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Eine Karriere als Musikerin – das war eigentlich Charlottes größter Wunsch. Aber jetzt ist es ja eh zu spät, und sie muss sich um einen vernünftigen Job kümmern, schon wegen der Eltern. Sie findet eine Stelle in einem Verlag, auch nicht schlecht, und München ist eine schöne Stadt, vor allem im Sommer. Im Vorzimmer des Verlegers sitzt Charlotte ganz nah am Zentrum der Macht. Dass der seine Assistentinnen oft auswechselt, kriegt sie schnell mit. Aber sie entwickelt ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef, der ihre Stärken erkennt, ihr vertraut. Und dafür muss sie eben viel in Kauf nehmen, sehr viel, vielleicht auch selbst mit harten Bandagen kämpfen, vielleicht ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Vielleicht sogar Bo verlieren, in den sie sich doch gerade erst verliebt hat … In wunderbar lakonischem Tonfall, mit Humor und Tiefgang erzählt Caroline Wahls neuer Roman von einer jungen Frau, die sich nicht zum Opfer machen lassen will und doch in eine Lage gerät, die viele Menschen kennen: wenn einem der Beruf zur Hölle wird. Eine ganz alltägliche Leidensgeschichte, ein Roman über Resilienz und Überleben.
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Seitenzahl: 383
Veröffentlichungsjahr: 2025
Caroline Wahl
Roman
Eine Karriere als Musikerin – das war eigentlich Charlottes größter Wunsch. Aber jetzt ist es ja eh zu spät, und sie muss sich um einen vernünftigen Job kümmern, schon wegen der Eltern. Sie findet eine Stelle in einem Verlag, auch nicht schlecht, und München ist eine schöne Stadt, vor allem im Sommer.
Im Vorzimmer des Verlegers sitzt Charlotte ganz nah am Zentrum der Macht. Dass der seine Assistentinnen oft auswechselt, kriegt sie schnell mit. Aber sie entwickelt ein gutes Verhältnis zu ihrem Chef, der ihre Stärken erkennt, ihr vertraut. Und dafür muss sie eben viel in Kauf nehmen, sehr viel, vielleicht auch selbst mit harten Bandagen kämpfen, vielleicht ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Vielleicht sogar Bo verlieren, in den sie sich doch gerade erst verliebt hat.
In wunderbar lakonischem Tonfall, mit Humor und Tiefgang erzählt Caroline Wahls neuer Roman von einer jungen Frau, die sich nicht zum Opfer machen lassen will und doch in eine Lage gerät, die viele Menschen kennen: wenn einem der Beruf zur Hölle wird. Eine ganz alltägliche Leidensgeschichte, ein Roman über Resilienz und Überleben.
Caroline Wahl, geboren 1995 in Mainz, wuchs in der Nähe von Heidelberg auf. Sie hat Germanistik in Tübingen und Deutsche Literatur in Berlin studiert. Danach arbeitete sie in mehreren Verlagen. 2023 erschien ihr Debütroman 22 Bahnen, für den sie u. a. mit dem Ulla-Hahn-Autorenpreis und dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet wurde. Außerdem wurde 22 Bahnen Lieblingsbuch der Unabhängigen 2023. Auch ihr zweiter Roman Windstärke 17 wurde zum Ereignis und stand monatelang an der Spitze der Bestsellerlisten. Caroline Wahl lebt in Kiel.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Zitate auf S. 312 aus dem Song «Wie ein Alpha» (Text Kollegah) und aus dem Buch «Das ist Alpha! Die 10 Boss-Gebote» von Kollegah, Riva (München) 2018
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung Leunende vrouw (Ausschnitt). Gemälde von Bruno Victor A. Vekemans. © VG Bild-Kunst, Bonn 2025
ISBN 978-3-644-02412-0
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meine kleine Franzi
DASS DAS GANZE eine riesengroße Fehlentscheidung war, hatte Charlotte eigentlich von Anfang an gespürt. Schon bevor die riesengroße Fehlentscheidung getroffen wurde, als sie die Stellenausschreibung sah, spürte sie, dass das eine riesengroße Fehlentscheidung werden könnte. Oft überlegt Charlotte, was passiert wäre, wenn sie, nachdem sie die Ausschreibung gesehen hatte, ihrer Mutter nichts davon erzählt hätte. Dann hätte ihre Mutter es nicht Charlottes Vater erzählt, und dann hätten Vater und Mutter bzw. Vater sie nicht dazu überredet, sich zu bewerben und nach dem mehr oder weniger erfolgreichen Bewerbungscasting dann auch die Stelle anzutreten. Assistentin des Verlegers in einem renommierten Verlagshaus in München.
«Da bist du ganz oben», «Das ist der Beginn deiner Verlagskarriere», ihr Vater. «Da bist du ganz oben», «Das ist der Beginn deiner Verlagskarriere», ihre Mutter, die sagt, was der Vater sagt. Charlotte verbringt viel Zeit mit solchen selbstquälerischen «Was passiert wäre, wenn»-Gedankengängen. Das ist ein bisschen so wie Ritzen, denkt Charlotte und fragt sich, ob der Schmerz beim Ritzen vielleicht doch angenehmer wäre. Aber die ganzen Narben. Manchmal sieht Charlotte Menschen mit vielen Narben am Arm, und es macht sie ganz verrückt und fasziniert sie auch ein wenig, wie symmetrisch und parallel die Linien am Arm in der Regel angeordnet sind. Wie Armbänder. Sie schaut sich das Gesicht an, das zu dem vernarbten Arm gehört, und fragt sich, was die Gründe für den vernarbten Arm sein könnten. Bestimmt keine Assistentinnenstelle in einem renommierten Verlagshaus in München, denkt sie, wobei. Charlotte schaut sich das Gesicht an, das zu dem vernarbten Arm gehört, fragt sich, ob neue Narben dazukommen oder ob die letzte Narbe schon dabei ist, und hofft auf Letzteres.
DIE WURZEL ALLEN Übels war eigentlich ihr Vaterkomplex, dachte Charlotte. Überhaupt konnte man Charlottes Meinung nach grundsätzlich viele Dinge, die in ihrem Leben nicht optimal liefen, auf ihren Vaterkomplex zurückführen, und vielleicht konnte man noch grundsätzlicher viele Dinge, die auf der Welt nicht optimal liefen, auf viele unterschiedliche Vaterkomplexe zurückführen, dachte Charlotte auch, aber egal. Auf jeden Fall kämpfte Charlotte seit jeher mit unterschiedlichen Waffen und Strategien um Bestätigung durch den Vater, die nur selten und wenn, dann äußerst dünn dosiert kam. So lernte Charlotte früh, das Schlachtfeld auszuweiten, und kämpfte auch außerhalb des Elternhauses um die Aufmerksamkeit und Bestätigung von Klavierlehrern, Tennistrainern, Professoren, Vorgesetzten und anderen Männern, zu denen sie aus irgendwelchen, meist unreflektierten Gründen aufschaute.
Der Bewerbungsprozess fühlte sich an wie eine schlechte Castingshow, in deren Finale Charlotte noch nicht mal zur Siegerin gekürt wurde. Wegen so einem Virus fand das Theater via Zoom und Telefon statt, und nach mehreren Recalls und langen Wartezeiten bekam sie die Stelle der zweiten, der sogenannten administrativen Assistentin angeboten, obwohl sie sich gar nicht für diese Stelle beworben hatte. Die Hierarchisierung habe aber nichts zu bedeuten, versicherte man Charlotte wiederholt, und sie wusste natürlich, dass Hierarchisierungen immer etwas zu bedeuten hatten, sonst würde man ja auf sie verzichten.
