Die Atom-Lüge - Sascha Adamek - E-Book

Die Atom-Lüge E-Book

Sascha Adamek

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Beschreibung

Die größten Lügen zur Atomkraft. Sascha Adamek deckt auf – schonungslos, kritisch, parteiübergreifend!

Ist seit Fukushima wirklich alles anders? Während die Bundesregierung vom angeblichen Atomausstieg spricht, entwickeln die Atomkonzerne längst wieder Strategien für die nächsten Jahrzehnte einer strahlenden Zukunft. Sascha Adamek deckt auf, welche wirtschaftlichen und politischen Interessen hinter der Nuklearbranche stehen und legt den Einfluss der Atomlobby auf die deutsche Politik offen. Wer profitiert von der Atomkraft? Was kostet sie uns? Und welchen Preis sind wir eigentlich bereit, für sauberen Strom zu zahlen?

Brisante Fakten enthüllen: Die Atomkraftdebatte ist in Wahrheit eine lange Geschichte politischer Täuschungsmanöver. Das lässt nur einen Schluss zu: Wir müssen abschalten – und zwar sofort.

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SASCHA ADAMEK arbeitet seit fünfzehn Jahren als investigativer Journalist für die ARD-Politikmagazine »Monitor« und »Kontraste«. 2008 enthüllte er in dem Bestseller Der gekaufte Staat gemeinsam mit Kim Otto den verdeckten Einfluss der großen Energiekonzerne auf die Politik. Diese Macht eines »Staates im Staate« führt Adamek auch im vorliegenden Buch anhand zahlreicher brisanter Fakten und Episoden aus der deutschen Atomgeschichte vor.

Vom Autor ebenfalls bei Heyne lieferbar: Schön reich. Steuern zahlen die anderen und Die facebook-Falle. Wie das soziale Netzwerk unser Leben verkauft.

Ich widme dieses Buch in LiebeAnna, Nils, Max und Mélanie

Inhaltsverzeichnis

Über den AutorMururoa, Kosovo, RheinsbergDie teuerste Lüge der Menschheit oder: Was kostet ein Mensch?1 - Diese Katastrophe war das »absolut Unwahrscheinliche«2 - Deutsche Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt3 - Die Legende vom rot-grünen Atomausstieg4 - Schwarz-gelbe Laufzeitverlängerung zum Wohl des Volkes5 - Kernenergie ist nur eine Brückentechnologie6 - Atomstrom ist billig, sauber und versorgungssicher7 - Fukushima hat alles verändertDankAnmerkungenCopyright

Mururoa, Kosovo, Rheinsberg

Die Befürworter der Atomenergie halten diese für beherrschbar. Dreimal hatte ich in meinem Leben mit Formen angeblich beherrschbarer Radioaktivität zu tun. 1995 badete ich gerade im südpazifischen Ozean zwölf Seemeilen vor dem Mururoa-Atoll, als der Kapitän unseres Protestschiffs wütend von Bord rief: »They’ve done it these bloody frogs!« Damit meinte er die französischen Atombombentester. Wir hatten uns abkühlen wollen, und es war erstaunlich, dass wir von der Explosion eines Atomsprengsatzes mit der anderthalbfachen Stärke der Hiroshima-Bombe nichts spürten. Auch nicht davon, dass das Atoll längst einem hochradioaktiven zerbombten Schweizer Käse glich.

Die französische Regierung behauptet noch heute, die Atomtests seien beherrschbar gewesen, und leugnet die vielen Strahlenopfer in der Südsee.

2001 war ich mit einer Ärztin von der Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) im Kosovo unterwegs. Ich machte Bilder von einem ausgebrannten serbischen Panzer. Das Einschussloch in seiner Außenwand war eindeutig: Die Wand des Panzers war von einer panzerbrechenden Granate aus abgereichertem Uran durchschlagen worden. Die von der NATO in Serbien eingesetzten Waffen waren zuvor von den US-Streitkräften im Zweiten Golfkrieg gegen den Irak eingesetzt und für das massenhafte Auftreten einer Nervenkrankheit bei US-Soldaten verantwortlich gemacht worden – dem sogenannten Golfkriegssyndrom. Die Granaten sollen niemanden verstrahlen und sind nur aufgrund ihrer Schwere und Durchschlagskraft attraktiv für das Militär. Sie sind ein Abfallprodukt der sogenannten friedlichen Nutzung der Kernenergie. Im Kosovo sahen wir Kinder in der Nähe des Panzers spielen. Alles beherrschbar? Ich verliere beim Gedanken daran gelegentlich noch immer die Beherrschung.

1998 besuchte ich mit einem Kamerateam das stillgelegte Atomkraftwerk Rheinsberg, um einen Film über die aufwendige Demontage des Kraftwerks zu drehen. Der Kameramann war sich nicht sicher, ob die Bilder etwas taugten, denn im Okular flimmerte es. »Das ist nur die Strahlung«, sagte unser Begleiter von der Kraftwerksleitung. Bevor wir den Reaktorbereich dann wieder verlassen durften, mussten wir uns einem Radioaktivitätstest unterziehen. Ich stand in einem Metallkäfig und wartete, da erklang ein Alarmsignal: »Kontamination – treten Sie in den Reaktorbereich zurück!« Der Kraftwerksmitarbeiter lachte: »Da haben Sie wohl ein Partikelchen abbekommen, gehen Sie noch einmal zurück und fahren Sie sich mal durch die Haare.« Wenn das nicht genüge, müsse ich zurück und duschen, erst dann dürfe ich heraus.

