drehte sich um und sah ihr direkt in die Augen. Sie bemerkte seine Belustigung und stellte sich etwas aufrechter hin. Sollte er doch sein albernes Sixers-Spiel spielen, aber sie würde da auf keinen Fall mitmachen.
Sie setzte ein selbstsicheres Lächeln auf und reichte ihm die Hand.
Er ergriff sie. Als er die Finger um ihre schloss, fühlte sich das irgendwie persönlich an, ebenso wie sein Blick, der dem ihren standhielt. Es war fast schon intim, aber nicht auf sexuelle Weise, sondern eher so, als würden sie einander wirklich kennen. Als lägen ihre Geheimnisse, ihre Vergangenheit, ihre Ängste und Träume offen ausgebreitet vor ihm.
Als könnte er in ihre Seele blicken.
Du liebe Güte. Jetzt reiß dich aber zusammen, Micki!
»Michaela«, sagte er leise. »Schön, dass wir uns endlich kennenlernen.«
Verärgert entzog sie ihm ihre Hand. »Wagen Sie es ja nicht, mich je wieder so zu nennen. Wenn Sie das vor den Kollegen tun, fliegt Ihre Tarnung auf, und wenn wir unter uns sind, werde ich Ihnen wehtun müssen.«
Er lachte auf. »Ich mag Sie, Detective Dare. Das wird ein Heidenspaß.«
»Was glauben Sie, was wir hier tun, Sixer? Halten Sie das für ein Spiel?«
»Natürlich nicht. Das ist eine ernste, eine sehr ernste Angelegenheit.« In seinen Augenwinkeln bildeten sich feine Fältchen. »Ich stehe zu Ihren Diensten, Detective, und bin bereit, Ihnen dabei zu helfen, die bösen Jungs zu schnappen.«
»Da sind Sie falsch informiert, denn in dieser Beziehung benötige ich keine Hilfe.«
Erneut lächelte er sie entspannt an. Sie kam zu dem Schluss, dass es farbige Kontaktlinsen sein mussten. Anders war das nicht möglich. Wie oberflächlich und albern.
»Das scheinen einige Leute offenbar anders zu sehen.«
Er wusste, dass sie sauer war, und schien es auch noch zu genießen. Dieser Mistkerl manipulierte sie und brachte sie mit Absicht auf die Palme, damit er ihre Reaktion sehen konnte.
Ihr lag bereits eine wütende Erwiderung auf den Lippen, aber sie bekam nicht mehr die Gelegenheit, sie auszusprechen.
»Bitte setzen Sie sich«, forderte Chief Howard alle auf.
Sie gingen um den Tisch herum, und Harris rückte ihr einen Stuhl zurecht.
»Lassen Sie den Scheiß«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Haben Sie verstanden?«
»Was immer Sie sagen, Süße.« Er ließ sich auf den Stuhl sinken, sodass sie als Einzige noch stand.
»Detective?«
Verdammt. Sie nickte dem Chief zu und nahm auf dem nächstbesten Stuhl Platz, der auf der anderen Tischseite stand.
»Detective Harris, wir sind sehr froh, Sie bei uns begrüßen zu dürfen«, erklärte der Chief. »Agent Parker …«, fuhr er fort und drehte sich zu dem dunkelhaarigen Mann um, der Harris begleitete, »willkommen.«
Mickis Lippen zuckten. Und wie der Kerl einen Stock im Arsch hat.
»Ich werde mich kurz fassen. Wir wissen alle, welche Rolle wir zu spielen haben. Dieser Auftrag ist streng geheim, und sobald Informationen darüber an die Presse durchsickern, wird er sofort abgebrochen. Falls Sie die Tarnung auffliegen lassen, sind Sie sofort raus, Detective Dare.«
Das war ihre »Du kommst aus dem Gefängnis frei«-Karte.
Der Agent schaute sie an. Micki bemerkte, dass seine Augen ebenfalls eine beeindruckende Farbe hatten, allerdings waren sie, anders als bei Harris, grün. Standen denn all diese Kerle auf farbige Kontaktlinsen?
»Agent Parker, Sie sind dran.«
»Guten Morgen«, begrüßte sie der Agent, der Micki weiterhin in die Augen starrte. »Willkommen beim Sixers-Programm. Jeder von Ihnen ist ein sehr wichtiger Teil dieses Auftrags. Aber Sie sind der Dreh- und Angelpunkt, Detective Dare.«
Er machte eine kurze Pause, damit seine Worte maximale Wirkung zeigen konnten. Aber die Mühe hätte er sich sparen können. Sie saß in der Falle, und das wusste sie ganz genau.
