Die authentische Stadt - Stefan Lindl - E-Book

Die authentische Stadt E-Book

Stefan Lindl

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Beschreibung

Um 1900 entwickelte sich mit dem modernen Denkmalschutz die originale Materie zum höchsten Gut. Rekonstruktionen wurden hingegen als historisch wertlos erachtet. Trotz dieser deutlichen Abwertung gegenüber dem Original verleihen sie dem urbanen Raum historischen Wert. Wird das originale Objekt obendrein dekonstruiert, erscheint seine Materie marginal im Vergleich zu seiner sozialen Konstruktion. Somit stellt sich die Frage, ob sich das Konzept des Originals überhaupt eignet, den historischen Wert von Baubestand zu taxieren. Es bedarf vielmehr einer egalitären Sichtweise: So wird das wertende "original" durch das neutrale "authentisch" ersetzt. Das Authentische löst Gefühle der Bewunderung, der Ehrfurcht, der Begeisterung aus. Diese emotionalen Zustände will Die authentische Stadt hervorrufen, um einen ästhetischen Beitrag zur urbanen Resilienz zu leisten.

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Um 1900 entwickelte sich mit dem modernen Denkmalschutz die originale Materie zum höchsten Gut. Rekonstruktionen wurden hingegen als historisch wertlos erachtet. Trotz dieser deutlichen Abwertung gegenüber dem Original verleihen sie dem urbanen Raum historischen Wert. Wird das originale Objekt obendrein dekonstruiert, erscheint seine Materie marginal im Vergleich zu seiner sozialen Konstruktion. Somit stellt sich die Frage, ob sich das Konzept des Originals überhaupt eignet, den historischen Wert von Baubestand zu taxieren. Es bedarf vielmehr einer egalitären Sichtweise: So wird das wertende „original“ durch das neutrale „authentisch“ ersetzt. Das Authentische löst Gefühle der Bewunderung, der Ehrfurcht, der Begeisterung aus. Diese emotionalen Zustände will die authentische Stadt hervorrufen, um einen ästhetischen Beitrag zur urbanen Resilienz zu leisten.

Stefan Lindl, geboren 1969, lehrt und forscht an der Universität Augsburg in den Bereichen Wissenschaftstheorie, Architekturtheorie, Historische Authentizität und Environmental Humanities.

Stefan Lindl

Die authentische Stadt

Urbane Resilienz und Denkmalkult

Deutsche Erstausgabe

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-7092-0306-4

eISBN 978-3-7092-5040-2

© 2020 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien

http://www.passagen.at

Grafisches Konzept: Ecke Bonk

Umschlag-Foto: © Nataly-Nete

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Resilienz urbaner Räume

Die Stadt im 21. Jahrhundert

Leitbild authentische Stadt

Aufbau des Buchs

Der konstruktivistische Blick

Soziale Konstruktion und das Historische

Wissen, Wert, Diffusion

Kultur

Werte

Phänomenologie des Historischen

Das Original

Die Geburt des Originals

Dekonstruktion des Originals

Rekonstruktion

Genese der Rekonstruktion

Hommage: Das abstrakte Spiel mit dem Original

Kopie: Das mimetische Spiel mit dem Original

Denkmal: Soziale Konstruktion, Performanz, Erinnerung

Wert der Kategorien der Phänomenologie des Historischen

Kategorien historischer Werte

Indikationen der Phänomene des Historischen

Standesdünkel – Warum ein neues Kategoriensystem der Werte?