Der Trick mit den Haaren funktionierte. Aber mir war nicht zum Lachen zumute. Der Abriss dieses Kraftwerks in Rheinsberg dauert noch immer an – erst in dreißig Jahren kann das Gebäude wegen der Verstrahlung vollends abgerissen werden. Bereits 420 Millionen Euro sind für den Rückbau an Steuergeldern verbraucht worden.

In diesem Buch werde ich über die menschlichen und finanziellen Kosten der Atomenergie berichten – einer Energie, die von der schwarz-gelben Bundesregierung als beherrschbare, billige und saubere »Brückentechnologie« propagiert wird – als habe es Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima nie gegeben – und eine Technologie, der ausgerechnet die erste rot-grüne Bundesregierung in Deutschland im Jahr 2000 eine zwei Jahrzehnte lange Galgenfrist eingeräumt hatte.

Die teuerste Lüge der Menschheit oder: Was kostet ein Mensch?

Während in Japan Menschen an den Folgen der verheerenden Atomkatastrophe sterben, verändern sich in Deutschland die politischen Mehrheitsverhältnisse. Eine stets atomgläubige Kanzlerin unternahm den Versuch, unter dem Druck der Ereignisse kurz vor der wichtigsten Landtagswahl des Jahres in Baden-Württemberg zur Ausstiegskanzlerin zu mutieren. Sie verhängte ein Moratorium für die von CDU/CSU und FDP beschlossene Verlängerung der deutschen AKW-Laufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre. Sie sprach im Wahlkampf von Baden-Württemberg plötzlich von einem schnelleren Ausstieg als unter Rot-Grün. Die Wähler glaubten ihr diese Camouflage nicht. Aber was folgt nun daraus?

Dieses Buch soll in der Debatte um das Wie und Ob des längst überfälligen Totalausstiegs aus der Atomkraft einen Lügendetektortest für Politiker bieten: Ist die Botschaft von Fukushima tatsächlich in den Köpfen aller Parteien angekommen oder wird – wie nach Tschernobyl – trotzdem wieder mit den Atomkonzernen gekungelt?

Dieses Buch erzählt die Geschichte einer Technologie, an die unsere Industriegesellschaften jahrzehntelang wie an eine Religion glaubten. Und es beschreibt, wie aus dem Glauben Lügen wurden. Spätestens seit der Kernschmelze von Harrisburg 1979 hätte den Verfechtern dieser Energiegewinnungsform klar sein müssen, dass der Mensch diese Technologie nicht beherrschen wird, geschweige denn verstehen: Wochenlang haben wir ähnliche Bilder von den explodierten Meilern in Fukushima gesehen. Trotz der Selbstmordkommandos von Arbeitern und Feuerwehrleuten, die den Reaktor besprühten, meldeten Medien immer wieder schwarzen Rauch: »Der Rauch über Block 3 stammt der japanischen Atomsicherheitsbehörde zufolge aus dem Reaktorgebäude. Die Ursache sei unklar.«1 Fassungslos lasen wir, dass Japan die Katastrophe anfänglich mit der Stufe 4 auf der 8-stufigen internationalen Skala von 0 bis 7 für Atomereignisse meldete. Stufe 4 beschreibt das Handbuch der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit wie folgt: »Unfall – geringe Freisetzung: Strahlenbelastung der Bevölkerung etwa in der Höhe der natürlichen Strahlenbelastung.«2 Erst nachdem Atomexperten in den USA und die französische Atombehörde den Reaktorunfall in Stufe 6 von 7 möglicher Atomunfälle einordneten (»Schwerer Unfall – erhebliche Freisetzung: Voller Einsatz der Katastrophenschutzmaßnahmen«), stufte Japan am siebten Tag der Katastrophe den Unfall von Stufe 4 auf lediglich 5 hoch: »Ernster Unfall – begrenzte Freisetzung: Einsatz einzelner Katastrophenschutzmaßnahmen«. Wir hörten, dass das Trinkwasser in der Millionenmetropole Tokio für Babys zu radioaktiv sei, für Kleinkinder und Erwachsene hingegen nicht – aber was können wir überhaupt glauben? Erst exakt einen Monat nach der ersten Meldung über den nuklearen Notstand waren die japanischen Behörden bereit, die Vorgänge mit Stufe 7 als das zu melden, was sie sind: ein »katastrophaler Unfall«. Die Informationspolitik des demokratischen Staates Japan ist ähnlich desaströs wie einst die der Sowjetunion nach Tschernobyl. Und sie setzt das Leben Zehntausender Menschen aufs Spiel. Die Nuklearindustrie verhält sich weltweit wie ein Staat im Staat – wie ich in diesem Buch schildern werde – auch in Deutschland.