Gleich zu Beginn des ersten Gesprächs mit der Personalchefin und der aktuellen Assistentin, die aus guten Gründen bzw. einem guten Grund mit dem Assistentinnendasein pausieren wolle, wurde Charlotte eröffnet, dass nicht nach einer, sondern nach zwei Assistentinnen gesucht werde, die komplett ebenbürtig und als Team für den Verleger arbeiten sollten, und Charlotte, die den versteckten Hinweis verstand, versäumte es zu sagen, dass die Stelle der administrativen Assistentin, deren Ausschreibung sie auch gesehen hatte, für sie und ihre Qualifikationen keinesfalls infrage kam. Letztendlich konnte Charlotte die beiden Frauen, die das Gespräch mit ihr führten, von ihrer Eignung überzeugen, und sie kam eine Runde weiter: Sie durfte den Verleger kennenlernen, in einem Zoom-Termin, der den beunruhigenden Titel «Administrative Assistenz» trug. Zweimal rief die Personalchefin, sie hieß Alexandra Liebig, vor diesem Zoom-Termin an, bot Charlotte das Du an und ermutigte sie mit ihrer melodischen, tiefen Stimme und einem sie noch sympathischer machenden leichten sächsischen Dialekt – fast schon als wären Alexandra und Charlotte Freundinnen – dazu, einfach sie selbst zu sein. Sie dürfe sich nicht verunsichern lassen von dem Verleger, der ein bisschen eigen sei, und auch nicht vergessen, dass es erst einmal nur um ein Kennenlernen gehe. Charlotte freute sich, dass die liebe Alexandra sie so schnell ins Herz geschlossen hatte und an sie glaubte, wobei vor allem die Andeutungen zu dem offenbar recht eigenwilligen Verleger ihre Neugier und euphorische Aufregung befeuerten. Sie hatte Lust, den Mann kennenzulernen.
Vor dem Gespräch wollte sie im Internet alles über Verlagshaus und Verleger herausfinden. Wie vielen anderen fielen ihr zu dem Münchner Verlag als Erstes dessen knallige, mit lustigen Sprüchen bedruckte Jutebeutel ein, die aufgrund der hohen Nachfrage schwer zu bekommen waren. Aber natürlich hatte Charlotte bereits vor der Recherche von dem Verleger gehört. Man kannte Ugo Maise, und Charlotte konnte gar nicht genau sagen, woher genau man ihn kannte, was seine ursprüngliche Profession war und wie er bekannt geworden war. Sie hatte ihn als Autor, Münchner Lebemann und sogenannte disruptive Unternehmerpersönlichkeit abgespeichert. Im Fernsehen und in Klatschzeitschriften tauchte er immer mal wieder auf, Charlotte meinte sich zu erinnern, dass er mal mit dieser rehäugigen RTL-Moderatorin zusammen gewesen war. Richtig bekannt geworden war er wohl durch seinen Debütroman, Rocky, um die Jahrtausendwende ein Riesending, laut Beschreibungstext bei Amazon ein Kultbuch, aber sie wusste nicht, ob er davor auch schon von sich reden gemacht hatte. Jedenfalls wurde das Buch mit dem Deutschen Schäferhund auf dem Umschlag ein Sensations-Bestseller, der mal wieder das Gefühl einer Generation zum Ausdruck brachte wie kein anderer. Es ging um einen jungen Mann, der aus seiner bayrischen Vorstadtheimat loszieht nach Italien, in der Fremde sich selbst verliert und einen Schäferhund findet, mit dem er durch Italien flaniert, quasi Goethes Italienische Reise in modern und mit Hund. Charlotte hatte den Roman im Deutschunterricht gerne gelesen, es war der einzige einigermaßen zeitgenössische Text gewesen. Nach diesem Überraschungserfolg hat er ihres Wissens keinen Roman mehr veröffentlicht, und Charlotte wusste nicht genau, was er seitdem so getrieben hatte, außer irgendwie zum deutschen semi-intellektuellen Promiensemble dazuzugehören. Ab und zu sah sie ihn in Instagram-Stories von Paul Ripke, Benjamin von Stuckrad-Barre, Olli Schulz oder so vorbeihuschen. Und sie erinnerte sich auch daran, dass sie vor Jahren mal in eine Hotel-Matze-Folge reingehört hatte, in der er zu Gast war, aber schon bei der Vorstellung, in der alle seine Professionen wie Social Entrepreneur, Schriftsteller usw. aufgezählt wurden, abbrechen musste, weil sie sich ja nicht für Männer interessierte, die eigentlich alt genug hätten sein müssen, um zu wissen, was genau sie eigentlich machten und machen wollten.
Beim Googeln erfuhr sie immerhin, dass er nach seiner Italienischen Reise ein Jahr lang Chefredakteur bei einem Literaturmagazin gewesen war, das dann aber bald eingestellt wurde, und ein weiteres Buch herausgebracht hatte, so ein Gesprächsband zwischen ihm und einem deutschen Top-Tennisspieler über Leben, Sex, Drogen, Essen etc., das aber floppte.
Interviews gab es abgesehen von der Hotel-Matze-Folge wenige, und wenn, dann nur oberflächliche. Bei der tiefergehenden Recherche fand Charlotte überraschenderweise heraus, dass er kein Selfmademan war, sondern aus einer Industriellenfamilie stammte. Aus einer Süßwarendynastie, und nicht aus irgendeiner, sondern aus einer der größten Deutschlands: Familie Maise. Charlotte war der Firmenname natürlich geläufig, aber sie hatte nicht gewusst, dass Ugo Maise etwas damit zu tun hatte, und auch nicht, dass so viele Süßigkeiten Deutschlands aus diesem einen Haus kamen. Die Produkte waren ihr nicht nur bekannt, die Karabomben und Toffihexen gehörten zu Charlottes Lieblingssüßigkeiten. Wenn das kein Zeichen war. «Süß», dachte Charlotte und «Jemand, der aus einer Süßwarendynastie kommt, kann ja nur cool sein».
Und was für eine Aufstiegsgeschichte diese Dynastie hingelegt hatte! Anfang des 20. Jahrhunderts gründete der Urgroßvater von Ugo Maise, der Justus Maise hieß, in einem Münchner Vorort die Maise’sche Zuckerwarenfabrik und lieferte mit anfangs zwei Mitarbeitern Zuckerwaren an Händler in der näheren Umgebung. Die Belegschaft wuchs, dann kam der Weltkrieg, dann ging es wieder aufwärts, und 1928 übernahm der jüngste Sohn von Helmut Maise, der Großvater von Ugo, Albert Maise. Albert Maise führte im nächsten Weltkrieg mit der einigermaßen martialisch klingenden Karabombe nach dem Storck 1 Pfennig RIESEN das zweite deutsche Markenbonbon ein. In der dritten Generation machte Karl Maise das Unternehmen zu einem internationalen Konzern.