Von Indikationen zu historischen Werten

Historische Werte des baulichen Kulturerbes

Vorteile der historischen Werte

Beispiel Neuschwanstein: Bestandsbeschreibung

Doxa, Vorbilder, Diskurs

Bauplatz

Klassifizierung nach der Phänomenologie des Historischen

Die historischen Werte von Neuschwanstein

Authentisch und Authentizität

Historische Semantik des Authentischen

Authentia: Übereinstimmung von Sachen und Worten

Synonyme: Ursprünglich – Original

Säkularisation des Authentischen im 19. Jahrhundert

Ergebnisse: Authentisch

Analytische Unmöglichkeit des Authentischen

Authentizität und Emotion – eine ästhetische Kategorie

Operationalisierung – Bewertung von Baubestand und Stadtentwicklungskonzepten

Bestandserfassung, Analyse, Taxierung, Entwicklung

Operationalisierungskonzept

Resümee

Anmerkungen

Quellen

Literatur

Meiner Frau Cornelia Wild gewidmet

Vorwort

Dieses Buch wuchs in häuslicher Abgeschiedenheit im März 2020. Eigentlich wäre das nichts Besonderes. Wie sonst, wenn nicht in Ruhe und Einsamkeit, könnten Bücher geschrieben werden? Doch die Arbeit an diesem Buch vollzog sich anders als gewöhnlich. Ein wenig erinnerte Augsburg in diesen Wochen an die Atmosphäre Giovanni Bocaccios Decamerone. Die von ihm beschriebene Isolation in Fiesole während der ersten mittelalterlichen Pestphase transportiert ein ähnliches Gefühl: Unsichtbar war die Bedrohung in einer menschenleeren Stadt, in der Kirchturmglocken und Vögel den Ton angaben und für die markantesten Lärmemissionen sorgten. In dieser unwirklichen, leisen, bescheiden gewordenen Welt tippte ich Gedanken über den urbanen Raum und das Leitbild der authentischen Stadt auf die Festplatte. Das Buch wollte ich verstanden wissen als einen Vorschlag zur kulturellen Nachhaltigkeit, beziehungsweise einer Kultur der Nachhaltigkeit, in der Stadt der Zukunft. Ich ging davon aus, die urbane Zukunft sei leise, verzichtete auf den Lärm der Verbrennungsmotoren. Arbeit bedeute, so glaubte ich, am Computer im Homeoffice zu agieren und in Webkonferenzen zusammenzukommen. Fern, so dachte ich, seien diese Vorstellungen. Nun war diese Zukunft durch Ausgangsbeschränkungen unerwartet Gegenwart. SARS-Cov-2 hieß der Grund. Es war keineswegs ein Umdenken für den Klimaschutz, der diese Zukunft zum Jetzt gemacht hatte. Plötzlich verordnete ein Virus den radikalen Klimaschutz, den niemand für möglich gehalten hätte. Plötzlich wurden auch die enormen Verluste sichtbar, die ein radikaler Eingriff bewirkt. Obwohl die Möglichkeit des Klimaschutzes in greifbare Nähe zu rücken schien, wurde seine Ferne schmerzlich spürbar.

Das Virus und seine pandemische Verbreitung wirkten sich auf das Buch sehr wohl aus. In Bayern waren die Bibliotheken geschlossen, der Zugriff auf Literatur war nicht annähernd im gewohnten Maße möglich. So verzichtete ich weitgehend auf Fußnoten. Das Buch stellt die Weiterentwicklung meiner Habilitationsschrift dar. Sie wurde in Teilen publiziert. Im November 2016: Kategorien historischer Authentizität in Architektur und Denkmalschutz. Ein Jahr später folgte die grundlegende Methode im Passagen Verlag: Der Umgang mit Gewordenem. Signifikanten-Interaktionsanalyse (SIA). Nach vielen Lehrveranstaltungen und Vorträgen und den damit verbundenen Diskussionen erscheint Die authentische Stadt. Zwischen Klimaschutz und Denkmalkult. Das Buch unterscheidet sich teils erheblich von den Positionen der Habilitationsschrift Architekturen des Authentischen, wäre aber nicht ohne sie möglich gewesen. Mein Dank gilt deswegen den Mitgliedern meines Habilitationsmentorats Marita Krauss, Lothar Schilling und Anselm Doering-Manteuffel, die mich kritisch begleiteten. Winfried Nerdinger und der verstorbene Michael Petzet beeinflussten mich mit ihrem kritischen Denken und ihren analytischen Blicken auf die Rekonstruktion.

