Die Baródins - Helmut Lauschke - E-Book

Die Baródins E-Book

Helmut Lauschke

0,0

Beschreibung

Der Name Baródin kommt von Katharina Zwetlana Baródin, der Mutter von Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dem Generalmajor der Roten Armee und ersten Stadtkommandanten von Bautzen nach dem zweiten Weltkrieg. Boris Baródin ging aus der ungewöhnlichen Liebesbeziehung zwischen Ilja Igorowitsch und Anna Friederike, der Tochter des einstigen Breslauer Superintendenten Eckhard Hieronymus Dorfbrunner, hervor. Früh erlernte Boris das Klavierspielen vom Vater, der als Kenner von fünf Sprachen und deren Literatur auch ein außergewöhnlicher Pianist mit einem phänomenalen Gedächtnis war. Boris wurde schon mit jungen Jahren ein gefragter Pianist auf den Konzertbühnen der Welt. Er schrieb >Die russische Sonate<, die er seinem in Moskau verstorbenen Vater und ersten Klavierlehrer widmete. Die Sonate blieb unvollendet, da Boris mit 26 Jahren an einem Blutsturz aus dem Magen verstarb. Vera, seine junge Frau, war eine geborene Walesa. Sie war eine natürliche Schönheit mit slawischem Charme. Vera hatte als musikalisches Naturwunder den letzten Satz der Sonate mit der mehrstimmigen Fuge vollendet. Björn Baródin ist der Sohn, der 3 Monate nach dem Tode des Vaters Boris das Licht der Welt erblickte. Er schlug die ärztliche Laufbahn ein, obwohl auch er ein begabter Pianist war. Björn wurde Neurologe und Psychiater. Es war ein Beruf im Spannungsfeld zwischen Psyche und Wirklichkeit. Auf die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Gesellschaft mit dem breiten Spektrum seelisch-geistiger Störungen wird eingegangen. Als junger Ordinarius führt Björn die Kunsttherapie mit dem Mal- und dem Musikzimmer an der von ihm geführten Klinik ein. Er hatte erkannt, dass der künstlerischen Tätigkeit eine zentrale Funktion im 'Aufschließen' der Seele zukommt. Das gilt für die seelisch und geistig kranken Kinder in besonderer Weise. Das Kunstwerk hilft der Psychiatrie in der 'Entschlüsselung' des Menschen in den Tiefen seiner seelischen und geistigen Verfassung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 1070

Veröffentlichungsjahr: 2016

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Helmut Lauschke

Die Baródins

Roman

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Von der frühen deutschen Nachkriegszeit aufwärts

Boris Baródin, der Pianist

Der Flug nach Warschau

Der Besuch bei Frau Lydia Grosz

Eine deutsch-polnische Liebesbeziehung

Die Aufführung des Brahms-Konzertes in Warschau

Die Begegnung mit dem Vater in Moskau

Der Traum und aus dem Leben

Der Konzertabend in Moskau

Besuch im Heim für hirngeschädigte Kinder

Rückflug mit Zwischenstation in Warschau

Der Tod des Ilja Igorowitsch Tscherebilski

Das Gespräch mit dem Sachbearbeiter Wilhelm vom Drogendezernat

Zum Begräbnis von Ilja Igorowitsch Tscherebilski nach Moskau

Der Klavierabend mit den Schülern

Auf dem Weg zur jungen Familie

Die letzten Tage des Boris Baródin

Björn Baródin, der Arzt und Psychiater

Mutters Geburtstag

Das medizinische Staatsexamen

Die Assistentenzeit

Der plötzliche Tod von Professor Kretschmar. Der neue Chef – ein Formatabrutsch

Ortswechsel

Das erweiterte Privatleben und das tragische Ende von Professor Reuter

Zwischenfall mit Kopfplatzwunde – “Buddenbrooks’ kleine Malschule” und die “holsten’schen” Musikabende

Die letzte Station

Die Vorstellungsrunde und die klinischen Aktivitäten

Die ersten “Nordlichter” im Malen und Musizieren, “Ludwig van Beethoven, der zweite”

Im Gang der Zeit

Epilog

Impressum neobooks

Von der frühen deutschen Nachkriegszeit aufwärts

Roman

Die Namen der Personen, Orte und Einrichtungen sind erfunden.

Hatte Vater recht oder unrecht? Konnte man hier überhaupt schlafen? War es nicht gefährlich, seine Wachsamkeit auch nur einen Lidschlag einschläfern zu lassen, wo der Tod jede Sekunde zupacken konnte? So dachte ich, als ich den Ton einer Violine hörte. Den Klang einer Geige in der stockfinsteren Baracke, wo die Toten auf den Lebenden lagen. Wer war der Narr, der hier, am Rande seines eigenen Grabes, Geige spielte?

Es musste Juliek sein. Er spielte einen Satz aus dem Beethoven-Konzert. Nie hatte ich so reine Töne vernommen. Und in solcher Stille! Es herrschte vollkommene Dunkelheit. Ich hörte nur die Geige, und es war, als diene Julieks Seele als Bogen. Er spielte sein Leben. Sein ganzes Leben glitt über die Saiten. Seine begrabene Hoffnung, seine veraschte Vergangenheit, seine erloschene Zukunft. Er spielte, was er nie mehr spielen würde.

Ich werde Juliek nie vergessen. Wie könnte ich ein Konzert vergessen, das vor Sterbenden und Toten gegeben wurde! Noch heute, wenn ich Beethoven höre, schließen sich meine Augen, und der Dunkelheit entsteigt das bleiche traurige Antlitz meines polnischen Kameraden, der von einer Hörerschaft Sterbender Abschied auf der Geige nahm.

Ich weiß nicht, wie lange er spielte. Als ich bei Tagesanbruch erwachte, erblickte ich Juliek, der mir gegenüber verkrümmt dalag, tot. Neben ihm lag seine Violine, zertreten, zertrampelt, eine kleine, wunderliche, erschütternde Leiche.

(Nach dem langen Marsch der ausgezehrten Häftlinge durch die Nacht bei dichtem Schneefall von Auschwitz nach Gleiwitz wegen Evakuierung des Lagers vor Ankunft der Roten Armee)

Elie Wiesel: “Die Nacht zu begraben, Elischa”

Boris Baródin, der Pianist

Musik, Begegnungen, Hilfe zur Befreiung aus der Drogenszene

Boris Baródin saß am Flügel in der Knesebeckstraße 17 in Berlin-Charlottenburg. Es war ein regnerischer Herbstabend. Seit Wochen regnete es, und Boris hatte sich für sein nächstes Konzert vorzubereiten, dass er in Warschau und danach in Moskau zu geben hatte. Für die Vorbereitung blieben ihm noch knapp zwei Wochen. Er hatte sich bei seiner Asientournee eine Erkältung mit heftigen Hustenattacken zugezogen, die ihn hartnäckig in Mitleidenschaft nahmen. So saß er mit erhöhter Temperatur am Flügel und probte die schwierigen Passagen am B-Dur, dem zweiten Brahms’schen Klavierkonzert, Opus 83. Damit das Schwitzwasser nicht auf die Tasten tropfte, hatte er den roten Seidenschal, rot war seine Lieblingsfarbe, zusammengerollt über die Stirn gebunden und die Enden über dem Hinterkopf verknotet. Die Medikamente zur Fiebersenkung und Hustenbekämpfung, die ihm die Hausärztin, Dr. Gaby Hofgärtner, vor einer Woche verschrieben hatte, schienen trotz regelmässiger Einnahme nur wenig zu helfen. Boris hatte deshalb um einen neuen Termin gebeten, den er aufgrund seiner beruflichen Besonderheit für den nächsten Tag, einem Freitag für elf Uhr bekam, bei dem er die Ärztin bitten wollte, ihn gründlich zu untersuchen, um etwas Ernsthaftes auszuschließen, was die Ursache sein könnte, dass sich die Rekonvaleszenz über das normale Maß hinaus verzögerte. Denn eine Erkältung mit Husten war für ihn nicht ungewöhnlich, wenn er in den Monaten des verspäteten Sommers und früh einsetzenden Winters auf Konzertreisen war.

Die “Immunschwäche” hatte sich bei Boris wegen der ständigen Erwähnung vonseiten der Mutter, selbst bei dem leisesten Husten, den er nicht unterdrücken konnte, wenn er mit ihr telefonierte, fest ins Hirn gesetzt. Bei jeder Erwähnung schüttete er im Stoß sein Adrenalin aus und bekam einen roten Kopf, für den er sich schämte, auch wenn es die Mutter am anderen Ende der Leitung in dem vornehmen Bürgerhaus in Blankenese mit dem ungetrübten Blick auf die Unterelbe weder sehen noch die Schärfe der vermehrten Schweißabsonderung riechen konnte.

Beim letzten Telefonat teilte Boris der Mutter mit, dass er einen Brief von seinem Vater, Ilja Igorowitsch Tscherebilski, dem ehemaligen Bautzener Stadtkommandanten der Roten Armee, erhalten habe. Der Brief sei von der Krim abgeschickt worden, wo der Vater in einer Datscha für hohe Offiziere einen mehrwöchigen Urlaub verbringe. Er schrieb, dass er mit einer jüngeren Lettin, die er in Leningrad kennengelernt habe, zusammenlebt. Seine Gesundheit sei seit dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die Tschechoslowakei angeschlagen. Er leide unter Kopfschmerzen und einem hohen Blutdruck, habe sich vor zwei Monaten wegen eines blutenden Magengeschwürs einer Notoperation in Moskau unterziehen müssen. Vater Ilja Igorowitsch freue sich auf das Brahms’sche Klavierkonzert, dass sein Sohn mit der Moskauer Philharmonie spielen werde. Er selbst habe sich in seiner Jugend an diesem Konzert probiert, es aber seiner technischen Schwierigkeiten wegen wieder zur Seite gelegt. Anna Friederike sprach immer mit tiefer Empfindung von Ilja Igorowitsch und kam ins Schwärmen, wenn sie von seinen musikalischen Exkursionen am Flügel in Bautzen erzählte. “Er ist ein gebildeter und hoch musikalischer Mensch”, pflegte sie immer zu sagen, wenn die Rede auf seinen Vater kam.

