Die Anstalt - John Katzenbach - E-Book
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John Katzenbach

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Beschreibung

Das Böse. Das Grauen. Die Klinik. Vor zwanzig Jahren, als junger Mann, ist Francis Petrel gegen seinen Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Mehrere Jahre hat er dort zugebracht – bis Die Anstalt nach einer Mordserie geschlossen wurde. Noch immer hört Francis Stimmen, nimmt Medikamente. Die Erinnerung an die traumatischen Geschehnisse von damals ängstigt ihn, und er beginnt aufzuschreiben, was er erlebt hat – mit Bleistift, auf den Wänden seiner Wohnung. Wer war der mysteriöse »Engel des Todes«, der damals sein Unwesen trieb? Gibt es ihn überhaupt? Oder existiert er nur in Francis' Schreckensphantasien?

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John Katzenbach

Die Anstalt

Psychothriller

Aus dem Amerikanischen von Anke Kreutzer

Knaur e-books

Über dieses Buch

Das Böse. Das Grauen. Die Klinik.

Vor zwanzig Jahren, als junger Mann, ist Francis Petrel gegen seinen Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden. Mehrere Jahre hat er dort zugebracht – bis die Anstalt nach einer Mordserie geschlossen wurde. Noch immer hört Francis Stimmen, nimmt Medikamente. Die Erinnerung an die traumatischen Geschehnisse von damals ängstigt ihn, und er beginnt aufzuschreiben, was er erlebt hat – mit Bleistift, auf den Wänden seiner Wohnung. Wer war der mysteriöse »Engel des Todes«, der damals sein Unwesen trieb? Gibt es ihn überhaupt? Oder existiert er nur in Francis’ Schreckensphantasien?

Inhaltsübersicht

WidmungTeil eins1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelTeil zwei10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. KapitelTeil drei36. Kapitel
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Für Ray,der mehr dabei geholfen hat,diese Geschichte zu erzählen,als er je wissen wird.

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Teil eins

Der unzuverlässige Erzähler

1

Ich kann meine Stimmen nicht mehr hören und weiß daher nicht so recht weiter. Irgendwie hege ich den Verdacht, dass sie diese Geschichte viel besser erzählen könnten als ich. Wenigstens hätten sie ihre eigenen Ansichten und Vorschläge zu der Frage, was am Anfang und was am Ende und was dazwischenstehen könnte. Sie würden mir sagen, wo ich Details einarbeiten oder überflüssige Informationen aussparen sollte, was unverzichtbar und was trivial für sie ist. Nach so langer Zeit fällt es mir nicht eben leicht, mich an diese Dinge zu erinnern, und ich könnte wahrhaftig ihre Hilfe gebrauchen. Es ist so viel passiert, dass es wirklich schwer für mich ist, immer genau zu wissen, was wohin gehört. Manchmal bin ich mir auch nicht sicher, ob die Dinge, an die ich mich deutlich erinnern kann, tatsächlich stattgefunden haben. Eine Erinnerung, die eben noch in Stein gemeißelt war, erscheint mir im nächsten Moment so nebulös wie die Dunstschleier über einem Fluss. Darin liegt eines der Hauptprobleme für einen Verrückten: Man kann sich einfach nie sicher sein.

Lange Zeit dachte ich, es hätte – wie zwischen zwei Buchstützen gewissermaßen – alles mit einem Tod begonnen und mit einem Tod geendet, doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht wurde das alles ja damals, vor so vielen Jahren, als ich jung und richtig verrückt war, von etwas viel Kleinerem und schwer Fassbarem ausgelöst, vielleicht einer heimlichen Eifersucht oder unterdrückten Wut, möglicherweise aber auch von etwas viel Größerem und Lauterem wie dem Stand der Sterne am Himmel, den Kräften der Gezeiten oder der unaufhaltsamen Drehung von Mutter Erde. Fest steht nur, dass ein paar Leute gestorben sind und dass ich einfach mehr Glück als Verstand hatte, nicht zu ihnen zu gehören, was zu den letzten Bemerkungen meiner Stimmen gehörte, bevor sie abrupt verstummten.

Anstelle ihres Raunens bekomme ich nun Medikamente, die sie zum Schweigen bringen. Einmal am Tag nehme ich brav ein psychotropes Mittel, eine ovale, eierschalenblaue Pille, von der ich einen derart trockenen Mund bekomme, dass ich wie ein keuchender alter Mann nach zu vielen Zigaretten klinge oder wie ein halb verdursteter Deserteur der Fremdenlegion, der gerade die Sahara durchquert hat und um einen Schluck Wasser fleht. Darauf folgt unverzüglich ein scheußlich bitter schmeckender Stimmungsheber, der die gelegentlichen niederträchtigen, selbstmörderischen Depressionen bekämpft, in die ich, wie mir meine Sozialarbeiterin ständig predigt, jederzeit verfallen kann, egal, wie ich mich gerade fühle. In Wahrheit könnte ich, glaube ich, in ihr Büro marschieren und vor lauter überschwänglicher Freude über den positiven Verlauf meines Lebens die Hacken zusammenschlagen, und sie würde mich trotzdem fragen, ob ich meine tägliche Dosis genommen habe. Von dieser herzlosen kleinen Pille bin ich verstopft und von Wassereinlagerungen so aufgedunsen, als hätten sie mir die Blutdruckmanschette nicht um den linken Arm, sondern um den Brustkorb gelegt und sie dann fest aufgepumpt. Folglich brauche ich ein Diuretikum und ein Abführmittel, um diese Symptome zu bekämpfen. Natürlich bekomme ich vom Diuretikum rasende Migräne, als ob mir ein besonders fieser, grausamer Sadist mit dem Hammer an den Schädel schlüge, ergo gibt es codeinhaltige Schmerztabletten gegen diese kleine Nebenwirkung, während ich wegen der anderen Pille ständig zur Toilette renne. Und alle zwei Wochen bekomme ich ein starkes Antipsychotikum mit einer kurzen Spritze injiziert. Zu diesem Zweck muss ich vor der Schwester im städtischen Krankenhaus die Hosen runterlassen, wofür sie mich mit stets haargenau demselben Lächeln und der haargenau im selben Ton gestellten Frage belohnt, wie es mir denn heute ginge, worauf ich »ganz gut« antworte, egal, ob es stimmt oder nicht, weil ich trotz der verschiedenen Nebelschleier des Wahnsinns durchaus kapiere, dass es ihr so was von egal ist, wie es mir geht, und dass sie es lediglich als ihre Pflicht erachtet, mir eine Rückmeldung zu entlocken.

Das Problem ist nur, dass dieses Antipsychotikum mich zwar, wie sie mir zumindest weismachen wollen, an boshaftem, abscheulichem Verhalten hindert, aber mir auch eine kleine Schüttellähmung in den Händen beschert, so dass sie zittern, als wäre ich irgend so ein nervöser Steuersünder, der dem Buchprüfer des Finanzamts gegenübersitzt. Außerdem zucken mir davon die Mundwinkel ein wenig, so dass ich ein Muskelrelaxanz benötige, damit mein Gesicht nicht zu einer ewigen Kinderschreck-Maske erstarrt. Dieser ganze Cocktail also brodelt mir wohl oder übel durch die Adern, und während er mit seinem beruhigenden Einfluss zu den verantwortungslosen Impulsen eilt, die wie eine aufsässige Teenie-Bande in meinem Hirn herumtollt, greift er unterwegs auch eine Reihe Organe an, die keine Ahnung haben, was das Ganze soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Phantasie einem unberechenbaren Dominostein gleicht, der plötzlich aus dem Gleichgewicht kommt, erst hin und her schwankt und dann gegen all die anderen Kräfte in meinem Körper kippt, so dass er eine groß angelege Kettenreaktion auslöst, bei der die Steine in meinem Innern willkürlich, klick klick klick alle übereinander purzeln.

Da war es doch entschieden einfacher, als ich noch ein junger Mann war und nichts weiter zu tun hatte, als auf meine Stimmen zu hören. Meistens waren sie auch gar nicht mal so schlimm. Gewöhnlich waren sie schwach, wie ein verhallendes Echo über einem Tal oder auch wie Getuschel zwischen Kindern, die sich in einer Ecke des Spielzimmers Geheimnisse zuflüstern, auch wenn sie, sobald es einmal gefährlich wurde, sich laut Gehör verschafften. Und meistens waren meine Stimmen nicht allzu fordernd. Sie machten Vorschläge, erteilten Rat, stellten unbequeme Fragen. Gelegentlich neigten sie ein bisschen zur Nörgelei wie eine altjüngferliche Großtante, mit der bei einem Festschmaus niemand so recht etwas anfangen kann und die zwar in die Feier einbezogen wird und durch die eine oder andere unsinnige oder politisch unkorrekte Bemerkung aus der Rolle fällt, ansonsten aber weitgehend unbeachtet bleibt.

Irgendwie leisteten die Stimmen mir Gesellschaft, besonders dann, wenn ich keine Freunde hatte.

Ich hatte sogar zwei Freunde, und sie gehören zu der Geschichte. Ich dachte einmal, sie wären sogar der entscheidende Teil der Geschichte, doch da bin ich mir nicht mehr so sicher.

Nun hatte es einige der anderen Leute, denen ich in jenen, meiner Ansicht nach richtig verrückten Jahren begegnete, weitaus schlimmer erwischt als mich. Ihre Stimmen schleuderten ihnen Befehle entgegen wie diese Ausbilder bei den Marines, die Kerle mit diesen dunkelbraungrünen, breitkrempigen Hüten, die sie tief in die Stirn gezogen haben, so dass ihr kahl geschorener Schädel von hinten zu sehen ist. Schritt marsch! Antreten! Abtreten!