Ohne die vielen Diskussionen mit Studierenden wären die entscheidenden Weiterentwicklungen nicht möglich gewesen. Ich danke deswegen allen voran den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Vorlesung im Wintersemester 2019/2020. Die vielen Diskussionen und Anregungen waren überaus hilfreich. Die kritischen Nachfragen brachten mich immer wieder in Erklärungsnöte. Diese wöchentlichen Auseinandersetzungen waren wichtig für Gestaltung und Aufbau des Buchs, aber auch für die mehrfache Überarbeitung der hier vorgestellten historischen Werte. Raphael Huppmann danke ich für die wöchentlichen Diskussionen und Anregungen. Nicolas Pols versorgte mich zielsicher mit Literatur und Beispielen. Unermüdlich telefonierte er mit Ämtern und Behörden, um an Materialien aktueller Projekte zu kommen.

Meinen Schwiegereltern, Christa Grune-Wild und Frank Wild, gilt ebenso mein Dank. In deren Garten entstand das erste Kategoriensystem der historischen Werte. Das Buch atmet die anregende Atmosphäre des Nordschwarzwalds unter dem Hausberg Baden-Badens, dem Merkur.

Die Tage des Schreibens waren geprägt von Gesprächen mit meiner Frau Cornelia Wild. Die Relationen von Authentizität als ästhetische Kategorie, Körper, Leib und Emotion beruhen auf den Schwerpunkten ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Erst diese Worte und Begriffe ermöglichten es mir, den Argumentationsstrang zu vervollständigen.

Die universelle Denkmaltheorie des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl steht Pate für das Leitbild „Authentische Stadt“. Riegls Denkmalwerte ermöglichten es, eine Reihe von historischen Werten abzuleiten, die teils losgelöst von der Materie im sozial-konstruierten Raum siedeln. Der Kulturabteilung der Stadt Wien danke ich für die Druckförderung.

Augsburg, am 25. April 2020

Stefan Lindl

Einleitung

Resilienz urbaner Räume

Zwischen Klimaschutz und Denkmalkult will dieses Buch eine Stadtentwicklung skizzieren, die auf Weiterentwicklung des (historischen) Baubestands basiert. Nicht Neubauen, sondern Weiterbauen ist das Grundverständnis der authentischen Stadt. Als Leitbild versucht sie, vor allem eine ästhetische Ausprägung von Resilienz im urbanen Raum zu entwerfen. Es soll eine soziale Konstruktion der Identität, der historischen Positionierung und des emotionalen Wohlbefindens erzeugt werden. Gleichzeitig entspringt die Forderung nach Weiterbauen statt Neubauen einer Kultur der Nachhaltigkeit, die kulturelle Nachhaltigkeit gewährt. So möchte das Leitbild der authentischen Stadt psychische Stabilität durch eine Semiotik historischer Verbundenheit erzielen. Diese ästhetische Resilienz beruht auf Identität, Integrität, Positionierung in Zeit und Raum. Sie erwirkt emotionale psychische Zustände, die Rückhalt bieten, weil sie ein festes Bezugssystem darstellen.

Das Leitbild der authentischen Stadt ist eine Reaktion auf die notwendige Forderung nach Resilienz im urbanen Raum, die mit ästhetischen und epistemologischen Mitteln antwortet und aus der Vergangenheit schöpft. Folglich werden mit diesem Leitbild weiche Faktoren in den Resilienz-Diskurs eingeführt.1 Die Schlüsselforderungen bestehen darin, historische Werte zu schaffen. Damit werden Authentizitätszuschreibungen möglich, um in der Folge emotionale Zustände aufgrund der Rezeption des Authentischen zu erschaffen und zu steigern. Das Leitbild der authentischen Stadt will ästhetisch wirken und Wohlbefinden im urbanen Raum auf einer epistemologischen Grundlage generieren. Das heißt verkürzt: Wohlbefinden durch weiterentwickelten historischen Baubestand und die Anwendung von Wissen darüber. Oder: Wohlbefinden und Resilienz aufgrund der sozialen Konstruiertheit des urbanen Raums.2