Boris hatte seine Zweifel, ob seine Mutter eine glückliche Ehe mit Gerald Elbsteiner führe. Sie erwähnte lediglich, dass er ein tüchtiger Geschäftsmann sei und vor einigen Wochen bei einer Auktion in Paris einen Seurat für 37000 DM ersteigert habe. Auch sei die Renovation des Hauses fast abgeschlossen, das diesmal einen hellbraunen Außenanstrich bekommen habe. Mehr ließ Anna Friederike über ihr Privatleben nicht verlauten. Er hatte die Vermutung, dass Wesentliches nicht ausgesprochen wurde, was sich in ihr angesammelt hatte. Doch wollte er da nicht hineinfragen, um ihr nicht noch einen Schmerz zuzufügen. So ließ er es bei der Frage nach ihrer Gesundheit bewenden, wie er es bei den Telefonaten in den letzten Monaten schon tat. Auf die Frage erklärte Anna Friederike auch diesmal, dass sie sich bis auf gelegentliche Schlafstörungen, die sie auf das feuchte Klima in der norddeutschen Bucht schob, gesund fühle. Nachdem Boris der Mutter versprach, einen Spezialisten wegen seiner anhaltenden Erkältung aufzusuchen, wurde das Gespräch beendet.

Er spielte die ersten Takte aus der Kadenz des ersten Satzes, als es an der Tür läutete. Boris ließ es dreimal klingeln, denner fühlte sich nicht in der Verfassung, einen Besuch zu empfangen. Der rote Schal über der Stirn war schweißdurchnässt, als er sich nach dem dritten Klingelzeichen erhob, noch einen Schluck Tee aus der Tasse nahm und zur Tür ging. Es war Claude, sein begabter Schüler, den er seit fünf Jahren unterrichtete. Claude stand aufgeregt vor der Tür. Boris führte ihn ins Musikzimmer, das sein Arbeitszimmer war. Sie setzten sich in die beiden schmalen Sessel in der Klubecke neben dem hohen Fenster dem Flügel gegenüber. Boris bot ihm vom chinesischen Kräutertee an, den sich Claude, der blass im Gesicht war, wortlos einschenken ließ. Olga, seine junge Freundin, eine russische Emigrantin aus Leningrad, die seit über einem Jahr ohne deutschen Pass in der Bundesrepublik lebt, sei von einem Drogendealer in einem dunklen Hausflur in Wedding zusammengeschlagen worden, weil sie ihm das Heroin, das sie vor einer Woche bekommen hatte, nicht zahlen konnte, weil ihr das Geld fehlt. Sie liege mit geschwollenem Gesicht, mit Hämatomen über der Brust und Hautschürfungen am Hals und an den Armen im Bett. “Sie soll Anzeige bei der Polizei erstatten und sich von einem Arzt behandeln lassen.” Das war der Vorschlag von Boris, den er dem Schüler mit Nachdruck gab. Claude schüttelte den Kopf: “Zur Polizei kann Olga ohne Pass und Aufenthaltsgenehmigung nicht gehen. Da kommt sie als Emigrantin ohne Papiere gleich in die Zelle und auf die Liste der Illegalen, die nach Russland wieder abgeschoben werden.” Boris wischte sich den Fieberschweiß von der Stirn: “Dann kann sie garnichts machen, sondern nur darauf warten, dass sie wieder zusammengeschlagen wird.” “So ist’s”, bemerkte Claude mit blassem Gesicht, in dem die Augenlider zuckten.

Olga war Halbwaise. Ihr Vater war Soldat bei der Roten Armee und kam bei einem Manöver ums Leben. Die Mutter hat eine Lungentuberkulose, die sich trotz Medikamente nicht bessert. Sie arbeitet in einer Blumenbinderei und verkauft zweimal in der Woche Blumen auf dem Markt, um sich mit dem kleinen Erlös am Leben zu halten, wobei das Geld zum Teil für die Medikamente draufgeht. Sie hatte ihrer Tochter zur Emigration in die Bundesrepublik geraten, damit sie sich dort ein besseres Leben aufbauen könne. Ihre Worte waren: “Hier haben wir keine Zukunft. Mich wird die Tuberkulose vertilgen, und du sitzt dann allein da. Helfen wird dir hier keiner.”

Boris machte ein betroffenes Gesicht. Er wusste, dass junge Frauen und Mädchen aus den Ländern des Ostblocks unter falschen Versprechungen in die Bundesrepublik geschleust und hier in die Prostitution getrieben werden. Der Traum vom besseren Leben erwiessich schnell als ein Höllendasein, zumal sie in totaler Abhängigkeit ohne oder mit gefälschten Papieren in erbärmlichen Unterkünften leben und machtlos den brutalen Sexgeschäften ausgeliefert sind. Sie müssen sich Prügel und Vergewaltigungen wehrlos gefallen lassen. Dagegen können sie nichts machen. Denn die Alternative ist das Abschieben durch die Behörde wegen ihres illegalen Aufenthalts. Und das fürchten sie am meisten, dass sie in ihre Heimatländer abgeschoben werden. So nehmen sie das rechtlose, unmenschliche Sklavenleben als “heiße” Ware im Dschungel des blühenden Sexgeschäfts ohne Widerwort in Kauf. Unter den miserabelsten Lebensbedingungen in der Bundesrepublik lassen sie sich im Wissen der totalen Abhängigkeit von den Bossen und Zuhältern deren willkürliche Misshandlungen gefallen.

In seiner Sprachlosigkeit ging Boris zum Flügel und spielte den zweiten Satz, das d-Moll>Allegro appassionato<. Dabei legte er das Gefühl des Schmerzes auf die Tasten und drückte es “brahmsisch” ein. Er schwitzte, und der Schweiß tropfte von der Stirn, weil er sich das Stirntuch nicht umgebunden hatte. Der Weltschmerz ertönte mit seinen weiten elegischen Bögen. Im Wechsel zwischen Dur [F; B] und Moll [d; g] war die Atmung der tönenden Welt zu hören. “Großartig, wunderbar!” flüsterte Claude, der seinen jungen Lehrer ob der außergewöhnlichen Musikalität zutiefst verehrte. Rasch hatte die “Ton-Atmung” den Raum gefüllt, und Boris atmete ihr mal erleichternd heiter, als riss die Wolkendecke auf, mal angestrengt und schwer zu, wenn sich neues und schweres in ‘violetten’ Tonfarben ankündigte, sich auf den weiten elegischen Bögen auslegte und auf diesen Bögen wie über eine Brücke von Pfeiler zu Pfeiler zog. Es ist die Brücke, die nötig war, um von einer Seite auf die andere Seite zu kommen, wenn ein Tal, eine Schlucht, ein Abgrund zu überqueren ist. Das Gefühl bedarf der Brücke, um nicht haltlos abzustürzen oder sich himmelwärts in ‘Luft’ aufzulösen. Das Wort im Zuspruch, dem menschlichen, versucht auf die Brücke mit dem Überschreitbaren zu weisen, versucht zu sagen, dass noch nicht alles verloren ist, dass es die Hoffnung und die Liebe gibt. Stärker als das Wort, selbst als das Wort der großen Zuneigung und des tiefen Mitempfindens, weil viel ausgefüllter, harmonietragender, herznäher und gefühlvoller, sprechen die Töne durch ihre vertikalen Verknüpfungenin Sept- Non- und anderen Akkorden sowie durch die horizontalen Reihungen bis zu den Ausladungen der elegischen Bögen vom tröstenden Dasein eben dieser Brücke.

Dieses Brückendasein hatte Boris im Sinn, als er im zweiten Teil des Satzes fester die Akkorde mit der linken Hand griff als im ersten Teil. Er träumte und schwitzte beim Spiel. Er verzog seine Lippen, hob und senkte den Kopf, aber drehte ihn nicht. “Da kommt die Hoffnung!”, sagte er leise, und seine Augen blitzten vor Erleichterung und Freude. “Da durchatmet Musik das Leben tief drinnen. Ist das nicht herrlich? Das ist die beste Botschaft, die ich dir heute abend mitgeben kann”, sagte er und sah in das Gesicht von Claude in der Klubecke, der von diesem Spiel verzaubert war. Da war ihm selbst das Problem mit Olga, das doch ein Existenzproblem erster Güte war, aus dem Kopf entglitten. Seine Augen leuchteten, als hätte sich das Problem gelöst, hätte Olga eine gültige Aufenthaltsgenehmigung, bräuchte sie nicht mehr den teuren ‘Stoff’ für den Kerl beschaffen, der ihr so große Versprechungen bezüglich der Ausweispapiere gemacht hatte und weiter machte, wenn und solange er den ‘Stoff’ gratis bekam. Olga hätte diesen Kerl endlich vom Hals, würde die Schulden bei dem Türken bezahlen und hätte sich vor seiner Prügel nicht mehr zu fürchten.