Oder schlimmer: Bring dich um.

Oder noch schlimmer: Bring jemand anderen um.

Die Stimmen, die diese Leute anbrüllten, kamen von Gott oder Jesus oder Mohammed oder vom Nachbarshund oder ihrem längst verstorbenen Großonkel, vielleicht auch von Außerirdischen; zuweilen waren sie ein Chor aus Erzengeln oder Dämonen. Diese Stimmen waren hartnäckig und fordernd und nicht im Mindesten kompromissbereit, und ich wurde nach und nach ziemlich geübt darin, anhand der Anspannung, die diesen Leuten ins Gesicht geschrieben stand, und der Verkrampfung ihrer Muskeln zu erkennen, dass sie etwas ziemlich laut hörten und dass dies selten Gutes versprach. In solchen Momenten verdrückte ich mich einfach und wartete beim Eingang oder am anderen Ende des Tagesraums, weil jeden Moment etwas Verhängnisvolles passieren könnte. Es war ein bisschen so wie ein albernes Detail, das ich mir aus der Grundschulzeit eingeprägt hatte, eins von diesen seltsamen Fakten, die irgendwie haften bleiben: Bei einem Erdbeben bietet eine Türöffnung den besten Schutz, weil die Laibung über der Öffnung statisch stabiler ist als eine Wand und einem daher mit geringerer Wahrscheinlichkeit über dem Kopf zusammenbricht. Wenn ich also sah, dass bei einem Mitpatienten die Turbulenzen immer heftiger wurden und eine Eruption zu erwarten war, suchte ich den Türrahmen auf, wo ich die besten Überlebenschancen hatte. Und war ich erst einmal da, konnte ich auf meine eigenen Stimmen hören, die im Allgemeinen auf mich aufzupassen schienen und mich nicht selten warnten, mich schleunigst auf die Socken zu machen und zu verstecken. Sie hatten seltsamerweise einen ausgeprägten Selbstschutzinstinkt, und wäre ich nicht, als sie sich in jungen Jahren zu mir gesellten, so dumm gewesen, ihnen laut vernehmlich zu antworten, hätte es vermutlich nie eine Diagnose gegeben und ich wäre vermutlich gar nicht erst eingewiesen worden. Doch das ist Teil der Geschichte, wenn auch wahrlich nicht der rühmlichste Teil. Gleichwohl vermisse ich sie auf eigentümliche Weise, denn jetzt bin ich meistens einsam.

Heutzutage ist es ziemlich hart, ein Irrer im mittleren Alter zu sein. Oder Ex-Irrer, solange ich die Pillen nehme.

Jetzt verbringe ich meine Tage auf der Suche nach Bewegung. Ich mag es nicht, zu lange herumzusitzen. Also gehe ich spazieren. Im Schnellschritt, im Eilmarsch streife ich durch die Stadt, von den Parks in die Einkaufszentren, zu den Industriegebieten; dabei bin ich ein aufmerksamer Beobachter, auch wenn ich immer in Bewegung bleibe. Oder aber ich gehe zu Veranstaltungen, wo ich einen ganzen Sturzbach an Bewegung vor Augen habe, wie ein Highschool-Football- oder Basketball-Match oder auch nur das Fußballspiel einer Jugendmannschaft. Sobald vor meinen Augen etwas los ist, kann ich Pause machen. Ansonsten halte ich meine Füße auf Trab – fünf, sechs, sieben oder mehr Stunden am Tag. Ein täglicher Marathon, bei dem ich mir die Schuhsohlen abgelaufen habe und der dafür sorgt, dass ich zäh und mager bleibe. Im Winter erbettle ich mir plumpe, klobige Stiefel von der Heilsarmee. Den Rest des Jahres trage ich Laufschuhe, die ich mir im Sportgeschäft um die Ecke besorge. Alle paar Monate steckt mir der Besitzer ein Paar von einem Auslaufmodell Größe zwölf zu, um das letzte derart abgelaufene Paar zu ersetzen, das mir nur noch in Fetzen an den Füßen hängt.

Zu Beginn des Frühjahrs, nach der Schneeschmelze, marschiere ich zu den Wasserfällen rauf, wo es eine Fischtreppe gibt; dort wache ich jeden Tag freiwillig über die Rückkehr der Lachse in die Wasserscheide des Connecticut River. Diese Aufgabe besteht darin, dass ich tonnenweise Wasser durch den Staudamm fließen sehe und gelegentlich einen Fisch entdecke, der gegen den Strom zu schwimmen versucht, weil ihn ein starker Instinkt zu der Stelle zurücktreibt, wo er einst als Laich abgelegt worden war und wo er, diesem größten Mysterium folgend, seinen eigenen Laich ablegen und dann sterben wird. Ich bewundere die Lachse, weil ich weiß, wie es ist, von Kräften getrieben zu werden, die andere nicht sehen, hören oder nachempfinden können, und einer unumgänglichen Pflicht zu gehorchen, die größer ist als man selbst. Psychotische Fische. Nachdem sie sich jahrelang zu ihrem Vergnügen in der Weite des Ozeans getummelt haben, hören sie plötzlich tief in ihrem Innern eine Fischstimme, die darauf besteht, dass sie sich auf diese unmögliche Reise in den eigenen Tod begeben. Für mich sind diese Lachse so verrückt, wie ich es einmal war. Wenn ich einen zu Gesicht bekomme, notiere ich das auf einem Formular, das mir das Naturschutzamt zur Verfügung stellt, und manchmal flüstere ich ihnen einen stillen Gruß zu: Hallo, Bruder. Willkommen im Club.

Es gibt einen Trick, wenn man die Fische entdecken will, denn nachdem sie im Salz des Ozeans so viele Meilen zurückgelegt haben, sind sie mit ihren silbrig glänzenden Seiten überaus wendig. Man sieht nur ein Schimmern im glitzernden Wasser, das dem ungeübten Auge entgeht – fast so, als ob eine gespenstische Kraft in das kleine Fenster eingedrungen sei, über das ich wache. Inzwischen kann ich die Ankunft eines Lachses schon beinahe fühlen, bevor er tatsächlich unten an der Treppe erscheint. Es macht Spaß, die Fische zu zählen, auch wenn Stunden vergehen können, bevor einer sich blicken lässt, und auch wenn nie genügend kommen, um die Typen vom Naturschutz glücklich zu machen, die auf ihre Rückkehrer-Diagramme starren und frustriert die Köpfe schütteln. Doch meine Fähigkeit, sie auszumachen, bringt noch andere Vorteile mit sich. Immerhin war es mein Vorgesetzter vom Naturschutzamt, der die örtliche Polizeidienststelle anrief und sie wissen ließ, ich sei vollkommen harmlos, auch wenn ich mich stets fragte, woraus er das schloss, und auch so meine Zweifel hegte, ob er es wirklich glaubte. Und so werde ich bei den Football-Spielen und anderen Ereignissen geduldet und bin in dieser kleinen, ehemaligen Hüttenstadt inzwischen, wenn schon nicht willkommen, so doch akzeptiert. Mein Tagesablauf wird nicht hinterfragt, und ich gelte mehr als Exzentriker denn als Irrer, ein Etikett, mit dem sich, wie ich über die Jahre begriffen habe, recht gut leben lässt.

Ich wohne in einem kleinen Ein-Zimmer-Apartment, das der Staat bezahlt. Meinen Einrichtungsstil beschreibe ich gerne als Sperrmüll-Moderne. Meine Kleider beziehe ich entweder von der Heilsarmee oder von einer meiner jüngeren Schwestern, die ein paar Städte weiter weg wohnen und gelegentlich, von irgendeinem mir nicht einleuchtenden Schuldgefühl geplagt, versuchen, etwas für mich zu tun, indem sie die Kleiderschränke ihrer Ehemänner plündern. Sie haben mir secondhand einen Fernseher gekauft, in dem ich ebenso selten etwas ansehe, wie ich etwas in ihrem Radio höre. Alle paar Wochen kommen sie zu Besuch, bringen sie leicht eingedickte, selbstgekochte Mahlzeiten in Tupperschüsseln mit, und wir reden eine Weile verlegen miteinander, meist über meine betagten Eltern, die wenig Neigung verspüren, mich zu sehen, weil ich sie an die enttäuschten Hoffnungen und die Bitterkeit erinnere, die das Leben so unerwartet mit sich bringt. Ich kann damit leben und versuche, mich von ihnen fern zu halten. Meine Schwestern sorgen dafür, dass die Heizungs- und Stromrechnungen bezahlt werden. Sie stellen auch sicher, dass ich nicht vergesse, die dürftigen Schecks einzulösen, die von verschiedenen staatlichen Hilfsorganisationen kommen. Und sie fragen lieber zweimal nach, damit ich auf alle Fälle meine Medikamente nehme. Manchmal weinen sie, glaube ich, wenn sie sehen, in welcher Hoffnungslosigkeit ich lebe, doch das ist ihre Sichtweise, nicht meine, denn tatsächlich führe ich ein ziemlich komfortables Leben. Verrückt zu sein gewährt eine recht interessante Sicht auf das Leben. Auf jeden Fall ist man besser in der Lage, gewisse Dinge hinzunehmen, die das Schicksal für einen bereithält, außer wenn die Wirkung der Medikamente ein wenig nachlässt, denn dann kann ich darüber, wie das Leben mit mir umgesprungen ist, ziemlich sauer werden.