Die Stadt im 21. Jahrhundert

Für Klimawandel wie Klimaschutz besetzen die städtischen Räume Schlüsselpositionen des 21. Jahrhunderts. Seit dem Jahr 2008 wohnt über die Hälfte der Menschheit in Städten. In den Industrieländern liegt die Zahl der Stadtbewohner weit über dem globalen Durchschnitt: in Deutschland 77 %, in den USA über 82 %. Die UNO geht von einer fortwährenden Urbanisierung vor allem in Asien und Afrika aus. Laut einer Schätzung wird sich die Stadtbevölkerung weltweit bis 2050 durch Migration und Binnenmigration verdoppeln.3 Der Zuzug wird auch durch klimabedingte Binnenmigration den Druck auf urbane Räume erhöhen. Vor allem der Anstieg des Meeresspiegels zwingt absehbar zur Aufgabe urbaner Räume an den stark besiedelten Küsten. Neben den klimabedingten Verlusten von Wohnraum ist auch Kulturerbe und Weltkulturerbe dem Untergang geweiht, sollte es nicht transloziert werden können. Langfristig bedroht der Anstieg des Meeresspiegels jede fünfte UNESCO-Weltkulturerbestätte.4 In den kommenden Jahrzehnten erhöht sich folglich aus den verschiedensten Gründen der Druck auf die Städte. Das bedeutet, neue Wohnräume müssen erschlossen, entsprechende urbane Konzepte entwickelt werden, um voraussehbare soziale Konflikte abzuwehren und allgemein die Resilienz urbaner Räume zu erhöhen. Um den Druck zu mildern, gibt es keine Alternative zu neuem Wohnraum. Doch gerade darin liegt eine nicht ganz unwesentliche Gefahr, die zuerst effiziente Ressourcenökonomie, sodann den Klimaschutz betrifft. Ressourcenökonomisch ist das Problem sofort evident: Wohnungen benötigen Raum, der wie alle Ressourcen knapp ist und viele Städte vor ein Problem im urbanen und suburbanen Bereich stellt. Schnell wird deswegen eine ethische Frage virulent: Welchen neuen Wohnraum wollen wir in Zeiten des Klimawandels?

Es wäre möglich, auf Brachflächen oder anstelle bautechnisch ineffizienter Bauten neu und stark verdichtend zu bauen. Eine auf den ersten Blick gute Idee. Wäre da nicht ein keineswegs marginaler, sondern gewaltiger Haken. Neubauten befeuern den Klimawandel: Keine Branche emittiert so viel wie das Bauwesen, keine produziert mehr Abfall, keine geht so verschwenderisch – und damit unmoralisch – mit Ressourcen um. Alle drei Punkte, verminderte CO2-Emissionen, Reduktion des Deponiegutes und effizient-moralische Ressourcennutzung, sollte die Baubranche in Zukunft unbedingt anvisieren. Ohne systemisch-normative Eingriffe wird es kaum möglich sein, diese notwendigen Klima- und Ressourcenschutzziele zu erreichen. Aber auch weniger komplex könnte die Baubranche agieren, um nachhaltiger zu werden. Eine Kultur der Nachhaltigkeit müsste tradierte Formen des Bauens überwinden: Wiederverwertung sowie Weiterentwicklung des bestehenden Baubestands könnten die zukünftigen Leitlinien der Bauwirtschaft werden. Dazu kommt die Notwendigkeit, klimaneutrale und recycelbare Baustoffe zu verwenden. Wir benötigen neue Werte des Bauens und andere Arten der Wohnraumerschließung in der Stadtentwicklung. Auf die Frage, welchen neuen Wohnraum wir in Zeiten des Klimawandels wollen, gibt es folglich eine einfache Antwort: Die Kultur des Neubauens kollidiert mit einer Kultur der Nachhaltigkeit. Neue Urbanität sollte das Neubauen durch Weiterbauen ersetzen und CO2-neutrale Baustoffe verwenden.