Claude zeigte kein Zeichen des Gehens. Regungslos saß er mit verklärtem Blick in der Klubecke und hörte sich noch den >Andante<-Satz an. Da ergriff ihn doch die Sensibilität und Feinheit der tonalen Vernetzungen zwischen Dur und Mollund ihren elegischen Ausziehungen. Er versuchte seine Atmung auf die musikalische mit ihrem Hinundherschwingen abzustimmen. Ein- und Ausatmen, und mit jedem Atemzug das Bewusstsein zu halten und zu stärken, dass es die Brücke über die Schlucht mit dem Abgrund gibt, an die man sich halten und die man betreten kann, wenn man von der einen Seite zur anderen, von der dunklen zur hellen, von der schwermütigen zur heiteren, zur frohen Seite will ohne den gefürchteten Absturz von Gefühl und Leben. Keiner hätte diese Atmung mit solcher Sensibilität für Frieden und Sanftheit und so schwingungsvoll in der Bestimmtheit des Wollens, des Lebenwollens so voll und fein in den Raum gespielt wie Boris, dachte Claude im stillen Staunen. Boris spielte mit geschlossenen Augen. Das Notenbuch brauchte er nicht. So wurden die Blätter nicht umgeschlagen. Die Finger taten es besser als beim Lesen. So brachte das Spiel die große Botschaft vom Frieden in den Raum, von der Bedeutungsfülle der ruhigen und rhythmischen Atmung. Es war die unglaubliche Offenbarung von der Einmaligkeit mit der weiten Öffnung des Genies.

“Claude, sei mir nicht böse, aber ich fühle mich nicht gut und muss ins Bett”, sagte Boris mit verschwitzter Stirn und blickte dabei auf die ruhenden Tasten nach Beendigung des >Andante<. “Entschuldige, dass ich nicht selber darauf gekommen bin”, erwiderte Claude, der sich aus dem Sessel erhob, “aber dein Spiel hat mich in eine Welt gehoben, in der ich gerne länger geblieben wäre. Sie war groß wie die Weite der Frühlingswiese, über der das Blütenmeer in sanften Wellen wog und der frische Duft die Ankunft einer neuen Hoffnung verhieß. Du hast die schöne Welt in den Raum gespielt, nach der ich mich sehne.” “Diese Welt findest du auch in der Beethoven-Sonate, an der du arbeiten sollst. Tu es mit ganzer Hingabe, und die schöne Welt kommt auf dich zu, wird in dir lebendig.” Das sagte Boris mit einem sanften Lächeln. Darauf meinte Claude, dass es ihm gegenwärtig schwerfalle, sich auf das Klavierspiel zu konzentrieren, solange das Problem mit Olga nicht gelöst sei. “Dabei werde ich dir helfen und tun, was in meinen Kräften steht”, erwiderte Boris, um seinen Schüler zu beruhigen.

Die Bettlake war nass, als Boris nach einer schlaflosen, durchschwitzten Nacht die Quecksilbersäule im Fieberthermometer runterschlug und es in die rechte Achsel schob. Es waren über 38 Grad Celsius, als er vor dem Versuch des Einschlafens, es war halbelf geworden, die Temperatur gemessen hatte. Er hatte noch einmal eine Tablette zur Fiebersenkung zerkaut und mit Mineralwasser heruntergespült, weil er alles tun wollte, was ihm die Ärztin, Dr. Gaby Hofgärtner, verordnet hatte. Auch sehnte er sich nach einer ruhigen Nacht, denn seit drei Nächten hatte er nicht mehr richtig geschlafen. Und zum Fieber kamen die Fieberträume, in denen es nicht nur um technische Fehler beim Vortrag des Klavier-Konzertes ging, sondern ihm den Blackout über eine ganze Passage der Kadenz des ersten Satzes ins fiebernde Bewusstsein suggerierte, was ihn stöhnen und aufschreien ließ, dass ihn Frau Müller, die freundliche Mieterin in der nächst höheren, der zweiten, Etage besorgt am Morgen fragte, ob ihm etwas zugestoßen sei. Das war vor zwei Tagen. Auch in dieser Nacht wurde er vom Blackout geplagt, diesmal im letzten Satz, dem >Allegretto grazioso<, dort, wo der Presto-Schlussteil einsetzt. Da klappte nichts mehr: die Dezimen mit der linken Hand vergriff er ebenso wie die Oktavläufe und Oktavsprünge mit der rechten Hand. Die Träume haben ihn doch stark mitgenommen. Sie haben ihn verunsichert, ja erschüttert. Am Morgen stand ihm der Angstschweiß im Gesicht. Er fühlte sich gedrückt und unfähig, das große Konzert zu spielen. Dabei wusste er, dass Musiker unter diesen Alpträumen auch dann leiden, wenn sie kein Fieber haben, und das besonders dann, je näher der Konzerttermin rückt.

Die Quecksilbersäule stieg an diesem Morgen wieder bis 38 Grad. Boris hängte sich den Bademantel um und legte ein Handtuch um den verschwitzten Hals. Er ging ins Bad und betrachtete das gerötete Gesicht im Spiegel. Dabei sah er, dass der Hals geschwollen war. Er tastete ihn ab und spürte den Druckschmerz unter beiden Kieferwinkeln. Beim Blick in den geöffneten Mund sah er, dass die Mandeln geschwollen und gerötet waren. Zudem waren auf ihnen einige stecknadelkopfgroße, grauweiße Eiterpunkte zu sehen. Da es nicht das erste Mal war, dass die Mandeln entzündet waren, stellte er vor dem Spiegel die Diagnose: eitrige Tonsillitis. “Warum hat nicht Mutter die Mandeln herausnehmen lassen? Nun machen sie Probleme, wenn ich sie nicht gebrauchen kann”, dachte er mit leichter Verärgerung. Er ging in die Küche, rührte zwei Löffel Kochsalz in ein Glas mit abgekochtem Wasser, ging ins Bad zurück und gurgelte mehrmals das Salzwasser mit hochgestrecktem Kopf im Rachen, sah im Spiegel, dass sich an den Mandeln nicht veränderte, putzte die Zähne, wusch das Gesicht, ging wieder in die Küche und machte sich einen Kamilletee. Während das Wasser zum Sieden gebracht wurde, setzte er sich an den Flügel und spielte die Passagen aus dem Brahms-Konzert, die ihm im Fiebertraum aus den Fingern wie aus der Erinnerung genommen waren. Es klappte, wenn auch nicht zur vollen Zufriedenheit, denn der Tonfluss, das ‘Asyndeton’ war nicht so, wie es sein sollte und auch schon war. Dennoch, Boris fand das Selbstvertrauen zurück, strafte den Alptraum Lügen und nahm sich ernsthaft vor, die Ärztin gegen elf aufzusuchen, sich gründlich untersuchen zu lassen, das Antibiotikum gegen die Tonsillitis verschrieben zu bekommen, um vom Fieber und den nächtlichen Alpträumen befreit zu werden. Mit diesen Träumen wollte er sich nicht länger herumquälen, die ihm die Unfähigkeit des Klavierspielens mit dem Blackout suggerierten. So musste er etwas Wirksames zur Stärkung seiner Kräfte unternehmen, um die Übungen erfolgreich fortzusetzen. Das Konzert musste inwendig wie auswendig sitzen; musste musikalisch wie technisch beherrscht werden. Die Partitur musste bis zur letzten Note und dem letzten Detail im Gedächtnisfest verankert und die technischen Probleme in den Fingern gelöst sein. Letzteres musste das Ohr und Gemüt des Zuhörers durch die Selbstverständlichkeit einer spielerischen Leichtigkeit, als hätte es nie ein Problem gegeben, treffen, überzeugen, mitreißen, einnehmen und‘sprachlos’ machen, damit er den Pianisten im Werk als den ‘Held des Werkes’ bewundern kann. Denn ob Brahms oder Beethoven, beide treten nicht mehr auf das Podium. Könnten sie es tun, man würde großartige Pianisten erleben, die ihre Tonschöpfungen selbst im Solopart in wunderbarster Weise vortrügen. Es war der junge Beethoven, derin Wien die Zuhörer durch sein Klavierspiel verzauberte, was ihm die Beinamen: ‘Der Teufelspianist’oder ‘Der Paganini des Klaviers’ einbrachte.

Das alles wusste Boris. So durfte bei seinem Vortrag nicht erst gesucht oder nachgedacht werden. Der vortragende Pianist ist der Mittelpunkt, auf den alles zugeschrieben ist, auf den alle hören und schauen, wie er es macht; er ist der Kronzeuge und Beherrscher des gigantischen Tonwerks, der sich vom Orchester tragen und begleiten lässt. Beim Spiel seiner Finger mit den Tasten ist der Pianist die Mitte der ‘Verkörperung’ des Tonwerks. In diesem Gebäude gibt er den Ton an. Der Dirigent verfolgt sein Spiel mit ‘gespitzten Ohren’ und führt den großen, im Halbrund ums Klavier sitzenden Klangkörper mit sensibler Aufmerksamkeit ihm zu und dann wieder weg, wenn das Klavier mehr zu sagen hat oder es allein sagen soll, wie beim Vortrag der Kadenz. Darum war es dringend erforderlich, dass Boris wieder zu Kräften kam, und das in allen Bereichen seiner tonal empfindsamen Individualität, denn die Zeit bis zur Aufführung in Warschau war nur noch kurz; sie drängte.