Meistens aber habe ich Verständnis, wenn ich auch nicht eben glücklich bin.

Und mein Dasein gewährt mir faszinierende Einblicke, so dass ich zum Beispiel zu einem intimen Kenner der Vorgänge in dieser kleinen Stadt geworden bin. Man würde kaum für möglich halten, was ich bei meinen täglichen Wanderungen alles mitbekomme. Solange ich die Augen offen halte und die Ohren spitze, schnappe ich alles Mögliche auf. Seit meiner Entlassung aus der Klinik, seit all das, was mir dort bevorstand, nunmehr hinter mir liegt, wende ich das Gelernte an, indem ich meine Beobachtungsgabe kultiviere. Während ich meine Tagesrouten abmarschiere, erfahre ich, wer eine schäbige kleine Affäre mit welchem Nachbarn hat, wessen Ehemann ausgezogen ist, wer zu viel trinkt, wer seine Kinder verprügelt. Ich kann genau sagen, wessen Geschäft ums Überleben kämpft und wer, durch Erbschaft oder Lotteriegewinn, zu etwas Geld gekommen ist. Ich weiß, welcher Teenager auf ein Football- oder Basketball-College-Stipendium hofft und welcher andere Teenager für ein paar Monate zu einer entfernten Tante geschickt wird und sich dort vielleicht um eine unverhoffte Schwangerschaft kümmern muss. Ich habe herausgefunden, welcher Cop einen in Ruhe lässt und welcher schnell den Knüppel oder den Strafzettel zückt, je nachdem, um welches Vergehen es sich handelt. Und dann sind da noch alle die weniger bedeutenden Ereignisse, die damit zu tun haben, wer ich bin und zu wem ich geworden bin – zum Beispiel die Friseuse, die mich kurz vor Ladenschluss hereinwinkt, um mir die Haare zu schneiden, damit ich auf meinen täglichen Wanderungen manierlicher aussehe, und die dann auch noch von ihrem Trinkgeld fünf Dollar für mich abzweigt; oder der Filialleiter von McDonald’s, der mich vorbeigehen sieht und mir mit einer Tüte Burger und Fritten nachrennt und dem zu Ohren gekommen ist, dass ich lieber Vanille- als Schokoladen-Shakes trinke. Als Verrückter herumzulaufen verschafft einem die klarste Sicht auf die menschliche Natur; ein bisschen ist es so, als strömte die Stadt an einem vorbei wie das Wasser am Fischtreppen-Fenster.

Und es ist ja nicht so, als würde ich mich nicht nützlich machen. Einmal habe ich gesehen, dass ein Fabriktor offen stand, das normalerweise abgeschlossen war, und ich fand einen Polizisten, der die Lorbeeren für den angeblich durch ihn vereitelten Einbruch einheimste. Als ich mir allerdings eines schönen Frühlingsnachmittags das Kennzeichen eines Mannes merkte, der einen Radler überfuhr und, während sein Opfer bewusstlos auf der Straße lag, Fahrerflucht beging, zollte die Polizei mir mit einer Urkunde Dank. Unter der etwas peinlichen Rubrik »Gespür für seinesgleichen« darf ich es wohl verbuchen, dass ich an einem Wochenende im Herbst auf meinem Weg an einem Park mit spielenden Kindern vorbei einen Mann ins Visier bekam und an der Art, wie er am Eingang herumlungerte, sofort erkannte, dass etwas ganz entschieden nicht stimmte. Früher einmal hätten ihn meine Stimmen bemerkt und sich lautstark zu Wort gemeldet, doch diesmal übernahm ich es selbst, ihn der jungen Vorschullehrerin zu melden, die ich kannte und die auf der Bank zehn Meter vom Sandkasten und den Schaukeln entfernt in einer Frauenzeitschrift las und ihren Schutzbefohlenen nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte. Wie sich herausstellte, war der Mann erst kürzlich aus der Anstalt entlassen und am selben Morgen als Sexualtäter angezeigt worden.

Diesmal gab’s zwar keine Urkunde, doch die Lehrerin ließ die Kinder ein buntes Bild für mich malen, auf dem sie sich beim Spielen darstellten. In dieser wundervoll krakeligen Schrift, die Kinder haben, bevor wir sie mit Erklärungen und Meinungen belasten, prangte ein großes DANKE quer über dem Gemälde, das ich mit nach Hause nahm und mir übers Bett hängte, wo es sich nach wie vor befindet. Ich führe ein etwas muffig vergilbtes Leben, das mich immer mal wieder an die Farben erinnert, die ich möglicherweise erlebt hätte, wäre ich nicht auf den Weg gestolpert, der mich hierher führte.

Das fasst denn auch mehr oder weniger mein jetziges Dasein zusammen. Ein Mann im Grenzbereich zur Welt der Normalen.

Und ich vermute mal, dass ich so oder so ähnlich auch den Rest meiner Tage herumgebracht und nie daran gedacht hätte, zu verraten, was ich alles über die Vorkommnisse wusste, deren Zeuge ich geworden war, wäre da nicht dieser Brief von einer staatlichen Behörde gewesen.

Er war verdächtig dick, und auf dem Umschlag stand mit Schreibmaschine getippt mein Name. Von dem üblichen Haufen Reklamezettel und Rabattmarken der umliegenden Lebensmittelgeschäfte hob er sich deutlich ab. Man bekommt nicht viel persönliche Post, wenn man ein derart isoliertes Leben führt, und fällt einmal etwas aus dem Rahmen, besitzt es eine magische Anziehungskraft und will ergründet werden. Nachdem ich die übrige Post weggeworfen hatte, riss ich den Brief mit einiger Neugier auf. Als Erstes registrierte ich, dass sie meinen Namen richtig geschrieben hatten.

Lieber Mr. Francis X. Petrel,

Der Anfang war also viel versprechend. Ein Vorname, den man mit dem anderen Geschlecht teilt, stiftet leider oft Verwirrung. Nicht selten bekomme ich Routineschreiben von der Gesundheitsfürsorge, ihnen lägen keine Ergebnisse von meinem letzten Abstrich vor und ob ich mich denn auf Brustkrebs untersuchen lassen hätte? Ich habe inzwischen aufgegeben, diese fehlgeleiteten Computer zu korrigieren.

Das Komitee zur Erhaltung des Western State Hospital hat Sie als einen der letzten Patienten ermittelt, die entlassen wurden, bevor das Institut vor etwa zwanzig Jahren geschlossen wurde. Wie Sie vielleicht wissen, gibt es eine Initiative, Teile des Klinikgeländes in ein Museum umzuwandeln, während der Rest als Baugebiet ausgewiesen werden soll. Im Rahmen dieser Initiative sponsert das Komitee eine eintägige »Überprüfung« der Klinik, ihrer Geschichte, der wichtigen Rolle, die sie in diesem Bundesstaat gespielt hat, sowie der gegenwärtigen Behandlungsmethoden im Bereich der Psychiatrie. Wir laden Sie ein, an diesem Tag teilzunehmen. Es sind Seminare, Vorträge und Unterhaltungsveranstaltungen geplant. Ein vorläufiges Programm liegt bei. Im Fall Ihrer Teilnahme wenden Sie sich bitte möglichst bald an die unten genannte, zuständige Stelle.

Ich las Namen und Telefonnummer der Person, die mit Vorstand des Planungsausschusses betitelt war. Dann blätterte ich zu der Anlage weiter, die aus einer Liste der vorgesehenen Tagesveranstaltungen bestand. Darunter waren Vorträge von einigen Politikern, deren Namen ich wiedererkannte, bis rauf zum Vizegouverneur sowie dem Oppositionsführer im Bundessenat. Es sollte Diskussionsgruppen unter der Leitung von Ärzten und Sozialgeschichtlern von einer Reihe nahe gelegener Colleges und Universitäten geben. Ein Diskussionstitel sprang mir ins Auge: »Die Wirklichkeit der Klinikerfahrung – eine Präsentation«. Darauf folgte der Name von jemandem, an den ich mich aus meiner eigenen Zeit in der Klinik vage zu erinnern glaubte. Die Feier sollte mit einer musikalischen Einlage durch ein Kammerorchester abgerundet werden.

Ich legte die Einladung auf einen Tisch und starrte sie einen Moment lang an. Mein erster Impuls war, sie zusammen mit dem übrigen Tagesmüll zu zerreißen, doch ich tat es nicht. Ich nahm sie wieder in die Hand, las sie noch einmal durch und setzte mich dann auf einen wackeligen Stuhl in der Zimmerecke, um die Frage, die sich mir stellte, zu erwägen. Ich wusste, dass es Leute gab, die keine Wiedersehensveranstaltung ausließen. Pearl-Harbor- und D-Day-Veteranen treffen sich. Highschool-Klassenkameraden tauchen nach ein, zwei Jahrzehnten wieder auf, um auseinander gehende Taillenumfänge, fortschreitende Glatzen oder Hängebrüste zu taxieren. Colleges nutzen Ehemaligen-Treffen, um aus Absolventen, die mit tränenfeuchten Augen durch die alten efeubewachsenen Hallen schreiten und sich dabei nur die guten Momente ins Gedächtnis rufen, während sie die schlechten lieber vergessen, großzügige Spenden herauszuquetschen. Solche Treffen sind ein fester Bestandteil der normalen Welt. Die Leute versuchen ständig, Erinnerungen aufzufrischen, die das Gewesene verklären, und Emotionen neu zu entfachen, die sie entschieden besser ruhen lassen sollten.