Die Verharmlosung hat selbst in der Katastrophe noch Methode. Die Atombefürworter aus den Konzernetagen sowie aus der Union und FDP verstummten nach anfänglichen Beschwichtigungsversuchen schnell – nicht zuletzt, weil sie ahnten, dass die schwarz-gelbe Atompolitik bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg 2011 abgestraft werden würde. Bei der Laufzeitverlängerung der Regierung Merkel ging es für die Energiekonzerne um viel Geld – bis zu 200 Milliarden zusätzlicher Gewinne konnten sie sich versprechen. Um dieses Ziel zu erreichen, waren die Propagandaabteilungen der Atomlobby 2010 noch einmal zu Hochform aufgelaufen. Sie warnten wie eh und je vor Versorgungsengpässen für den Fall des Atomausstiegs, vor dem Niedergang des Industriestandorts Deutschlands und vor steigenden Strompreisen und der Klimaerwärmung.

Als Reaktion auf die Atomkatastrophe von Japan verkündete die Bundeskanzlerin aber ein dreimonatiges Moratorium der geplanten Laufzeitverlängerung – ein schönes Wort, das sich vom lateinischen Verb »morari« ableitet und nichts anderes als verzögern bedeutet. Dass Angela Merkel mit der Durchsetzung der ohnehin verfassungsrechtlich umstrittenen Laufzeitverlängerung nun drei Monate warten wollte, hielten nach Umfragen auch viele Bürger für ein reines Wahlkampfmanöver. Und Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle von der FDP gab das am Tag der ersten Explosion in Fukushima im erlauchten Kreis von vierzig Topmanagern von Deutschlands wichtigsten Konzernen in der Zentrale des Bundesverbands der Deutschen Industrie sogar offen zu – allerdings war das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.3 Als über den Ticker die Meldung über das geplante dreimonatige Moratorium kam, machte sich große Unruhe insbesondere unter den Energiemanagern breit. Laut einem internen Protokoll, das die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte, verlangten die Manager eine Erklärung zu dem überraschenden Moratorium: »Der Minister bestätigte dies und wies erläuternd darauf hin, dass angesichts der bevorstehenden Landtagswahlen Druck auf der Politik laste und die Entscheidungen daher nicht immer rational seien.«

Die zahlreichen Lügen der Atomlobby werden in diesem Buch genauso entlarvt wie die Lügen der Politik – und das seit Tschernobyl und dem sogenannten rot-grünen Atomausstieg im Jahr 2000, der sich kaum zehn Jahre später als Überbrückungsmaßnahme für die deutsche Atomindustrie und ihre Jahrzehnte alten Reaktoren entpuppt hat. Vor allem soll anhand konkreter Beispiele des »Normalbetriebs« eines AKWs sowie erfolgter Katastrophen eine Rechnung aufgestellt werden, die die Atombranche weltweit scheut: Was kostet uns diese Energie wirklich? Und wer profitiert?

Wer die Debatten von Ökonomen, Politikern und Verbraucherschützern über den Ausstieg in den vergangenen Monaten verfolgte, konnte beinahe den Eindruck bekommen, es gehe in dieser Frage nur um den Strompreis von Privathaushalten und Industrie, um Arbeitsplätze und den Industriestandort Deutschland. Der Preis, den Menschen für die »friedliche Nutzung der Kernenergie« zahlen, ist aber nicht nur finanzieller Natur – denken wir an die Milliardensubventionen für die Atomwirtschaft. Hunderttausende Menschen haben bereits mit der Zerstörung ihrer Gesundheit zahlen müssen.

Im nicht nuklearen Alltagsleben lassen sich Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit sogar in Zahlen ausdrücken: Für den Verlust einer Milz billigte das Landgericht Aachen dem Opfer einer Messerstecherei ein Schmerzensgeld von 9200 Euro zu.4 Für ein Auge berechnete das Oberlandesgericht Zweibrücken 30 000 Euro Schmerzensgeld; ein Arm war dem Landgericht Arnsberg 45 000 Euro, ein Bein dem Oberlandesgericht Hamm 125 000 Euro wert. In den USA hätten solche unverschuldeten Organ- oder Extremitätenverluste die Opfer zu Dollarmillionären gemacht. Aber den Verlust von Lebensqualität finanziell auszudrücken, ist nicht nur eine sehr willkürliche Angelegenheit, sondern folgt – global gesehen – äußerst unterschiedlichen Kriterien. Denn was ist der Preis für ein Menschenleben?

Rund 600 000 bis 800 000 Feuerwehrleute, Bergarbeiter und Soldaten versuchten zum Teil noch Jahre nach Beginn der Katastrophe von Tschernobyl, die weitere Verstrahlung ganzer Landstriche zu stoppen. Rund 100 000 dieser sogenannten »Liquidatoren« sind bereits tot, und überlebende Kranke kämpfen seit Jahren um eine angemessene Entschädigung – und um Anerkennung. Hunderttausenden mangelt es sogar an der notwendigen Behandlung. Von den noch ungeborenen Spätopfern der Verstrahlung ganz zu schweigen. Geschätzte 200 000 Menschen in Russland, Weißrussland und der Ukraine hat die Kernschmelze bis heute das Leben gekostet.5 Im Auftrag von Greenpeace haben Wissenschaftler und Mediziner aus den betroffenen Ländern Statistiken und Studien über tatsächliche Opfer zusammengetragen, Zahlen, die nie von der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) abgefragt worden sind – ihre bloße Veröffentlichung hätte die atomenergiefreundliche Ausrichtung dieser Organisation auch ad absurdum geführt. Die Zahlen dieser Studien belegen schonungslos die tatsächlichen Qualen der Menschen nach dem Super-GAU von Tschernobyl: Zwischen 1990 und 2000 stieg die Zahl aller Krebserkrankungen in ganz Weißrussland um 40 Prozent an – in den stark kontaminierten Gebieten deutlich höher.