Während der Vater von Ugo eine Süßigkeit nach der anderen in die Welt feuerte, gingen der kleine Ugo und seine älteren Schwestern Karla und Louisa auf Elite-Internate in die Schweiz und England, sie studierten Betriebswirtschaft, Marketing und andere Dinge, um für das harte Süßwaren-Geschäft gerüstet zu sein. Ugo hatte, wie der ungewöhnliche Vorname erahnen ließ, eine andere Mutter als die Schwestern, sein Vater hatte die erste Frau (eine Butterkeks-Erbin) für ein französisches Model verlassen. Das erklärte auch Ugo Maises gutes Aussehen. Er war in seinen Zwanzigern und Dreißigern ein wirklich schöner Mann gewesen. Dichte blonde Mähne, gebräunte Haut, markantes Kinn, tiefblaue Augen, verschmitztes Lächeln. So eine Mischung aus Brad Pitt und Johnny Depp, dachte Charlotte beim Durchscrollen der Bilder, und das war wieder so ein Moment, in dem ihr die Vergänglichkeit krass bewusst wurde. Eigentlich sollte sie ihre Jugend und die Energie und so in sich nutzen, bevor die Jahre auch ihr zusetzten, aber vielleicht war es eh schon zu spät. Der Mann sah immer noch gut aus für sein Alter, aber eben nur gut für sein Alter.
Um die Jahrtausendwende ließen Ugo und Karla sich auszahlen und zogen nach Monaco (Ugo) bzw. Kanada (Karla), während die älteste Tochter das Geschäft übernahm. Louisa Maise schlug neue Wege ein, ging Kollaborationen mit Wagner, Langnese, Paulaner und anderen Marken ein und brachte etwa eine süße Karabomben-Pizza oder eine Nimm-3-Spezi auf den Markt. Ugo Maise veröffentlichte derweil seinen Roman, wurde zwei Jahre später Chefredakteur von diesem Literaturmagazin, gründete eine Werbeagentur, investierte in mehrere Start-ups, bis er dann den Verlag kaufte, fast sieben Jahre war das nun her.
Und jetzt saß sie hier, um im besten Fall die Assistentin dieses Mannes zu werden. Vielleicht hatte doch alles so seine Richtigkeit, wie es gekommen war.
Kurz vor dem Gespräch beendete Charlotte die Recherche, zog sich ihre Glücksbluse an, glättete ihre Haare, trug ein wenig Wimperntusche auf und saß dann nervös vor ihrem Rechner und wartete. Über eine halbe Stunde musste sie auf den Verleger warten und bekam alle zehn Minuten eine E-Mail von einer weiteren Assistentin, Herr Maise befinde sich noch in einem vorhergehenden Termin. Diese weitere Assistentin unterstützte den Verleger wohl in einem anderen Lebensbereich, dachte Charlotte, insofern der Verleger ja nicht nur Verleger war, sondern auch Schriftsteller, Vater, Unternehmer usw. Während Charlotte nervös ihr eigenes Gesicht auf dem Bildschirm anlächelte, den Winkel der Webcam sowie die Position ihres Stuhls veränderte und sich ein weiteres Mal schnell die Haare bürstete, fragte sie sich, ob sie eine Berufung des Verlegers vergessen hatte, ob er auch männliche Assistenten hatte, wie viele Assistentinnen es denn insgesamt waren, und hatte das Gefühl, dass er wohl sehr wichtig war und sehr viel zu tun hatte.
Der Verleger sah älter und weniger charismatisch aus als auf den professionellen Porträtfotos, die von ihm im Netz kursierten, aber die meisten Menschen, von denen im Netz professionelle Porträtfotos kursieren, sehen wohl in Wirklichkeit eher älter und weniger charismatisch aus. Das blonde kinnlange Haar, das er nach hinten gekämmt trug, war dünner und spröder als auf den Fotos, die sonnengegerbte Haut hatte in der Vergangenheit vielleicht doch zu viel Sonne und zu wenig Sonnencreme gesehen, und die tiefblauen Augen waren auch verblasst, aber vielleicht lag das auch an der Video-Qualität. Eine breite Narbe, die Charlotte nun das erste Mal wahrnahm, zog sich wie eine Raupe über seine Wange, und sie fragte sich, ob sie auf den Fotos überschminkt oder retuschiert worden war, weil er sich vielleicht dafür schämte. Der Raum hinter ihm war sehr schön. Modern, stilvoll eingerichtet, weitläufig, hell, graue Betonwände, große quadratische Fenster. Das konnte auch in New York sein, fand Charlotte, die noch nie in New York gewesen war.
Leider kann Charlotte sich nur an einzelne Gesprächsfetzen dieses ersten Zoom-Kennenlernens erinnern, aber sie weiß noch, dass die Unterhaltung sprunghaft war und dass es wenig um die Stelle, um Aufgaben und Inhalte, mehr um Privates und amüsantes Dies und Das ging. Und sie weiß noch, dass sie ihn lustig fand. Humor hatte er, das konnte man nicht leugnen, wobei. Humor bedeutet, sich selbst nicht so ernst zu nehmen. Sie fand ihn jedenfalls lustig. Ein Fragment des ersten Gesprächs zwischen Charlotte und dem Verleger könnte in etwa so ausgesehen haben (Charlotte nennt den Verleger und sich im Folgenden «mu» und «sch», weil im Verlag eine ausgesprochene Kürzelkultur herrschte, vor allem mu gerne mit Kürzeln, Abkürzungen und anderen Wortspielen arbeitete und diese Geschichte ja schließlich auch ein bisschen mu’s Geschichte ist):
mu: Schöne Bluse.
sch: Danke.
mu: Das ist die Blumenbluse, die Sie auch auf dem Bewerbungsfoto anhaben.
sch: Ja, das ist meine Glücksbluse.
mu lacht.
mu: Mögen Sie Blumen?
sch: Nein, eigentlich nicht. Sie?
mu: Ja.
sch: Was sind denn Ihre Lieblingsblumen?
mu: Lisianthus.
Charlotte kennt sich nicht aus mit Blumen und hat keine Ahnung, was Lisianthus sind.
sch: Schön.
mu: Was steht auf der Karte, die da hinter Ihnen an der Wand klebt?
Charlotte steht auf, holt die Karte, die sie vorhin extra mit Tesafilm an die Wand hinter sich geklebt hat, weil sie sie lustig findet. In schwarzen Buchstaben steht darauf: «Es ist, wie es ist.»
sch: Es ist, wie es ist.
mu lacht.
mu: Sie sind lustig.
Rückblickend weiß Charlotte natürlich, dass sie die Show z.B. bei der Sache mit den Nashörnern hätte verlassen sollen, aber der Hunger nach Bestätigung war stark, insbesondere nachdem sie die zweite Castingrunde aka das erste Gespräch mit dem lustigen Verleger hinter sich gebracht hatte. Jedenfalls ging es an irgendeiner Stelle dieses Gesprächs noch einmal um die Bluse, und irgendwie ist Charlotte zu der Frage gekommen, was auf sein Glückshemd gestickt sein müsste, das er noch nicht besaß und das Charlotte ihm ja vielleicht mal schenken könnte. Der Verleger antwortete: «Ich mag Nashörner.»