Ich nicht. Zu den Begleiterscheinungen meines Geisteszustands gehört es, dass ich mich mit Fleiß dem widme, was vor mir liegt. Die Vergangenheit ist ein Selbstläufer aus tückischen und schmerzlichen Erinnerungen. Wieso sollte ich die Zeit zurückdrehen wollen?

Und dennoch zögerte ich. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Einladung mit einer Faszination betrachtete, die in mir aufzublühen schien. Obwohl es zum Western State Hospital nur eine Fahrtstunde war, hatte ich dem alten Gemäuer in all den Jahren seit meiner Entlassung keinen einzigen Besuch abgestattet. Und ich bezweifelte sehr, dass irgendjemand, der auch nur eine Minute hinter jenen Türen zugebracht hatte, dazu Lust verspürte.

Ich schaute auf meine Hand und sah, dass sie ein wenig zitterte. Vielleicht ließ die Wirkung meiner Medikamente nach. Wieder sagte ich mir, dass der Brief am besten in den Papierkorb und ich selbst quer durch die Stadt wandern sollte. Das hier war eine bedrohliche Angelegenheit. Eine beunruhigende Sache, denn sie gefährdete diese so mühsam zusammengesetzte Existenz. Lauf schnell, sagte ich mir. Schreite deine übliche Strecke ab, denn darin liegt deine Rettung. Lass das andere hinter dir. Ich war schon drauf und dran, genau das zu tun, doch etwas hielt mich zurück.

Ich griff nach dem Telefon und tippte die Nummer der Vorsitzenden ein. Ich wartete zwei Klingeltöne lang, dann meldete sich eine Stimme: »Hallo?«

»Mrs. Robinson-Smythe bitte«, sagte ich ein wenig zu kurz angebunden.

»Die Sekretärin am Apparat. Mit wem spreche ich bitte?«

»Mein Name ist Francis Xavier Petrel …«

»Ah, Mr. Petrel, Sie rufen sicher wegen des Western-State-Tags an …«

»Richtig«, sagte ich. »Ich werde kommen.«

»Das ist großartig. Dann stelle ich Sie jetzt zu Mrs. …«

Doch über meinen impulsiven Entschluss fast erschrocken, legte ich auf. Bevor ich es mir anders überlegen konnte, war ich schon zur Tür hinaus und lief, so schnell ich konnte, davon. Und wie ich Meter um Meter Betonbürgersteig und Teersplittstraße hinter mich brachte und die Ladenfronten und Häuser meiner Stadt achtlos passierte, fragte ich mich, ob meine Stimmen mir geraten hätten zu gehen. Oder nicht.

 

Selbst für Ende Mai war es ein ungewöhnlich heißer Tag. Ich musste dreimal den Bus wechseln, bevor ich die Stadt erreichte, und jedes Mal schien die Mischung aus heißer Luft und Dieselabgasen schlimmer zu werden und mehr zu stinken, schien die Luftfeuchtigkeit höher zu sein. An jeder Haltestelle sagte ich mir, dass es vollkommen falsch war, zurückzugehen, weigerte mich aber doch, auf meinen eigenen Rat zu hören und umzukehren.

Die Klinik lag in den Randbezirken einer typischen kleinen Universitätsstadt in Neu-England, die sich etwa gleich vieler Buchläden, Pizzerien, chinesischer Restaurants und billiger Kleidergeschäfte mit einem Hang zum Militärischen rühmen konnte. Ein Teil der Geschäfte allerdings strahlte eine bilderstürmerische Aufsässigkeit aus – wie etwa der Buchladen, der sich auf Wälzer zu Selbsthilfe und Spiritualität spezialisiert hatte und dessen Verkäufer hinter der Theke den Eindruck machte, als hätte er jedes Buch auf den Regalen gelesen, doch keines gefunden, das half; oder die Sushi-Bar, die ein bisschen schmuddelig wirkte und wo der Kerl, der den rohen Fisch zurechtschnitt, mit hoher Wahrscheinlichkeit Tex oder Paddy hieß und mit breitem Südstaatenakzent sprach. Die gestaute Wärme schien aus dem Bürgersteig unter meinen Füßen aufzusteigen, Abstrahlhitze wie bei einer Heizspirale im Winter, die nur eine Stufe kennt: höllisch. Mir klebte das einzige weiße Hemd, das ich besaß, unangenehm am Rücken, und ich hätte bestimmt die Krawatte gelockert, wäre ich sicher gewesen, dass ich sie wieder in Form bringen könnte. Ich trug den einzigen Anzug, den ich besaß, in Dunkelblau: für Freud und Leid, sozusagen. Eine Anschaffung, die ich vorausschauend für die Bestattung meiner Eltern getätigt hatte, doch sie hingen verbissen am Leben, und so war dies hier die erste Gelegenheit, ihn zu tragen. Auf jeden Fall fand ich, dass er dafür taugte, selbst darin beerdigt zu werden, weil er meine sterblichen Überreste in der kalten Erde schön warm halten würde. Auf halber Höhe zum Klinikgelände jedenfalls schwor ich mir, ihn nie wieder zu tragen, egal, wie empört meine Schwestern wären, wenn ich zum Leichenschmaus, den sie für unsere Eltern ausrichteten, in Shorts und einem unverschämt schrillen Hawaiihemd erschien. Doch was konnten sie letztlich sagen? Schließlich bin ich der Irre in der Familie. Eine allzeit verfügbare Entschuldigung für schlechtes Benehmen.

Es war eine bauliche Kuriosität, dass das Western State Hospital auf der Kuppe eines Hügels mit Blick auf den Campus eines berühmten Frauen-College stand. Die Klinikbauten äfften das College nach – viel Efeu und Backstein und weiß gerahmte Fenster an den rechtwinkligen drei- und vierstöckigen Wohnheimen, die je einen quadratischen Platz mit Bänken und kleinen Ulmengruppen einschlossen. Ich hatte immer den Verdacht gehegt, dass beide Bauvorhaben von denselben Architekten ausgeführt worden waren und der Bauunternehmer für die Klinik einfach Material vom College abzweigte. Aus der Vogelperspektive hätte man annehmen können, die Klinik und das College gehörten mehr oder weniger zusammen. Besagtem Vogel wäre es wohl entgangen, wie sehr sich ein Campus vom anderen unterschied, was man nur beim Betreten der jeweiligen Gebäude feststellen konnte. Da waren die Unterschiede dann nicht mehr zu übersehen.

Die physische Demarkationslinie bildete eine einspurige schwarze, geteerte Straße – die nicht einmal über einen Bürgersteig verfügte und sich eine Seite des Hügels hinaufschlängelte – einerseits, und ein Reitgehege am gegenüberliegenden Hang, wo die besser situierten unter den gut situierten Studenten ihre Pferde bewegten – andererseits. Ich sah, dass die Ställe und Hürden immer noch da waren, wo ich sie vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen hatte. Ein einsamer Reiter machte mit seinem Tier die Gangarten durch, indem er endlos um das Oval unter der Frühsommersonne kreiste und dann zu den Sprüngen beschleunigte. Ein Möbiusband der Aktivität. Ich hörte den schweren Atem des Tiers, das sich in der Hitze abmühte, und sah einen langen, blonden Pferdeschwanz unter dem schwarzen Helm der Reiterin. Ihre Bluse war dunkel verschwitzt, und die Flanken des Tiers schimmerten feucht. Beide schienen die Ereignisse über ihnen, weiter den Hügel hinauf, nicht wahrzunehmen. Ich ging an ihnen vorbei auf das leuchtend gelb gestreifte Zelt zu, das auf dem Innenhof direkt hinter der hohen Backsteinmauer und dem Eisentor zur Klinik errichtet worden war. Auf einem gedruckten Plakat stand ANMELDUNG.

Eine korpulente, allzu wohlmeinende Dame hinter einem Spieltisch stattete mich mit einem Namensschildchen aus, das sie mir mit einer eleganten Geste am Revers feststeckte. Außerdem überreichte sie mir eine Mappe mit zahlreichen Zeitungsartikeln zu den Bauvorhaben auf dem alten Klinikgelände: Eigentumswohnungen und exklusive Häuser, da das Gelände über einen Blick aufs Tal und den Fluss in der Ferne verfügte. Ich fand das irgendwie seltsam. In all der Zeit, die ich dort verbracht hatte, konnte ich mich nicht erinnern, das blaue Band des Flusses in noch so großer Ferne je gesehen zu haben. Natürlich konnte es sein, dass ich es ohnehin für eine Halluzination gehalten hätte. Die Mappe enthielt außerdem einen kurzen Abriss der Klinikgeschichte und ein paar körnige Schwarzweißfotos von Patienten bei der Behandlung oder beim Aufenthalt in den Tagesräumen. Ich suchte die Bilder nach mir vertrauten Gesichtern ab, meinem eigenen inbegriffen, erkannte aber niemanden wieder, außer dass ich alle wiedererkannte. Wir waren nun mal alle gleich, wie wir in unterschiedlichen Stadien der Bekleidung und Medikation durch die Flure schlurften.

