Die Autobiografie von Daniel J. Isengart - Filip Noterdaeme - E-Book

Die Autobiografie von Daniel J. Isengart E-Book

Filip Noterdaeme

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Beschreibung

Mit 23 Jahren schmeisst Daniel Isengart sein Studium an der Münchner Kunstakademie und zieht nach New York. Dort nimmt er Tanzunterricht, arbeitet im Partyservice und tritt als Varietésänger auf. Nach einem seiner Auftritte begegnet er dem belgischen Konzeptkünstler Filip Noterdaeme. Gewappnet mit der Unbeirrbarkeit radikaler Individualisten rüsten sich die beiden, gemeinsam dem täglichen Überlebenskampf in der Megastadt ihre künstlerischen Projekte entgegenzusetzen. Filips Hauptwerk ist das "Homeless Museum of Art", das die kommerziellen Interessen der New Yorker Kunstmuseen auf die Schippe nimmt. Daniel macht sich als Chansonnier einen Namen und etabliert sich nebenbei als Privatkoch für die New Yorker Elite. Dass die Kunst der beiden trotz allem brotlos bleibt, kümmert sie dabei wenig. Die Salons in ihrer Brooklyner Wohnung wurden zu einem Knotenpunkt der unabhängigen Künstlerszene der Stadt, bei der sich unzählige, sowohl etablierte Stars der Avantgarde wie Penny Arcade, Joey Arias und Meow Meow als auch noch unbekannte Leuchten der New Yorker Bohème die Klinke in die Hand geben. Filip Noterdaeme und Daniel Isengart – bildende Kunst und Kochkunst: dieselbe Kombination war im Paris des frühen 20. Jahrhundert das Merkmal des legendären Paars Gertrude Stein und Alice B. Toklas. Und so, wie Gertrude Stein in ihrer "Autobiografie von Alice B. Toklas" die Geschichte ihrer Beziehung beschrieb, erzählt Filip Noterdaeme von seinem Leben mit Daniel Isengart.

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Filip Noterdaeme

Die Autobiografievon Daniel J. Isengart

Aus dem Amerikanischenvon Daniel Bienert

Edition Salzgeber

im Männerschwarm Verlag

Hamburg 2018

Verlagstext

Mit 23 Jahren schmeisst Daniel Isengart sein Studium an der Münchner Kunstakademie und zieht nach New York. Dort nimmt er Tanzunterricht, arbeitet im Partyservice und tritt als Varietésänger auf. Nach einem seiner Auftritte begegnet er dem belgischen Konzeptkünstler Filip Noterdaeme. Gewappnet mit der Unbeirrbarkeit radikaler Individualisten rüsten sich die beiden, gemeinsam dem täglichen Überlebenskampf in der Megastadt ihre künstlerischen Projekte entgegenzusetzen. Filips Hauptwerk ist das «Homeless Museum of Art», das die kommerziellen Interessen der New Yorker Kunstmuseen auf die Schippe nimmt. Daniel macht sich als Chansonnier einen Namen und etabliert sich nebenbei als Privatkoch für die New Yorker Elite. Dass die Kunst der beiden trotz allem brotlos bleibt, kümmert sie dabei wenig. Die Salons in ihrer Brooklyner Wohnung wurden zu einem Knotenpunkt der unabhängigen Künstlerszene der Stadt, bei der sich unzählige, sowohl etablierte Stars der Avantgarde wie Penny Arcade, Joey Arias und Meow Meow als auch noch unbekannte Leuchten der New Yorker Bohème die Klinke in die Hand geben.

Filip Noterdaeme und Daniel Isengart – bildende Kunst und Kochkunst: dieselbe Kombination war im Paris des frühen 20. Jahrhundert das Merkmal des legendären Paars Gertrude Stein und Alice B. Toklas. Und so, wie Gertrude Stein in ihrer «Autobiografie von Alice B. Toklas» die Geschichte ihrer Beziehung beschrieb, erzählt Filip Noterdaeme von seinem Leben mit Daniel Isengart.

Edmund White hat in seinem Erinnerungsbuch «City Boy» das schwule New York der 1970er Jahre heraufbeschworen. Er bezeichnet diese Chronik der 1990er und 2000er Jahre als «Destillat aus Charme und Pep», und wirklich: so viel richtiges Leben findet man selten zwischen zwei Buchdeckeln.

Inhalt

Kapitel 1:

Bevor ich nach New York kam

Kapitel 2:

Meine Ankunft in New York

Kapitel 3:

Filip Noterdaeme in New York (1987–1999)

Kapitel 4:

Filip Noterdaeme, bevor er nach New York kam

Kapitel 5:

1999–2005

Kapitel 6:

Zu Hause (2005–2008)

Kapitel 7:

Auf der Straße (2008–2010)

Kapitel 1

Bevor ich nach New York kam

Ich wurde in München geboren und bin in Paris aufgewachsen. Das ist wohl der Grund, warum ich immer vorgezogen habe, in einem gemäßigten Klima zu leben. Nun ist es aber schwierig, in Amerika oder selbst in Europa einen Ort zu finden, dessen Klima gemäßigt ist und an dem man auch leben möchte. Der Vater meiner Mutter war Professor, er kam im Jahre 1939 nach Niederbayern und heiratete meine Großmutter, die eine Vorliebe für Literatur hatte. Sie war die Tochter eines Kürschners. Meine Mutter war und ist eine charmante und strebsame Frau namens Ulla.

Mein Vater ist tschechisch-deutscher Abstammung. Sein deutscher Vater war eine romantische Künstlernatur. Dessen ungeachtet verlangte seine Familie von ihm, beim Militär Karriere zu machen. Seine tschechische Gattin, meine Großmutter, verließ ihn nach der Geburt ihres zweiten Kindes, nachdem er angefangen hatte, mit den Nazis zu sympathisieren, und zog meinen Vater und seine jüngere Schwester alleine auf. Nach dem Krieg wurde sie jedoch wegen ihrer Ehe mit einem Deutschen aus ihrer Heimat ausgewiesen und nach Niederbayern geschickt, wo sie sich neu verheiratete und als Teilhaberin einer durchaus erfolgreichen Konfektionswarenhandlung ein gediegenes Leben führte.

Mir selbst war Gewalt schon immer zuwider, und ich habe seit jeher eine Vorliebe für Gesang und das Kochen gehabt. Ich liebe Küchenzubehör, Desserts, Bücher, Schals und Strickjacken, sogar Eau de Toilette und Lippensalben. Ein Herrenanzug kann mir schon zusagen, allerdings sehe ich ihn lieber an einer Frau. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich als wohlbehüteter Angehöriger der gutbürgerlichen Mittelschicht, zunächst in Paris und später in München. Ich machte ein paar frühe Erfahrungen als Tänzer, sie waren jedoch nicht von Bedeutung. Als ich etwa neun Jahre alt war, war ich begeisterter Mozartfan. Ich fand, die Zauberflöte müsse eine Fortsetzung haben, und beschloss, diese zu komponieren. Meine Großeltern schenkten mir die Partitur, aber dann, als ich mir meiner Unzulänglichkeit bewusst wurde, schämte ich mich und gab die Idee auf. Vielleicht fühlte ich mich damals nicht versiert genug, eine Opernpartitur zu studieren, jedenfalls befindet sich diese nun irgendwo im Keller des Münchner Hauses meiner Eltern.

Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr interessierte ich mich ernsthaft fürs Singen und Tanzen. Ich lernte und übte fleißig, aber schon bald kam es mir zwecklos vor. Mir fehlte die nötige Disziplin, um wirklich gut zu werden, und ich hatte keinen Lehrer, der mir den nötigen Ansporn hätte geben können, wirklich hart zu arbeiten. Filip Noterdaeme hat mit seiner Skulptur Scented Candle Descending a Staircase – Parfümierte Kerze, eine Treppe herabsteigend – ein ziemlich genaues Porträt von mir zu jener Zeit geschaffen.