Der historische Blick in die vorfossile Vergangenheit kann einige Konzepte des Weiterbauens und Weiterentwickelns im urbanen Raum entdecken. Sie waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Standard im Städtebau. Zu teuer und zu aufwendig war der Abriss von Architekturen. Deswegen wurden mehrere Bestandshäuser zusammengefasst und mit einheitlichen Fassaden versehen, um ästhetische Gesamteindrücke zu erzeugen. Erst fossile Energieträger ermöglichten die Kultur des Neubauens, weil der Maschineneinsatz Abbrucharbeiten kostengünstig machte. Auch der Abtransport von großen Mengen Bauschutt konnte erst dann effizient erfolgen. Die Kultur des Neubauens erweist sich als fossiles Kind der Industrialisierung. Neue Urbanität könnte sich an den vorindustriellen nicht fossilen Konzepten des Bauens ein Beispiel nehmen. Aber das wäre nur einer der vielen Punkte, die Neue Urbanität berücksichtigen muss: Zukünftig ruht sie auf CO2-neutralen Energiekonzepten, sie ordnet und organisiert Mobilität neu, nutzt Räume, die gegenwärtig dem Automobilverkehr vorbehalten sind, aktiviert und initiiert Grünflächen, vermeidet Lärmemissionen, strebt die Abkehr von der gegenwärtigen Form der Konsumgesellschaft an. Die Stadt der kurzen Wege wird Eigentum hinterfragen. Nutzen statt Besitzen wird nicht nur die Mobilitätskonzepte kennzeichnen. – Im Oktober 2016 wurden diese Eckpunkte in der „New urban Agenda“ der United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development in Quito als Handreichung für die zukünftige Stadtentwicklung zusammengefasst.5

Eine Baukultur der Nachhaltigkeit, die sich das Weiterbauen als eines ihrer Prinzipien erwählte, wirkte sich direkt auf das bauliche Kulturerbe aus, das sich mehrheitlich im Urbanen befindet. Bauliches Kulturerbe wird hier im weitesten Sinne verstanden. Es bezieht sich auf alle Bauwerke und nicht nur auf kunsthistorisch wertvolle Baudenkmale. Dieses bauliche Kulturerbe in seinem großen Spektrum soll weiterentwickelt werden. Doch mit dem Konzept des Weiterbauens wird etwas virulent, das bislang in der Baubranche oft als lästiger Bestandteil abgetan wurde, weil er Rücksichtnahme und Planung erfordert: Weiterentwicklung bedeutet Wandel, der nicht ohne eine historische Reflexion erfolgen kann. So rückt aus Klimaschutzgründen jenseits des Zerstörens und Neubauens das Historische als gewichtige Größe in Stadtentwicklungskonzepte und deren Gestaltungsaufgaben. Jedes Weiterbauen vermeidet CO2.

Sobald mit Bestand gearbeitet werden soll, stellt sich zwingend die Frage nach der historischen Funktion und Bedeutung der Gebäude. Gleichgültig ist es, ob sie dem Denkmalschutz unterliegen oder nicht, beziehungsweise aus welchem Jahrzehnt sie stammen, ob ihnen kunsthistorischer Wert zugesprochen wird oder ihnen mit Gleichgültigkeit begegnet wird. Stets fordert der Umgang mit Bestand die Frage nach effizientem moralischem Handeln heraus: Was wollen wir aus dem Bestand machen? Welche Verpflichtung haben wir ihm gegenüber? Welche Rechte haben wir, die wir von ihm fordern dürfen?

Hauptgegenstand des vorliegenden Buchs sind die Klassifizierung des historischen Wandels des Bestehenden und die daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten in der Transformation des Baubestands. Weniger trifft dieser Wandel die kunsthistorisch bedeutenden Bauwerke, die Kathedralen, Rathäuser, Ordenskirchen, Schlösser, Bürgerhäuser der Frühen Neuzeit oder Stadtmauern. Sie sind oft Teil der identitätsstiftenden wertvollen urbanen Musealisierungsstrategien im öffentlichen Raum und müssen als kunst- oder kulturhistorisch wertvolle Zeugnisse gesondert geschützt werden. Das Augenmerk liegt vor allem auf dem historischen Erbe, das den Großteil des Bestands ausmacht: aufgegebene Industrieanlagen, mittelständische Gewerbebauten, ehemalige Kasernen, die unzähligen Mehrfamilienwohngebäude und Einfamilienhäuser aus den letzten Jahrzehnten. Auch sie sind Kulturerbe des Bauwesens, Erbe verschiedenster Kulturen unterschiedlicher Zeiten, die sich ästhetisch äußern.