Es war Freitag. Boris saß zehn vor elf im Wartezimmer der Ärztin Dr. Gaby Hofgärtner. Die Arzthelferin Margit Hoffmann begrüßte ihn freundlich mit den Worten: “Guten Tag, Herr Baródin. Nehmen Sie bitte einen Moment Platz. Es wird nicht lange dauern. Frau Doktor weiß, dass Sie für elf Uhr bestellt waren.” Boris nahm Platz und behielt sein Augenmerk auf die Arzthelferin, ob beim Telefonieren und Festmachen von Terminen oder beim Herausziehen der Karteikarten aus dem Karteischrank. Sie gab eine gute Figur ab, wenn sie schrieb oder irgendwelche Eintragungen machte. Die Arzthelferin war eine hübsche junge Frau, die Boris auf etwa zwei- bis fünfundzwanzig schätzte. Sie hatte ein schönes, ovales Gesicht mit dunklen Augen und dunklem Haar. Auch hatte sie schön geformte, lange Finger an weichen, schmalen Händen. Als Pianist bestätigte er ihr, ohne es zu sagen, die richtigen Hände fürs Klavier.

Nach etwa zehn Minuten verließ eine Patientin, die die Mitte ihres Lebens erreicht haben musste, das Sprechzimmer. Sie schaute Boris ins Gesicht und grüßte ihn mit Namen. Er grüßte zurück, ohne jedoch ihren Namen nennen zu können. Da ihm das fast täglich geschah, hatte er sich daran gewöhnt. Er wünschte dieser Patientin gute Genesung und einen guten Tag, als ihn die Arzthelferin mit den Worten: “Herr Baródin bitte!” zum Eintreten ins Sprechzimmer aufforderte. Dr. Gaby Hofgärtner, eine sympathische Erscheinung der Anfangvierziger, saß hinter ihrem Schreibtisch und machte einige Notizen auf der Karteikarte der Patientin, die, das hörte Boris wohl, die Tür zum Betreten und Verlassen der Praxis leise und gedankenvoll schloss. “Nehmen Sie doch Platz, Herr Baródin”, sagte Frau Dr. Hofgärtner, während sie ihre Eintragungen machte. Boris setzte sich auf den Patientenstuhl links neben dem Schreibtisch, als die Ärztin sich aus ihrem Stuhl erhob, zum Waschbecken ging und sich die Hände wusch. Sie war eine hochgewachsene Frau mit aufmerksamem Gesicht, in dem Züge einer Nervosität nicht zu verkennen waren. Von fraulich hervortretenden Wölbungen konnte man bei ihr nicht sprechen. Überhaupt fanden sich an ihr maskuline Züge.

Bei genauer Betrachtung hatte sie ein eher scharf geschnittenes Gesicht mit einer relativ langen Nase und scharf gezogene Lippen, die dünner ausgefallen waren, als sie sonst Frauen trugen. Im stramm zurückgekämmten Haar waren erste Grausträhnen, und auf dem leicht vortretenden Kinn war ein feiner Bartflaum. Dr. Hofgärtner hatte ein blendend weißes Gebiss, was sie zur Schau brachte, wenn sie lachte, was sie gerne tat. Für einen Spaß oder eine ironische Bemerkung war sie jedesmal zu haben. “Lachen ist Medizin. Wer lacht, der lebt gesünder.” Es war ein Satz, den diese Ärztin häufig ihren Patienten verabreichte, wenn sie den Eindruck einer beginnenden Depression bekam. Dann fragte sie: “Haben sie heute schon gelacht?” Wenn der Patient oder die Patientin dies verneinte, dann sagte sie: “dann haben sie etwas Wichtiges versäumt.” Stellte die Ärztin ein erhebliches Lachdefizit fest, dann machte sie zweierlei: erstens den Eintrag in die Karteikarte: ernst, neigt zur Depression; und zweitens: “ich erzähle ihnen etwas Lustiges, damit wir darüber lachen können”. An lustigen Geschichten besaß Dr. Hofgärtner ein großes Repertoire. Das Geschichtenerzählen war Teil ihrer Therapie, soweit es die seelische Verfassung des Patienten betraf. Diese Verfassung spielte ihrer Meinung nach eine große Rolle sowohl beim Krankwerden, während der Krankheit, als auch in der Bemühung, wieder gesund zu werden. Dabei sollte der Patient ärztlicherseits unterstützt werden.

Frau Dr. Hofgärtner schaute Boris ins fiebernde Gesicht. “Na, Sie hat es ja ordentlich erwischt, das sehe ich ihrem Gesicht an”, sagte sie mit markanter Stimme, die von der Stimmlage her durchaus von einem Mann hätte kommen können. Boris fand diese Bemerkung banal und flach. Er war nicht ganz ihrer Meinung und sagte: “Auch wenn es mich stark erwischt hat, um bei ihrem Wort zu bleiben, ordentlich finde ich das weniger als im höchsten Maße störend für meine Konzertvorbereitung. Mir bleiben noch knapp zwei Wochen zum Üben, dann muss der Brahms vom Flügel perlen. Doch, das sehen sie mir an, dass ich in meiner augenblicklichen Verfassung ein Werk wie das Brahms-Konzert nicht vom Flügel perlen kann. So sitze ich tief in der Klemme.” “Das verstehe ich voll und ganz”, erwiderte die Ärztin, “da muss noch ein bakterieller Infekt sein, der sich auf den grippalen Infekt draufgesetzt hat.” Boris: “So ist es, und mich wundert, dass Sie es dem geschwollenen Hals nicht gleich angesehen haben.” Darauf sagte Dr. Hofgärtner, dass ihr der geschwollene Hals durchaus aufgefallen sei: “Ich wäre auf den Hals noch zu sprechen gekommen. Doch zunächst hat der Patient das Wort.” Boris zweifelte an dieser Aussage. Er lenkte ein, um schneller zur zweiten Stufe, der Untersuchung zu kommen. Er sagte: “Heute morgen habe ich vor dem Spiegel die Diagnose der Tonsillitis gestellt. Ich darf Sie bitten, mich noch einmal zu untersuchen, das Wort “gründlich” ließ er weg, und mir das richtige Antibiotikum zu verschreiben.” Auch erwähnte er kein Wort von seinen nächtlichen Träumen mit dem Blackout, die ihn so stark mitgenommen hatten. Da hielt er sich zurück, denn ein Missverständnis wollte er aus beruflichen Gründen nicht erst aufkommen lassen. “Wer versteht schon die Ängste und Sorgen eines Pianisten vor einem Konzert”, dachte er und verstummte. Dr. Hofgärtner sah ihn schweigend an. Offensichtlich erwartete sie weitere Bemerkungen, die Boris machen würde in Hinsicht auf die Vorbereitungen auf das Konzert. Sie wusste, Boris hatte es ihr bereits gesagt, dass er in Kürze das zweite Klavierkonzert von Brahms in Warschau und danach in Moskau spielen werde.

Sie sah ihn an und wartete noch eine kurze Zeit. Doch Boris schwieg und sah in seinen Gedanken auf das Schlauchstethoskop auf ihrem Schreibtisch. “Da wollen wir mal schaun”, sagte sie, stand auf, holte das Laryngoskop aus der oberen Schublade des Schreibtisches, klappte den Mundspatel auf, prüfte das Licht im Birnchen und stellte sich vor den sitzenden Patienten. “Machen Sie den Mund weit auf”, sagte sie und drückte mit dem Metallspatel die Zunge nach unten. “Sie haben die richtige Diagnose gestellt”, sagte sie und zog den Spatel aus dem Mund des Patienten. “Nun möchte ich nochmal die Lungen abhören.” Boris stand auf, zog Jacke und Hemd aus und stellte sich vor die Ärztin, die ebenso groß wie er, nämlich einmeterachtzig war. “Bitte durch den offenen Mund tief ein- und ausatmen.” Boris tat wie aufgefordert. “Der Lungenbefund hat sich nicht verschlechtert. Ich höre zwar noch ein Giemen und Pfeifen, vor allem in den unteren Abschnitten der Lungen. Aber eine Lungenentzündung kann ich nicht feststellen. Legen Sie sich nun auf die Liege, dass ich den Blutdruck messen, das Herz abhören und den Bauch abtasten kann.” Boris legte sich auf die Untersuchungsliege und hielt den linken Arm gestreckt nach oben, um den Dr. Hofgärtner die Manschette des Blutdruckapparates wickelte. “Der Blutdruck ist mit 135 über 90 im Bereich der Norm.” Dann hielt sie den rechten Zeige- und Mittelfinger auf die Speichenarterie oberhalb von Boris rechtem Handgelenk, schaute auf ihre Armbanduhr und zählte die Pulsschläge pro Minute, wofür sie fast fünf Minuten brauchte. “Der Puls ist mit 96 Schlägen pro Minute beschleunigt. Das steht ihnen in Anbetracht des fieberhaften Infektes zu.” Sie hörte das Herz ab, an dem keine krankhaften Geräusche über den Herzklappen waren, und tastete schließlich den Bauch ab, wobei sie sagte, dass die Leber leicht vergrößert sei. “Doch die Leber tut mir nicht weh”, erwiderte Boris auf ihre tastdiagnostische Feststellung. “Das mag sein”, sagte Dr. Hofgärtner, “die Leber ist bei entzündlichen Erkrankungen jeglicher Art oft vergrößert. Die Schwellung, die nicht schmerzhaft sein muss, geht wieder zurück, wenn der Körper von der Entzündung kuriert ist.”