In den darauffolgenden vier Jahren vergeudete ich meine Zeit. Ich hatte keine Inspiration, viel Langeweile und Sorgen, mein Leben war uninteressant und leer. Ich litt sehr darunter, sah aber keinen Ausweg. Dann kamen die Frühjahrs-Semesterferien 1992, die Harry Heissmann, einer meiner Kommilitonen an der Münchner Kunstakademie, in New York verbrachte. Als er von dort zurückkam, sagte er zu mir: Daniel, du gehörst nach New York. Eine Bemerkung, die eine komplette Wende in meinem Leben herbeiführte.

Ich wohnte damals allein, lebte ein ruhiges Leben und nahm die Dinge gelassen, obwohl mich alles tief berührte. Am liebsten ging ich tanzen. Eines Abends war Patricia Laval, eine Kommilitonin der Kunstakademie, mit dabei, und ich tanzte und war wie besessen. Warum, sagte sie an jenem Abend zu mir, lebst du nicht so, wie du tanzt? Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als ich ein kleiner Junge war, eines Nachmittags einmal einen befreundeten Nachbarsjungen in mein Zimmer führte. Ich fuhr fort zu zeichnen, und der Junge richtete aus Langeweile ein ziemliches Chaos in meinem Zimmer an. Ich ließ mich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und sagte nur, er solle mich erst meine Zeichnung beenden lassen. An ein literarisches Zitat, das meine Mutter oft und gerne anführt, werde ich mich immer erinnern: Mensch, werde wesentlich. Sie brachte mir auch bei, dass ein Koch beim Zubereiten eines Gerichts keine Fertigprodukte verwenden dürfe. Für einen Koch, sofern er ein Koch ist, seien Fertigprodukte inakzeptabel.

Ich lebte, wie gesagt, allein, doch in mir wuchs eine Sehnsucht nach etwas anderem. Den Anstoß dazu gab Harry Heissmanns Rückkehr aus New York sowie seine Anspielung, ich gehörte vielleicht dorthin. Er brachte mir aus New York auch ein paar Geschenke mit: eine Einladungskarte zu einer Party im Roxy Nachtclub, ein echtes amerikanisches Frisch gestrichen!-Schild und einen Subway Token, also eine dieser Münzen, die man damals für die dortige Subway brauchte – die ersten New Yorker Gegenstände, die ich je besessen habe. Er erzählte mir auch viele Geschichten über New York. Ich fuhr nach Barcelona, wo meine Eltern seinerzeit lebten, und erklärte ihnen, dass ich mein Studium an der Münchner Kunstakademie aufgeben, Europa verlassen und in New York Varietésänger werden wolle. Meine Eltern waren davon sehr verstört, zumal zu jener Zeit viel darüber berichtet wurde, wie gefährlich New York sei. Binnen weniger Monate löste ich meinen Haushalt in München auf und zog nach New York. Ein paar Jahre später hatte ich dort die Gelegenheit, in der Bar d’O zusammen mit Joey Arias aufzutreten, der die Varietékunst vollkommen erneuert hatte. Und dort machte ich die Bekanntschaft von Filip Noterdaeme. Ich war beeindruckt von seinem engen weißen T-Shirt, auf dessen Vorderseite in großen Buchstaben das Wort Dreamer stand, und vom schelmischen Leuchten seiner Augen. Ich darf sagen, dass ich nur dreimal in meinem Leben einem Genie begegnet bin, und jedes Mal erklang in mir eine Glocke. In keinem der drei Fälle habe ich mich geirrt oder war es nötig, mich über ihr jeweiliges Genie aufzuklären, da ich es stets sofort von alleine erkannte. Die drei Menschen, von denen hier die Rede ist, sind Filip Noterdaeme, Joey Arias und Meow Meow. Ich habe viele talentierte und einige brillante Menschen kennengelernt, aber nur drei herausragende Genies. Jedes Mal erklang in mir bei ihrem ersten Anblick etwas wie ein Läuten. Und so begann mein neues, erfülltes Leben.

Kapitel 2

Meine Ankunft in New York

Es war im Jahr 1993. Filip Noterdaeme hatte gerade seine Dissertation über Gertrude Stein und Paul Celan geschrieben und steckte mitten im Marcellus Wasbending-Ttum-Projekt, seinem illustrierten fiktiven Tagebuch. Tommy Tune brachte seine Will Roger Follies an den Broadway, Penny Arcade hatte ihren sensationellen Erfolg im Village Gate mit Bitch! Faghag! Dyke! Whore!, und Quentin Crisp konnte man als Queen Elizabeth in der Filmversion von Virginia Woolfs Orlando sehen. Und ich machte mich auf nach New York.

Ein letztes Mal ging ich in die Akademie, um meinem Professor mitzuteilen, dass ich München für immer verlassen würde. Er äußerte die Ansicht, aus mir hätte ein ziemlich guter Innenarchitekt werden können. Ganz im Gegenteil, erwiderte ich, Sie haben ja keine Ahnung, wie froh ich bin, das alles hinter mir zu lassen. In mir ist so viel Trägheit und so wenig Entschlusskraft, dass ich, wenn ich mich nicht zum Weggehen entschieden hätte, nun, wahrscheinlich nicht Innenarchitekt, zumindest aber doch Raumausstatter geworden wäre, und Sie machen sich keinen Begriff davon, wie sehr mich diese ganze Inneneinrichterei langweilt. Der Professor war äußerst pikiert und meine akademische Laufbahn damit beendet.

Bald darauf saß ich bereits in einem Flieger nach New York. In meiner Hosentasche hatte ich ein Studentenvisum für die Ballet Arts-Tanzschule sowie die Schlüssel zu Mary Viviens Wohnung auf der Upper West Side, die sie mir zur Untermiete angeboten hatte.

Ich muss ein bisschen über Mary Vivien erzählen. Sie ist Kalifornierin und hatte den Großteil ihres Lebens als Tänzerin in New York verbracht, bevor sie nach München zog, wo sie deutschen Ballerinen die Grundlagen afrikanischen Tanzens beibrachte. Sie hatte ihre Mietwohnung in der 75ten Straße behalten und unerlaubterweise an einen Tänzer untervermietet. Dieser Tänzer erschien ihr allerdings nicht vertrauenswürdig, er hatte irgendetwas an sich, was sie nervös machte. Ich weiß nicht genau, wodurch er diesen Eindruck hervorrief. Doch als sie erfuhr, dass ich nach New York ziehen würde und dort eine Bleibe suchte, hatte sie eine Idee.

Mary Vivien hatte ihre sehr eigenen Ansichten, zum Beispiel traute sie weißen Menschen nicht so ohne Weiteres über den Weg. Und so hielt sie es auch in diesem Fall und zog Erkundigungen über mich ein – nicht etwa wahllos bei irgendwem, sondern einzig und allein bei allen Schwarzen, mit denen wir beide in München bekannt waren. So unterhielt sie sich mit meiner schwarzen Ballettlehrerin und mit meiner schwarzen Gesangslehrerin über mich und sprach auch mit dem schwarzen Koch, mit dem ich damals in einem italienischen Restaurant namens Tiramisu zusammenarbeitete. Kann ich ihm vertrauen?, wollte sie wissen, und alle sagten ihr, ja, kannst du. Und so kam es zu einer der glücklichsten Fügungen meines Lebens, nämlich dass Mary Vivien den Tänzer aus ihrer Wohnung warf und mich als Untermieter aufnahm. Sie gab mir die Schlüssel und sagte: Daniel, sagte sie, der Vermieter darf auf keinen Fall erfahren, dass ich diese Wohnung momentan nicht bewohne. Wenn irgendwer nach mir fragt, sagst du, ich wäre bei der Arbeit. Ich versprach es ihr.

Und so kam ich eines späten Abends in meinem neuen Zuhause in der 75ten Straße in der Upper West Side an, und dies war der Beginn meines neuen Lebens in New York. Viel ist seither geschehen, aber jetzt muss ich erzählen, was ich an jenem ersten Abend sah.