Wie soll dieser Bestand bewertet und klassifiziert werden, unter welchen Gesichtspunkten soll er analysiert und letztlich im nächsten Schritt entwickelt werden? Dem Denkmalschutz fehlen hierzu die Kapazitäten. Der hier anvisierte historische Bestand interessiert den Denkmalschutz per se nicht, weil innerhalb des Bestands bislang kaum Verknappung eingetreten ist, also kein Schutzgedanke angebracht wäre. In absehbarer Zeit ist er keineswegs zu erwarten. Deswegen versucht das vorliegende Buch, jenseits des Denkmalschutzes und seiner Neigung das Original zu schützen, Werkzeuge anzubieten, die der historischen Wertermittlung dienen. Mit ihnen sollen sich bauliches Kulturerbe und der Umgang mit diesem Erbe analysieren lassen. Dies soll im Sinne des Leitbilds der hier vorgeschlagenen Stadtentwicklung geschehen, mit dem Leitbild der authentischen Stadt.

Leitbild authentische Stadt

Unverkennbar, einzigartig, nicht reproduzierbar ist die authentische Stadt mit einem hohen historischen Identifikationspotenzial. Sie besteht aus zwei Komponenten, dem historischen materiellen Baubestand und seinen vielen sozialen Konstruktionen. Sie enthalten Geschichten, Erzählungen, Anekdoten vom historischen Wandel des Baubestands. Es ließe sich sagen, Baubestand verfügt über eine materielle und eine sozial konstruierte Komponente. Wie wichtig letztere für die materielle ist, sei im Weiteren in besonderem Maße hervorzuheben. Sie verleihen der Stadt ihre Eigenschaft der Einzigartigkeit und Unverkennbarkeit. Dinge und Wissen machen die Stadt historisch wertvoll und dadurch authentisch. Historischer Wert und das Authentische bedingen sich wechselseitig. Historischer Wert wird Objekten zugeschrieben – so die hier vertretene konstruktivistische Sichtweise –, das Authentische wird als ästhetische Kategorie verstanden, die durch das Intentionalwerden historischer Werte empfunden werden kann. Das Authentische einer Stadt wird also nicht als Eigenschaft, als Authentizität gedeutet, die Objekte von sich aus eignen, sondern zuerst als ästhetische Kategorie, die emotionale Zustände hervorruft. Das Authentische und die Eigenschaft Authentizität vollziehen sich in einem Sprechakt: „Das Objekt sei authentisch!“

Sechs Arten von historischen Werten, mit denen sich historischer Baubestand taxieren, aber durch Zuschreibungen auch aufwerten lässt, werden aus einer Phänomenologie des Historischen abgeleitet und als Analyse- sowie Zuschreibungswerkzeug vorgeschlagen: die epistemische, materielle, temporale, lokale, ästhetische und idealistische historische Wertzuschreibung. Je mehr historische Werte den Bauwerken einer Stadt zugeschrieben werden können, desto authentischer wird die Stadt empfunden. Dazu – so die These dieses Buches – sind Originale oder original Materie nicht zwingend notwendig. Sie befördern die Empfindung des Authentischen, aber notwendig sind sie nicht. Das Authentische einer Stadt lässt sich mit verschiedenen Formen historischer Werte steigern. Sie können in die Konzeption von Bauwerken, aber auch in die Konzeption von Stadtentwicklungskonzepten eingebunden werden. Der Klimaschutz ist, so eine Hauptthese, kein Hinderungsgrund für die historisch wertvolle und authentische Stadt, sondern deren explizite Chance. Neue Urbanistik im Zeichen des Klimaschutzes wird die historischen Dimensionen der Städte durch die Kultur des nachhaltigen Bauens stärken können. Auch für die Ausprägung ästhetischer Formen von Resilienz dient dieses Vorgehen als Vorschlag.