AN DIESER STELLE eine kleine zeitliche Raffung, weil Charlotte nicht stolz ist auf die riesengroße Fehlentscheidung, die sie getroffen hat, obwohl sie von Anfang an spürte, dass es eine riesengroße Fehlentscheidung werden könnte. Und natürlich ist es jetzt auch egal, weil vorbei, und sogar in gewisser Hinsicht gut, weil Charlotte ohne diese riesengroße Fehlentscheidung jetzt nicht Musikerin wäre. Vielleicht wäre Charlotte ohne diese riesengroße Fehlentscheidung privat Musikerin, aber wahrscheinlich wäre sie keine richtige Musikerin, sondern irgendeine kleine, austauschbare Pressereferentin in einem kleinen, austauschbaren Verlag, die mit etwas Glück nebenher als Musikredakteurin oder in einer Bookingagentur arbeiten und mit viel Glück an der Popakademie studieren würde.
Am Ende wurde die riesengroße Fehlentscheidung von Tochter und Vater beim Salat mit Putenstreifen + Weißweinschorle (Charlotte) und bei Herrentoast + großem Bier (Vater) getroffen. Die Mutter war auch dabei. Sie saßen an einem Freitagabend in einem Landgasthof, der wie alle Landgasthöfe Zum Lamm, Zur Rose oder Zum Ochsen hieß, die Tochter aß einen Salat mit Putenstreifen und trank eine Weißweinschorle, der Vater aß einen Herrentoast und trank ein großes Bier, die Mutter aß ein Senioren-Putenschnitzel, obwohl sie für ein Seniorengericht ja noch etwas jung war, und trank ein kleines Bier, aber jetzt erst einmal die Raffung: Nach einer knappen Woche und zwei Telefonaten mit der Personalchefin wurde Charlotte die Nachricht verkündet, sie habe sich für die dritte Runde qualifiziert: ein zweites Zoom-Kennenlernen mit dem Verleger. Charlotte freute sich und überlegte, wie viele Runden das Casting insgesamt wohl hatte, aber Raffung: Das Gespräch war nicht so lustig wie das erste. Der Verleger stand neben sich, glasige Augen, rotes Gesicht. Er wirkte nervös und kränklich, sagte zu Charlotte, er sehe sie gar nicht in einem Assistenzbüro, er sehe sie ganz woanders, und Charlotte sagte nicht, dass sie sich auch ganz woanders sah. Danach: mehrere Telefonate mit Alexandra Liebig, die die Entscheidung aufschob und Charlotte beschwor, sie solle sich keine Sorgen machen, die Entscheidung stehe unmittelbar bevor, der Verleger möge Charlotte usw. In diesen sich allmählich zu Wochen häufenden Tagen des Wartens hatte Charlotte Geburtstag, wartete sie auf die Einladung für die Aufnahmeprüfung an der Popakademie und telefonierte viel mit ihrer Cousine, die ihr entschieden davon abriet, die Assistenzstelle auch nur in Betracht zu ziehen. Ihre Cousine, die wahrscheinlich Charlottes engste Freundin war, hatte auch mal in München gelebt und war dort sehr unglücklich geworden, aber das ist eine andere Geschichte, also weiter mit der Raffung: In Charlottes Kopf und Bauch breitete sich das Gefühl aus, das Ganze könne sich als riesengroße Fehlentscheidung erweisen, und sie war schon fast bereit, die halbe Stelle anzunehmen, die ihr in dem kleinen Kinder- und Jugendbuchverlag in Düsseldorf angeboten wurde, in dem sie zurzeit arbeitete. Die Popakademie nahm in ihren Masterstudiengang aber nur zwanzig Studierende auf, und Charlotte hatte große Angst, dass sie nicht zur Aufnahmeprüfung eingeladen und dann nur mit dieser halben Stelle dastehen würde. Florentin, ein ehemaliger Kommilitone, der inzwischen eine aufsteigende (seine Worte) Bookingagentur leitete, hatte andererseits Charlotte letztens auf Instagram gefragt, ob sie vielleicht Lust habe, bei ihm einzusteigen. Florentin war zwar ein bisschen chaotisch, aber eine Option war das doch. Außerdem schrieb sie gerne über Musik und tat das auch ab und zu für ein Online-Magazin, bei dem sie mal ein Praktikum gemacht hatte, das konnte sie ja ausbauen. Alles kompliziert, aber sowieso: Kommt Zeit, kommt Rat. Das sagte ihre Mutter immer: «Kommt Zeit, kommt Rat.»
Und nach zwei Wochen bekam Charlotte dann die Zusage für die Stelle der zweiten Assistentin – der administrativen Assistentin –, obwohl sie sich für diese Stelle ja gar nicht beworben hatte. Sie lag am Aachener Weiher und las, als endlich der herbeigesehnte Anruf von Alexandra kam, und danach war Charlotte wütend und enttäuscht. Immerhin widerstand sie dem Impuls, direkt abzusagen. Sie wollte, wenn überhaupt, die erste Assistentin des lustigen Verlegers sein, entschied sich auf dem Nachhauseweg dazu, wirklich ganz sicher abzusagen, und rief die Mutter an. Die Mutter erzählte es sofort dem Vater, und die Eltern waren auch nicht begeistert vom zweiten Platz der Tochter. Aber wieder Raffung: Charlotte, die ziemlich fertig war, weil sie nicht wusste, wie es nun weitergehen und welchen Weg sie einschlagen sollte, fuhr am Wochenende zu den Eltern, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass die Eltern in schwierigen Situationen dazu neigten, auf das Kind einzutreten, wenn es am Boden lag, natürlich nur metaphorisch und natürlich nur mit den besten Absichten. Wenn Charlotte schwach und verzweifelt war, dann stellten sich die Eltern über sie, schauten auf sie herab und sagten ihr, was sie alles in ihrem Leben ändern müsse. Und Charlotte, die verzweifelt und schwach am Boden lag, konnte sich nicht wehren. Also: Die Tochter ging mit den Eltern essen in einem Landgasthof, der wie alle Landgasthöfe Zum Lamm, Zur Rose oder Zum Ochsen hieß, der Vater, der sich offensichtlich erholt hatte von der anfänglichen Enttäuschung über den zweiten Platz seiner Tochter, wiederholte seine Worte, die er zu der Stelle der ersten Assistentin bereits oft gesagt hatte, «Da bist du ganz oben», «Das ist der Beginn deiner Verlagskarriere». Auch als zweite Assistentin sei sie ganz oben und am idealen Ausgangspunkt einer Verlagskarriere, das wusste der Vater, weil der Vater eigentlich alles wusste.