In Russland lag die Krebshäufigkeit in verstrahlten Regionen wie Brjansk um das 2,7-Fache höher als in weniger verseuchten Gebieten. In der Region um die ukrainische Stadt Shitomir, rund 150 Kilometer von Tschernobyl entfernt, stieg der Anteil von Erwachsenen, die an Krebs erkranken, von 1986 bis1994 um fast das Dreifache an. Insbesondere sei die Zahl von Schilddrüsenkrebserkrankungen dramatisch angestiegen, heißt es in der Greenpeace-Studie: »Kinder, die zum Zeitpunkt, an dem sie der radioaktiven Strahlung ausgesetzt waren, 0 bis 4 Jahre alt waren, erwiesen sich als besonders anfällig für diese Krebsart. Vor der Katastrophe betrug die Schilddrüsenkrebsrate bei Kindern und Jugendlichen im Mittel 0,09 Fälle pro 100 000. Nach 1990 stieg die Häufigkeit auf 0,57 bis 0,63 Erkrankungen je 100 000 an.« Ähnlich dramatisch ist die Entwicklung bei Leukämie: »Die Leukämierate bei Kindern in der Region Tula überstieg in der Zeit nach dem Unfall von Tschernobyl signifikant die durchschnittlichen Raten für Russland, insbesondere in der Altersgruppe von zehn bis vierzehn Jahren. In Lipetsk stieg die Zahl der Leukämiefälle zwischen 1989 und 1995 um das 4,5-Fache.« Hinter diesen Zahlen stehen menschliche Schicksale: kranke Kinder, sterbende Kinder, nie geborene Kinder, und noch immer werden Kinder mit Fehlbildungen geboren – als Folge der Verstrahlung ihrer Eltern. Diese Schreckenszahlen werden in Zukunft weiter nach oben korrigiert werden müssen, denn noch immer leben weit mehr als fünf Millionen Menschen in radioaktiv kontaminierten Gebieten. Aber diese Hunderttausende von Opfern waren nicht gegen Atomunfälle versichert – auch die staatlichen Kernkraftwerke nicht.

Auch die 17 deutschen Atomkraftwerke sind übrigens alle zusammen nur bis zu maximal 2,5 Milliarden Euro durch die Konzerne selbst versichert – alles, was im Fall eines GAUs über diese Schadensgrenze hinausgeht, trägt der Staat, also wir Steuerzahler. Die Kosten eines Super-GAUs in unserem dicht besiedelten Mitteleuropa werden auf fünf Billionen Euro geschätzt – so errechnete es die Prognos AG im Auftrag des damals FDP-geführten Bundeswirtschaftsministeriums 1992. Die Versicherungsgrenze von 2,5 Milliarden für alle Atomkraftwerke hat da eher einen symbolischen Charakter. Den leider 2010 verstorbenen SPD-Energie-Experten und Träger des Alternativen Nobelpreises Hermann Scheer hat das zu einem anschaulichen Vergleich animiert: »Das ist so, als ob 17 Autofahrer Vollkasko bekommen, obwohl nur einer bezahlt.«6 Ob Hunderttausende von Menschen im Fall einer Katastrophe die notwendige Hilfe oder – wenn man dieses Wort überhaupt verwenden sollte – Schadensregulierung erhalten oder nicht, hängt dann vom Gutdünken und den vorhandenen Haushaltsmitteln des Staates ab, in dem die Katastrophe stattfindet. Ein Vierteljahrhundert nach der Tschernobyl-Katastrophe verschlingen die Nachfolgekosten noch immer rund 5 Prozent des gesamten Bruttoinlandprodukts in der Ukraine.

