Die besten Ärzte - Sammelband 24 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 24 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1789: Wenn ein Kuss die Welt verändert
Notärztin Andrea Bergen 1268: Ich denke jeden Tag an dich
Dr. Stefan Frank 2222: Zwei neue Kollegen für Dr. Waldner
Dr. Karsten Fabian 165: Doch es fehlte das Kinderlachen
Der Notarzt 271: Flucht aus dem OP

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 604

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Impressum

BASTEI LÜBBE AG Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Für die Originalausgaben: Copyright © 2014/2015/2016 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv: © George Rudy/shutterstock ISBN 978-3-7517-1086-2 ww.bastei.de www.luebbe.de www.lesejury.de

Katrin Kastell, Hannah Sommer, Stefan Frank, Ina Ritter, Karin Graf

Die besten Ärzte 24 - Sammelband

Inhalt

Katrin KastellDr. Holl - Folge 1789Nach dem tragischen Tod ihrer Schwester ist die vierundzwanzigjährige Bianca zu ihrem Schwager Jörg Lampert gezogen, um dem verzweifelten Witwer bei der Erziehung seiner kleinen Tochter zu helfen. Längst ist sie für die sechsjährige Antonia so etwas wie eine Ersatzmama. Einerseits ist Bianca froh über die Geborgenheit in ihrer Ersatzfamilie, andererseits zerreißt es ihr das Herz, mit dem Mann, den sie über alles liebt, unter einem Dach zu leben. Daher beschließt sie schweren Herzens, endlich in eine eigene Wohnung zu ziehen, um sich von ihrer großen Liebe zu lösen. Doch dann wird bei der kleinen Antonia eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert, und das Kind hat nur einen sehnlichen Wunsch ...Jetzt lesen
Hannah SommerNotärztin Andrea Bergen - Folge 1268Heiße Tränen brennen in Christians Augen, als er durch die Scheibe in das Zimmer auf der Intensivstation schaut. Geliebte Dasha! Blass und an tausend Monitore angeschlossen, liegt sie da zwischen ihren Eltern, die ihr Bett flankieren wie zwei verzweifelte Schutzengel. Nach dem abendlichen Angriff durch drei Unbekannte, bei dem ein Messerstich die Studentin lebensgefährlich verletzt hat, ringt sie mit dem Tod - und er, er allein ist schuld daran! Um Christian zu treffen, ist sie im Dunkeln zu "ihrer" Bank am Rhein gegangen, und er kam zu spät zu ihr! "Ich werde dich beschützen, egal, was passiert", hat er Dasha erst kürzlich geschworen - und schmählich versagt! In diesem Moment reift in Christian der verhängnisvolle Entschluss, fortzugehen und Dasha zu verlassen. Denn sie ist ohne ihn sicherer, meint er ...Jetzt lesen
Stefan FrankDr. Stefan Frank - Folge 2222Dr. Ulrich Waldner ist erleichtert: Endlich hat er zwei fähige junge Chirurgen gefunden, die ihn bei seiner Arbeit unterstützen können. Dr. Christian Klose und Dr. Tom Hellmann sind beide hervorragende Operateure, und so wundert sich der Leiter der Waldner-Klinik auch, als die Mutter der herzkranken Lili ihn eindringlich darum bittet, dass ihr Kind nicht von Dr. Hellmann operiert wird. Was hat sie nur gegen den nicht nur äußerst erfahrenen, sondern zudem sehr sympathischen Arzt? Als Laura Seewald ihm zur Erklärung einen Brief vorlegt, traut Dr. Waldner seinen Augen nicht! Offenbar hat ein anonymer Verfasser der jungen Frau mitgeteilt, dass Dr. Tom Hellmann schon einmal ein Kind auf dem OP-Tisch verloren hat - durch Fahrlässigkeit! Nichts an dieser Behauptung entspricht der Wahrheit, doch davon kann der Chefarzt die besorgte Mutter nicht überzeugen. Schweren Herzens übernimmt er selbst den Fall der kleinen Lili. Doch wie soll er Tom beibringen, dass ihm ausgerechnet die Frau, an die er sein Herz verschenkt hat, nicht vertraut?Jetzt lesen
Ina RitterDr. Karsten Fabian - Folge 165Schon so oft ist Corinna Rosenbaum weinend in Dr. Fabians Praxis gewesen, weil sich ihr sehnlichster Wunsch wieder nicht erfüllt hat. Und auch dieses Mal ist sie nicht schwanger. Die junge Frau tut dem Landarzt von Herzen leid, und er kann ihr nur immer wieder versichern, dass es nicht an ihr liegt. Aber ein Trost ist das natürlich nicht. Wenn ich ihr bloß die Wahrheit sagen könnte!, denkt Dr. Fabian. Er steckt in einem wahnsinnigen Zwiespalt, seit er weiß, dass Corinnas Mann Gero zeugungsunfähig ist. Wann bringt Gero endlich den Mut auf, Corinna das zu gestehen? Aber seine Angst, dass sie ihn dann verlässt, ist offenbar größer als seine Gewissensqualen. Dr. Fabian ahnt, dass Geros Lügen nicht mehr lange gut gehen. Und die Katastrophe passiert, als Geros attraktiver Bruder zu Besuch nach Altenhagen kommt ...Jetzt lesen
Karin GrafDer Notarzt - Folge 271Peter Kersten ist entsetzt, als er seinen übel zugerichteten Kollegen Hendrik Wulf stark blutend in der Notaufnahme antrifft. Dem attraktiven Anästhesisten wurde in der Tiefgarage der Frankfurter Sauerbruchklinik mit einem brutalen Faustschlag die Nase gebrochen. Trotz mehrfacher Nachfragen weigert sich Hendrik jedoch, zu verraten, wer ihm das angetan hat. Kurz darauf wird der Klinikdirektor angegriffen, ebenfalls in der Tiefgarage. Auch er schweigt sich über den Täter aus. Der Notarzt ist ratlos. Was geht da unten plötzlich vor sich? Niemand ahnt, dass die zurückhaltende Assistenzärztin Maike Adams ein Geheimnis verbirgt, das nicht nur die gewalttätigen Übergriffe, sondern auch ihr mitunter so schreckhaftes Verhalten erklären würde. Doch dann kommt es zu einem erschütternden Erlebnis, nach dem nichts mehr so sein wird, wie es vorher war: Während einer dramatischen Operation, bei der das Leben eines schwer verletzten Patienten am seidenen Faden hängt, bricht die junge Frau plötzlich in angsterfülltes Schreien aus und flieht panisch aus dem OP ...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Wenn ein Kuss die Welt verändert