Charlotte werde mit der ersten Assistentin zusammenarbeiten, diese vertreten, wenn sie krank oder im Urlaub sei, und könne sie vielleicht auch ausstechen, wenn sie es gut anstellte. Die Mutter saß neben dem Vater, lächelte und nickte Charlotte zu. Die Drohung, dass der Geldhahn zugedreht werden könnte, wenn sie die halbe Stelle und ein weiteres Studium in Betracht zog, saß auch mit am Tisch. Charlotte hatte ja schon einen Master. «Du bekommst nur ein Studium finanziert», der Vater. «Das Klavierspielen hast du doch an den Nagel gehängt, obwohl du so gut warst. Wieso jetzt doch Musik? Ich verstehe das nicht», die Mutter. «Und was willst du damit machen? Musikerin werden?» Der Vater lachte. «Dafür ist es ja jetzt wohl zu spät.» «Und denkst du, dass Nena oder die Beatles auf so einer Popakademie waren?» «Das muss man schon aus eigenem Antrieb schaffen.» Seine Worte feste, schnelle Messerstiche in die Magengegend. Charlotte erwiderte nicht, dass es ihr größter Traum war, Musikerin zu werden, obwohl es ihr größter Traum war, sie erwiderte auch nicht, dass man viel damit machen und sie noch viel lernen konnte und dass es ihr auch um die Kontakte ging, um den Fuß, den sie mit der Entscheidung in die Tür stellte, dass es ihr aber vor allem um die Freude ging, die sie dort haben würde. Dass, wenn sie an das Studium dachte, ihr Herz schneller schlug, also nicht phrasenmäßig, nein, es schlug wirklich schneller, wenn sie sich vorstellte, wie sie dort studierte. Wenn sie sich den Studienplan mit den Modulen wie «Persönlichkeitsentwicklung in kreativen Berufen» oder «Musikbusiness» anschaute und sich kurz die Vorstellung gestattete, wie es sein könnte, dort zu studieren, schlug ihr Herz kurz so schnell wie lange nicht mehr. Das scheint mein Traum zu sein, dachte Charlotte, aber vielleicht projiziere ich da auch zu viel rein, und jetzt ist es wohl auch zu spät. Sie schluckte alles hinunter, auch die Tränen und die trockenen Putenstücke, und dachte: dann eben Verlagskarriere, sie wird wahrscheinlich eh nicht angenommen. Und Assistentin vom Verleger in einem renommierten Verlag in München. Das ist doch wirklich toll, da ist sie ganz oben. Das ist der Beginn ihrer Verlagskarriere.
Die Eltern und Charlotte stießen an.
Jetzt aber wirklich Raffung: Charlotte nahm die Stelle an, hatte ein Zoom-Kennenlernen mit der ersten Assistentin, das den Titel «Kennenlernen mu Assistentinnen» trug. Die erste Assistentin, deren Namen Alexandra Charlotte noch nicht mal nach mehrmaligem Nachfragen und Betteln verraten wollte – wegen Datenschutz und damit die beiden «sich ganz unvoreingenommen kennenlernen können» –, wirkte zerstreut, und Charlotte sah sie gar nicht in einem Assistenzbüro. Aber laut Alexandra hatte die neue Kollegin in echt krassen, namhaften Agenturen und Start-ups in Hamburg, Mailand und sogar New York gearbeitet. Und sie war wunderschön. Charlotte wusste sofort, dass sie dieses filigrane Gesicht schon einmal irgendwo gesehen hatte, und fragte sich, während Ivana ihr unsortiert viel zu private Dinge aus ihrem Leben verriet, wo sie diese relativ weit auseinanderstehenden, schrägen osteuropäischen, blauen Schlafzimmerblick-Augen, die gerade Nase und die vollen Lippen schon einmal gesehen hatte. Vielleicht in einem Musikvideo? Oder wahrscheinlich kannte Charlotte sie von irgendeiner Werbung oder einem Plakat. Die wäre ja doof, wenn sie mit diesem Gesicht kein Geld machen würde.
Charlotte: Ich habe das Gefühl, dass ich dein Gesicht von irgendwoher kenne.
Ivana kicherte.
Ivana: Das sagen viele.
Ivana: Ich war mal bei GNTM.
Charlotte ärgerte sich, dass sie nicht selbst draufgekommen war.
Charlotte: Stimmt! In der 2. oder 3. Staffel. Du bist weit gekommen. Richtig? Finale?
Ivana: Nein, leider kurz vorher rausgeflogen. Ich wurde Vierte.
Charlotte: Besser Vierte als Zweite.
DIE WOHNUNG WAR die zweite Fehlentscheidung. In so Dingen wie Wohnungssuche konnte Charlotte sehr akribisch und penetrant sein, und sie wusste, dass sie auch in einer Stadt wie München etwas finden würde. Nach einer Woche Internetsuche und einem Besichtigungstag hatte sie drei Mietverträge vorliegen. Zwar lagen alle Wohnungen ein wenig außerhalb, aber Charlotte, die in Köln ziemlich zentral lebte, wusste inzwischen, dass sie nicht mitten in der Stadt wohnen musste. Zwei Wohnungen waren in äußerst gepflegten Gebäuden, und eine Verwalterin wollte Charlotte, nachdem sie in die engere Auswahl gekommen war, sogar via Zoom kennenlernen; es sei ihr sehr wichtig zu wissen, wer da in ihrem Haus wohne. Schließlich entschied sich Charlotte aber für die dritte privat vermietete, überteuerte 1,5-Zimmer-Wohnung in Ismaning mit Blick auf die Isar, weil sie ja eigentlich am Meer wohnen wollte und dachte, dass eine Wohnung an der Isar ein akzeptabler Kompromiss wäre. Der Haken war das Haus, ein heruntergekommener Block aus den Siebzigern mit ungeputztem Treppenhaus und vielen kaum leserlichen Klingelschildern. Aber der Blick aufs Wasser.
Zur Schlüsselübergabe fuhr Charlotte noch einmal in den Süden, wobei ihr das malerische Bayern wieder ein bisschen wie Ausland vorkam, wie Schweiz oder Österreich, diese heile Welt mit ihren grünen Hügeln und der Bergkette am Horizont gehörte doch nicht zu Deutschland.
Nach der Übergabe ging sie das Treppenhaus einmal ganz ab. Eine Wohnungstür war mit gelbem Polizei-Klebeband verschlossen. Sie machte ein Foto von den Klingelschildern, um nachher im Zug zu googeln, wer da noch so mit ihr im Haus wohnte. Charlotte googelte viel. Meistens Menschen, aber auch Dinge und Orte. Und so googelte sie auf der Rückfahrt die Namen, die auf unterschiedliche und oft nachlässige Art auf den Klingelschildern geschrieben standen. Zu den meisten fand sie nichts, aber zwei hatten zumindest einen normalen Job. Dann beging sie aber den Fehler und googelte noch ihre neue Adresse. Sie fand einen Zeitungsartikel über ein Tötungsdelikt. März 1996 war eine stark verweste Männerleiche in einer der Wohnungen gefunden worden. Die Sache war fast 30 Jahre her, aber trotzdem.
Dieser erste tote Mann, der ausgerechnet in ihrem Geburtsjahr ums Leben gekommen war, versetzte Charlotte in eine tiefe Krise. Tagelang verließ sie ihre gekündigte Kölner Wohnung kaum, sie heulte viel, packte heulend ihre Sachen zusammen, aß heulend zu Abend, und nachts schwitzte sie heulend, als ob sie Fieber hätte, obwohl sie kein Fieber hatte. Aber da sie Kündigung sowie Miet- und Arbeitsvertrag bereits unterschrieben hatte und in ein paar Tagen der Umzug anstand, heulte sie mit der Zeit weniger und zwang sich dazu, sich auch ein wenig zu freuen. Auf den lustigen Verleger und den Beginn ihrer Verlagskarriere. Vielleicht würde das ja die Zeit ihres Lebens werden.