Die Wohnung war eine Zweizimmerwohnung im obersten Stock eines ziemlich heruntergekommenen Stadthauses. Sie war nur kärglich möbliert und ein wenig ungepflegt, so wie es damals auf der Upper West Side eben üblich war. Als Willkommensgeschenk hatte der Tänzer einen Karton mit Resten eines chinesischen Take-Outs im Kühlschrank stehen lassen, dazu eine halbe Flasche Wodka im Tiefkühler. Auf dem Teppich im Schlafzimmer lag eine riesige tote Kakerlake. Ich stellte meinen Koffer ab, warf die tote Kakerlake, die Essensreste und den Wodka, für den ich keine Verwendung hatte, in den Müll und ging in den Fairway-Supermarkt um die Ecke, um mir meine erste Mahlzeit in der Neuen Welt zu besorgen. Dies war der Anfang meiner Leidenschaft für nächtliche Lebensmitteleinkäufe, die in Europa selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit sind. Im Fairway wunderte ich mich über die Sägespäne auf dem Boden und das unordentlich aufgetürmte Gemüse in den Auslagen. Sicherlich ein Laden für arme Leute, dachte ich mir. Überhaupt erschien mir die Upper West Side anfangs ziemlich trostlos und düster und ich hielt das ganze Viertel für eine sehr vernachlässigte und womöglich gefährliche Gegend. Tatsächlich kam ich mir dort vor wie ein Abenteurer. Später, sehr viel später erst, klärte mich irgendjemand darüber auf, dass Fairway einer der besten Lebensmittelläden New Yorks und die Upper West Side eines der beliebtesten Stadtviertel sei, zumindest für Ehepaare mit Kindern. In jener Nacht im Fairway erstand ich zwei Dinge, die ich noch nie zuvor gegessen hatte: kalte chinesische Nudeln mit Sesamsoße und israelischen Hummus. Es war eine durchaus eigenartige Kombination.

Da ich gehört hatte, dass Kakerlaken am liebsten nachts aus ihren Verstecken kommen und an den Wänden entlangkriechen, schob ich Marys Futon in die Mitte des Wohnzimmers. Es war eine äußerst aufreibende Nacht. Ständig wachte ich vom Geheul der Autoalarmanlagen auf, ein für mich vollkommen neues, ungewohntes Geräusch. Erst am nächsten Morgen inspizierte ich die Wohnung gründlicher. Ich habe stets den Standpunkt vertreten, Einrichtung müsse zweckmäßig, ordentlich und gerade ansprechend genug sein. Folglich beschloss ich, dass hier einige Änderungen anstanden. Ich fing damit an, die schäbigen alten Möbel auf die Straße hinunterzuschleppen, wo sie binnen kürzester Zeit von ein paar obdachlosen Männern abtransportiert wurden. Als Nächstes sammelte ich Mary Viviens Privatsachen zusammen und verstaute sie in einem der Wandschränke. Ich schloss die Schranktür ab und öffnete sie in den vier Jahren, in denen ich in der 75ten Straße wohnte, nur ein einziges Mal. Doch davon später. Anschließend putzte und desinfizierte ich auf Händen und Knien die gesamte Wohnung von oben bis unten. Die Küche war das größte Problem. Die Einbauschränke waren mit öligem Dreck verklebt, und zwischen den Fugen steckten tote Insekten. Die einzige Lösung bestand darin, die Schränke herauszureißen und durch offene Regale zu ersetzen. All dies tat ich ziemlich resolut und ohne mit der Wimper zu zucken. Zum Schluss strich ich die gesamte Wohnung im Richard Meier-Stil weiß.

Jeden Monat überwies ich die Miete auf Mary Viviens Bankkonto. Ich nahm auch ihre Post entgegen und schickte sie an ihre Adresse in Deutschland. Wenn mich irgendwer nach ihr fragte, tat ich so, als lebten wir in der 75ten Straße zusammen. Gewöhnlich fragte niemand. Bis die Geschichte mit dem Einbruch passierte.

Es war an einem herrlichen Herbstabend. Ich kam spät nach Hause und fand die Wohnungstür in den Angeln hängend und die Wohnung in einem beklagenswerten Zustand. Zugegeben, viel Wertvolles gab es bei mir nicht zu stehlen, aber immerhin waren meine CDs verschwunden, meine Stereoanlage und meine alte Yashica-Kamera.

Natürlich musste die kaputte Wohnungstür ersetzt werden, weshalb ich den Vermieter anrufen und so tun musste, als wäre ich Mary Viviens Mitbewohner und sie bei der Arbeit. Er sagte, er würde vorbeikommen und sich die Sache einmal ansehen. Bei dem Gedanken, dass er die Wohnung ganz in Richard-Meier-Weiß und ohne die geringsten Hinweise auf die schwarze Mary Vivien zu Gesicht bekäme, wurde ich außerordentlich nervös. Ich schloss den Wandschrank auf, in dem ich ihre Sachen verstaut hatte, und machte mich widerwillig und hektisch daran, die Wohnung wieder damit auszustaffieren. Das Resultat wirkte einigermaßen überzeugend, war vielleicht aber doch nicht überzeugend genug, weshalb ich meine Freundin Nicole anrief, eine Schauspielerin aus Südafrika, die nur ein paar Blocks weiter auf der 72ten Straße wohnte. Ich fragte sie, ob ich mir noch mehr Frauenkram, Klamotten und andere Sachen von ihr borgen könne. Sie amüsierte sich köstlich und sagte, aber ja doch, mit Vergnügen. Mit ihrer Hilfe gab ich der Wohnung den Anschein, als lebte Mary Vivien tatsächlich mit mir zusammen, hier und überhaupt. Ich legte sogar eine zweite Zahnbürste und eine Haarbürste voller langer schwarzer Haare auf die Ablage im Badezimmer.

Der Vermieter kam, groß und gebieterisch. Wo denn Miss Vivien sei, sagte er. Bei der Arbeit, sagte ich. Er sah sich ein bisschen in der Wohnung um und ging dann wieder, anscheinend zufrieden mit dem, was er gesehen hatte, sowie mit dem Versprechen, bald eine neue Wohnungstür anbringen zu lassen. Eine Woche später kamen zwei Arbeiter mit einer Tür, allerdings war offensichtlich keiner der beiden fähig, sie richtig einzuhängen, und ich schimpfte sie aus. Ich war damals völlig außer mir. Zwei Wochen lang hatte ich meine Wohnung nicht abschließen können, was inzwischen eigentlich ohnehin nutzlos geworden war, da mir sämtliche Wertsachen ja bereits gestohlen worden waren. Aber ja, sagten die zwei Arbeiter und nickten, selbstverständlich verstehen wir, was Sie meinen. Aber sehen Sie, diese Tür ist die falsche Tür. Am Ende dauerte es noch eine weitere volle Woche, bis ich endlich wieder abschließen konnte, und das war die reinste Tortur. Heute, da ich mit Filip Noterdaeme in der Clinton Street lebe, gibt es oft Streit zwischen uns, weil er nachts nie die Wohnungstür von innen verriegelt.

In meinem ersten Jahr in New York passierte alles und gar nichts. Ich nahm jeden Tag Tanzunterricht, eine Stunde nach der anderen, und eines Tages ging ich in eine Ballettstunde von Evee Lynn. Sie war eine ältere und die bei Weitem beeindruckendste Lehrerin der Tanzschule. Ich hatte sie oft mit ihrem schwarzen Gehstock in den Fluren herumgehen sehen, und stets hatte sie etwas zu etwas zu sagen. Sie war groß, hatte pechschwarze, kurzgeschnittene Haare, und ihre riesigen, ausdrucksvollen Augen waren mit Kajal schwarz umrandet, sodass man nicht umhin konnte, an eine orientalische Maske zu denken. In der Tat war sie eine waschechte Wienerin, die in den frühen fünfziger Jahren als junge Tänzerin nach New York gezogen war. Sie war stets schwarz gekleidet und liebte opulenten Schmuck. Besonders beliebt war sie bei japanischen Studenten, weil diese an autoritäre Lehrer wie sie gewöhnt waren.