Geschichte von Bauwerken ist fraglos gewichtiger Bestandteil allgemeinen Interesses. Immobilienwerte werden aus Geschichte geschöpft, gleichgültig ob dies ehemalige Kirchen, Industriegebäude um 1900 oder Wohngebäude der 1970er-Jahre betrifft. Eine Konservenfabrik und eine mechanische Weberei, die zu Wohnraum konvertiert werden, lädt der Immobilienhandel mit Erzählungen über ihre industrielle Funktion historisch auf. Sie bekommen dadurch den Reiz der besonderen Wohnkultur, die sich vom geschichtenlosen und geschichtslosen Neubau unterscheidet. Auch den Stadt-Tourismus begründet die authentische Stadt.6 Sie erzeugt eine bestimmte Atmosphäre. Tel Aviv hat eine unverwechselbare Atmosphäre des International Styles des 20. Jahrhunderts. Es ist die Bauhausstadt, der keine andere gleicht. Rom steht für eine Stadt der Geschichte, die durch das Nebenher von Monumentalbauten mehr als zweier Jahrtausende gekennzeichnet ist. Rom ist zugleich eines der prototypischen Beispiele des Weiterbauens einer Stadt. Dubai setzt hingegen auf einen kontemporär-ubiquitären Stil mit radikalem Gestaltungswillen, der offenbar keinerlei Begrenzungen kennt. Weder der Himmel noch das Meer scheinen Hindernis zu sein. Der Altstadtbereich al-Bastakiyya, der weitgehend Ende des 19. Jahrhunderts mit lokalen Baumaterialien und -techniken errichtet wurde, ist nicht zu entwickeln und sollte auch nicht entwickelt werden, um dem ubiquitären Neubauen etwas Historisch-Lokales entgegensetzen zu können. Das Neubauen ist das Authentische dieser Stadt am Persischen Golf.

Besucher ziehen alle urbanen Typiken und Einzigartigkeiten an, deswegen zahlt sich das Leitbild der authentischen Stadt ökonomisch aus. Wer aber bestimmt die historischen Werte und die Authentizität der Bauwerke? Die Bauforschung kann dies einerseits bezüglich der materiellen Bauhistorie tun. Der Denkmalschutz erstellt Gutachten über die Bedeutung der historisch-materiellen kunsthistorischen und historischen Zeugenschaft mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Materie und Originalen. Bauforschung wie auch Denkmalschutz bedienen vor allem materielle Teilbereiche der Geschichtskultur. Das Immaterielle, die sozialen Konstruktionen des Bauerbes, und seine Zeichenhaftigkeit werden jedoch zu wenig erfasst. Aber sie sind überaus bedeutend, denn sie wirken auf Materie stärker ein, als Materie auch nur ansatzweise die soziale Konstruktion bedingen könnte. Ihre Bedeutung wird in den nun folgenden Kapiteln vielfach und aus mehreren Perspektiven dargestellt. Dazu gehört ein Verständnis der Vergangenheit von der Antike bis in die jüngste Vergangenheit, denn vor allem Wissen, soziale Konstruktion und nicht nur Objekte machen urbane Räume attraktiv. Materie und Wissen gehören zusammen. Wissen macht Dinge – das ist der konstruktivistische Grundtenor dieses Buches.

Es beschäftigt sich mit der Entwicklung von Analysemethoden der historischen Wertermittlung und der Authentizitätsbestimmung von Kulturerbe. Regional- und landesgeschichtliche Forschung sowie Befunde der Bauforschung, des Denkmalschutzes und der Kunstgeschichte werden interdisziplinär vereint, um Grundlagen für eine historisch argumentierende Stadtentwicklung zu erarbeiten, die auf geschichtskulturelle Nachhaltigkeit zielt. Das Buch möchte die geschichtskulturelle Dimension in der Diskussion um die nachhaltige Entwicklung urbaner Räume stärken und mithilfe der Zeichentheorie dem bestehenden Denkmalschutz Lösungen für die Zukunft der urbanen Räume zwischen Klimaschutz und Denkmalkult anbieten.