Boris hörte sich den diagnostischen und prognostischen Kommentar an, ohne ein Wort zu sagen. Denn eine diagnostische Bemerkung von seiner Seite wäre hier fehl am Platze gewesen. “Sie können sich wieder anziehen.” Boris erhob sich von der Liege und zog Hemd und Jacke wieder an. Da er kein Schlipsverehrer war, hatte er auch keinen Schlips bei sich. Dr. Hofgärtner saß am Schreibtisch und notierte die Befunde auf der Karteikarte. Boris setzte sich auf den Patientenstuhl links neben dem Schreibtisch. “Die Diagnosen lauten”, fasste die Ärztin die Untersuchung zusammen und schaute dem Patienten mit Bestimmtheit ins Gesicht: “1. eitrige Tonsillitis; 2. Bronchitis rechts wie links, stärker in den unteren als den oberen Lungenabschnitten”. Ich verschreibe ihnen ein wirksames Penicillinpräparat, das Sie rasch von beidem kurieren wird”, fasste sie ihre therapeutische Maßnahme zusammen. Sie ergänzte den Therapieplan mit dem Hinweis, das Rauchen einzustellen, dem Boris als Nichtraucher mit größter Leichtigkeit zustimmte. Ein neuer Termin wurde für den folgende Dienstag vereinbart. Die Arzthelferin Margit Hoffmann machte den Eintrag in derKladde, deren Deckel mit braunem Kunstleder eingefasst waren. Im Frontdeckel war das Jahr 1972 eingepresst. Beim Verlassen der Praxis wünschte die Arzthelferin mit einem charmanten Lächeln dem ihr offensichtlich sympathischen Patienten eine gute Besserung.

Boris ging in die nächste Apotheke, die Langerhans-Apotheke, die nur ein paar Häuser weiter von der Praxis von Dr. Hofgärtner lag. Er trat ein und atmete den Apothekengeruch aus dem Gemisch von Kräutern, ätherischen Ölen, dem Baldrian und anderem tief ein. Die Gerüche sagten ihm zu. Sie machten ihn neugierig und weckten seine Lebensgeister. Den Atemzügen beim Eintreten gab er deshalb die nötige Aufmerksamkeit, weil ihm bei dem “blumigen” Geruchskorb in den Sinn kam, dass so das Gesundwerden riecht. Da berührten die Heilgeister die Riechknospen in der Nasenschleimhaut. Manchmal glaubte Boris, wenn er in der Apotheke etwas zu besorgen hatte, die Heilgeister auf der Zunge zu schmecken. Hinter dem Tresen stand Herr Brockmann, der untersetzte und beleibte Apotheker, ein stiller, freundlicher Herr der Mittfünfziger, der sich die Brille in auffallend kurzen Abständen auf dem schmalen Rücken seiner leicht nach links verbogenen Nase zurecht, beziehungsweise nach oben schob, als er einer älteren, schon etwas tütteligen Kundin, die offenbar auch schwerhörig war, die auf dem Rezept verschriebenen Medikamente nebeneinander auf den Tresen stellte und ihr die Häufigkeit der Tabletten- und Tropfeneinnahme sorgfältig und lauter als normal mit hochgezogener Stirn erklärte. Dabei traten seine buschigen, dunklen Augenbrauen, in denen das Grau das Überschrittenhaben der Lebensmitte stumm aber sicher signalisierte, noch stärker zur Geltung. Vielleicht hatte er, wenn die Stirn hochgezogen war, die Nebenwirkungen eines jeden Medikamentes im Sinn, dachte Boris, der das Nebeneinanderstellen der Heil-, Schmerz- und Aufbaumittel, wie sie bei der Behandlung älterer und alter Menschenin der Geriatrie üblich sind, mit Geduld und nicht ohne Interesse verfolgte. Auch hob er die Brille der Kundin vom Boden auf, die ihr beim Anblick auf die stattliche Zahl der verschiedenen Medikamente und beim Zuhören auf die erklärenden Erläuterungen des Apothekers, der doch auch Probleme mit seiner ständig herab rutschenden Brille hatte, heruntergefallen war.

Nachdem die Kundin gezahlt, das gewechselte Geld, das ihr Herr Brockmann an der Kasse zurückgab, gezählt, dann in das braune Lederportemonnaie und das Lederportemonnaie in die braune Lederhandtasche gesteckt, die Handtasche sorgfältig geschlossen hatte und schließlich die Apotheke mit der Apotheken-Plastiktüte und den Medikamenten verließ, sie stand noch im Eingang und drehte sich der Apotheke erneut zu, um die Tür umständlich zu schließen, schob der Apotheker die Brille auf seiner etwas schiefen Nase nach oben und wandte sich dem nächsten Kunden zu. “Was kann ich für Sie tun?”, war seine stereotype Routinefrage. Er nannte den Kunden nicht beim Namen, obwohl er die ältere, vertüttelte Kundin mit Namen verabschiedete, als er ihr das Geld gewechselt und die Medikamente im hellbraunen Plastikbeutel verstaut hatte, und Boris nicht das erste Mal in dieser Apotheke war. Boris legte das Rezept seiner Ärztin auf den Tresen, das der Apotheker mit wichtiger Miene und hochgezogener Stirn begutachtete. Er schob die Brille nach oben, als er das Rezept nach Begutachtung in der rechten Hand hielt. “Sie sind nicht der erste”, sagte er zu Boris, während er auf die Tür und den nächsten, eintretenden Kunden, eine Frau mit zwei kleinen Kindern, schaute, “bei vielen war die Grippe nicht kuriert; da hat sich in opportunistischer Weise eine bakterielle Infektion draufgesetzt. Etliche Kunden klagen über eine Pharyngitis oder Bronchitis mit Schluckbeschwerden und Hustenanfällen. Bei den Kindern ist die Tonsillitis weit verbreitet. Da haben die Hals-Nasen-Ohrenärzte Hochkonjunktur, die vereiterten Mandeln zu entfernen.” Boris hörte sich den Kommentar an, ohne darauf einzugehen, worauf der Apotheker mit hochgezogener Stirn vom Tresen weg zu den Regalen ging und nach den verschriebenen Medikamenten griff. Mit herab gerutschter Brille kam er zum Tresen zurück, stellte die Sachen nebeneinander und meinte, wobei er sich die Brille nach oben schob, falls das Penicillin aufgrund von Resistenzerscheinungen nicht anspricht, dann solle sich der Kunde ein synthetisches Penicillin der neueren Generation verschreiben lassen.

Boris spürte, dass er nun etwas sagen sollte. “Ich werde es erstmal mit dem einfachen Penicillin versuchen”, sagte er mit ruhiger und fester Stimme, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Darauf meinte Apotheker Brockmann mit dem Seitenblick auf den nächsten Kunden, die Mutter mit den zwei kleinen Kindern, dass er damit einverstanden sei. Als er die Preise an der Kasse eindrückte, sagte er mit diplomatischer Zunge, offensichtlich im Bestreben, den Kunden nicht nur nicht zu verlieren, sondern ihn zu seinem Stammkunden zu machen, dass es durchaus vernünftig sei, mit dem Penicillin der ersten Generation zu beginnen und nur dann zu wechseln, wenn sich keine Besserung einstellt. “Das macht einhundertzwölf DM und achtundfünfig Pfennig.” Den Kostensatz schloss der Apotheker nahtlos an seine Bemerkung über den sinnvollen Gebrauch der Antibiotika an. Boris konnte da weder einen Punkt noch ein Komma am Übergang vom Anwendungssatz zum Kostensatz bemerken. Er zahlte den Betrag, bekam die Quittung, nahm den hellbraunen Plastikbeutel mit den bezahlten Medikamenten und verließ die Langerhans-Apotheke in der Potsdamer Straße. Dabei entging ihm nicht, dass Apotheker Brockmann ihn beim Weggehen mit dem Namen verabschiedete und ihm eine gute Besserung und “bis zum nächsten Mal!” wünschte.

Boris machte noch eine Runde zur nächsten Konditorei. Er hatte nicht gefrühstückt und freute sich auf ein Stück Apfelkuchen mit Sahne und eine Tasse guten Kaffee. An der zweiten Kreuzung bog er von der Potsdamer Straße links ab und betrat nach weiteren hundertfünfzig Metern die Bäckerei und Konditorei Pollack. Schon beim Öffnen der Tür kam ihm der köstliche Geruch frisch gebackener Brötchen entgegen. Er ging an die Theke, sah sich die Auslagen an und bestellte sich ein Stück Apfelkuchen mit Sahne und ein Stück Käsekuchen, dazu eine Tasse Kaffee. Die junge Angestellte mit blütenweißer Schürze servierte ihm die Bestellung höflich und geschickt auf den zweiten der drei Tische mit den kleinen quadratischen Tischplatten, die Platz für jeweils zwei Kuchenteller und zwei Tassen, also für jeweils zwei Kunden gaben. Boris nippte an der Tasse mit dem heißen Kaffee, dem ein starkes, würziges Aroma entströmte und begann mit dem Stück Apfelkuchen, das er dick mit Sahne bestrich. Der Fensterplatz gewährte ihm einen ungestörten Straßenblick, mit dem er die meist hektisch ablaufende Szene der Großstadt kurz nach zwölf verfolgte. Die Fußgänger waren in Eile, entweder nach Hause zu kommen und das Mittagessen herzurichten oder andere Besorgungen zu machen. Kinder kamen von der Schule, Mütter holten ihre Kleinen vom Kindergarten, der Eismann schob das Dreirad mit dem weißen Kühlkasten langsam auf dem Bürgersteig vor sich her und schaute nach Käufern, die meist Jugendliche oder jene Mütter waren, die ihre Kleinen an der Hand führten, entweder beim Gang vom Kindergarten oder mit vollen Plastiktüten vom Einkaufen.