Die Risiken der Atomwirtschaft trägt nicht die Atomwirtschaft, denn sie fände genauso wenig eine Versicherung auf dem freien Markt wie ein Autofreak, der seinen alten zerbeulten Golf 1 – ohne Türen und funktionierendes Licht zu versichern suchte. Insofern braucht die milliardenschwere Versicherungswirtschaft auch durch Fukushima keinen Super-GAU für ihre Bilanzen zu befürchten. Die weltweit operierende deutsche Rückversicherung Munich Re jedenfalls verkündete kurz nach dem Einsetzen der Fukushima-Katastrophe, ihr drohten keine größeren Verluste. Denn erstens sei die Versicherungsdichte in den Erdbebengebieten geringer als anderswo in Japan, und zweitens biete man gegen die Folgen atomarer Unfälle ohnehin keinen Versicherungsschutz. Nikolaus von Bomhard sagte dazu der Welt am Sonntag: »Für die Versicherungsbranche wäre eine weitergehende Risikoübertragung wegen der Addition möglicher Schäden nicht verantwortbar. « Der Grund dafür liegt auf der Hand: Versicherungen gleichen das eigene Verlustrisiko mit den statistischen Eintrittswahrscheinlichkeiten von Schadensfällen ab. Skiunfälle, Haushalts- oder Autounfälle, Zugunglücke oder Seilbahnabstürze werden von Versicherungen reguliert – und sogar Extrembergsteiger, Autorennfahrer und Paraglider finden eine Versicherung. Anders verhält es sich bei den rund um den Globus verteilten 443 Atomreaktoren (Stand April 2011). Statistiker und Ingenieure quälten im Auftrag der Atomlobby jahrzehntelang ihre Zahlen so lange, bis sie der Öffentlichkeit von verschwindend geringen Unfallwahrscheinlichkeiten künden konnten. So hieß es noch 1979, eine Kernschmelze mit massenhaftem Austritt von Radioaktivität könne in deutschen (!) Reaktoren nur alle zwei Milliarden Jahre vorkommen – obwohl einige deutsche Reaktoren nur wenige Jahre jünger sind als die in Fukushima-Daiichi. Das sogenannte Restrisiko – eine empörende Verharmlosung – eines Super-GAUs hat keine wirklich vorstellbare Größenordnung, darum lässt sich dieses Spiel mit dem atomaren Höllenfeuer auch nicht versichern. Und selbst bei den mittelbaren Katastrophenfolgen – etwa im Fall Japans den Produktionsstopps von Autofirmen – hält sich Munich Re lieber zurück. Es komme auf jede einzelne Police an.

Letztlich tragen wir als Steuerzahler und Verbraucher die Folgen solcher Unfälle, während Banken und Kreditversicherer an den teuren Investitionen der Atombranche kräftig mitverdienen. Wie diese Geldströme in Form von Milliardengewinnen und versteckten Subventionen verlaufen und welche Politiker sie ermöglichten, versucht dieses Buch offenzulegen. Wer aber zum Taschenrechner greifen möchte, um auszurechnen, wie die tödliche Bilanz der Nuklearindustrie am Ende aussieht, sollte ihn lieber in der Schublade lassen. Die Kosten eines Super-GAUs enden nie – wie uns Tschernobyl lehrt. Die ultimative Rechnung muss das Buch übrigens auch schuldig bleiben: den Preis eines Menschenlebens. Er ist, denke ich, unschätzbar.

1

Diese Katastrophe war das »absolut Unwahrscheinliche«

Wie der Glaube an das Restrisiko zur Lüge wurde

Es ist der Nachmittag des 28. Juni 2007. In der Reaktorwarte des Atomkraftwerks Krümmel, rund 34 Kilometer vom Zentrum der Freien und Hansestadt Hamburg entfernt, erklingt ein Warnton. Ein Kurzschluss im Transformator wird gemeldet. Die sogenannte Resa – die Reaktorschnellabschaltung – erfolgt automatisch. Während sich die Menschen in Hamburg über ausgefallene Ampeln und stillstehende Maschinen wundern, sehen die Männer in der Reaktorwarte auf den Monitoren plötzlich Rauch am Transformatorgebäude. Infolge des Kurzschlusses fällt auch der zweite Transformator aus. Der Dieselmotor des Notstromaggregats springt vorsorglich an, damit das Atomkraftwerk nicht ohne Strom bleibt. Das AKW geht auf das Reservestromnetz. Obendrein beginnt der Wasserstand des Kühlwassers zu sinken – als Folge eines Programmierfehlers, wie sich später herausstellt. Als der Schichtleiter feststellt, dass der Wasserstand immer weiter abfällt und der Druck steigt, lässt er den Reaktorfahrer per Hand ein Ventil öffnen. Kurz darauf deutet der Reaktorfahrer eine Ansage des Schichtleiters falsch und lässt das Ventil weiter offen. Der Wasserstand fällt weiter bis zwei Meter über der kritischen Marke. Nun springen die Pumpen wieder an, das Wasser kann wieder aufgefüllt werden. In der Kraftwerkswarte werden Atemmasken verteilt, denn der Trafobrand auf dem Gelände erzeugt eine riesige schwarze Rauchfahne, hinter der die Gebäude gespenstisch verschwimmen. Ein Mann setzt die Maske auf. Mittlerweile laufen die Drähte zwischen der externen Atomaufsicht des Landes Schleswig-Holstein und dem Betreiber heiß. Im zwei Kilometer entfernten Geesthacht essen die Menschen weiterhin unbekümmert ihr Eis – sie erfahren zunächst nichts. Manager des Atomkraftwerksbetreibers Vattenfall treffen sich noch am gleichen Abend zu einer Krisensitzung in Berlin. Die Geschichte geht glimpflich aus, doch ist es eine Geschichte aus dem Alltag deutscher Atomkraftwerke. Das »Ereignis«, wie die Nuklearbranche solche Vorfälle nennt, wird von Behörden und Betreiber sogar nur auf Stufe 0 auf der achtstufigen Skala der »International Nuclear Event Scale« vermerkt. Er gilt technisch als »Ereignis« und nicht einmal als »Störfall«. Nach Auffassung der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit hat dieser Tag »keine oder nur eine sehr geringe sicherheitstechnische Bedeutung«. Er kann abgehakt werden. Immerhin landet der Brand noch in der Tagesschau. Was lernen wir aus dieser Episode? Technisches Versagen, Missverständnisse oder falsche Ansagen unter dem Bedienpersonal gehören für die Atombranche zum Alltag ihres Geschäfts. Es ist ein Risikogeschäft, aber auch das haben die Herren der Reaktoren nach ihrer eigenen Vorstellung im Griff.