Evee Lynn war eine ausgezeichnete Lehrerin. Ihre strengen Ballettstunden gefielen mir wegen ihrer hohen Ansprüche von Anfang an, aber noch mehr gefiel mir, wie geistreich sie ihren Unterricht gestaltete. Sie sagte oft, es gebe nur eine einzige richtige Art Ballett zu machen, und wie es denn wäre, es wenigstens einmal damit zu versuchen, selbst wenn es das einzige Mal in unserem Leben wäre, dass wir irgendetwas richtig machten. Das jagte den meisten Schülern natürlich gehörig Angst ein. Ich fand es unendlich amüsant. Allerdings hatte sie die unangenehme Angewohnheit, Dimitri, den russischen Pianisten, der in ihrer Ballettstunde die Klavierbegleitung spielte, ständig vor der gesamten Klasse wegen seines Spiels zurechtzuweisen. Manchmal führte sie uns ihre zahllosen Schmuckringe und Armbänder vor und erklärte dabei, welche echt und welche falsch waren. Man müsse, sagte sie dann, das Echte vom Falschen zu unterscheiden wissen. Gern sagte sie auch, im Leben müsse man geben, geben und noch mal geben, und wenn man dann auf dem Sterbebett liege, käme einer und würde sagen, man habe nicht genug gegeben.

Später, als sie schon aufgehört hatte zu arbeiten, hatten wir oft heftige Auseinandersetzungen und sprachen anschließend monatelang nicht miteinander. Zum Beispiel damals, als sie behauptete, alles würde sich ständig gegen sie verschwören, oder ein andermal, als sie mich bat, während ihrer Hüftgelenkoperation ihre kleine Studiowohnung auf der 57ten Straße sauberzumachen und auszumisten. Vielleicht war ich tatsächlich etwas zu eifrig bei der Sache gewesen, jedenfalls gab es einen Riesenkrach, als sie aus dem Krankenhaus zurückkam und ihre Wohnung zwar sauber und aufgeräumt vorfand, ihre Norma Kamali-Anzüge und Calvin Klein-Jeans hingegen nicht mehr. Und es stimmt, ich hatte viele ihrer Kleidungsstücke, die völlig eingestaubt aus sämtlichen Schränken quollen und aussahen, als wären sie jahrelang nicht getragen worden, entsorgt. Natürlich wusste ich, dass sich Evee Lynn schon seit Jahren nicht mehr in Schale warf und lieber in Pyjamas und Trainingsanzügen herumlief, und vielleicht fühlte ich mich deshalb dazu berechtigt, ihre alten Sachen wegzuwerfen. Die Angelegenheit mit den Norma Kamali-Anzügen war jedenfalls beinahe das Ende unserer Freundschaft. Evee Lynn hat mir inzwischen verziehen, aber hin und wieder, wenn wir Streit haben, lamentiert sie darüber, was diese Anzüge wert gewesen seien und wie ich sie nur alle einfach hätte wegwerfen können.

Nach ihrer Hüftgelenkoperation wurde Evee zur Einsiedlerin. In jenen Tagen war ihr das Sprechen über Gehen lieber als das Gehen selbst, und sie beharrte darauf, dass die OP ein Misserfolg gewesen sei. O, wie vermisse ich das Gehen, sagte sie immer, wie oft habe ich früher lange Spaziergänge gemacht und dabei meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Nun verließ sie ihre Wohnung kaum noch, und ihr gesamtes Leben drehte sich fortan um die vier großen Ts: TV, Trotz, Tatenlosigkeit und Telefon. Ihr Hausmeister und ich waren von nun an ihr einziger Kontakt zur Außenwelt.

In jenen ersten Jahren in New York verdiente ich meinen Lebensunterhalt als Kellner. Meine erste Anstellung bekam ich im Café Ravel auf der 74ten Straße, dem einzigen Lokal auf der Upper West Side, das mich auch ohne Arbeitserlaubnis einstellte. Die erhielt ich erst Jahre später, was mich offiziell zu dem machte, was die Amerikaner einen Alien of Extraordinary Ability, einen Fremden mit außerordentlichen Fähigkeiten nennen. Das Ulkige am Café Ravel war, dass es ein paar Israelis gehörte, die zwar eine Menge Erfahrung in der Bekleidungsbranche hatten, aber keinen Schimmer, wie man ein Restaurant führt. Die Folge war ein einigermaßen wirres Herumprobieren. Die italienisch-amerikanischen Gerichte wurden von brasilianischen Köchen zubereitet, und die Wiener Backwaren lieferte ein amerikanischer Industriebackbetrieb. Im Café Ravel lernte ich Abi Maryan kennen, eine französische Schauspielerin, die später Immobilienmaklerin wurde. Sie erzählte mir einmal, welche Riesenveränderung das für ihr Leben bedeutet habe. Daniel, sagte sie schnörkellos, ich werde nie wieder arm sein.

Zum Cafépersonal gehörten auch ein paar Amerikaner, Nick aus Jersey, der seine Homosexualität vergeblich zu verheimlichen versuchte, und die blonde Gwendolyn, eine Tänzerin, die mich darüber aufklärte, wie man in Amerika ohne Krankenversicherung (über-) lebt. Aber was machst du, wenn du dir einmal ein Bein brichst, fragte ich sie. – Weinen, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. Und dann war da noch Tiffany, die rothaarige Hostess, mit der ich manchmal nach der Arbeit ausging, meistens in die Webster Hall im East Village, wo wir mit den aufgetakelten Voguing-Tänzern herumalberten. Eigenartigerweise fand ich erst Jahre später heraus, dass sie heroinsüchtig war. Irgendwie hatte es damals wohl Ärger mit ihren kolumbianischen Drogenhändlern gegeben und sie traute sich nicht mehr nach Hause. Ich ließ sie bei mir in der 75ten Straße übernachten, und am nächsten Morgen setzte sie sich in einen Bus, der sie zum Entzug nach Florida bringen sollte. So nahm ihr Leben letztlich eine entscheidende Wende.

Eines Tages riet mir Sita Mani, eine Tanzstudentin aus Indien, ich solle aufhören im Café zu arbeiten und stattdessen wie sie in den Partyservice einsteigen. Dann musst du, sagte sie, weniger Stunden arbeiten und verdienst trotzdem genug, um davon zu leben. Schon kurze Zeit darauf, nachdem ich mir einen Kellner-Smoking besorgt und gelernt hatte, wie man in Amerika im französischen Stil serviert, begann ich, auf Cocktailpartys, bei großen Galas in Museen und an anderen Veranstaltungsorten zu arbeiten.

Die angenehmste Partyservicefirma war Glorious Food. Sie gehörte Sean Driscoll, der wie ein Besessener gearbeitet und gearbeitet und gearbeitet hatte, und, wie es heißt, die Geschichte des Partyservice in New York neu geschrieben hat. Was für eine Geschichte wäre erst ein Buch darüber, was sich hinter den Kulissen so eines Partyservice abspielt! Vielleicht schreibt es ja irgendjemand einmal. Ich erinnere mich noch gut an eine große Abendveranstaltung in Mobile in Alabama. Glorious Food hatte für eine komplette Servicetruppe aus New York, die sich angemessen um die reichen weißen Dinnergäste kümmern sollte, einen alten Flieger nach Mobile gechartert. Nach dem Abendessen gab es ein Privatkonzert von James Brown. Es war sehr aufregend. James Brown sang Living in America und war der reinste Rhythmusteufel. Ich konnte meine Augen nicht von ihm lassen. Und ich erinnere mich daran, dass die weiblichen Gäste heftig mit den schwarzen, und zwar ausschließlich den schwarzen Kellnern flirteten.

Hin und wieder wurde ich in jenen Jahren für den Lunch- oder Dinner-Service in privaten Haushalten reicher Leute gebucht. So servierte ich einmal bei einem Damenlunch im Haus von Ronald und Jo Carol Lauder. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich von ihrer Kunstsammlung war. Da gab es Picassos in der Eingangshalle und alte amerikanische Keksdosen in der Küche und im Wohnzimmer ein wunderschönes mit weißen Eierschalenhälften bedecktes Möbelobjekt von Marcel Broodthaers. Und dann hing da ein blauer Yves Klein mit einem aufgeklebten Seeschwamm im Esszimmer. Man hatte mehrere runde Tische im Esszimmer aufgestellt und es war sehr eng. Es gab Risotto, und ich musste jedem Gast weißen Trüffel auf den Teller hobeln. Man hatte mir einen Trüffel gegeben, der so groß wie eine Babyfaust war, und als ich versuchte, Jo Carol Lauder ein paar Scheiben davon abzuhobeln, zerkrümelte er mir peinlicherweise in lauter kleine Brocken, wovon sie nicht erbaut war. Später stand ich in Habachtstellung mit dem Rücken zum Yves Klein und spürte plötzlich etwas an meiner Schulter – ich hatte mich zu weit zurückgelehnt und den kleinen blauen Seeschwamm gestreift. Glücklicherweise blieb er kleben, aber mein Herz stand für einen Moment still.