Es gab magere und runtergekommene Menschen, meist Männer, die offensichtlich ohne Arbeit waren und vielleicht auch keine Arbeit suchten, die auf der Straße zu leben schienen und sich vom Betteln ernährten. Sie waren schäbig gekleidet, ihre Gesichter unrasiert, die Haare wirr und versträhnt und die Schuhe abgelaufen. Manche hoben Zigarettenstummel auf und steckten sie in angerissene Jackentaschen. Andere holten etwas aus den Taschen raus, ob ein Stück Brot, das sie in den Mund steckten, oder einen Flachmann, den sie nach Losdrehen des Deckels an den Mund führten. Die obdachlosen Kreaturen, denen das Schicksal gnadenlos auf den Schultern saß, waren die Langsamgänger, wenn von den Liebespaaren und ihren Verfolgern abgesehen wurde, mit denen um diese Zeit, wenn die Sonne statt des Mondes steil über der Stadt stand, kaum zu rechnen war. Diese Langsamgänger waren Augenmenschen, die die Straßenszene aus dem ‘ff’ kannten und jeden Tag neu und professionell analysierten, wen der Passanten sie ansprechen und um eine milde Gabe bitten sollten. Es muss Alkoholisches in den Flachmännern sein, denn ein stark Heruntergekommener in verwahrloster Kleidung mit versträhntem braungrauem Vollbart, der gerade einen Schluck genommen hatte und den Verschluss auf die Flasche aufschraubte, schaute mit der Flasche in der rechten Hand durch das Fenster, hinter dem Boris sein Stück Käsekuchen verzehrte, und steckte ihm die belegte Zunge heraus. Boris nahm es zur Kenntnis und einen Einblick in einen Außenseitermund mit dem ‘asozialen’ Gebiss, das nur noch wenige Zähne hatte, die eine Zahnbürste nicht sahen und als alte, skurrile, braun gedunkelte Ruinenreste übriggeblieben waren.

Mit dem ihm vergönnten Einblick in die Höhle der Verwahrlosung machte sich Boris sogleich seine Gedanken über Ursache und Konsequenzen eines Lebens, in dem die Regeln und Sitten einer scheinbar geordneten bürgerlichen Gesellschaft entgleist, ohne Boden und ohne Dach für das Dasein, in dem die Straße das einzige und letzte mit dem letzten Halt zum Aufenthalt geworden war, keine Bedeutung mehr hatten. Nur so verstand Boris die Sprache der rausgestreckten Zunge aus dem verwahrlosten Mund, indem er dem Herausstrecken die Respektverweigerung, Ablehnung und Verachtung einer Gesellschaft zuordnete, die sich bei der politischen Spiegelbetrachtung marktschreierisch und Säle füllendals gerecht, sozial und christlich bezeichnet, was sie laut der stummen Zeichensprache mit der rausgestreckten und belegten Zunge von draußen, der Straße her gesehen durch das geputzte Fenster zum kleinen Verzehrtisch mit der quadratischen Platte in der Bäckerei und Konditorei Pollack eben nicht ist. Nach dem Höhlenblick in den ruinierten Mund schaute Boris diesem ‘Straßenwesen’, dem es vielleicht mal besser ging, ins Gesicht mit den rissig–trockenen Lippen zwischen den braungrauen Bartsträhnen und den dunklen Augen mit dem trüben Blick unter der zerfurchten Stirn mit der wetterfesten Haut und dem wirren Kopfhaar. Es war klar, dass der Flachmann eine Folge des permanenten Straßendaseins war, denn der Mann schwankte in keiner Weise, war also nicht betrunken. Der Inhalt des Flachmanns, der billige Schnaps, war ihm die Medizin, das Dasein von Tag zu Tag neu durchzustehen. Dieser Inhalt schluckweise genommen gab ihm den Mut, die Zeichensprache mit der Zunge zu wagen und mit zunehmender Übung die Skrupel zu überwinden, diese Sprache der ‘besseren’ Gesellschaft gegenüber zu gebrauchen.

Boris zweifelte nicht daran, dass diese Sprache echt und eindeutig war, um verstanden zu werden. Denn diese Sprache konnte auch ein Tauber verstehen; und wie so oft stellte sich die Gesellschaft gegenüber den Nöten der Armen und Verelendeten taub! Boris gab dem Mann ein Zeichen, holte eine Zwanziger-Note vom Wechselgeld der Apotheke aus der Jackentasche und zeigte sie ihm. Darauf ging der Mann vor die Tür der Pollack’schen Bäckerei und Konditorei, und Boris legte den Rest vom Käsekuchen auf den Teller und ging ebenfalls zur Tür, öffnete sie und gab den Geldschein dem Mann. Der bedankte sich mit einer Verbeugung und entschuldigte sich für die rausgestreckte Zunge. Er sagte: “Das kommt nicht alle Tage vor, dass es Menschen gibt, die durch ihre Tat helfen. So wolle der Herr bitte verstehen, dass die Zungensprache die Sprache der Notwehr zur Rettung des letzten Restes der Selbstachtung ist. Denn die Gesellschaft hat für unser Dasein und unsere Probleme weder ein Ohr, noch ein Verständnis, noch einen Platz. Wir haben die Achtung und Beachtung durch die Straße verloren. Ich war ein gelernter Bauingenieur. Die Firma ging Pleite, meine Frau trennte sich von mir, weil sie aus gutem Hause kommend ohne genügend Geld nicht leben wollte. Sie schmiss sich einem anderen Mann an den Hals, einem Pharma-Vertreter, der das genügende Geld brachte. Er heiratete sie, beziehungsweise sie heiratete ihn. Sie leben in Hamburg. Seitdem bin ich für diese Frau gestorben. Von meinem kleinen Besitz ist mir nichts geblieben. Das hat sie mir geradeaus weggepfändet. Nun führe ich ein Leben, das kein Leben mehr ist. Meine Eltern drehen sich im Grabe um. Noch einmal Entschuldigung und vielen Dank.” Boris nickte ihm sein Verständnis entgegen. Der Mann ging fort, und Boris ging zum Tisch zurück, um den Käsekuchen fertig zuessen. Er bestellte sich noch eine Tasse Kaffee und sah dem Mann in seiner schäbigen Kleidung gedankenvoll hinterher, wie er schließlich in der Menge der Passanten verschwand.

Es war ein Erlebnis, das Boris ergriffen hatte, denn auch er setzte an der Gesellschaft aus, dass sie ungerecht, geistlos und materialistisch sei. Einkommen und Besitz entschieden über Achtung und Stand in der Gesellschaft. Während er bei der zweiten Tasse Kaffee die Verfolgung der Straßenszene wieder aufnahm, traf ihn die zweite Überraschung. Es waren Claude und Olga, die die Straße überquerten und auf die Bäckerei und Konditorei Pollack zugingen. Ob sie ihn am Tisch sitzen sahen, wie er durchs Fenster auf die Straße sah, konnte Boris nicht sicher ausmachen. Jedenfalls traten sie ins Geschäft, gingen auf die Theke zu, als wollten sie etwas kaufen, drehten die Köpfe in Richtung Speiseraum und kamen an den Tisch. “Na, das ist ja eine Überraschung”, sagten beide wie aus einem Mund, “dass wir uns hier treffen”, setzte Claude hinzu. “Setzt euch!”, und die junge Angestellte mit der blütenweißen Schürze stellte den dritten Stuhl, den sie vom unbesetzten Nebentisch holte, hinzu.

“Was treibt euch denn her?”, fragte Boris mit einem Quantum Neugier, wie es mit Olga weitergegangen ist, wie es um sie steht. “Hunger ist’s, der uns hierher treibt”, antwortete Claude, ohne weiter nachzudenken. “Für eine warme Mahlzeit im Restaurant reicht das Geld nicht”, erklärte er schlicht und einfach. Es war eine plausible Erklärung, die keine weiteren Erläuterungen brauchte. “Dann bestellt euch den Apfelkuchen mit Sahne und einen Käsekuchen. Die kann ich euch empfehlen. Ich lade euch zum Kuchenessen ein”, sagte Boris. Dabei blickte er in das melancholische Gesicht von Olga mit den slawisch betonten Jochbögen im fast quadratischen Gesichtmit den dunkelbraunen Augen, den leicht abstehenden Ohren und dem flachen Hinterkopf. Er gab die Bestellung für die beiden auf. Dazu bestellte er für jeden eine Tasse Kaffee, für sich also die dritte Tasse. Claude bemerkte die besondere Aufmerksamkeit, die Boris seiner Freundin gab. Da wollte er vermitteln. “Es hat sich seit gestern nichts Neues ereignet”, sagte er im ruhigen Ton. Doch entging Boris nicht das nervöse Zwinkern seiner Augen. Olga scheute sich, in sein Gesicht zu sehen. Sie hielt ihren gesenkten Blick auf den Tisch gerichtet und schwieg. Sie schwieg auch, als Claude erwähnte, dass der Kerl, der türkische Dealer, hinter ihnen, beziehungsweise dem ausstehenden Geld her sei. Olga hielt ihren Blick auf den Tisch gerichtet, als Boris sagte, dass er im Anschluss zu seiner Bank, der Dresdner, gehen werde, um das Geld zu beschaffen. Die beiden aßen die Kuchen mit Heißhunger, so dass Boris sie fragte, ob er noch Kuchen bestellen solle. Olga enthielt sich der Aussage, während Claude mit zwinkerndem Blick zugab, dass er noch ein Stück vertragen könnte. Boris gab der jungen Angestellten mit der blütweißen Schürze ein Zeichen, die darauf an den Tisch kam, die Bestellung entgegennahm, die leeren Teller vom Tisch nahm, zur Theke ging und drehenden Fußes zwei Teller mit Käsekuchen brachte. Boris, der die Verfolgung der Straßenszene mit Unterbrechungen dann fortsetzte, als sich die beiden ein Kuchenstück in den Mund schoben, dachte über die Welt, die beiden und sich selbst nach. Er fragte sich, was die Zukunft für alle und für ihn bereithält. Er tat es still, um das Kuchenessen den beiden nicht zu vermiesen und in seiner Meditation zur Straße in ihrer nicht immer nachvollziehbaren Hektik weder anzuecken oder angeeckt zu werden.