Dreieinhalb Jahre später – der 17. März 2011. Es ist der siebte Tag der Nuklearkatastrophe in Fukushima. Nach Explosionen in zwei Reaktoren kämpfen Arbeiter in Japan gegen die einsetzende Kernschmelze und den immer wahrscheinlicher werdenden Super-GAU. Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt mit ernster Miene ans Rednerpult im Bundestag. In ihrer Regierungserklärung spricht sie von »Entsetzen, Fassungslosigkeit, Mitgefühl und Trauer« und einer Katastrophe mit »geradezu apokalyptischem Ausmaß«. Schnell kommt sie auf die deutschen Kernkraftwerke zu sprechen: »Ja, es bleibt wahr, wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind, sie gehören zu den weltweit sichersten, und ich lehne es auch weiter ab, zwar die Kernkraftwerke in Deutschland abzuschalten aber dann Strom aus Kernkraftwerken anderer Länder zu beziehen. Das ist mit mir nicht zu machen.« Die Abgeordneten von Union und FDP applaudieren lange, »Trauer« und »Entsetzen« sind bereits verflogen. Einige Minuten später aber setzt Angela Merkel an, eine Entscheidung zu verkünden: »Wenn also in einem so hochentwickelten Land wie Japan das scheinbar Unmögliche möglich, das absolut Unwahrscheinliche Realität wurde, dann verändert das die Lage. Dann haben wir eine neue Lage.« Unter Berufung auf das eingetretene »absolut Unwahrscheinliche« verkündet Angela Merkel, dass Reaktoren, die vor 1980 in Betrieb gegangen sind, für drei Monate vom Netz genommen und überprüft werden sollen. Das betrifft die ältesten Reaktoren Philippsburg 1 (1979), Isar 1 (1979), Unterweser (1979), Neckarwestheim 1 (1976), Biblis A (1975), Biblis B (1977). Das Altkraftwerk Brunsbüttel und der Reaktor in Krümmel sind wegen dauernder Pannenprobleme schon länger vom Netz. Die Bundeskanzlerin begründet das mit dem Atomgesetz, das eine vorläufige Stilllegung zulasse, wenn »Schadensereignisse« sich nicht völlig ausschließen lassen. Aber ist das wirklich eine neue Lage? Als Bundesumweltministerin unter Kanzler Helmut Kohl hatte die gelernte Physikerin Angela Merkel vier Jahre lang den Betrieb von Atomkraftwerken in Deutschland befürwortet und verantwortet. 1997 hat sie zum Beispiel dem grün geführten hessischen Umweltministerium per bundesrechtlicher Weisung verboten, dem RWE-Altmeiler Biblis A die Betriebsgenehmigung zu verweigern und Entsorgungsnachweise einzufordern. 1 Biblis A hatte schon damals mehrere Hundert Störungen zu verzeichnen. Bundesumweltministerin Merkel war es auch, die eine »funktionale« Privatisierung der Endlagerung hochradioaktiver, abgebrannter Brennelemente in das Atomgesetz schreiben ließ.2 Sie war eine eifrige und knallharte Anhängerin der Kernenergie: »Spitzentechnologie kann man nicht als Auslaufmodell betreiben, dann kommt die Sicherheit zu kurz«, sagte Ministerin Merkel 1998 zu den Atomausstiegsplänen von SPD und Grünen im Wahlkampf.3 Seit dem 15. November 2005 war sie dann als Bundeskanzlerin fünf Jahre, vier Monate und zwei Tage lang für die Aufsicht von 17 deutschen Atomkraftwerken politisch verantwortlich bis zum Tag von Fukushima – und plötzlich sollte alles anders sein?

Es gibt Worte, die lügen, sobald sie gedruckt oder ausgesprochen werden. Zum Beispiel »Kollateralschaden« für angeblich versehentlich getötete Zivilisten in einem Krieg. Zu dieser Kategorie gehört auch das Wort »Restrisiko«. Im Lexikon der Kernenergie des Forschungszentrums Karlsruhe wird es wie folgt erklärt: »Nicht näher zu definierendes, noch verbleibendes Risiko nach Beseitigung bzw. Berücksichtigung aller denkbaren quantifizierten Risiken bei einer Risikobetrachtung. «4 Wir halten fest: Dieses Risiko ist im Grunde nicht »näher zu definieren«, und es beschreibt all das, was geschehen kann, nach Abzug »aller denkbaren quantifizierbaren Risiken«. Und die undenkbaren Risiken? In dieser Hinsicht fallen beinahe jeder Atomunfall und zahlreiche Störfälle in die Kategorie »Restrisiko«, denn es geschahen Dinge, die zuvor nie »gedacht« wurden – weder von Ingenieuren noch von Politikern. Unter dem Strich ist das Wort »Restrisiko« also eine elegante Art, im Nachhinein auf das Ungedachte verweisen zu können, um nicht der Lüge überführt zu werden. In dieser Tradition steht auch die Physikerin und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sich in ihrer Regierungserklärung nach Fukushima überrascht gab, dass »das absolut Unwahrscheinliche« passiert sei – wider besseres Wissen, wie wir noch erfahren werden. Weil dieses Propagandamittel aber so viele Jahrzehnte gut funktioniert hat – und auch nach Fukushima gern eingesetzt wird –, sollten wir uns kurz mit der Geschichte des Wortes vertraut machen.