»Das FBI hat sehr viel in dieses Programm investiert. Sie müssen Harris um jeden Preis schützen – und vor jedem. Der Erfolg dieses Projekts könnte die Zukunft der Verbrechensbekämpfung entscheidend beeinflussen.«
Sie hielt seinem Blick stand. »Sie sagten gerade ›vor jedem‹. Was genau meinen Sie damit?«
»Ich denke, das wissen Sie.«
»Raus damit, Agent Parker. Ich bin ein Mädchen aus den Südstaaten, glaube an Gott, Vaterland und dass man Karten immer oben vom Stapel nimmt.«
»Sie geben ihm unter allen Umständen Rückendeckung.«
»Wenn er Mist baut, krieg ich den Ärger?«
»Genau.«
»Oder fange mir für ihn eine Kugel ein?«
»Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.«
»Es kommt beinahe jeden Tag vor, Agent Parker. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?«
»Aber natürlich.«
»Was soll die ganze Geheimniskrämerei?«
»Auch auf diese Frage kennen Sie bereits die Antwort. Die Öffentlichkeit ist für so etwas schlichtweg noch nicht bereit. Die Aufmerksamkeit der Medien würde bewirken, dass unsere Agenten nicht vernünftig arbeiten und wir ihre Leistungen nicht einschätzen können.«
»Und«, fügte sie hinzu, »wenn das Programm scheitert, muss es niemand erfahren.«
»Schadensbegrenzung ist teuer und peinlich.«
»Aber warum bei der Polizei, Agent Parker? Warum setzen Sie die Sixers nicht innerhalb des FBI ein?«
Er blinzelte nicht einmal. Ihr fiel auf, dass er es die ganze Zeit über noch nicht getan hatte. »Wir hatten mehrere Jahre lang Sixers innerhalb der Agency. Aber jetzt wird es Zeit, dass sie auch auf die Straße kommen und ihre Effektivität im Kampf gegen alltägliche Verbrechen unter Beweis stellen.«
»Das klingt ja beinahe so, als wollten sie mich«, sie deutete auf die anderen am Tisch, »eigentlich uns alle arbeitslos machen.«
Sein Lachen klang glatt – viel zu glatt. Männer, die Süßholz raspeln, sind Schlangen, hatte Grandma Roberta immer gesagt. Wie die im Garten Eden, die Eva in Versuchung geführt hat.
Micki sollte das eigentlich wissen, da sie schon oft genug mit solchen Männern zu tun gehabt hatte.
»Ganz im Gegenteil, Detective. Harris ist hier, um Sie zu unterstützen.«
»Dann ist Harris also bei uns, damit er mithilfe seiner ›Superkräfte‹ Verdächtige finden kann, die wir dann mit handfesten Beweisen festnageln können.«
»Sie haben’s erfasst, Detective. So sieht die Verbrechensbekämpfung im einundzwanzigsten Jahrhundert und darüber hinaus aus.« Er sah sich am Tisch um und schaute ihr dann wieder in die Augen. »Jeder Sixer hat andere Stärken und Schwächen, und wir setzen sie dementsprechend ein.«
»Welche sind das beispielsweise?«
»Diese Information wird nur bei Bedarf weitergegeben. Sie werden jedoch schon bald in der Lage sein, ihn im Einsatz zu erleben.«
Sie drehte sich zu ihrem neuen Partner um. »Was denke ich gerade?«
»Detective Harris kann keine Gedanken lesen«, teilte ihr Parker leise mit. »Er nimmt Ereignisse wahr – vergangene und zukünftige –, kann die Echos von Taten und Gefühlen auffangen und bruchstückhafte Gedanken aus der Gegenwart und Vergangenheit aufschnappen.«
»Manchmal auch Bilder«, warf Zach ein. »Meist gleichen sie verblichenen Schnappschüssen, gelegentlich sind sie aber auch gut zu erkennen. Das ist leider unberechenbar.«
»Unberechenbar«, wiederholte sie. »Na, jetzt kann ich doch gleich viel besser schlafen.«
Agent Parker zog eine Augenbraue hoch. »Sie haben einen gefährlichen, unberechenbaren Beruf, Detective Dare. Was genau lässt Sie nachts besser schlafen?«
Parker verschränkte die Hände, die er auf den Tisch gelegt hatte. Etwas an dieser Geste spiegelte für sie Belustigung und Arroganz wider, und das ärgerte sie.
Sie nahm ihre Waffe aus dem Holster und legte sie auf den Tisch. »Glock, Kaliber vierzig, halb automatisch. Ein volles Magazin, eine Kugel in der Kammer. Und ein Partner, dem ich vertrauen kann. Einen, neben dem ich bereits gearbeitet habe, auf den ich mich verlassen kann und der dieselbe Ausbildung wie ich hinter sich hat. Einen, bei dem ich weiß, dass er mir ohne Wenn und Aber Rückendeckung gibt.«
Major Nichols räusperte sich – was für sie eher so klang, als wollte er ein Kichern überspielen –, aber Chief Howard sah alles andere als erfreut aus. »Das reicht jetzt, Detective Dare.«
»Eigentlich weiß ich ihre Ehrlichkeit zu schätzen«, schaltete sich Harris ein. »Und ich kann es ihr nicht verdenken, dass sie wegen dieser Sache nicht gerade begeistert ist. Sie kennt mich nicht und weiß nicht, wozu ich in der Lage bin.« Er wirbelte zu ihr herum. »Daher werde ich auch ehrlich zu ihr sein.« Harris streckte eine Hand aus. »Geben Sie mir Ihre Hand, Detective Dare.«
Sie zögerte kurz, legte ihre Hand dann aber in seine. Er schloss die Finger um ihre. Sofort war ein leichtes Kribbeln zu spüren, als bestünde da eine Verbindung zwischen ihnen.