Ausgangspunkt sind die Positionen Alois Riegls zur Denkmaltheorie. Er ist einer der einflussreichsten Kunst- und Denkmaltheoretiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie prominenter Vertreter der kunsthistorischen Wiener Schule. Riegls universalistischer Denkmalbegriff und seine Kategorien der Gegenwartswerte und Erinnerungswerte des Denkmals erfahren eine Reflexion an den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der New Urban Agenda. Neben Riegls Gebrauchswert und relativem Kunstwert sowie historischem Wert und Alterswert wird hier der historische Wert differenziert aufgeschlüsselt und um historische Authentizität als ästhetische Kategorie sowie als Zuschreibungsnarrativ erweitert. Historische Authentizität ersetzt Wort und Begriff des Originals, das im 20. Jahrhundert als wichtigster und höchster Wert in Kunstgeschichte, Denkmalschutz und Denkmalpflege gesetzt worden war. Mit der hier vorgestellten aufgefächerten Kategoriensystematik lassen sich verschiedenste Phänomene des Umgangs mit Kulturerbe erfassen, klassifizieren und taxieren.

Aufbau des Buchs

Das Buch gliedert sich in fünf Argumentationsschritte. Zu Beginn werden die Grundlagen der Argumentation erläutert und grundlegende Begriffe aus der Perspektive des Konstruktivismus dargelegt. Soziale Konstruktion, historischer Wert werden skizziert und eingeordnet. Darauf folgt eine Betrachtung von Wissen, Wert und Diffusion. Sodann wird Kultur als Umwelt definiert.

Als zweiter Teil folgt eine Phänomenologie des Historischen, in der das materielle Original zugunsten der Zuschreibungspraktiken und Sprechakte dekonstruiert wird. Aus dieser Dekonstruktion werden Indikationen für Originale exzerpiert. Identisch wird die Rekonstruktion betrachtet. Es folgen die Hommage, die Kopie und das Denkmal. Aus den daraus abgeleiteten Indikationen werden in einem vierten Teilschritt Kategorien historischer Werte exzerpiert, die Spielarten des Originals, also Rekonstruktion, Hommage, Kopie oder Denkmal, obsolet machen. An einem allbekannten Beispiel, dem Schloss Neuschwanstein, wird der Mehrwert dieses Klassifizierungssystems durch die historischen Werte erläutert. Zwar ist Neuschwanstein nicht für den urbanen Raum repräsentativ, doch ist es als ein prominentes, sehr komplexes Bauwerk mit verschiedensten historischen Werten ein dienliches Objekt für die Analyse der historischen Werte. In einer Transferleistung kann dieses Beispiel auf Stadtviertel, Ensembles oder Einzelbauwerke angewendet werden.

Im fünften Schritt folgt die semiotische Bestimmung der Authentizität und des Authentischen ab dem 18. Jahrhundert und ihrer kontemporären Bedeutungsformen. Das Problem des historischen Authentischen und der historischen Authentizität besteht in der Unmöglichkeit, sie unmittelbar zu analysieren. Deswegen werden die zuvor erarbeiteten historischen Werte in ihrer Korrelation zum Authentischen dargelegt. Durch den Umweg über sie lässt sich das Authentische analysieren. Schließlich werden Authentizität und das Authentische als ästhetische Kategorien dargelegt und erläutert. Das Authentische wird hier als Ersatz für den Begriff des Originals vorgestellt, weil das Original zu sehr von den Bedeutungen des 20. Jahrhunderts bestimmt ist. Das Authentische lässt sich wesentlich unideologischer anwenden als das Original. Im sechsten Teilschritt werden die Herleitungen operationalisiert, um sie für Stadtentwicklungsprojekte anwenden zu können. Ein pseudonymisiertes Beispiel eines typischen Projekts einer Stadtviertelentwicklung verdeutlicht die Operationalisierung.

Der konstruktivistische Blick

Soziale Konstruktion und das Historische

Am Anfang aller Dinge steht deren soziale Konstruktion. Mag ein Gegenstand auch wahrnehmbar sein, sichtbar, fühlbar, hörbar, riechbar, so genügt das nicht, damit er benannt sowie in Funktions- und Handlungsabläufe einbezogen werden kann. Er muss intentional werden, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und kognitiv präsent sein. Darüber hinaus muss er in Wissensformationen eingebettet werden, die abrufbar sind, um für Handlungsentscheidungen nützlich und nutzbar zu sein.7Wissen macht Dinge!