Feast and Fêtes, der Partyservice von Daniel Boulud, war eine vollkommen andere Geschichte. Es war ein ganz und gar französisches Unternehmen und folglich schlecht organisiert, was das Arbeiten für diese Firma naturgemäß höchst anstrengend machte. Trotzdem muss ich sagen, dass der Franzose Daniel Boulud ein ausgezeichnetes Lammragout machte, wenn ich von dem einen Mal bei einer Geburtstagsfeier im Dakota absehe, wo es versalzen war und in die Küche zurückgeschickt werden musste.

Ich sage immer, dass einem die Arbeit bei einem Partyservice das Gefühl gibt, das Leben bestünde zur einen Hälfte aus feiern und zur anderen aus aufräumen. Jedenfalls machte ich das ein paar Jahre lang, bis ich es einfach nicht mehr aushielt und mich nach anderen Möglichkeiten umzusehen begann, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Als sich mir später dann die Gelegenheit bot, als Privatkoch zu arbeiten, nahm ich mit Kusshand an und schmiss meinen Kellnersmoking weg. Ich war sehr zufrieden mit mir, als ich dies tat. Im Lauf der Jahre habe ich jede Menge ganz unterschiedliche Leute bekocht. Ich hatte das Glück, gute Kunden zu finden, obwohl einige von ihnen durchaus ihre Schwächen hatten. Filip Noterdaeme erinnert mich gern daran, dass sie, wenn sie diese Schwächen nicht hätten, sich mich nicht leisten könnten. Aber ich schweife schon wieder ab von der Zeit meiner Brotjobs in New York.

Es ereigneten sich alle möglichen seltsamen Geschichten, und einmal ließ ich eine schizophrene obdachlose Frau bei mir in der 75ten Straße übernachten. Und das kam so.

Es war an einem kalten Dezembertag, und ich stand an einer Straßenecke auf der Upper West Side und machte Schnappschüsse des Viertels für meine Eltern, als mich plötzlich eine Frau mit wilden grauen Haaren und manischen schwarzen Augen ansprach. Bist du Modefotograf?, fragte sie. – Lachend verneinte ich. – Ich würde dich gerne für eine Benefizveranstaltung anheuern, die ich mit Jenny Shimizu im Henri Bendel-Kaufhaus auf der Fünften Avenue veranstalten werde, sagte sie.

Für mich sah sie nicht aus wie eine schizophrene Obdachlose, aber natürlich hatte ich noch nie eine schizophrene Obdachlose gesehen, wie hätte ich das also erkennen sollen. Sie hieß Katharina Mani. Es ist schwierig zu erklären, wie alles kam, aber am Ende befanden wir uns plötzlich in meiner Wohnung und diskutierten eifrig über minimalistische Skulpturen, Joseph Beuys, französische Nouvelle Vague-Filme sowie ihre fünfzehnjährige Tochter. Das Beunruhigende war, dass sie mitten in unserer Unterhaltung ständig einschlief. Ich bot ihr höflich an, über Nacht dazubleiben, was sie gerne annahm. Sie schlief im Schlafzimmer, und ich verbrachte eine sehr unruhige Nacht auf dem Futon im Wohnzimmer, wachgehalten von Zweifeln an meinem eigenartigen Gast.

Am nächsten Morgen sagte Katharina Mani, sie müsse unbedingt ein paar Telefonate erledigen. Das konnte ich ihr schlecht abschlagen, und so saß ich da und sah ihr dabei zu, wie sie einen Menschen nach dem anderen anrief. Es schien gar nicht mehr aufzuhören, so viele Nummern kannte sie auswendig. Ganz offensichtlich war aber niemand sonderlich darauf erpicht, mit ihr zu reden, weshalb sie anfing, die Leute am anderen Ende der Leitung zu beschimpfen. Zu meinem größten Erstaunen teilte sie zudem allen mit, sie riefe aus ihrem neuen Büro in der 75ten Straße an. Als Katharina Mani endlich ging, war ich einigermaßen aufgelöst. Noch mehrere Wochen danach nahm ich weder das Telefon ab, noch reagierte ich darauf, wenn jemand an der Tür läutete.

Ungefähr zu jener Zeit trat ich im Duplex, einem kleinen Revuetheater für Anfänger, mit meiner ersten Soloshow Mind and Matter – Geist und Materie – auf. Das war ein Stück Arbeit.

Da ich keinen einzigen Varietépianisten kannte, heuerte ich Joe Cross an, einen der Klavierbegleiter der Ballettschule. Er war ein großgewachsener sentimentaler Mann aus Texas mit einer dicken roten Nase und einer starken Vorliebe für Whiskey. Ich stellte ein bunt gemischtes Programm zusammen, bestehend aus deutschen Couplets, französischen Chansons, amerikanischen Musicalhits und Jazzklassikern. Manche hielten das Programm vielleicht für ein wenig zu bunt. Zudem war es natürlich absolut notwendig, ein literarisches Zitat in die Show einzubauen. Ich las zu jener Zeit A Stone Boat, eine bezaubernde Novelle von Andrew Solomon über die Qualen des Jetsetlebens eines Pianisten und den würdevollen Krebstod seiner Mutter. Es gab darin eine sehr elegante kleine Passage, die davon handelte, wie viel Gewese schon um die Verunsicherungen und Ängste von Männern mit einem kräftigen Erscheinungsbild gemacht worden sei, wie wenig hingegen um die verheerende Stärke solcher, die wegen der scheinbaren Zerbrechlichkeit ihrer Körper den Eindruck von Zartheit erweckten. Mir gefiel diese Passage sehr gut, und ich beschloss, Andrew Solomon zu kontaktieren und ihn um Erlaubnis zu bitten, sie in meiner Show vortragen zu dürfen. Freundlicherweise gestattete er es mir. Er war ein charmanter junger Mann, der das komplizierte Leben unabhängigen Wohlstands lebte. In Amerika herrscht ja bemerkenswerterweise die Annahme, Reichtum mache glücklich, aber bei Andrew Solomon war dies nicht der Fall. Sein Leben war immer schon sehr kompliziert gewesen, und später schrieb er in Saturns Schatten, seinem Atlas der Depressionen – der im Original übrigens The Noonday Demon, der Mittagsdämon, hieß –, ausführlich darüber.

Zur ersten Aufführung von Mind und Matter kamen alle möglichen Leute. Ich brachte die Premiere ohne allzu große Schwierigkeiten hinter mich und fühlte mich ermutigt. Die Show lief mehrere Abende, was mir einen ersten Vorgeschmack auf die Komik und das Elend des Künstlerlebens vermittelte. Am letzten Abend ging irgendetwas mit Joe Cross durch, jedenfalls fing er plötzlich an, meinen Gesang mit Freestylejazz zu begleiten. Nach der Show machte ich ihm unmissverständlich klar, derlei in Zukunft gefälligst zu unterlassen. Das machte ihn sehr nervös und verunsicherte ihn. Einige Tage später schnitt er sich beim Versuch, mit einem Küchenmesser eine Büchse zu öffnen, fast einen kompletten Finger ab. Kurz: Er machte eine schwierige Phase durch, und ich musste mich nach einem anderen Pianisten umsehen.

Dann passierte etwas Eigenartiges. Feast and Fêtes rief mich an und bat mich, auf einer großen Party in einem Stadthaus in der 10ten Straße zu arbeiten. Ich zog meinen Kellnersmoking an und fand mich an der angegebenen Adresse ein, um zu servieren. Ich war gerade beim Sortieren von Silberbesteck in der Küche, als plötzlich jemand überrascht meinen Namen rief. Ich drehte mich um, und da stand Andrew Solomon. Wie sich herausstellte, handelte es sich um sein Stadthaus und seine Party. Daniel, sagte er peinlich berührt, ich habe die ganze Woche versucht dich anzurufen, um dich zu meiner Party einzuladen, aber du warst nie zu Hause und dein Anrufbeantworter schien nicht zu funktionieren. Tatsächlich war dieser eine Woche zuvor kaputtgegangen, und ich hatte keine Zeit gehabt, ihn zu ersetzen. Damals hatte noch nicht jeder ein Handy. Andrew Solomon zeigte mir seine To-do-Liste, und tatsächlich standen ganz oben mein Name und meine Telefonnummer. Es war für uns alle beide eine ziemlich peinliche Angelegenheit, aber da war nichts zu machen. Er musste für seine illustren Freunde den Gastgeber spielen und ich Champagner, Kaviar und Blinis servieren.