Die Eltern mussten helfen, weil sie ja quasi schuld waren an diesem Umzug. Bisher hatten sie das bei keinem von Charlottes sechs Umzügen getan. Der Vater musste schließlich viel arbeiten, und die Mutter musste schließlich auch ein bisschen arbeiten und für den Vater da sein, wenn er abends nach Hause kam. Es war ein heißer, schwüler Samstag, der letzte Julitag, und während sie Charlottes Sachen schwitzend in die Wohnung hochtrugen, zogen dicke Gewitterwolken auf. Sobald die Eltern fort waren, zog Charlotte sich Laufsachen an und flüchtete aus der Wohnung, die sie nicht ertrug. Als sie eine gute Stunde an der Isar entlang Richtung Zentrum gerannt war, donnerte es, die Wolken brachen, und Charlotte, die Angst vor Gewitter hatte, rannte weg vom Wasser und landete in Bogenhausen. Sie rannte an imposanten Villen vorbei und fragte sich, ob hier der Verleger wohnte, neben Cathy Hummels oder so. Aber dann erinnerte sie sich, dass Cathy letztens ins hippe Schwabing umgezogen war. Auf Instagram hatte Charlotte verfolgt, wie Cathy die goldene Wendeltreppe in der neuen Villa aufwendig umgestalten ließ, oder ließ sie sie umgekehrt vergolden? Charlotte hatte einen Soft Spot für Cathy Hummels, die seit der Trennung von Mats Hummels komplett verloren schien, und konnte sich nicht genau erinnern, wie genau das mit der Treppe gewesen war. Sie wusste noch, dass Cathy sich an den beiden Tagen, als die alte, wunderschöne Küche aus- und die neue eingebaut wurde, eine riesengroße, provisorische Übergangsküche in einem Zimmer aufbauen ließ, weil Cathy Hummels Kochen liebt. Und Essen. Cathy Hummels liebt Essen, das sagt sie immer in ihren Insta-Stories. «Ich liebe Essen.» Sie isst hauptsächlich Berge von Pilzen und Salat, überall. Egal wo sie hinfährt oder hinfliegt, sei es nach Thailand oder in die Alpen, in jedem Restaurant oder bei jedem Barbecue-Abend mit der Familie, bekommt sie Berge von Pilzen und Salat serviert und hat selbstverständlich immer in so Plastiktuben ihre eigenen Soßen dabei. Sie reist stets mit den gleichen Leuten herum, mit ihrer Make-up-Frau Aenna Baenana, ihrem Vater Fredi Fischer und manchmal mit ihrem Sohn Ludwig (auch Ludi genannt) inkl. zweier ständig wechselnder Nannys. Und wenn sie nicht gerade Berge von Pilzen und Salat isst, filmt sie irgendjemand für ihre Insta-Stories, in denen Cathy strahlend berichtet, was sie an dem Tag vorhat oder dass sie sich, wenn sie mal schlechte Laune hat, schön ankleidet und einfach eine rosafarbene Sonnenbrille aufzieht, und das bewirkt Wunder. Während sie das sagt, zieht sie eine rosafarbene Sonnenbrille auf und strahlt in die Kamera, aber in den traurigen sorgengefurchten Augen von Vater Fredi, der irgendwo zusammengesunken im Hintergrund sitzt oder steht, sieht Charlotte, dass die rosafarbene Sonnenbrille vielleicht doch nicht so krasse Wunder bewirkt.
In der exklusiven RTL2-Doku «Cathy Hummels – Alles auf Anfang» will Cathy zeigen, wie sie wirklich ist. Sie spricht von der Trennung von Ehemann Mats, dem Spagat zwischen Arbeitswelt und Mutterrolle und von ihren Depressionen. Wir begleiten Cathy mit der gewohnten Crew nach Los Angeles, wo sie eine kleine Cameo-Rolle bei X-Factor und ein peinliches Blind Date hat, nach München, wo sie ihren «Wiesn-Bummel» organisiert, nach Köln zum Deutschen Fernsehpreis, wo sie den Preis in der Kategorie «Beste Unterhaltung Reality» für die Sendung «Kampf der Reality Stars» annimmt und eine zu emotionale Dankesrede hält, als ob sie als beste Moderatorin den Preis bekommen hätte und nicht die Sendung (das war so lustig. Allein schon bei dem Gedanken daran muss Charlotte trotz Kälte, Regen und München loslachen), was natürlich wieder einen Shitstorm nach sich zieht, und wir schauen zu, wie sie sich zu zeigen bemüht, wer sie wirklich ist, während sie sich überaus umständlich einen riesengroßen Hometrainer in das Ferienhaus in Los Angeles liefern lässt (weil Cathy nicht nur Kochen und Essen, sondern auch Sport liebt) und den beiden mexikanischen Lieferanten dann krass viel Trinkgeld gibt, wozu sie in die Kamera strahlt. Und immer wieder: Vater Fredi im Hintergrund mit seinen sorgengefurchten Augen.
Irgendwie hat Cathy, die sich die Welt so macht, wie sie ihr gefällt, den Anschluss an die Außenwelt komplett verloren, und das fasziniert Charlotte ungemein, macht sie gleichzeitig aber auch traurig. Die Cathy hat Lust aufs Leben und neue Herausforderungen wie Schauspiel, sagt die Cathy. Die Cathy hat Lust, sich noch mal richtig zu verlieben, sagt die Cathy. «Die Cathy» sagt sie immer, wenn sie über sich selbst spricht.
Manchmal, wenn Charlotte länger nicht Cathys Stories geschaut hat, hofft sie beim Wieder-Reinschauen, dass es der Cathy endlich mal besser geht. Und meistens ist alles wie immer.
Charlotte stellte sich unter einem Carport neben einen Tesla, wartete, dass der Abstand zwischen Donner und Blitz wieder länger wurde, und massierte ihren rechten Oberschenkel, der schmerzte. Der Abstand wurde immer kürzer, Charlotte hatte ihr Highspeed-Datenvolumen für den Monat schon verbraucht, konnte deswegen nicht im Regenradar checken, wie lange das Gewitter noch dauern würde, und so rannte sie von Tesla zu Porsche zu Tesla zurück Richtung Isar.
War es eben noch schweißtreibend heiß gewesen, klebten die Laufklamotten Charlotte nun pitschnass am Leib, und ihre Hände waren taub vor Kälte. Ab und zu schaute sie durch die Fenster in die schönen Häuser, in denen warm und gemütlich Licht leuchtete, weil es draußen auf einmal so kalt und dunkel war. Einmal sah sie eine Familie, die rund um einen Tisch saß, und vermisste ihre Eltern. Das Gewitter bäumte sich immer wieder auf, und irgendwann rannte Charlotte einfach ohne Tesla-Halt durch das Unwetter an der Isar entlang zurück Richtung Ismaning, angetrieben von dem Gedanken an die lange, heiße Dusche, die in dieser fremden Wohnung auf sie wartete. Wenn sie vom Blitz getroffen würde, dann sollte es eben so sein.