Die Mappe enthielt auch ein Veranstaltungsprogramm, und ich sah eine Reihe von Leuten auf ein Gebäude zustreben, in dem sich nach meiner Erinnerung einmal die Hauptverwaltung befunden hatte. Den Vortrag um diese Zeit sollte ein Geschichtsprofessor zu dem Thema »Die kulturelle Bedeutung des Western State Hospital« halten. Wenn man bedachte, dass wir Insassen auf das Gelände beschränkt und mehrheitlich in den Wohnheimen eingeschlossen gewesen waren, fragte ich mich, was er sich zu diesem Thema einfallen lassen würde. Ich erkannte den Vizegouverneur, der, von seinen Mitarbeitern umringt, anderen Politikern die Hände schüttelte, als er den Bau betrat. Er lächelte, doch ich konnte mich an keinen anderen Fall erinnern, dass jemand gelächelt hätte, der durch diese Tür geleitet wurde. Hierher wurde man als Erstes gebracht und abgefertigt. Unter dem Veranstaltungsprogramm stand eine Warnung in Blockschrift, eine Reihe der Gebäude seien wegen ihres schlechten baulichen Zustands nur auf eigene Gefahr zu betreten. Die Warnung ging mit der Bitte einher, den Besuch aus Sicherheitsgründen auf das Verwaltungsgebäude und den Platz zu beschränken.

Ich ging ein paar Schritte auf die Reihe Wartender zu, die sich für den Vortrag angestellt hatten, und blieb dann stehen. Ich beobachtete, wie die Menge schrumpfte, sobald das Gebäude sie verschlang. Dann drehte ich mich um und lief zügig über den Hof.

Die Erkenntnis, die mich plötzlich traf, war ziemlich simpel: Ich war nicht hergekommen, um mir einen Vortrag anzuhören.

Ich brauchte nicht lange, um mein altes Gebäude wiederzufinden. Ich hätte die Wege mit geschlossenen Augen gehen können.

Die Metallgitter vor den Fenstern hatten Rost angesetzt, das Eisen hatte mit den Jahren eine schmutzig braune Farbe angenommen. Ein Gitter hing wie ein gebrochener Flügel nur noch an einer einzigen Strebe. Die Backsteinfassade war ebenfalls zu einem erdfarbenen Ton nachgedunkelt. Der Efeu, der sich an die Mauer krallte, hatte wild wuchernde, frische Triebe. Die Sträucher, die einst den Eingang schmückten, hatten nicht überlebt, und die große Flügeltür, die ins Gebäude führte, hing lose an rissigen, splitternden Pfosten. Auch der Name des Hauses, der grabsteinartig an der Ecke in eine graue Granitplatte gemeißelt war, hatte gelitten: Jemand hatte etwas vom Stein weggeschlagen, so dass nur noch MHERST zu lesen war. Das A, mit dem der Namenszug ursprünglich einmal begann, war nur noch eine gezackte Narbe.

Irgendjemand hatte so viel Sinn für Ironie besessen, sämtliche Wohneinheiten nach berühmten Colleges und Universitäten zu benennen. Es hatte ein Harvard, Yale und Princeton, ein Williams und Wesleyan, ein Smith und Mount Holyoke gegeben, außerdem das Wellesley und natürlich das Amherst, in dem ich damals wohnte. Der Bau war nach der Stadt und dem College benannt, die ihrerseits auf einen britischen Soldaten, Lord Jeffrey Amherst, zurückgingen, der seinerseits zu Ruhm und Ehren gelangt war, indem er rebellierende Indianerstämme skrupellos mit pockeninfizierten Decken ausstattete. Seine Geschenke schafften denn auch in kürzester Zeit, was Kugeln, Plunder und Verhandlungen nicht zuwege gebracht hatten.

An die Tür war ein Schild genagelt, und ich ging näher heran, um es zu lesen. Das erste Wort lautete GEFAHR in Großbuchstaben. Es folgte einiges juristische Blabla von der staatlichen Bauaufsicht, das auf eine amtliche Untauglichkeitsbescheinigung für dieses Gebäude hinauslief und, ebenfalls in Großbuchstaben, mit dem Hinweis endete: UNBEFUGTEN IST DER ZUTRITT NICHT GESTATTET.

Ich fand das interessant. Damals war es den Insassen so vorgekommen, als hätte man sie für untauglich erklärt. Nie wäre es uns in den Sinn gekommen, dass die Wände, Riegel und Schlösser, die unser Leben eingrenzten, eines Tages dasselbe Schicksal ereilen würde.

Außerdem schien es, als hätte sich bereits jemand anders über die Warnung hinweggesetzt. Die Türschlösser waren mit einem Brecheisen bearbeitet worden, ein Werkzeug, dem es an Feinfühligkeit fehlt, und die Türen standen sperrangelweit offen. Ich packte den Knauf und zog fest daran, und mit einem knarrenden Laut öffnete sich die Tür.

Ein modriger Geruch erfüllte den ersten Flur. In der Ecke stapelten sich Wein- und Bierflaschen, die, wie ich vermutete, über die andere Gruppe von Gästen Aufschluss gaben: Highschool-Kids auf der Suche nach einem Plätzchen, wo sie sich, vor den strengen elterlichen Blicken geschützt, besaufen konnten. Die Wände waren von Schmutz und bizarren Graffiti-Slogans in verschiedenfarbigem Spritzlack überzogen. Einer lautete: BÖSE JUNGS SIND DIE GRÖSSTEN! Vermutlich war das so. In den Decken waren Rohre geplatzt, aus denen stinkendes dunkles Wasser auf die Linoleumböden tropfte, und in jeder Ecke lagen Schutt und Müll, Staub und Dreck. In den abgestandenen Geruch des Alters mischte sich unverkennbar der Gestank menschlicher Exkremente. Ich lief ein paar Schritte weiter, musste aber stehen bleiben. Eine Faserplatte hatte sich gelöst und war so in den Flur gesackt, dass sie den Weg versperrte. Ich sah die Haupttreppe zu meiner Linken, die zu den oberen Stockwerken führte, doch sie war mit noch mehr Unrat übersät. Ich wollte einmal durch den Tagesraum links von mir gehen, ich wollte die Behandlungszimmer sehen, die sich im ersten Stock aneinander reihten. Ich wollte auch einmal in die Zellen im obersten Stock, wo wir eingesperrt wurden, wenn wir mit unseren Medikamenten oder unserem Wahnsinn kämpften, und die Schlafsäle, in denen wir wie unglückselige Camper reihenweise in Metallbetten untergebracht waren. Doch die Treppe sah baufällig aus, als könnte sie unter meinem Gewicht schwanken und zusammenbrechen, falls ich sie betrat.

Ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich vornüber gebeugt da drinnen hockte und auf den Nachhall von alldem lauschte, was ich hier einmal gehört und gesehen hatte. Wie damals in meinen Tagen als Patient schien die Zeit weniger zu drängen, nicht so unaufhaltsam fortzuschreiten, als ob der kleine Zeiger meiner Uhr auf einmal kriechen würde und die Minuten nur widerstrebend verstrichen.

Erinnerungen lauerten mir wie Gespenster auf. Ich konnte Gesichter sehen, Geräusche hören. Ich schmeckte und roch den Wahnsinn und die Verwahrlosung. Die Vergangenheit holte mich wie eine Flutwelle ein und zog mich in ihre Strudel.

Als die Hitze der Erinnerung mich schließlich überwältigte, erhob ich mich langsam und verließ das Gebäude. Ich ging zu einer Bank unter einem Baum und setzte mich, um noch einmal zu meinem früheren Zuhause hinüberzublicken. Während ich mit Mühe die frische Luft einsog, fühlte ich mich erschöpfter als nach meinen üblichen Ausflügen durch meine Heimatstadt. Ich starrte unverwandt in dieselbe Richtung, bis ich auf dem Gehweg hinter mir Schritte hörte.

Ein kleiner, korpulenter Mann, ein wenig älter als ich, mit gelichtetem, grau meliertem, angeklatschtem Haar kam zu mir herübergerannt. Er hatte ein breites Lächeln aufgesetzt, doch einen leicht beunruhigten Ausdruck in den Augen, und als ich mich zu ihm umdrehte, winkte er verstohlen.

»Dachte mir schon, dass ich dich hier finde«, sagte er schwitzend und keuchend. »Ich hab deinen Namen auf der Anwesenheitsliste gesehen.«

Er blieb, plötzlich unschlüssig, in einigem Abstand stehen.

»Hallo, C-Bird«, sagte er.

Ich stand auf und streckte ihm die Hand entgegen. »Bonjour, Napoleon«, erwiderte ich. »So hat mich seit vielen, vielen Jahren niemand mehr genannt.«

Er nahm meine Hand. Seine war vom Laufen ein wenig verschwitzt, und sein Griff war schlaff. Das war vermutlich die Folge seiner Medikamente. Doch das Lächeln blieb. »Mich auch nicht«, sagte er.

»Ich hab deinen richtigen Namen auf dem Programm gesehen«, sagte ich. »Du hältst eine Rede?«

Er nickte. »Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, da vorn vor all den Leuten zu stehen«, sagte er. »Aber der Arzt, bei dem ich in Behandlung bin, gehört zu den Machern bei diesem Umbauprojekt, und es war ganz und gar seine Idee. Er sagte, es wäre eine gute Therapie für mich. Eine solide Demonstration auf dem glorreichen Weg zur vollständigen Heilung.«

Ich zögerte, bevor ich fragte: »Und was meinst du?«

Napoleon setzte sich auf die Bank. »Ich glaube, er ist der Verrückte von uns beiden«, antwortete er und brach in ein leicht manisches Kichern aus, einen schrillen Laut, in den sich Nervosität und Freude mischten und den ich aus unserer gemeinsamen Zeit in Erinnerung hatte. »Natürlich ist es hilfreich, dass alle einen immer noch für vollkommen irre halten, denn dann kann man sich nicht allzu schlimm blamieren«, fügte er hinzu, und ich fiel in sein Grinsen ein. Eine solche Bemerkung konnte nur von jemandem stammen, der eine gewisse Zeit in einer Nervenheilanstalt zugebracht hatte. Ich setzte mich neben ihn, und wir starrten beide zum Amherst-Gebäude hinüber. Nach einer Weile seufzte er.