Doch jetzt muss ich erzählen, wie ich Privatkoch wurde.

Eric Ellenbogen war ein reicher Mediengeschäftsmann aus Los Angeles. Er hatte etwas an sich, das mich immer an den TV-Comedian Jerry Seinfeld erinnerte, und da sich die beiden gut kannten, war nie ganz klar, wer sich wen als Vorlage genommen hatte. Es war übrigens auf Eric Ellenbogens Geburtstagsparty für Daniel Boulud im Dakota gewesen, auf der das Lammragout zurückgeschickt werden musste. Danach hatte er mich gelegentlich angerufen, damit ich bei seinen kleinen mittwochabendlichen Essenseinladungen servierte.

Eric Ellenbogen hatte einen Privatkoch aus Venezuela, Pedro, der in seinen karierten Hosen und seiner weißen Kochjacke sehr sexy wirkte. Pedro war eigentlich immer lüstern, und manchmal machten wir zwischen den einzelnen Serviergängen in der Küche ein bisschen rum, was jenen sonst eher langweiligen Abenden zumindest einen gewissen Reiz verlieh.

Es war in jenem Frühling, dass Eric Ellenbogen mich um ein Treffen bat. Seine Sekretärin führte mich in sein Büro, das einen hübschen Blick auf den Central Park hatte, und nachdem ich mich gesetzt hatte, sagte Eric Ellenbogen zu mir: Daniel, mein neues Ferienhaus in den Hamptons ist fertig und kann nun Gäste empfangen. – Aha, sagte ich. – Genau, sagte er, und ich frage mich, ob du vielleicht Interesse hast, deine Sommerwochenenden dort zu verbringen und für mich und meine Freunde als Butler zu arbeiten. Alles, was du zu tun hättest, wäre im Barefoot Contessa, unserem Delikatessenladen dort, Essen zu bestellen und es nett auf Servierplatten anzurichten, eine ganz lockere Sache also. – Ich erklärte ihm, Fertiggerichte zu kaufen würde mich nicht im Mindesten interessieren, weder für mich selbst, noch für andere, ob er sich jedoch vielleicht überlegen wolle, mich als Koch einzustellen. Eric Ellenbogen war sehr interessiert. Kannst du ein Soufflé zubereiten?, wollte er wissen. – Kann ich, sagte ich. – Zeig es mir, sagte er. Ich zeigte es ihm, und er stellte mich für den Sommer ein.

Der Beginn meines Lebens als Privatkoch hatte durchaus eine gewisse Komik. Eric Ellenbogen war ein sehr zuvorkommender und großzügiger Gastgeber, und sein Haus stand vielen offen. Es gab zahlreiche Schlafzimmer, von denen die meisten stets belegt waren. Cary Davis, der seinen zukünftigen Ehemann John McGinn damals noch nicht kannte, war eigentlich immer da, ebenso wie der ruhige David Stewart und der verschlagene Berkley Bowen. Sie alle waren zu dieser Zeit noch Junggesellen und sehr erpicht darauf, einen Partner zu finden, wenn nicht für immer, so doch wenigstens für den Sommer. Kurz, es kamen ständig alle möglichen Leute vorbei, und als sich herumsprach, dass Eric Ellenbogen einen neuen Privatkoch hatte, kamen mehr und mehr. Philip Galanes war oft bei Eric Ellenbogen zu Mittag zu Gast. Er hatte damals noch nicht begonnen, als New York Times Kolumnist oder Inneneinrichter zu dilettieren, sondern arbeitete als Rechtsberater für einen großen Konzern. Ich erinnere mich an einen Sonntag, an dem alle am Küchentisch saßen und Vichyssoise löffelten, und Philip Galanes war auch da und unterhielt sich mit einem jungen Pärchen über die bevorstehende Einschulung ihres kleinen Sohnes. Schickt ihn bloß nicht auf eine öffentliche Schule, sagte er zu ihnen, und was es denn bringen solle, dass ihr Sohn dort mit Kindern aus armen Verhältnissen heranwüchse, mit denen er später im Leben nie etwas zu tun haben würde. Wie gesagt, er wurde später bei der New York Times angestellt. Aus irgendeinem Grund, den lediglich die Redakteure dieser Zeitung kennen, erschien er ihnen genau der Richtige zu sein, um Fragen nach der Lösung prekärer sozialer Situationen zu beantworten, und er wurde als Verfasser der Kolumne Social Q bekannt.

In der Zwischenzeit hatte Mary Vivien genug von München und beschlossen, nach New York zurückzuziehen, weshalb ich mir eine neue Wohnung suchen musste. Ich bezog ein kleines Studio im zweiten Stock eines Mietshauses in der Amsterdam Avenue. Das Studio war viel kleiner als die Wohnung in der 75ten Straße und die Miete um einiges höher, aber ich war erleichtert, dass endlich mein eigener Name in einem Mietvertrag stand und ich nicht mehr so tun musste, als wäre ich nur ein Mitbewohner. Wegen der dominikanischen Bodega im Erdgeschoss roch es immer nach gegrilltem Hühnchen, aber das Studio war sauber und renoviert, und ich sah niemals eine Kakerlake, abgesehen von der ersten Nacht, die Filip Noterdaeme bei mir verbrachte. Das war jedoch erst zwei Jahre, nachdem ich dort eingezogen war.

Das Interessante an dem Studio war, dass man alles sehen konnte, was sich im gegenüberliegenden Studio jenseits des engen Hinterhofs abspielte. Es wurde von einem jungen Mann bewohnt, den ich allein dadurch, dass ich ihn Tag und Nacht darin herumhantieren sah, recht gut kennenlernte. Gewöhnlich gegen elf Uhr abends onanierte er gerne vor dem Fernseher, und es überraschte mich sehr festzustellen, dass er sich dabei eines Strumpfs bediente. Übrigens kam mir Jahre später bei einer Gelegenheit selbst in den Sinn, einen Strumpf zu verwenden, aber nicht an mir, sondern an Filip Noterdaeme, und es war auch nicht im Bett oder vor einem Fernseher, sondern in einem Flugzeug.

Sidney Meier, der Manager des Don’t Tell Mama, einem alten Varietétheater in Midtown, rief mich an. Sidney Meier war selbst Varietékünstler, aber nach vielen erfolglosen Jahren beschränkte er sich darauf, jedem hoffnungsvollen Darsteller, der im Don’t Tell Mama auftreten wollte, einen Vortrag zu halten. Es ist ein Jammer, dass diesen Vortrag, den er in seinem kleinen Büro in dessen Hinterräumen an seinem Schreibtisch sitzend hielt, kein Publikum jemals erleben durfte. Er dauerte ungefähr ein halbe Stunde, und man war gut beraten, Sidney dabei nicht zu unterbrechen, da er ansonsten womöglich noch einmal von vorne hätte anfangen müssen, denn offensichtlich konnte er ihn nur am Stück halten. Ich saß also da, hörte zu und sagte am Schluss: Ich verstehe, Sie wollen sagen, dass sich im Tingeltangel-Dasein alles um Komik und Elend dreht.

Ich fragte Evee Lynn, ob sie mir einen Pianisten empfehlen könne. Sie riet mir, mir einen mit sicherem Rhythmusgefühl zu suchen. Ich heuerte David Lamarche an, Dirigent am Dance Theater of Harlem. Er war ein disziplinierter, geduldiger und freundlicher Mann aus Rhode Island. Wir kamen gut miteinander aus und unsere Zusammenarbeit währte mehrere Jahre. Später wurde er Chefdirigent beim American Ballet Theater.