In Unterföhring konnte sie nicht mehr. Sie stieg in die S-Bahn und fuhr das letzte Stück. Wegen der tauben Finger bekam sie die Wohnungstür erst nach einer Ewigkeit auf, und es war sehr unangenehm, sich die kalten, nassen Klamotten vom Körper zu pellen, aber der Strahl der Dusche war dann heiß und stark. Der Strahl der Dusche war zu heiß und zu stark, aber Charlotte veränderte weder Temperatur noch Stärke, weil sie erschöpft war von Umzug und Unwetter und etwas anderes spüren wollte als das, was sie spürte. Was Cathy wohl gerade machte? War sie gerade in ihrer Schwabinger Villa und kochte Pilze? Charlotte fragte sich, was Cathy machte, wenn sie nicht Aenna Baenana, Vater Fredi oder Ludi um sich herumhatte, ob sie dann heulte oder rumbrüllte. Vielleicht hatte sie sich auch schon mal geritzt? Charlotte stellte sich vor, wie Cathy Hummels in diesem Moment auf ihrem gigantischen Boxspringbett auf dem Rücken lag und an die Decke starrte. Charlotte befürchtete, dass Cathy nicht gerne allein war und deswegen immer Aenna Baenana, Vater Fredi und die Nannys um sich scharte, und konnte das verstehen, weil die Stille in so einer riesigen Schwabinger Villa sicher laut sein konnte. Vielleicht genoss Cathy aber gerade in diesem Moment auch eine Beauty-Behandlung. Botox, Pediküre oder so, riet Charlotte, während sie im grellen Badezimmerlicht die ersten Falten auf ihrer Stirn musterte.
Nach der Dusche widmete sich Charlotte dem Chaos in der Wohnung, packte Bücher, Klamotten und Geschirr aus und googelte mit der reduzierten Datengeschwindigkeit, wie das Depressionenbuch von Cathy hieß: Mein Umweg zum Glück: Sei mutig, echt und einzigartig.
«Sei mutig, echt und einzigartig», sang Charlotte vor sich hin, während sie ihre Bücher in das weiße IKEA-Regal einsortierte.
Da sah sie einen birnengroßen dunklen Fleck auf dem frisch verlegten Parkettboden direkt unter dem Fenster, der sie störte. War da mal Blut gewesen? Sie wusste natürlich, dass das nicht das Blut des toten Mannes sein konnte, die Wohnung hatten sie ja ganz frisch renoviert. Aber irgendwas musste dort ausgelaufen sein. Vielleicht Blut, dachte Charlotte wieder und wollte nun unbedingt wissen, in welcher Wohnung der tote Mann damals gelegen hatte. Weil sie die Wohnung immer noch nicht ertrug, fuhr sie mit der S-Bahn zum Münchner IKEA, der genauso war wie der Kölner IKEA und ihr noch schlechtere Laune machte, weil er genauso war wie der Kölner Ikea, aber eben nicht der Kölner IKEA war. Sogar der Parkplatz und das Industriegebiet, aus dem der IKEA herausragte, sahen aus wie in Köln. Sie ging mit den ganzen Sachen, die sie eigentlich gar nicht brauchte, zur Selbstbedienungskasse, scannte den Teppich nicht ein und freute sich zumindest kurz über dieses Schnäppchen.
In der ersten Nacht in dem neuen Zuhause brannte ein Feuerwerk am Himmel, weil irgendjemand geheiratet hatte, Ludi Geburtstag hatte oder die Ankunft von Charlotte gefeiert wurde, die trotzdem schlecht schlief.
Auch an den folgenden freien Tagen bis zum Arbeitsbeginn wollte das Gefühl der Beklemmung in Charlottes Bauch nicht weggehen. Sie erkundete die Gegend und fühlte sich einsam. Sie kaufte sich neues Datenvolumen und tinderte, um ein bisschen Austausch zu finden, lernte mit Buch und Karteikarten Business-Englisch, weil ihr Englisch nicht so gut war wie im Bewerbungsprozess behauptet, legte sich an den Mallertshofer See, las einen Roman aus dem Verlag des Verlegers, der sie langweilte, las in das Gesprächsbuch des Verlegers und des Tennisprofis rein, das sie auch langweilte, lud im McDonald’s Netflix-Serien runter, die sie sich abends reinzog, und wartete darauf, dass der Techniker kam, damit sie endlich Internet in ihrer Wohnung hatte. Charlotte sprach in diesen Tagen mit niemandem außer mit den McDonald’s-Mitarbeitern, den Supermarktkassierern, dem Internet-Techniker und ihrer Mutter am Telefon. Sie spazierte an der Isar entlang, durch den Englischen Garten, schaute sich die Surfer an, schaute sich die Menschen an, die den Surfern begeistert zuschauten, schaute sich die Menschen an, die gemeinsam mit einem oder mehreren anderen Menschen an dem Alpenvorlandfluss entlangspazierten und glücklich aussahen, und überlegte, ob man sie in naher Zukunft auch mal glücklich gemeinsam mit einem oder mehreren anderen Menschen an der Isar entlangspazieren sehen würde.
RÜCKBLICKEND FRAGT SICH Charlotte manchmal, wann genau sie begriffen hat, dass sie in so etwas wie die düstere, auf ZDFneo oder ARTE ausgestrahlte Indie-Variante von Der Teufel trägt Prada geraten war. Sie fragt sich, ob es einen Moment gab, in dem es ihr wie Schuppen von den Augen fiel, oder ob es ihr allmählich dämmerte. Meistens gelangt sie dann zu dem Ergebnis, dass es nicht diesen Schuppen-von-den-Augen-fiel-Moment gab, dass aber die Bedienungsanleitung, die der frankophile Verleger liebevoll Manuel Maise (also nicht Manuel wie der Vorname, sondern wie das französische Wort für Handbuch) oder abgekürzt MM nannte und die die beiden neuen Assistentinnen sich gleich als erste Amtshandlung an ihrem ersten Tag ausdrucken sollten, um sie daraufhin zu inhalieren, die allmähliche Dämmerung einläutete.
Der Verleger war an diesem ersten Tag nicht im Hause. Es gehe ihm gesundheitlich nicht gut, so die alte Assistentin. Die alte Assistentin, die natürlich nicht alt war, aber eben die alte Assistentin, so wie Charlotte und Ivana die neuen Assistentinnen waren, hielt sich bedeckt, was genau der Verleger für gesundheitliche Probleme hatte, obwohl Charlotte mehrmals auf unterschiedliche Art und Weise nachbohrte. Die Konsequenz, mit der die alte Assistentin ihren Fragen auswich, verunsicherte Charlotte. Es schien etwas Ernsthafteres zu sein, dachte sie und hoffte, dass der Verleger keine lebensbedrohliche Krankheit wie Krebs oder Parkinson hatte, die ihn in naher Zukunft dahinzuraffen drohte, jetzt, wo sie extra für ihn nach München gezogen war. Die alte Assistentin, die Charlottes Besorgnis zu spüren schien, versicherte ihr daraufhin, die neuen Assistentinnen würden den Verleger bestimmt in den nächsten Tagen kennenlernen, bis dahin hätten sie ja das MM sowie andere Aufgabenbereiche, in die sie sich hineinarbeiten konnten. Wobei das MM absolute Priorität habe! Da steht alles drin, und es ist quasi eure Bibel, sagte die alte Assistentin den beiden neuen Assistentinnen mit einem Lächeln im Gesicht.