»Bist du reingegangen?«

»Ja. Es ist ein Saustall. Reif für die Abrissbirne.«

»Das fand ich schon damals, als wir da gehaust haben und als alle meinten, man könnte sich keinen besseren Ort zum Leben denken. Jedenfalls haben sie mir das weismachen wollen, als ich eingewiesen wurde. Psychiatrische Einrichtung nach den modernsten Erkenntnissen. Die beste Behandlungsmethode für Geisteskranke in einem häuslichen Umfeld. Was für eine Lüge.«

Er hielt den Atem an und fügte hinzu: »Eine verdammte Lüge.«

Jetzt war es an mir, zustimmend zu nicken.

»Geht es darum, ich meine, in deiner Rede?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie etwas in der Art hören wollen. Ich glaube, es ist besser, ihnen was Nettes zu sagen. Was Positives. Ich werde eine krasse Unwahrheit an die andere reihen.«

Ich dachte einen Moment lang darüber nach und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Das ist vielleicht ein Zeichen geistiger Normalität«, sagte ich.

Napoleon lachte. »Ich hoffe, du hast Recht.«

Wir schwiegen beide ein paar Sekunden lang, dann flüsterte er in wehmütigem Ton: »Ich werd ihnen auch nichts von den Morden erzählen. Und kein Sterbenswörtchen über Fireman oder diese Ermittlerin, die uns einen Besuch abgestattet hat, oder irgendetwas von dem, was am Ende passiert ist.« Er sah die Amherst-Fassade hoch und fügte hinzu: »Wär sowieso eigentlich deine Geschichte.«

Ich antwortete nicht.

Napoleon schwieg einen Moment lang und fragte mich dann: »Denkst du noch mal an die Sachen, die damals passiert sind?«

Ich schüttelte den Kopf, doch wir wussten beide, dass es gelogen war. »Ich träume davon, ab und zu«, sagte ich. »Aber es ist nicht leicht, zwischen Erinnerung und Einbildung zu unterscheiden.«

»Das leuchtet ein«, sagte er. »Weißt du, eines hat mir immer zu schaffen gemacht«, fuhr er langsam fort, »ich hab nie erfahren, wo sie die Leute begraben haben. Die Leute, die hier gestorben sind. Ich meine, eben noch waren sie im Tagesraum und hingen wie alle anderen in den Fluren herum, und im nächsten Moment sind sie vielleicht schon tot. Und dann? Hast du je mitbekommen, was sie mit ihnen gemacht haben?«

»Ja«, sagte ich nach kurzer Überlegung. »Sie hatten drüben am Rand des Klinikgeländes einen kleinen provisorischen Friedhof, hinter der Verwaltung und Harvard, Richtung Wald. Er schloss sich direkt an den kleinen Garten an. Ich glaube, jetzt ist er im Fußballplatz einer Jugendmannschaft aufgegangen.«

Napoleon wischte sich über die Stirn. »Ich bin froh, das zu hören«, sagte er. »Hab mich das immer gefragt. Jetzt weiß ich Bescheid.«

Wieder schwiegen wir eine Weile, dann sagte er: »Weißt du, welche Lektion ich am meisten gehasst habe? Hinterher, als alles vorbei war, nach unserer Entlassung, als wir zur ambulanten Behandlung diesen anderen Kliniken zugewiesen wurden und die modernere Behandlung und die neuen Medikamente bekamen – weißt du, was ich da gehasst habe?«

»Was?«

»Dass diese Illusion, an die ich mich all die Jahre so hartnäckig geklammert hatte, nicht nur eine Illusion war, sondern sogar eine weit verbreitete Illusion. Dass ich nicht der Einzige war, der sich für eine Reinkarnation des französischen Kaisers hielt. Ich bin überzeugt, dass Paris packevoll von denen ist. Diese Einsicht war mir absolut zuwider. In meinem Zustand war ich etwas Besonderes, Einmaliges. Und jetzt bin ich nur ein ganz gewöhnlicher Typ, der die ganze Zeit Pillen nehmen muss und dem ständig die Hände zittern, der mit Ach und Krach die einfachsten Tätigkeiten auf die Reihe kriegt und dessen Familie sich wahrscheinlich wünscht, dass er es irgendwie schafft, von der Bildfläche zu verschwinden. Ich wüsste gerne, was pfui Teufel auf Französisch heißt.«

Ich dachte darüber nach. »Also, ich für meinen Teil fand immer, dass du ein verdammt guter französischer Kaiser warst. Klischee hin, Klischee her. Und wenn tatsächlich du bei Waterloo die Truppen befehligt hättest, also, dann hättest du, verflucht noch mal, gewonnen.«

Er kicherte erleichtert. »C-Bird, wir haben alle immer gewusst, dass du unsere Umgebung schärfer beobachtet hast als irgendjemand sonst. Die Leute mochten dich, auch wenn wir alle unsere Hirngespinste hatten und irre waren.«

»Freut mich zu hören.«

»Was ist eigentlich mit Fireman? Er war dein Freund. Was ist aus ihm geworden? Ich meine, später?«

Ich überlegte einen Moment, bevor ich sagte: »Er ist rausgekommen. Hat alle seine Probleme ausgebügelt, ist in den Süden gezogen und hat eine Menge Geld verdient. Familie. Großes Haus. Großer Wagen. War rundum sehr erfolgreich. Das Letzte, was ich hörte, war, dass er einer wohltätigen Stiftung vorsteht. Glücklich und gesund.«

Napoleon nickte. »Kann ich mir vorstellen. Und die Frau, die Ermittlerin? Hat er die mitgenommen?«

»Nein. Die hat’s bis zur Richterin geschafft. Alle möglichen Ehrungen. Hatte ein tolles Leben.«

»Hab ich’s mir doch gedacht.«

Natürlich war das alles gelogen.

Er sah auf die Uhr. »Ich muss los. Muss mich auf meinen großen Moment vorbereiten. Wünsch mir viel Glück.«

»Viel Glück«, sagte ich.

»Schön, dich wiederzusehen«, sagte Napoleon noch. »Ich hoffe, bei dir läuft alles okay.«

»Ganz meinerseits«, sagte ich. »Du siehst gut aus.«

»Tatsächlich? Das bezweifle ich. Bei den meisten von uns bezweifle ich das. Aber das macht nichts. Danke, dass du es trotzdem sagst.«

Er stand auf, und ich erhob mich ebenfalls. Beide warfen wir noch einen Blick auf das Amherst-Gebäude zurück. »Ich freue mich, wenn sie es abreißen«, sagte Napoleon in einer Anwandlung von Bitterkeit. »Es war ein gefährlicher, böser Ort, und da drinnen ist nicht viel Gutes passiert.«

Dann wandte er sich wieder zu mir um. »C-Bird, du warst dabei. Du hast alles mit angesehen. Sag’s ihnen.«

»Und wer würde auf mich hören?«

»Irgendjemand vielleicht schon. Schreib die Geschichte auf. Du kannst das.«

»Manche Geschichten bleiben besser ungeschrieben«, sagte ich.

Napoleon zuckte die rundlichen Schultern. »Wenn du es aufschreibst, ist es real. Wenn es nur noch in unserer Erinnerung existiert, dann ist es fast so, als wäre es nie passiert, wie ein Traum, oder eine Halluzination, die wir Verrückte uns gemeinsam ausgeheckt haben. Niemand traut uns, wenn wir etwas sagen. Aber wenn du es aufschreibst, na ja, dann bekommt es Gewicht. Klingt es schon mehr nach der Wahrheit.«

Ich schüttelte den Kopf. »Das Problem dabei, verrückt zu sein, ist ja gerade, dass man nicht mit Bestimmtheit sagen kann, was wahr ist und was nicht. Daran ändert sich nichts, auch wenn wir genügend Pillen nehmen können, um uns in der Welt der Normalen mit Ach und Krach durchzuschlagen.«

Napoleon lächelte. »Du hast Recht«, sagte er. »Aber vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du es erzählen könntest und dass dir vielleicht ein paar Leute glauben würden, und das ist doch schon mal was. Damals hat uns kein Mensch geglaubt, selbst wenn wir die Medikamente schluckten, hat uns niemand geglaubt.«

Wieder sah er auf die Uhr und trat nervös von einem Bein aufs andere.

»Du solltest gehen«, sagte ich.

»Ich muss«, bekräftigte er.

Wir standen verlegen da, bis er sich schließlich umdrehte und ging. Etwa auf halbem Weg wandte sich Napoleon noch einmal um und winkte mir auf dieselbe unsichere Art zu wie vorher, als er mich entdeckt hatte. »Erzähl’s«, rief er mir zu. Dann wandte er sich um und lief in einem leicht watschelnden Gang weiter. Ich sah noch, dass seine Hände wieder zitterten.