Mit dem »Restrisiko« argumentiert die Atomlobby seit es die Anti-AKW-Bewegung gibt und insbesondere, seit schwere Kernschmelzen die Argumentation einer verschwindend geringen Wahrscheinlichkeit von Atomunfällen ins Wanken brachte. Aber wie haben es Ingenieure und Statistiker überhaupt angestellt, ein »Restrisiko« in Zahlen zu gießen? Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) ist eine gemeinnützige technisch-wissenschaftliche Forschungs-und Sachverständigenorganisation, die im Auftrag der Bundesministerien für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU), für Wirtschaft und Technologie (BMWi), für Bildung und Forschung (BMBF), des Auswärtigen Amts sowie des Bundesamts für Strahlenschutz (BfS) die Sicherheit nuklearer Anlagen bewerten und weiterentwickeln soll. Bereits im Herbst 1979 legte sie eine umfassende Risikoanalyse über die Kernkraftwerke vor. Und zwar zu einer Zeit, die für die Atomlobby alles andere als gemütlich war, denn wenige Monate zuvor war es im Atommeiler Three Miles Island bei Harrisburg in den USA zu einem Kernschmelzunfall gekommen, der die Welt lange in Atem hielt – übrigens ein Reaktor, der, gerade mal drei Monate jung, wegen technischer Schwierigkeiten nicht einmal vollständig hochgefahren war.5 Dort hatten Arbeiter bei einer Reparatur drei Ventile versehentlich zugedreht. Als der Reaktor wieder hochgefahren wurde, fielen zwei Speisewasserpumpen aus. Daraufhin wurde die Hitze aus dem Reaktor nicht mehr zu den Dampferzeugern weitergeleitet. Innerhalb von 15 Sekunden stiegen die Hitze und der Druck im Reaktordruckbehälter, so dass automatisch das Notsystem zur Speisewasserzuführung aktiviert wurde. Doch nichts geschah, denn die drei Ventile waren ja versehentlich geschlossen. Der Reaktor schaltete sich automatisch ab, aber zwei Techniker schalteten die nun einsetzenden Kühlwasserpumpen manuell ab – aufgrund einer falschen Druckanzeige. Bereits am Nachmittag schossen insgesamt 1 Million Liter hochradioaktiven Wassers aus dem Druckbehälter. Der Chef des Betreiberkonzerns Edison, John G. Herbein, erklärte daraufhin wartenden Reportern: »Ich würde dies keinen ernsthaften Unfall nennen.« Es kam zu einer Kernschmelze im Reaktor, der jahrelang nicht für Aufräumarbeiten betreten werden konnte. Die Bundesregierung aus SPD und FDP verkündete damals, sofortige Konsequenzen für deutsche Atomkraftwerke müssten aus dem Unfall nicht gezogen werden.6 Diese Haltung fügte sich in eine Zeit, in welcher der Glaube an die Atomenergie in bewusste politische Lügen mündete.

Trotz dieses Unfalls ließen sich die Meister der Statistik und der technologischen Prophetie nicht in ihrem Glauben an die Sicherheit der Atomenergie beirren. Der Spiegel schrieb im August 1979: »Viereinhalb Monate nach der Beinahe-Katastrophe am amerikanischen Atomkraftwerk Three Miles Island scheint das Menetekel von Harrisburg zur Bedeutungslosigkeit verblasst.«7 Professor Adolf Birkhofer, langjähriger Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit übergab damals die erste Deutsche Risikostudie über die Sicherheit von Atomkraftwerken an die Bundesregierung. Darin war errechnet worden, eine Kernschmelze sei in einem deutschen Reaktor statistisch alle 10 000 Reaktorbetriebsjahre zu erwarten.