Charlotte gelang es erst beim dritten Anlauf, den dicken Stapel zu tackern, und sie begann, sich in ihrer neuen Bibel die wichtigen Punkte mit einem gelben Textmarker zu markieren. Die Gliederung hatte wie die echte Bibel zahlreiche Punkte, Unterpunkte, Unterunterpunkte, wie Verpflegung, Hotelbuchungen, Blumenlieferungen, Sendungen, Korrespondenzen, Kalender usw. Minutiös wurde in unzähligen Abschnitten erklärt, wie die Assistentinnen den Verleger zu bedienen hatten. Charlotte fand es ein wenig ulkig, dass er seine Bowls und Suppen nur mit dem schweren WMF-Löffel und nicht mit dem biegsamen IKEA-Löffel essen wollte, dass im Hotelbett kein Daunenkissen liegen durfte und vor jedem Check-in außerdem abgeklärt werden musste, dass die Fernbedienung auch desinfiziert worden war (außerdem Fenster Richtung Süden und ja kein Zimmer im Erdgeschoss oder ersten Obergeschoss!). Beinahe niedlich erschien es ihr, dass nur zwei Sitzplätze im Flugzeug für ihn infrage kamen, und sie konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als sie las, wo und in welcher Reihenfolge die Assistentinnen anrufen und betteln mussten, um diese zu bekommen. Oder wie sie ihm seinen aus China importierten Spezialtee zu servieren hatten! Exakt anderthalb Teelöffel Tee in Musselin-Teebeutel löffeln, überbrühen mit erhitztem Wasser (80 Grad! Teethermometer benutzen!), nach zwei Minuten Ziehzeit rausnehmen und sofort (ohne Umwege!) zu ihm bringen. Und auch wenn Charlotte im Nachhinein gerne erzählt, wie es ihr schon beim erstmaligen Lesen des MMs zu dämmern begann, dass sie in eine auf ZDFneo oder ARTE ausgestrahlte Indie-Variante von Der Teufel trägt Prada geraten war, und wie sie sich beim Markieren mit dem gelben Textmarker fragte, was passieren würde, wenn der IKEA- und nicht der WMF-Löffel auf dem pinken Tablett neben der mit mehreren Sonderwünschen bestellten und in mehreren Schritten angerichteten Bowl lag oder wenn das Fenster im Hotelzimmer Richtung Osten ausgerichtet war, fand Charlotte das MM und den Verleger, bevor und wahrscheinlich auch nachdem sie Letzteren persönlich kennenlernen durfte, in erster Linie interessant. Der Verleger war ja schließlich nicht nur Verleger, sondern auch Schriftsteller, Unternehmer und Social Entrepreneur. Charlotte wusste nicht, was ein Social Entrepreneur eigentlich genau war oder machte, aber wer wusste das schon. Hatte Charlotte eine Berufung vergessen oder eine falsche dazugedichtet? Egal. Jedenfalls war der Verleger schließlich nicht nur Verleger, und dass jemand mit so viel Verantwortung seine wiederkehrenden Strukturen brauchte, war nachvollziehbar. Wichtige und mächtige Männer haben bestimmt alle ihre Neurosen, dachte Charlotte. Sonst würden sie bestimmt durchdrehen, die armen Männer.
Die Assistentinnen bekamen zum Einstieg einen riesengroßen Blumenstrauß (pinke Lisianthus, mit kurzen Stielen, wie im MM notiert), Pralinen, einen E-Reader und einen knallpinken Kalender, den der Verleger laut der Bedienungsanleitung gerne verschenkte und den er selbst designt oder vielmehr bei «der bedeutendsten Typografin unserer Zeit» in Auftrag gegeben hatte. Dazu eine schlichte weiße Karte mit ein paar gedruckten Worten inkl. gedruckter Unterschrift von ihm, an die sich Charlotte nicht mehr erinnern kann. Nett, dachte Charlotte, die Geschenke liebte, und freute sich besonders über den Reader, auch wenn sie genau dieses Modell schon besaß und nicht benutzte. Sie könnte auf dem zweiten ja in die neuen Manuskripte des Verlages reinlesen, in der Mittagspause am Wasser. Ivana, die überschwänglich und exaltiert «Oh wie nett!», «Wie aufmerksam!», «Ich liebe solche Gesten!», «Wie aufmerksam!» ausrief, riss Charlotte aus ihren Träumereien um den E-Reader, die Isar und den jungen Mann, der sich neben die Lesende (Charlotte) setzte und fragte, was sie da lese, er sehe sie ja jeden Tag. Und während Charlotte sich fragte, wann sie selbst zuletzt in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch das Wort «aufmerksam» benutzt hatte und ob Ivana oft so überschwänglich und exaltiert ausrufen würde, rief Ivana überschwänglich und exaltiert «Ich lese ja gar nicht!», «Aber ich will jetzt anfangen zu lesen!», «Ich freue mich richtig!», «Ich lese ja gar nicht!», «Aber ich will jetzt anfangen zu lesen!» und «Versprochen!» aus. «Suchst du mir ein paar Bücher raus?», «Du liest doch so viel, oder?», fragte Ivana, die sich ein bisschen beruhigt hatte, und Charlotte nickte lächelnd: Klar.
«Wie man so eine Karte setzt, zeig ich euch morgen Vormittag in Ruhe. Das ist ein wenig komplizierter», sagte die alte Assistentin noch vor der Mittagspause, und Charlotte rätselte darüber, was daran kompliziert sein konnte, einen Brief auf Briefpapier auszudrucken. Charlotte wusste damals noch nicht, dass Briefe-für-den-Verleger-Setzen irgendwo zwischen russischem Roulette und einer komplizierten Wissenschaft lag, wobei noch nicht mal der Verleger die dieser – seiner – Wissenschaft zugrunde liegende Formel kannte. Charlotte wusste damals noch nicht, dass sich jeder nach unzähligen Korrekturläufen schlussendlich abgesandte Brief wie ein kleiner Sieg anfühlen würde, während die Liste der sich in Bearbeitung befindlichen und noch zu diktierenden Briefe wuchs und wuchs. Und Charlotte brauchte ein bisschen Zeit, um zu verstehen, dass es beim Briefe-für-den-Verleger-Setzen eigentlich nur eine zentrale Sache zu beachten gab: Die Rahmenbedingungen für das Vorzeigen des gesetzten Briefes mussten stimmen, und der Verleger musste sich dabei umsorgt, ernst genommen und bewundert fühlen. Am besten vorher einen Espresso mit einem oder zwei, aber nicht drei Toffifee servieren (auf jeden Fall nicht einfach nur einen Espresso, es musste eine liebevolle Geste dabei sein, vorzugsweise aus dem Hause Storck und ja nichts aus dem Hause Maise! Nur einmal hatte Charlotte den Fehler begangen, ihm zwei Karabomben zum Espresso zu legen), auch wenn er keinen bestellt hatte und auf seine Linie achten wollte, dann sich zu ihm setzen, ruhig und nicht hektisch aufzählen, was schon alles erledigt worden war, dann fragen, wie es seiner Tochter und vor allem wie es ihm gehe, wie er denn geschlafen habe, vielleicht noch irgendeine allgemeine Frage hinterherwerfen, was er eigentlich vom Spätsommer oder von einer Person im Verlag halte und was in der Kindheit sein Leibgericht gewesen sei, ihn dabei zum Lachen bringen und ganz wichtig: über das von ihm Gesagte lachen. Natürlich nur wenn er sie zum Lachen bringen wollte. Und dann, wenn Charlotte gelacht, der Verleger gelacht, im besten Fall sie zusammen gelacht hatten, er genug erzählt hatte und nicht oder nicht mehr in seiner Zerstörlaune war, ganz schnell und unverfänglich, am besten kurz bevor sie das Zimmer verließ, um eifrig Dinge für ihn zu erledigen, den gesetzten Brief hinhalten. «Kann der so raus?»