“Besteht denn überhaupt die Chance, diesen Kerl mit seinen leeren Versprechungen wieder loszuwerden?”, fragte Boris nach seiner “Rückkehr” von der Straße die beiden, nachdem sie die Kuchengabeln auf die leeren Teller zurückgelegt hatten. Claude wischte sich mit der Serviette über den Mund: “das können wir nur hoffen; und wir hoffen es, denn ein Leben unter ständiger Bedrohung ist doch fürchterlich. Nachts können wir nicht ruhig schlafen, weil wir fürchten, dass dieser Kerl mit einem Messer, einer Pistole oder sonst einem Mordinstrument vor uns steht. So liegen wir über viele Stunden schlaflos im Bett und erschrecken beim kleinsten Geräusch im Hause. Da Olga auch jetzt noch auf die Tischplatte blickte und schwieg, was für Boris bei aller Geduld und dem Höchstmaß an Verständnis nicht zu erklären und auch nicht mehr annehmbar war, weil ja Olga das Problem hatte, beziehungsweise war, fragte er nun direkt, was sie, Olga, dazu zu sagen hätte. “Nichts anderes”, antwortete sie, nachdem eine Denkminute schweigend verstrichen war, “was Claude bereits gesagt hatte.” Das passte nicht ins Denkmuster von Boris, der sich Sorgen um seinen Schüler machte. Es waren doch Sorgen, die nicht er, sondern sie verursacht hat. Boris schaute ihr auf die markante, etwas tiefe Stirn und betrachtete ihr rechtes Halbprofil quasi von schräg oben mit dem vollen dunklen Haar, unter dem sich das größer als normal ausgefallene Ohr versteckte, dass das stärkere Abstehen der oberen Ohrmuschelpartie verdeckt blieb.

Boris entging nicht die blau verfärbte rechte Wange, die ihr die Ohrfreige vom türkischen Dealer gebracht hatte. Ihr Blick haftete weiter auf der Tischplatte, fuhr die leer gegessenen Kuchenteller ab und schien sich an der Form der kurzen, dreizinkigen Kuchengabel auf ihrem Teller festgesetzt zu haben, an der die linke Gabelzinke fast an die Mittelzinke herangebogen war. Während Boris auf eine Antwort von ihr wartete, fragte er sich selbst, ob Olga schüchtern, verstockt oder dickköpfig sei, denn so lange brauchte sie mit der Reaktion, eine Antwort auf seine Frage zu geben, doch nicht zu warten. Claude zwinkerte verlegen von der anderen Seite über den Tisch bis ins Gesicht von Boris. “Sag doch etwas, Olga, du weißt es doch am besten. Jetzt musst du schon reden!”, sagte Claude. Olga hob ihr lädiertes Gesicht, schaute Boris kurz an, dann senkte sie das Gesicht und hielt sich mit dem Blick an der Tischplatte fest, von der die junge Angestellte die leeren Tassen und Teller geschickt und taktvoll abräumte, nachdem Boris ihre Frage, ob weiterer Kuchen und Kaffee gewünscht würde, verneint hatte. “Ich denke schon”, begann Olga mit der lang erwarteten Erklärung und dem russischen Akzent, “dass ich diesen Mann loswerde, wenn ich ihn bezahlt habe. Das Problem ist der andere Mann, der versprochen hat, mir die rückdatierte Aufenthaltsbescheinigung zu beschaffen. Es ist ein junger Bankangestellter, der den Stoff braucht. Wenn ich ihm den nicht weiter beschaffe, wird er sein Versprechen nicht halten.” Nun schwieg sie wieder, brachte aber nach einer weiteren Schweigeminute, wobei sich ihr Blick wieder an der Tischplatte “festklemmte”, ihre Sorge zum Ausdruck, dass sie nicht wisse, wie sie sich verhalten solle.

Claude zwinkerte nicht weniger besorgt seinem Lehrer ins Gesicht, der ein ernstes Gesicht machte und sagte: “Wissen sie, Olga, dass sie in einer gefährlichen Gesellschaft sind? Zwei Männer, die alles andere als ehrbare Gestalten sind, haben sie in die Zange genommen, der eine, der türkische Drogendealer von links und der junge Bankangestellte, der ihnen da etwas versprochen hatte, was mit sauberen Mitteln nicht zu machen ist, von rechts. Da fällt mir im Augenblick auch nichts ein, wie sie aus der gefährlichen und gemeinen Zange herauskommen können. Doch aus dieser Zange müssen sie heraus, bevor sie ganz vor die Hunde gehen, wenn ich das so formulieren darf.” Olga blieb mit dem Blick auf die Tischplatte fixiert, während Claude mit dem nervösen Augenzwinkern hin und her, durch das Fenster auf die belebte Straße und von der Straße zurück auf den abgeräumten Tisch sah und dabei das Gesicht von Boris mit Hilflosigkeit streifte. “Ich verstehe ihr Problem”, fuhr Boris fort, “dass sie in der Bundesrepublik bleiben wollen und dazu die entsprechenden Papiere brauchen, aber so, wie sie es begonnen haben, um an eine Aufenthaltsgenehmigung zu kommen, haben sie sich selbst den Weg versperrt. Denn glauben sie doch nicht, dass das mit einem gefälschten Papier zu machen ist. Früher oder später, ich meine sehr bald, wird die Sache auffliegen und sie werden wegen Drogenbesitz und Anstiftung zum Betrug eine dicke Strafe bekommen, die es verbietet, dass sie in Deutschland bleiben können. Sie werden dorthin abgeschoben, woher sie gekommen sind, und das ist Russland, wo ihnen eine noch härtere Strafe droht, die sie mit einigen Jahren Gefängnis unter russischen Bedingungen abbüßen werden. Bedenken sie das bitte!

Je eher wir sie aus dieser gefährlichen Zwangslage, dieser gemeinen Zange der Erpressung von rechts und von links herausholen können, um so besser ist es für sie.” Diese Worte waren stark genug, dass Olga ihren Blick von der Tischplatte löste und aus ihren dunklen Augen Boris ins Gesicht sah. Sie schaute ihm direkt in die Augen, hielt dem Augenblick für einige Sekunden stand und sagte: “Herr Baródin, ich sehe das auch so, doch weiß ich nicht, wie ich aus dieser Zwangslage herauskomme.” “Darüber müssen wir nachdenken, und das müssen wir gründlich tun, ehe alle Bemühungen zu spät sind”, erwiderte Boris. Er fuhr fort: “Wir müssen beide Männer am Tagevors Gesicht bekommen, wir müssen mit ihnen reden, was ihre Bedingungen sind, damit die sie aus ihren Erpresserklauen freigeben. Ich weiß nur noch nicht, wie wir das am besten anstellen. Doch um ein Treffen mit einer Gegenüberstellung und einem Gespräch kommen wir nicht herum. “Ich glaube nicht”, warf Olga ein, “dass der Türke wie auch der junge Bankangestellte dazu bereit sind. “Dann wird es schwierig. Darauf habe ich jetzt auch keine Antwort. Wissen sie denn, wie die beiden Männer heißen?”, fragte Boris. “Der Türke heißt angeblich Isman und der Bankanstellte Rudolf. Mehr weiß ich nicht. Auch weiß ich nicht, ob das die richtigen Namen sind”, so Olga. Boris: “Aber sie wissen, wo die beiden zu finden sind.” Olga: “Der Türke wohnt mit anderen Ausländern in einem verkommenen Mietshaus in Wedding. Rudolf, der Bankangestellte, den traf ich jedesmal am Abend auf dem Reuter-Platz, wo ich ihm den Stoff übergab. Wo Rudolf wohnt, und wo er arbeitet, das weiß ich nicht.” Da unterbrach Claude: “Hast du nicht mal gesagt, dass du ihn in der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank gesehen hast?” Olga: “Sicher war ich mir nicht, auch wenn der Typ am Schalter dem Rudolf verdammt ähnlich sah.”

Nun funkte es bei Boris, der sein Konto bei dieserFiliale derselben Bank hatte. “Mir kommt die Idee”, sagte er, “dass ihr mich zu dieser Filiale begleitet, denn dort habe ich mein Konto. Ich werde nach einem Herrn Rudolf fragen, wenn ich meinen Scheck einlöse. Wir müssen uns hier schon überlegen, wie wir es am klügsten anstellen, damit Olga den Mann am Schalter als Rudolf identifizieren kann, ohne dass er Olga sieht. Von draußen ist es nicht, vom Eingang bei geöffneter Tür aber vielleicht zu machen. Olga muss also die Bank betreten. Sie darf ihn nur kurz ins Visier nehmen, muss mit dem Rücken zum Schalter stehen oder sich an den Tisch mit den Bankformularen setzen und ein Formular ausfüllen.” Olga sah mit fragendem Blick Boris an. Claude zwinkerte mehr unentschlossen als tatendrängerisch über den Tisch, durchs Fenster auf die Straße, wo nach der Mittagszeit der Passanten- und Autoverkehr zugenommen hat, und von der Straße zurück auf den leeren Tisch. “Lasst uns das Glück probieren! Mehr, als es auf die Probe zu stellen, können wir jetzt auch nicht,” gab Boris das Fanal zum Aufbruch und mit erhobener Hand der jungenfreundlichen Serviererin mit der blütenweißen Schürze das Zeichen zum Bezahlen. Er steckte ihr aufgrund ihres charmanten Auftretens ein stattliches Trinkgeld zu, was sie als ein hübsches Mädchen mit einem breiten Lächeln und wohlklingenden Dankeschön entgegennahm. “Vielen Dank und bis zum nächsten Mal”, sagte sie und öffnete den Tischkunden die Tür. Beim “..bis zum nächsten Mal” kam Boris der Apotheker Brockmann mit der ständig herab rutschenden Brille auf der nach links gebogenen Nase in den Sinn, der ihn erst beim Verlassen der Apotheke mit dem Namen verabschiedete und auch “bis zum nächsten Mal” sagte, dem er statt des “vielen Dank” eine gute Besserung vorausschickte.