Etwa zu dieser Zeit kam mir in den Sinn, mir unbedingt ein eigenes Klavier zuzulegen. Ich fand ein gebrauchtes Wurlitzer in einem Secondhandladen und ließ es in mein kleines Studio liefern. Dort stand es dann groß und imposant und, wie sich herausstellte, vollkommen nutzlos herum. Keiner meiner Pianisten hatte Lust, in meinem kleinen Studio mit mir zu proben, und ich selbst hatte in meiner Kindheit zwar Klavierstunden gehabt, war aber nie richtig bei der Sache gewesen, und so setzte ich mich auch jetzt eher selten ans Klavier. Die einzigen Stücke, an die ich mich noch erinnerte, waren die Gymnopédies von Erik Satie und Mozarts Fantasie in c-Moll.

Meine Auftritte im Don’t Tell Mama waren schnell vorüber, und anschließend wurde ich für eine Mitternachtsshow mit Joey Arias und Raven O gebucht. Sie sollte im Kitkat Club am Broadway gezeigt werden, demselben Theater, in dem gerade an einer neuen Inszenierung des Musicals Cabaret mit Alan Cumming in der Rolle des Conférenciers gearbeitet wurde.

Ich hatte 1994 erstmals von Joey Arias gehört, als seine Show Strange Fruit, seine Hommage an Billie Holiday, in aller Munde war. Die Tickets für diese Show waren ziemlich teuer, und ich bat ein paar wohlhabende Freunde, die zu Besuch aus Deutschland gekommen waren, mich dazu einzuladen. Das taten sie auch, und so lernte ich mein erstes Genie kennen. Die Show übertraf alle meine Erwartungen. Joey Arias suchte unter den männlichen Zuschauern im Saal ausgerechnet mich aus und wies mich an, sein Mikrofon zwischen meinen Knien festhalten. Ihn das erste Mal auf der Bühne zu erleben, markierte, wie ich zu sagen pflege, den Beginn meiner Auffassung, Kleinkunst müsse Leichtigkeit mit Tiefsinn paaren. Bis dahin war es mir immer um Ernsthaftigkeit und Ausdruck gegangen. Joey Arias’ Auftritt hingegen vermittelte mir die Bedeutsamkeit von Stil und Kunstgriffen. Und nun, drei Jahre später, probten wir also gemeinsam für diese Mitternachtsshow im Kitkat Club. Regisseur war ein ehemaliger Tänzer, der noch nie eine Show inszeniert hatte. Es war mir unverständlich, warum man gerade ihn mit der Regie beauftragt hatte.

Nach wochenlangen Proben hatte Cabaret schließlich Premiere, alles applaudierte Alan Cumming, und dann begann unsere Show. Kaum hatte sie begonnen, ging alles schief. Es fing schon mit Joeys Auftritt an. Der Regisseur hatte ihm versprochen, er würde hochdramatisch von der Decke heruntersegeln, aber Joey bekam dafür nur einen unvorteilhaften Harness und ein Seil, an dem er wie eine Puppe baumelte, und es war alles andere als ungefährlich. Dann fing Joey an zu singen, allerdings funktionierte sein Ansteckmikrofon nicht richtig, und kein Mensch in dem riesigen Theater konnte ihn hören. Joey gab ein Zeichen, die Musik zu stoppen, ergriff gelassen das kleine Mikrofon und erklärte geringschätzig mit seiner besten Billie Holiday-Stimme, dies sei der kleinste Penis, den er je gesehen habe. Alles schnappte nach Luft. Dann marschierte Raven O großspurig auf die Bühne. Er war wie ein boshafter Elf, und alle Blicke hingen an ihm. Furios warf er seinen roten Pelzmantel zu Boden und begann Strangers in the Night zu singen, wobei er wie ein Tiger im Käfig auf der Bühne umherstolzierte – da stockte plötzlich die CD mit der Begleitmusik. Später verpassten einige der männlichen Tänzer, die vollständig von ihren Kostümen und ihrem Make-up okkupiert waren, ihren Einsatz. Und so wurde aus der Premiere eine Schlussvorstellung. Unsere Mitternachtsshow wurde nie wieder gespielt, nicht ein einziges Mal. Trotz allem war dies der Beginn meiner Freundschaft mit Joey Arias.

Ungefähr zur gleichen Zeit fing ich an, bei Larry Woodard Gesangsunterricht zu nehmen. Über Larry muss ich ein bisschen erzählen.

Larry Woodard war ein korpulenter, feinfühliger Mann in den Fünfzigern. Sein musikalischer Hintergrund waren Gospel und klassische Musik, er hatte sich aber auch als Varietésänger einen Namen gemacht. Sein Lieblingslied war Wien, Wien, nur du allein. Ich hatte noch nie einen Schwarzen dieses Wienerlied singen hören, es sei jedoch angemerkt, dass Larry es besser sang als jeder andere.

Während der Gesangsstunden sagte Larry Woodard manchmal zu mir: Halt, halt, halt, du hast gerade einen Battleismus gemacht, bitte lass diese Battleismen sein. – Battleismus?, sagte ich. Was ist denn das? Ein Battleismus, erklärte Larry Woodard, sei das, was Kathleen Battle mit Mozart mache, immer wieder versuche sie es, aber er erlaube es ihr nie, denn Mozart sei Mozart und Gospel sei Gospel, und immer würden sie sich darüber streiten, bis sie ihm verspräche, es nie wieder zu tun, aber dann täte sie es doch wieder.

Larry Woodard war es, der mir einen Pianisten namens Christopher Martin für meine neue Show Tender is the Night – Zärtlich ist die Nacht – empfahl, mein erstes komplett amerikanisches Programm, mit dem ich im Danny’s Skylight, einem kleinen Revuetheater in der Innenstadt, auftreten wollte. Wir begannen mit den Proben, und irgendetwas an Christopher Martin war, wenn auch nicht vollkommen falsch, so doch eindeutig nicht ganz richtig, was mich an Larrys Urteilsvermögen zweifeln ließ. Als ich endlich begriff, dass er tatsächlich einfach schlecht war, war es zu spät, ihm zu kündigen und die Proben noch einmal mit jemand anderem von vorne zu beginnen.

Nach der Premiere legte mir Larry Woodard ganz betreten die Hand auf die Schulter und flüsterte: Es tut mir ja so schrecklich leid, Daniel, ich hätte dir Christopher Martin nie empfehlen sollen. Aber weißt du, ich dachte, wer ein so guter Sänger ist wie er, ist auch ein guter Pianist!

Es war etwa zu jener Zeit, dass Joey Arias mich einlud, als Gast in der Bar d’O aufzutreten. Das war ein kleines Revuetheater im Greenwich Village, das Jean-Marc Houmard gehörte, der aus der französischen Schweiz stammte. Dort hatte Joey Arias damit begonnen, Jazzklassiker in Fetischmontur vorzutragen, ein Look, der Jahre später durch Madonna populär wurde und der viele bekannte Szenetypen und trendige Touristen aus Europa und Japan entzückte. Man ging mindestens einmal in der Woche in die Bar d’O, gewöhnlich am Dienstag, wenn nämlich Joey Arias mit Raven O und der himmlisch komischen Dragperformerin Sherry Vine auftrat.

Und so ging ich eines Dienstagabends in die Bar d’O, sang ein Duett mit Joey und anschließend noch eine Solonummer, The Best is Yet to Come – Das Beste kommt noch. Nach meinem Auftritt sprach mich ein attraktiver junger Mann in einem engen weißen T-Shirt an, auf dem Dreamer stand. Und das war Filip Noterdaeme.

Filip Noterdaeme stellte mir sogleich allerlei Fragen, woher ich käme, wo ich wohnte und wo ich sonst noch aufträte. Ich erzählte ihm von Tender is the Night, meiner Show mit amerikanischen Klassikern in Danny’s Skylight Room. Aber warum, fragte er, singst du denn keine europäischen Chansons, dafür gibt es in New York doch sicherlich ein Publikum. – Ach, wirklich?, erwiderte ich. Und wo war das in den letzten zwei Jahren gewesen, als ich mir vor nahezu leeren Häusern mit diesen europäischen Chansons die Seele aus dem Leib gesungen habe? – Nun, meinte er, ich bin ja jetzt da, und da war mir, als hörte ich eine Glocke in mir läuten.