 

Es war schon nach Einbruch der Dunkelheit, als ich endlich den Bürgersteig zu meinem Apartment entlanglief, die Treppe hochstieg und mich in die Geborgenheit meiner vier Wände einschloss. Eine nervöse Erschöpfung schien mir durch die Adern zu pulsieren, die meine roten und weißen Blutkörperchen durch den Blutstrom transportierten. Das Wiedersehen mit Napoleon und der Klang meines Spitznamens, den ich abbekommen hatte, als ich in die Klinik eingewiesen worden war, lösten Emotionen in mir aus. Ich überlegte ernsthaft, ob ich ein paar Tabletten nehmen sollte. Ich wusste, dass ich ein paar hatte, die dafür da waren, mich zu beruhigen, falls ich mich zu sehr erregte. Aber ich nahm sie nicht. »Erzähl die Geschichte«, hatte er gesagt. »Aber wie?«, sagte ich laut in die Stille meines eigenen Zimmers hinein.

Es hallte von den Wänden zurück.

»Du kannst es nicht erzählen«, redete ich mir ein.

Und fragte mich als Nächstes: Wieso eigentlich nicht?

Ich hatte ein paar Bleistifte und Kugelschreiber, aber kein Papier.

Da kam mir eine Idee. Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob es eine meiner Stimmen war, die wiederkehrte und mir einen spontanen Vorschlag und eine bescheidene Anweisung einflüsterte. Ich hielt inne und horchte aufmerksam, um den unverwechselbaren Ton meiner vertrauten Ratgeber von den Geräuschen zu unterscheiden, die durch die alte Fenster-Klimaanlage zu mir ins Zimmer drangen. Doch sie waren nicht zu fassen. Ich wusste nicht, ob sie da waren oder nicht. Aber Ungewissheit war etwas, womit ich zu leben gelernt hatte.

Ich zog einen etwas abgewetzten und zerkratzten Stuhl heran und stellte ihn in einer Zimmerecke an die Wand. Ich hatte kein Papier, sagte ich mir. Dafür aber hatte ich weiß getünchte Wände, an denen nur Poster oder Zeichnungen oder sonst was hingen.

Wenn ich mich behutsam auf die Sitzfläche stellte, konnte ich fast bis an die Decke greifen. Ich schnappte mir einen Bleistift und lehnte mich vor. Dann kritzelte ich hastig in einer winzigen, eng gequetschten, doch lesbaren Handschrift:

Francis Xavier Petrel traf weinend im rückwärtigen Teil eines Krankenwagens im Western State Hospital ein. Es regnete stark, die Dunkelheit brach schnell herein, und seine Arme und Beine steckten in Fußfesseln und einer Zwangsjacke. Er war einundzwanzig Jahre alt und hatte so große Angst wie in seinem ganzen kurzen und bis dahin ereignislosen Leben noch nicht …

2

Francis Xavier Petrel traf weinend im rückwärtigen Teil eines Krankenwagens im Western State Hospital ein. Es regnete stark, die Dunkelheit brach schnell herein, und seine Arme und Beine steckten in Fußfesseln und einer Zwangsjacke. Er war einundzwanzig Jahre alt und hatte so große Angst wie in seinem ganzen kurzen und bis dahin ereignislosen Leben noch nicht.

Die beiden Männer, die ihn zur Klinik gefahren hatten, hielten während der Fahrt die meiste Zeit den Mund, außer wenn sie sich über das für diese Jahreszeit unpassende Wetter beklagten oder bissige Bemerkungen über die anderen Autofahrer auf der Straße machten, von denen keiner ihrem eigenen überragenden Standard entsprach. Der Krankenwagen war bei mäßigem Tempo die Fahrbahn entlanggerumpelt und hatte sowohl Lichthupen als auch dicht auffahrende Autos geflissentlich ignoriert. Es lag etwas von stumpfer Routine in der Art, wie die beiden sich benahmen, als wäre die Fahrt zur Klinik nichts weiter als eine Station an einem deprimierend normalen, entschieden langweiligen Tag. Einer der Männer schlürfte gelegentlich aus einer Dose Mineralwasser und machte dabei ein schmatzendes Geräusch. Der andere pfiff Fetzen aus beliebten Songs. Der Erste trug Koteletten. Der Zweite eine buschige Löwenmähne.

Für die beiden Pfleger mochte es eine belanglose Fahrt wie jede andere sein, doch für den jungen Mann, der mit völlig verspanntem Rücken und kurzen, stoßweisen Atemzügen hinten lag, war es das genaue Gegenteil. Jeder Laut, jede Empfindung schien ihm etwas zu signalisieren, jedes Mal beängstigender und bedrohlicher als zuvor. Der Rhythmus der Scheibenwischer war wie eine tiefe, unheilvolle Dschungeltrommel. Das leise Quietschen der Reifen auf glatter Fahrbahn glich einem verzweifelten Sirenengesang. Selbst das Geräusch seines eigenen schweren Atems schien von irgendwoher widerzuhallen, als sei er in ein Grab eingesperrt. Die Fesseln schnitten ihm ins Fleisch, er öffnete den Mund und wollte um Hilfe rufen, konnte aber keinen richtigen Laut herausbringen. Es kam nichts weiter als ein gurgelnder Ausbruch der Hilflosigkeit. Ein einziger Gedanke drang noch durch die Kakophonie – sollte er diesen Tag überleben, würde er wahrscheinlich keinen schlimmeren erleben.

Als der Krankenwagen mit einem Schütteln vor dem Klinikportal zum Stehen kam, hörte er eine seiner Stimmen in heller Aufregung schreien: Wenn du nicht aufpasst, bringen sie dich hier um.

Die Krankenwagenfahrer schienen von dieser drohenden Gefahr nichts zu merken. Sie öffneten die Hecktüren mit lautem Getöse und zogen Francis unsanft auf einer Rollbahre heraus. Er spürte, wie ihm kalter Regen ins Gesicht peitschte und sich mit dem Angstschweiß auf seiner Stirn vermischte, während die beiden Pfleger ihn durch eine breite Flügeltür in eine Welt aus unbarmherzig grellen Lichtern rollten. Sie schoben ihn einen Flur entlang, wo die Räder der Bahre auf dem Linoleum knirschten, und das Erste, was er im Vorbeigleiten sehen konnte, war die pockennarbig perforierte Decke. Ihm war vage bewusst, dass sich noch andere Menschen im Korridor befanden, doch vor lauter Angst wagte er nicht, sie anzusehen. Stattdessen fixierte er die Schalldämmung über ihm und zählte die Lichtquellen ab, unter denen er entlanggerollt wurde. Bei vier blieben die Männer stehen.

Ihm war irgendwie bewusst, dass andere Leute vor seine Bahre getreten waren. Direkt hinter seinem Kopf hörte er jemanden sagen, »Okay, Jungs, wir übernehmen ihn.«

Dann erschien plötzlich ein wuchtiges, rundes, schwarzes Gesicht mit einem breiten, die schiefen Zähne fletschenden Grinsen über ihm. Das Gesicht befand sich über der weißen Jacke eines Pflegers, die auf den ersten Blick ein paar Nummern zu klein für den Körper, der darin steckte, war.

»Also, Mr. Francis Xavier Petrel, Sie machen uns jetzt doch keinen Ärger, oder?« Der Mann hatte einen leicht singenden Tonfall, so dass die Worte halb bedrohlich, halb belustigt herauskamen. Francis wusste nicht, was er antworten sollte.

Urplötzlich schwebte am anderen Ende der Bahre ein zweiter schwarzer Kopf in sein Gesichtsfeld, der sich ebenfalls über ihn neigte, und dieser andere Mann sagte: »Ich glaube, der Junge hier macht uns keine Scherereien. Kein bisschen. Stimmt’s, Mr. Petrel?« Auch er sprach mit einem leichten Südstaatenakzent.

Eine Stimme brüllte ihm ins Ohr: Sag nein!

Er versuchte, den Kopf zu schütteln, hatte jedoch Probleme damit, den Hals zu bewegen. »Ich mach keinen Ärger«, würgte er heraus.

Die Worte klangen so roh, wie der ganze Tag gewesen war, doch er war froh, dass er überhaupt sprechen konnte. Das beruhigte ihn ein wenig. Den ganzen Tag schon hatte er Angst gehabt, er könnte irgendwie die Fähigkeit verlieren, sich mitzuteilen.

»In Ordnung, Mr. Petrel. Wir können jetzt von der Rollbahre runter. Dann setzen wir uns ganz hübsch und artig in einen Rollstuhl. Aber die Fesseln an Ihren Händen und Füßen wollen wir mal noch schön dranlassen. Die kommen erst weg, wenn Sie beim Doktor gewesen sind. Vielleicht kriegen Sie von dem ’ne Kleinigkeit, wo Sie sich mit beruhigen können. Was so richtig zum Abkühlen. So, und jetzt mal hübsch sachte. Setzen Sie sich auf und schwingen Sie die Beine nach vorn.«

Tu, was man dir sagt!

Er tat, was man ihm sagte.

Von der Bewegung wurde ihm schwindelig, und er schien einen Moment lang zu schwanken. Er merkte, wie ihn eine riesige Hand an der Schulter packte, um ihm Halt zu geben. Er drehte sich um und sah, dass der erste Pfleger ein Hüne war, gut über eins fünfundneunzig groß und wahrscheinlich um die anderthalb Zentner schwer. Seine Arme waren die reinsten Muskelpakete und seine Beine wie Fässer. Sein Partner, der andere Schwarze, war ein drahtig dünner Mann, der neben dem Koloss zwergenhaft wirkte. Er schmückte sich mit einem Ziegenbärtchen und einer buschigen Afro-Frisur, der es jedoch nicht recht gelingen wollte, ihm mehr Statur zu verleihen. Zusammen bugsierten die beiden Männer ihn in einen wartenden Rollstuhl.