Seine Miene blieb unverändert. »Sie sind wegen dieser ganzen Sache stinksauer. Sie halten dieses Programm für völligen Blödsinn und sind wütend, weil man Sie dafür ausgewählt hat …«
Sie fiel ihm herablassend ins Wort. »Das hab ich ja wohl mehr als eindeutig zu verstehen gegeben.«
»… auch wenn ich verdammt attraktiv bin.« Er zog die Mundwinkel hoch. »Sie wünschen sich, ich würde wie ein Troll aussehen.«
»Das ist doch absurd!«
Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, aber er hielt sie fest. »Und ich würde Ihnen raten, die ›Du kommst aus dem Gefängnis frei‹-Karte lieber nicht auszuspielen.« Er senkte die Stimme. »Das würde nicht gut für Sie enden. Diese Leute spielen keine Spielchen.«
Erst dann ließ er ihre Hand los. Für einen Sekundenbruchteil fühlte sie sich ganz schwach, als hätte ihr dieser Kontakt die gesamte Energie geraubt.
Im Raum herrschte Totenstille. Sie spürte, dass alle sie anstarrten. Falls sie jedoch glaubten, sie würde jetzt beeindruckt oder überwältigt reagieren, dann hatten sie sich gewaltig getäuscht. »Mehr haben Sie nicht drauf?«
Harris lachte. »Ich mag Sie, Mick. Wir werden gut miteinander auskommen.«
Chief Howard stand auf. »Detective Dare, gehen Sie ins Achte. Dort können Sie sich von Detective Angelo verabschieden, und danach werden Sie und Detective Harris sich offiziell kennenlernen.«
»Und was sage ich, wenn man mich fragt, was ich über ihn weiß?«
»Bleiben Sie dicht an der Wahrheit: Sie wissen so gut wie nichts. Er kommt von außerhalb und hat familiäre Verbindungen innerhalb der Truppe. Machen Sie einfach, was er tut. Alles klar?«
Sie sollte machen, was er tat? Auf gar keinen Fall! Doch das konnte sie nicht sagen, daher nickte sie. »Ja, Sir. Glasklar.«
Nachdem alle den Raum verlassen hatten, hielt Harris sie im Flur noch einmal auf.
»Nur, damit Sie’s wissen, Mick: Ja, das bin ich.«
Sie starrte ihn genervt an und zog die Augenbrauen zusammen. »Sie sind was?«
»Gut im Bett.«
Er wandte sich ab, aber jetzt war sie es, die ihn festhielt. »Falls das ein weiterer Ihrer lächerlichen Versuche war, meine Gedanken zu lesen, dann liegen Sie meilenweit daneben. Über dieses Thema hab ich definitiv nicht nachgedacht.«
»Ich weiß.« Er grinste sie an, was sehr sexy aussah. »Aber Sie werden es tun.«
Montag, 8. Juli
09:30 Uhr
Sobald Zach Dares Hand hielt, wusste er, warum Parker und das FBI sie als seine Partnerin ausgewählt hatten – zumindest teilweise. Es war ganz einfach: Sie würde ihn nicht reinlassen. Nicht problemlos jedenfalls. Bei einigen Menschen war es ganz einfach, er schlüpfte rein, sah sich kurz um und kannte sie in- und auswendig; er wusste von ihren Hoffnungen und Ängsten, ihren Träumen und Enttäuschungen. Aber bei Michaela Dare war das anders. Sie hatte hohe Schutzwälle um sich herum errichtet und vor allem ihre Schwachstellen gut gesichert.
Und sie würde ihm diesen Mist nicht abkaufen und damit auch dafür sorgen können, dass er am Leben blieb.
Denn er selbst war sein schlimmster Feind. Das war schon von dem Augenblick an so gewesen, als er begriffen hatte, dass er anders war als andere Menschen, und gelernt hatte, seine besonderen Fähigkeiten einzusetzen. Schritt eins: die Geheimnisse anderer Menschen ergründen. Schritt zwei: sie ausnutzen. Nicht, um ihnen wehzutun oder sie zu zerstören, sondern um sie zu manipulieren, um selbst davon zu profitieren.
Er konnte einfach nicht anders. Warum sollte er sich mit etwas herumschlagen, das sich durch eine Abkürzung leicht umgehen ließ? So etwas ergab für ihn einfach keinen Sinn.