In der darauffolgenden Woche kam Filip Noterdaeme mit seinem alten Freund Terry Brown Jr. zu Tender is the Night. Dieser war ein konservativer republikanischer Homosexueller, der sich gern in guter Gesellschaft aufhielt, namentlich in der Gesellschaft gutaussehender junger Männer. Ein Intellektueller war er allerdings nicht. Einer seiner Lieblingsorte war das schwule Burlesk-Theater Gaiety am Times Square, in das seinerzeit alle gingen. Es ist schon seit langem geschlossen, aber ich weiß noch, wie Filip Noterdaeme jedes Mal, wenn er mit Terry Brown Jr. telefonierte, ihn damit neckte, sie müssten unbedingt wieder einmal ins Ballett gehen. Ballett war ihr Code für das Gaiety. Terry Brown Jr. liebte das Revue- und Varietétheater und hatte die unvergleichliche amerikanische Varieté-Sängerin Hildegarde persönlich gekannt. Sein Vermögen hatte er als Innenausstatter für die Millionärin Leona Helmsley und den Hollywoodstar Lena Horne gemacht, wobei er Letztere sehr, Erstere hingegen bedeutend weniger schätzte.

Terry Brown Jr. war ein äußerst angenehmer Zuschauer, immer höflich und immer applaudierfreudig. Nur zu gut erinnere ich mich daran, wie er an jenem Abend in Danny’s Skylight Room beglückt aufseufzte, als ich das Titelstück des Abends anstimmte. Nach der Show gingen wir alle noch etwas trinken, und Terry Brown Jr. sagte mir, Tender is the Night sei sein Lieblingslied, und Filip Noterdaeme meinte, aber der Pianist habe gespielt wie ein Elefant.

Das war im Jahr 1999. Wir alle hatten die Neunziger in einigermaßen bescheidenen Verhältnissen zugebracht und versucht, unser Leben auf die Reihe zu bekommen. Filip Noterdaeme hatte als Statist an der Metropolitan Opera und als Führer im Guggenheim Museum gearbeitet, fühlte sich deshalb in Opernhäusern und Museen gleichermaßen zu Hause und wusste alles darüber, was hinter den jeweiligen Kulissen ablief. In jener Zeit hatte er kaum eigene Kunst produziert. Stattdessen hatte er sich gründlich Kunst angesehen, ebenso wie die Menschen, die sich Kunst ansahen. Später, als er wieder Kunst machte und das HOMELESS Museum gründete, erzeugte dieser bewusste, Gefüge und Struktur der Museumswelt durchdringende Blick auf das Theatralische all dessen eine flüchtige Brechung und einen konstanten Unterton in den meisten seiner Arbeiten.

Nur wenige Zeit später aßen Filip Noterdaeme und ich zum ersten Mal zusammen zu Abend. Er wählte ein Restaurant aus, das er kurz zuvor in der Cornelia Street im Greenwich Village entdeckt hatte. Es hieß Home, und Filip Noterdaeme war ziemlich angetan von der dortigen amerikanischen Hausmannskost. Ich erzählte ihm von meinen eigenen Kochkünsten und meinen diesbezüglichen Aktivitäten bei mir daheim und bei anderen. Das interessierte Filip Noterdaeme sehr.

Erst Jahre später, während eines höchst eigenartigen Abendessens im avantgardistischen Molekular-Restaurant WD-50 begriff ich, dass Filip Noterdaeme nichts ernster nahm als das Essen und dass es in der Tat das Einzige war, das er einfach immer ernst nehmen musste. Wir hatten das bejubelte Probiermenü bestellt und bekamen unter anderem ein Trompe-l’Œil serviert, ein Spiegelei, das aus Kokosnuss und Karottensaft fabriziert worden war, außerdem erinnere ich mich noch an frittierte Mayonnaisewürfel, und Filip Noterdaeme, der das alles nicht im Mindesten amüsant fand, flüsterte ständig, wo das Essen bliebe.

Ein paar Wochen nach unserem ersten Abendessen im Home fragte mich Filip Noterdaeme endlich, ob ich mit ihm nach Hause kommen wolle. Es war nach einer sehr langweiligen Geburtstagsparty in einem indischen Restaurant im East Village. Filip Noterdaeme hatte sich an jenem Tag die Haare sehr kurz schneiden lassen und erschien mit einer Basketballkappe auf dem Kopf. Was ist denn das, sagte ich. – Was ist was, sagte er. – Lass deine Haare sehen. Du siehst ja aus wie ein Soldat, sagte ich streng. Und fügte dann aber noch etwas weniger streng hinzu: Na ja, du bist immer noch du, und schließlich werden die Haare nachwachsen. Dann gab es Chutneys und Reis, und alle sangen Happy Birthday. Wir blieben nicht lange und verließen die Party gemeinsam. Wir wussten beide, dass dies eine wichtige Nacht war, waren jedoch etwas schüchtern, und so schlenderten wir erst einmal ein bisschen durchs Viertel, und dann nahmen wir noch einen Drink in einer Homosexuellenbar namens Flamingo East, und erst dann fragte Filip Noterdaeme mich endlich, ob ich mit zu ihm kommen wolle. Ich sagte ja.

Meine Erinnerungen an jene erste Nacht sind sehr lebendig. Es gibt viel zu erzählen, was damals geschah und was davor geschehen war, das wiederum zu diesem Damals führte, aber jetzt muss ich beschreiben, was ich sah.

Filip Noterdaemes Mietwohnung lag im Obergeschoss eines älteren Stadthauses in der Clinton Street in Brooklyn Heights und bestand damals wie heute aus einem großen Wohnzimmer mit einer offenen Küche, einem kleinen Badezimmer und zwei Schlafzimmern. Es war sehr gemütlich unter der Dachschräge.

Es hingen etliche Gemälde in der Wohnung, und ich fragte ihn, welche von ihm seien. Er zeigte auf ein sehr eigenartiges Bild über der Tür im Schlafzimmer. Darauf war der Schoß einer nackten, sich zurücklehnenden Frau zu sehen, in deren Scham eine rauchende Pfeife steckte. Dieses Bild, sagte er, ist der Grund warum er aus der Kunstakademie geschmissen wurde. Dann fügte er hinzu, er nenne es Pussy Painting – Muschi-Bild –, und ob es mir gefiele. Ich sagte, es sei allemal ein schönes Beispiel für Product-Placement. Filip Noterdaeme lachte. Dann erklärte er mir, dass das Pussy Painting eine Kombination zweier berühmter Bilder sei, nämlich von Courbets Der Ursprung der Welt und Magrittes Der Verrat der Bilder, und im Übrigen das einzige Selbstporträt, das er aus seiner Kunststudentenzeit aufbewahrt habe. Das war alles sehr interessant, doch an jenem Abend interessierte ich mich zugegebenermaßen mehr für Filips Schoß als für den von Courbets Modell. Wie gesagt, war dies unsere erste gemeinsame Nacht, und sie war ungeheuer wichtig. Wir mussten schließlich herausfinden, ob wir sexuell kompatibel waren. Was der Fall war.

Ich wurde schon bald ein regelmäßiger Besucher in der Clinton Street, und Filip Noterdaeme stellte mich seinem Mitbewohner vor, dem blonden, hellhäutigen, blassen Nick Wilkinson, der zwei Jahre zuvor bei ihm eingezogen war. Über Nick muss ich ein wenig erzählen.

Aufgewachsen war er in Tucson in Texas, kam ursprünglich aber aus Long Island. Bereits früh in seinem Leben entwickelte er ein beharrliches Interesse an Computern. Als er bei Filip Noterdaeme einzog, war er gerade achtzehn Jahre alt, übergewichtig und Student an der Technischen Hochschule von Brooklyn. Unter Filip Noterdaemes Einfluss machte er dann sehr rasch eine radikale Veränderung durch. Filip Noterdaeme war es, der Nick beibrachte, wie man lebt und sich richtig ernährt. Gemeinsam tüftelten sie eine Reihe von Haarfärbeexperimenten für Nick aus, und dieser wechselte von Blond zu Strohblond zu Champagnerblond, und selbstverständlich war jedes Blond vollkommen anders als das vorherige. Kurz, Filip Noterdaeme wurde ein wenig so etwas wie eine Vaterfigur für Nick Wilkinson.