»Okay«, sagte der Kleine. »Jetzt bringen wir Sie zum Doktor rein. Und nur keine Sorge nich’. Kann sein, dass im Moment alles komplett daneben und lausig schlimm aussieht, aber das wird schon wieder, Sie werden sehen. Da können Sie Gift drauf nehmen.«

Er glaubte ihm nicht. Kein Wort.

Die beiden Pfleger fuhren ihn weiter in ein kleines Wartezimmer. Dort saß eine Sekretärin hinter einem Schreibtisch aus grauem Stahl, die, als die Prozession zur Tür hereinkam, von ihrer Arbeit aufsah. Sie war eine imposante, propere Frau jenseits der mittleren Jahre in einem engen blauen Kostüm, das Haar ein wenig zu stark toupiert, den Lidstrich einen Hauch zu dick aufgetragen, auch das Lipgloss leicht übertrieben, so dass ihr Erscheinungsbild auf Francis Petrel in sich widersprüchlich wirkte, halb Bibliothekarin, halb Prostituierte. »Da haben wir wohl Mr. Petrel«, sagte sie zu den beiden Pflegern, auch wenn es für Francis offensichtlich war, dass sie keine Antwort erwartete, weil sie es bereits wusste. »Sie können gleich mit ihm zum Doktor durch, er erwartet ihn schon.«

Er wurde durch eine weitere Tür in ein Sprechzimmer geschoben, das etwas freundlicher war, mit zwei Fenstern zum Innenhof an der rückwärtigen Wand. Er sah, wie draußen eine große Eiche in Wind und Regen schwankte. Und dahinter erkannte er andere Häuser, allesamt Backsteinbauten mit schiefergrauen Dächern, die mit dem düsteren Himmel darüber verschmolzen. Vor den Fenstern stand ein Holzschreibtisch von beeindruckendem Format. In einer Zimmerecke befand sich ein Bücherregal, daneben ein paar dicke Polstersessel und davor ein dunkelroter Orientteppich auf dem Einheitsgrau des Teppichbodens, zusammen also eine Sitzecke zu Francis’ Rechten. An der Wand hing neben Präsident Carters Porträt ein Foto des Gouverneurs. Francis nahm dies alles so schnell wie möglich in sich auf, so dass sein Kopf in alle Richtungen zuckte. Doch sein Blick ruhte bald auf einem kleinen Mann, der sich, als Francis hereingebracht wurde, von seinem Schreibtisch erhob. »Hallo, Mr. Petrel. Ich bin Dr. Gulptilil«, sagte er knapp mit einer fast kindlich hohen Stimme.

Der Arzt war übergewichtig und rund, besonders an Bauch und Schultern – knollig wie ein Kindergeburtstagsballon, der in Form geknetet war. Er war entweder Inder oder Pakistani. Er trug eine eng geknotete, leuchtend rote Seidenkrawatte und ein strahlend weißes Hemd, während sein schlecht sitzender Anzug an den Manschetten leicht abgewetzt war. Er gehörte wohl zu der Sorte Mann, die morgens beim Anziehen auf halbem Weg das Interesse verlor. Er trug eine dicke schwarze Hornbrille, und sein Haar war mit Frisiercreme glatt nach hinten gekämmt, wo es sich über dem Kragen kräuselte. Francis konnte nicht recht sagen, ob er jung war oder alt. Er stellte fest, dass der Doktor gerne jedes Wort mit einer winkenden Geste unterstrich, so dass er während seiner Ansprache an einen Dirigenten erinnerte, der mit dem Taktstock sein Orchester führte.

»Hallo«, sagte Francis verhalten.

Pass auf, was du sagst!, brüllte eine seiner Stimmen.

»Wissen Sie, weshalb Sie hier sind?«, fragte der Arzt. Er schien aufrichtig neugierig.

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Francis.

Dr. Gulptilil sah auf seine Akte und betrachtete prüfend ein Papier.

»Wie’s aussieht, haben Sie einigen Leuten Angst gemacht«, sagte er gedehnt. »Und diese Leute scheinen der Auffassung zu sein, dass Sie Hilfe brauchen.« Er hatte einen leichten britischen Akzent, nur noch einen Anflug von Anglizismus, der sich wohl über die Jahre in den Staaten abgeschliffen hatte. Es war warm im Zimmer, und einer der Heizkörper unter den Fenstern zischte.

Francis nickte. »Das war ein Fehler«, sagte er. »Es war nicht so gemeint. Es ist nur ein bisschen außer Kontrolle geraten. Im Grunde nur ein Missgeschick, eine falsche Einschätzung meinerseits. Ich möchte jetzt gerne nach Hause, es tut mir leid. Ich verspreche, mich zu bessern. Sehr zu bessern. Es war alles nur ein Versehen. Ich hab’s nicht so gemeint. Wirklich nicht. Ich entschuldige mich dafür.«

Der Arzt nickte, antwortete aber nicht wirklich auf das, was Francis gesagt hatte.

»Hören Sie im Moment Stimmen?«, fragte er.

Sag nein!

»Nein.«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

Sag ihm, du hättest keine Ahnung, wovon er redete! Sag ihm, du hättest noch nie irgendwelche Stimmen gehört!

»Ich weiß nicht so recht, was Sie mit Stimmen meinen«, sagte Francis.

Gut so!

»Ich meine, hören Sie, wie Leute, die nicht physisch anwesend sind, mit Ihnen sprechen? Oder hören Sie vielleicht Dinge, die andere nicht hören können?«

Francis schüttelte energisch den Kopf.

»Das wär doch verrückt«, sagte er. Er bekam ein wenig Selbstvertrauen.

Der Arzt las noch einmal in dem Papier, das vor ihm lag, und sah Francis wieder in die Augen. »Wieso haben Sie dann bei zahlreichen Gelegenheiten in Gegenwart von Familienmitgliedern mit jemandem geredet, der nicht anwesend war?«

Francis rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her und dachte über die Frage nach. »Vielleicht irren sie sich?«, sagte er in einem nun wieder unsicheren Ton.

»Das glaube ich kaum«, antwortete der Arzt.

»Ich habe nicht viele Freunde«, sagte Francis vorsichtig. »Weder in der Schule noch in der Nachbarschaft. Andere Jungs in meinem Alter gehen mir eher aus dem Weg. Also führe ich immer häufiger Selbstgespräche. Vielleicht ist es das, was sie beobachtet haben.«

Der Doktor nickte. »Nur Selbstgespräche?«

»Ja. Nichts weiter«, sagte Francis. Er entspannte sich noch ein bisschen.

Das war gut. Das war gut. Sei einfach auf der Hut.

Der Arzt sah ein zweites Mal in seine Unterlagen. Er hatte ein verhaltenes Lächeln auf den Lippen. »Ich führe auch zuweilen Selbstgespräche«, sagte er.

»Na, da sehen Sie’s«, erwiderte Francis. Er zitterte ein wenig, und ihm wurde heiß und kalt in einem, als wäre ihm das nasskalte Wetter von draußen gefolgt und hätte über die eifrig pumpende Heizung gesiegt.

»… Aber wenn ich Selbstgespräche führe, ist es keine Unterhaltung, Mr. Petrel. Es ist mehr eine Erinnerung, so was wie ›Vergiss nicht, einen Liter Milch zu besorgen …‹ oder auch eine Mahnung oder so was wie ›Autsch‹ oder ›Verdammt!‹ oder, wie ich zugeben muss, gelegentlich auch was Schlimmeres. Bei mir geht das aber nicht endlos hin und her, mit Fragen und Antworten von jemandem, der nicht da ist. Und das ist leider genau das, was Sie nach Aussage Ihrer Familie schon seit einer Reihe von Jahren tun.«

Vorsicht an dieser Stelle!

»Das haben sie gesagt?«, erwiderte Francis verschlagen. »Wie ungewöhnlich.«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Gar nicht so ungewöhnlich, wie Sie vielleicht denken, Mr. Petrel.«

Er kam um den Tisch herum, so dass er ihm deutlich näher rückte, und hockte sich schließlich direkt vor Francis auf die Schreibtischkante. Er selbst saß immer noch im Rollstuhl, nicht nur von den Fesseln in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, sondern auch durch die Anwesenheit der beiden Pfleger, die sich zwar die ganze Zeit weder gerührt noch ein einziges Wort gesprochen, dafür aber unmittelbar hinter ihm gestanden hatten.

»Vielleicht kommen wir gleich noch einmal auf diese Gespräche, die Sie führen, zurück, Mr. Petrel«, sagte Dr. Gulptilil. »Weil ich mir nämlich nicht so recht vorstellen kann, wie das vonstatten gehen soll, ohne dass man auch etwas hört, und das, Mr. Petrel, macht mir ernsthaft Sorgen.«

Er ist gefährlich, Francis! Er ist clever und führt nichts Gutes im Schilde. Pass auf, was du sagst!

Francis nickte, bevor ihm bewusst wurde, dass die Geste dem Doktor vielleicht nicht entgangen war. Er erstarrte in seinem Rollstuhl und sah, wie Dr. Gulptilil sich auf einem Blatt Papier mit Kugelschreiber eine Notiz machte.

»Dann versuchen wir es mal anders, Mr. Petrel«, fuhr der Doktor fort. »Heute hatten Sie einen schwierigen Tag, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Francis. Dann kam ihm in den Sinn, dass er dieser Feststellung etwas hinzufügen sollte, da der Doktor schwieg und ihn mit einem durchdringenden Blick taxierte. »Ich hatte Streit. Mit meiner Mutter und meinem Vater.«