Claude und Olga begleiteten Boris zur Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank. Sie nahmen, da die Zeit vorausgeeilt war, ein Taxi. Es waren noch wenige Meter zur Bank. Ein austretender Kunde hatte die Tür geöffnet und hielt sie denen offen, die im Begriff waren, einzutreten. Olga stand hinter Boris und sagte “am Schalter links”. Offenbar hatte sie den jungen Angestellten mit dem Namen ‘Rudolf’ hinter diesem Schalter erkannt, der mit dem Geldzählen beschäftigt war, so dass er Olga am Eingang nicht sah, die sich zudem hinter dem Rücken von Boris versteckt hielt. Boris ging auf den linken Schalter zu und stellte sich ans Ende einer kurzen Warteschlange. ‘Rudolf’ hinter dem Schalter machte einen sympathischen und hellen Eindruck. Er bediente die Kunden freundlich und schnell. Ihm ging die Arbeit mit dem Geld, den entgegengenommenen Schecks und Formularen flott von der Hand. Boris konnte sich eigentlich garnicht vorstellen, dass dieser junge, gut gekleidete Mann mit dem olivgrünen Schlips (grün als Logofarbe dieser Bank), dem sympathisch-freundlichen Auftreten und der zügig-flotten Kundenbedienung zu jenen Entgleisten gehörte, die zur Droge griffen. Vor ihm stand eine junge Frau der Mittdreißiger, die diesem ‘Rudolf’ sogar schmeichelte, als sie ihm sagte, wie gut ihm der sandfarbene Anzug mit der olivgrünen Krawatte stünde. Sie erntete für das Anziehkompliment ein dürftiges “Danke, sehr freundlich”, während er auf die Geldnoten blickte, diese abzählte und vor ihr hinblätterte, die Scheine mit den Wasserzeichen und anderen Vorkehrungen je nach eingedruckter Zahl geordnet, die dreistelligen rechts, die zweistelligen links. Die Dame grüßte den Angestellten beim Verlassen des Schalters, nachdem sie die Geldscheine tief in die Handtasche geschoben und die Verriegelung geschlossen hatte. ‘Rudolf’ wünschte ihr noch einen schönen Tag.

Nun war Boris an der Reihe. Er zeigte sich von der höflichen Seite, hatte der schmeichelnden Frau der Mittdreißiger mehr als nötig Platz gemacht, als sie den Schalter verließ, wobei er ihr noch kurz nachblickte, zum Ausgang sah, um sicher zu sein, dass Claude und Olga nicht zu sehen waren. Er hielt den ausfüllten Scheck über zweitausend DM in der Hand, als er die Probe aufs Exempel startete: “Guten Tag! Haben sie einen schönen Namenstag gefeiert?” “Wie kommen sie darauf?” “Gestern war doch der Namenstag von Rudolf. Oder sind Sie vielleicht nicht katholisch?” “Katholisch bin ich schon, aber mein Name ist Eberhard.” “Dann entschuldigen Sie bitte, ich dachte, ihr Name sei Rudolf.” “Was kann ich für sie tun?” “Drei Dinge: erstens den Scheck einlösen; zweitens mir sagen, wieviel auf meinem Konto ist; drittens benötige ich ein kurzfristiges Darlehen, wobei ich mein Konto überziehen möchte.” “Fangen wir mit Punkt ‘zwei’ an”, schlug der Bankangestellte Eberhard, alias Rudolf, vor. “Das ist mir auch recht”, erwiderte Boris zufrieden, dass er in der Sache ‘Olga’ einen ersten Schritt in die richtige Richtung getan hat. Der Bankangestellte tippte die Kontonummer in den Computer: “Auf ihrem Konto sind fünftausendsiebenhundertsechsundreißig DM.” “Dann lösen Sie bitte erst einmal den Scheck ein.” Eberhard, der junge freundliche Mann schien noch keinen Verdacht geschöpft zu haben, als er die Summe in hunderter Noten auf die Schalterplatte blätterte. “Wie hoch soll der Kredit sein?”, fragte er, als Boris die Scheine in die rechte Hosentasche schob. “Fünfunddreißigtausend DM soll er sein.” “Aber Sie können das Konto nur bis fünfundzwanzigtausend DM überziehen.” “Das hilft mir aber nicht.” “Dann müssen Sie bitte mit dem Filialleiter sprechen, denn der von ihnen gewünschte Betrag überschreitet meine Kompetenz.” “Da darf ich Sie bitten, mich bei ihrem Filialleiter anzumelden.” “Einen kleinen Augenblick, ich versuche Herrn Groß, unseren Filialleiter zu verständigen.” Der Bankangestellte verließ für einige Minuten den Schalter und ging in die hinteren Räumlichkeiten, wo sich die Schreibtische gegenüberstanden. Dann bog er links ab und war nicht mehr zu sehen. Er kam mit dem Filialleiter zum Schalter zurück, wo Herr Groß den Kunden Boris Baródin begrüßte und ihn zu einem vertraulichen Gespräch in sein Büro bat.

“Kommen Sie bitte da rechts entlang, Herr Baródin; ich komme ihnen entgegen”, sagte der Filialleiter. In dem schmalen Gang rechts neben dem rechten Schalter öffnete Herr Groß die elektronische Sicherheitsverriegelung und dann die Tür mit der dicken, matten und offenbar auch schusssicheren Glasfüllung. Er begrüßte mit Handschlag den Kunden mit den Worten: “Es ist schön, dass wir uns einmal persönlich kennenlernen”. “Ganz meinerseits”, erwiderte Boris, als sie auf dem Gang zum Büro des Filialleiters waren. Herr Groß gab dem Kunden den Vortritt in sein Büro, bot ihm den gepolsterten Stuhl vor dem Schreibtisch an, schloss die mit Mattglas gefüllte Tür und nahm seinen Platz auf der andern Schreibtischseite in dem schwarzledernen, gepolsterten Schreibtischstuhl auf Rollen mit der hohen Rückenlehne und den gepolsterten Armlehnen ein.

“Was kann ich für Sie tun?” Freundlich wie geschäftstüchtig kamen die Worte des zurückgelehnten Herrn Groß, Leiter der Filiale Reuter-Platz der Dresdner Bank über die aufgeräumte und polierte Schreibtischplatte. “Wie mir Herr Kleinert sagte, suchen Sie nach einem kurzfristigen Kredit nach, den wir ihnen prinzipiell auch gerne einräumen. Da Sie ihr laufendes Konto damit belasten wollen, weil sie den Kredit nach kurzer Zeit zurückzahlen möchten, wird die Überziehungsgrenze jedoch überschritten. Das wiederum überschreitet die Kompetenz von Herrn Kleinert, der Sie deshalb an mich verwiesen hat.” “Das verstehe ich schon”, sagte Boris mit ernstem Gesicht, “aber mir geht es garnicht um einen Kredit. Ich komme wegen einer ganz anderen Sache, die für Sie als Filialleiter wahrscheinlich viel schwieriger ist als mir aus dem Bauch der Bank einen Kredit zur Verfügung zu stellen.” “Ach so, dann kommen Sie wegen einer anderen Sache”, wiederholte Herr Groß, der nun aufrecht in seinem gepolsterten Ledersessel saß. “Ja, so ist es, und ich bitte Sie, das Gespräch als vertraulich zu betrachten”, fuhr Boris fort. “Aber das ist ja selbstverständlich”, erklärte der Filialleiter. Boris: “Die Sache ist folgende: Der junge Angestellte am Schalter, den Sie Herr Kleinert nennen, belästigt, beziehungsweise erpresst eine junge Dame, die eine Bekannte von mir ist. Die junge Frau ist eine russische Emigrantin, die ohne Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik lebt. Herr Kleinert versprach, ihr diese Genehmigung zu beschaffen und sie rückwirkend auf den Tag ihrer Einreise zu datieren.” Filialleiter: “Das ist ja unglaublich. Sind Sie sicher, dass es sich hier um Herrn Kleinert handelt?” Boris: “Der Verdacht liegt auf der Hand; die junge Frau hat ihn am Schalter wiedererkannt, der sich ihr gegenüber als Rudolf ausgibt.” Filialleiter: “Das will garnicht in meinen Kopf, dass Herr Kleinert so etwas tut, der ein freundlicher und kompetenter Mann bei der Arbeit ist. Ich muss es sagen, dass Herr Kleinert einer meiner besten Mitarbeiter ist.” Boris: “Das möchte ich ihnen allzugern glauben, doch damit räumen Sie, Herr Groß, meinen Verdacht auf vorsätzlichen Betrug nicht aus. Hinzu kommt, dass dieser Herr “Rudolf” – der Filialleiter unterbrach kurz: “der Bankangestellte heißt Eberhard Kleinert” – als Gegenleistung der jungen Frau zur Auflage gemacht hat, ihn bis zur Fertigstellung der gefälschten Aufenthaltsgenehmigung mit Heroin zu versorgen, für das er nicht zu bezahlen hat.”