Eine Katastrophe alle zwei Milliarden Jahre

Zu dieser Zeit waren etwa 250 Reaktoren weltweit am Netz, was bedeutet: Auf den gesamten Reaktorbestand gerechnet, müsste es rein statistisch alle 40 Jahre zu einer Kernschmelze kommen – jedenfalls wenn man eine bei allen Reaktoren gleiche Unfallwahrscheinlichkeit annimmt. Damit wiederum lagen die Wissenschaftler gar nicht so falsch, denn der Unfall von Harrisburg 1979 ereignete sich exakt 25 Jahre, nachdem das erste zivile Atomkraftwerk der Welt 1954 ans Netz ging. In einem weiteren Punkt lagen die atomfreundlichen Wissenschaftler 1979 vollends falsch: Nur bei jeder Hundertsten dieser Kernschmelzen sei auch mit einer Freisetzung von Radioaktivität zu rechnen, schrieben sie. Nukleare Verseuchungen seien also nur alle 1 Million Reaktorbetriebsjahre zu befürchten – sprich alle 4000 Jahre auf alle Reaktoren weltweit gerechnet. Und dass es zu einem katastrophalen Unfall wie kurz darauf in Tschernobyl komme, hielten die atomfreundlichen Statistiker im Jahr 1979 nur alle 2 Milliarden Jahre für wahrscheinlich – also schlicht für ausgeschlossen. Die Unfälle von Tschernobyl nur 7 Jahre später und in mehreren Reaktoren in Fukushima 25 Jahre später lassen jedoch derartige Wahrscheinlichkeitsberechnungen fragwürdig erscheinen. Es sei denn, man nehme an, nach den Unfällen von Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima komme es nun 8 Millionen Jahre lang zu keiner Atomkatastrophe mehr.

Dass allerdings Kernschmelzunfälle in der Regel auch zum Bersten des Reaktors beziehungsweise zur katastrophalen Verseuchung führen, zeigten die beiden Unfälle in Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011. Die Wissenschaft des »Restrisikos« glich eher einer Ideologie oder Religion. Das belegen auch die persönlichen Äußerungen ihrer Verfechter. Der Chef der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, Adolf Birkhofer, soll damals gesagt haben, die Wahrscheinlichkeit für jeden Bundesbürger, Opfer eines tödlichen Verkehrsunfalls zu werden sei tausendmal größer als das Risiko, bei einem Reaktorunglück zu sterben. Der Tübinger Theologe Hans Küng beschreibt diese Wissenschaftsgläubigkeit sehr treffend: »Jede Wissenschaft, und sei sie die exakteste oder tiefschürfendste, die sich selbst verabsolutiert, macht sich vor dem Ganzen lächerlich und wird leicht gemeingefährlich.«8 Wenn den Atomkraftverfechtern in den 70er und 80er Jahren angesichts von Störfällen und Unfällen die Argumente ausgingen, griffen sie zur »Restrisiko«-Lüge und bedienten sich dabei eines zynischen Plaudertons. In den USA verstiegen sich Nuklearwissenschaftler öffentlich zu der Behauptung, die Wahrscheinlichkeit, von einem Meteoriten getroffen zu werden, sei höher als durch einen Nuklearunfall zu sterben. Und der bayerische Ministerpräsident Franz-Josef Strauß donnerte den Gegnern der geplanten nuklearen Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf in den 80er Jahren entgegen, eine solche Anlage und der damit verbundene Einstieg in die Plutoniumwirtschaft seien sicherer als eine Fahrradspeichenfabrik. Zu dieser Nuklearlyrik griff auch die damalige Bundesumweltministerin Angela Merkel, um die ihrer Ansicht nach »beherrschbare Technik« zu verteidigen: »Wenn Sie einen Kuchen backen, geht auch nicht alles nach Rezept, da fällt schon mal ein Mehlstäubchen ab. Ja und?«9

In diese Geschichte der Verharmlosung reihte sich in den 70er und 80er Jahren auch die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit ein. Die GRS-Experten errechneten, dass bezogen auf alle damals 25 Reaktoren an 19 Standorten mit etwa 10 Fällen von akuter Strahlenbelastung pro Jahr zu rechnen sei – Fälle mit kurz- oder langfristiger Todesfolge. Zehn statistisch errechnete Tote als Folge einer gigantischen Energieerzeugung klingen harmlos. Denn natürlich bietet eine solche Zahl den Atomkraftlobbyisten viele Vergleiche: So starben zum Beispiel im Jahr 2009 allein durch die Autotechnologie 4050 Menschen bei Verkehrsunfällen in Deutschland. 10 Was sind dagegen zehn statistische Tote im Jahr durch die Atomkraft? Vergleiche dieser Art wurden aber Land auf, Land ab bemüht, um die zunehmende Zahl von Atomkraftgegnern unglaubwürdig oder gar lächerlich zu machen.

Die damals publizierten minimalen Todeszahlen durch Atomunfälle hatten noch einen weiteren Effekt. Sie ließen die Öffentlichkeit in dem Glauben, der unfallfreie Normalbetrieb eines Atomkraftwerks fordere keine Opfer. Ein Irrtum. In einer großangelegten Studie, gefördert durch das Bundesamt für Strahlenschutz, ging das Deutsche Krebsregister dem seit Jahrzehnten gehegten Verdacht nach, dass Kinder in der Nähe von Atomkraftwerken häufiger an Leukämie erkranken. Die regionalen Häufigkeiten dieser Krankheit wurden im Abstand von 5, 10 und 50 Kilometern rund um alle Atomkraftwerke in Deutschland mit den Häufigkeiten in Gegenden ohne Atomkraft verglichen. Die Zusammenfassung des Bundesamts für Strahlenschutz liest sich erschreckend: »Das Risiko für 0- bis 4-jährige Kinder, an Leukämie zu erkranken, nimmt zu, je näher ihr Wohnort an einem Kernkraftwerksstandort liegt.