Vorschau

Wenn ein Kuss die Welt verändert

Schwester Biancas berührende Liebesgeschichte

Von Katrin Kastell

Nach dem tragischen Tod ihrer Schwester ist die vierundzwanzigjährige Bianca zu ihrem Schwager Jörg Lampert gezogen, um dem verzweifelten Witwer bei der Erziehung seiner kleinen Tochter zu helfen. Längst ist sie für die sechsjährige Antonia so etwas wie eine Ersatzmama.

Einerseits ist Bianca froh über die Geborgenheit in ihrer Ersatzfamilie, andererseits zerreißt es ihr das Herz, mit dem Mann, den sie über alles liebt, unter einem Dach zu leben. Daher beschließt sie schweren Herzens, endlich in eine eigene Wohnung zu ziehen, um sich von ihrer großen Liebe zu lösen.

Doch dann wird bei der kleinen Antonia eine lebensbedrohliche Krankheit diagnostiziert, und das Kind hat nur einen sehnlichen Wunsch …

Wann immer es ihm möglich war, nahm Jörg Lampert sonntags mit der Familie das Mittagessen ein. Die Familie, das waren seine Tochter Antonia und seine Schwägerin Bianca. Mit am Tisch saß auch Wirtschafterin Nina, die den Haushalt wie ein kleines Unternehmen führte und längst dazugehörte. Kurz nach dem Tod seiner Frau vor vier Jahren hatte Jörg diese tüchtige Person eingestellt und seine Entscheidung bis heute nicht bereut.

Nicht nur kochte sie hervorragend, sie hielt Haus und Garten in Ordnung und kümmerte sich um Antonia, wenn Bianca Dienst in der Klinik hatte.

Die Erwachsenen tranken Wein zum Essen.

„Dein Tafelspitz ist himmlisch“, sagte Jörg zu Nina, die sich ein stolzes Lächeln nicht verkneifen konnte, während Bianca unbemerkt von den beiden mit den Augen rollte.

Nur Antonia sah es und kicherte leise in sich hinein, während sie mit ihrem Glas voller Milch auf der Tischdecke hin und her fuhr.

„Du isst ja gar nichts!“, sagte Jörg nach einem prüfenden Blick auf ihren Teller.

„Mag nicht“, erwiderte das Kind mit heruntergezogenen Mundwinkeln.

„Wenigstens ein bisschen, bitte, Schätzchen.“ Bianca rückte den Stuhl näher zu ihrer Nichte und legte einen Arm um Antonias schmale Schultern. „Was hältst du davon, wenn ich dich füttere wie ein Baby?“

Das Kind überlegte kurz und entschied sich dann für einen Kompromiss.

„Drei Löffel Kartoffelpüree, einen Löffel Möhren, aber kein Fleisch.“

„Warum denn kein Fleisch?“, mischte sich Nina ein. „Fleisch ist gesund. Ohne Fleisch kannst du nicht wachsen. Das habe ich dir schon hundertmal gesagt.“

„Dann bleib ich eben klein.“ Antonia klang trotzig.

„So lass sie doch“, wies Bianca Ninas Einwurf zurück.

„Das Fleisch schmeckt eklig“, erklärte die Sechsjährige. Und zu Bianca gewandt: „Brauchst mich nicht zu füttern, ich kann allein essen.“

Bei diesen Worten holte sie so schwungvoll mit ihrer Gabel aus, dass sie die Milch umstieß.

„Antonia, muss das wirklich sein?“, seufzte Jörg genervt. „Immer, wenn wir beim Essen sitzen, gibst du uns eine Sondervorstellung, allerdings eine schlechte.“

Die Augen des blonden Mädchens füllten sich mit Tränen, wie immer, wenn der heißgeliebte Papa sie tadelte.

Sie wäre so gern eine brave Tochter gewesen, die ihrem Vater nur Freude machte. Leider kamen ihr immer kleine Katastrophen dazwischen.

Sie wollte ja ordentlich und gerade am Tisch sitzen, auch um Ninas Ermahnungen zu vermeiden. Aber es fiel ihr sehr schwer, so lange still zu sitzen.

„Ist ja nicht so schlimm“, sagte Bianca tröstend und eilte in die Küche, um etwas zum Aufwischen zu holen.

„So geht man nicht mit Essen um.“ Nina setzte zu einer ihrer gefürchteten Predigten an. „Viele Kinder auf der Welt müssen Hunger leiden und sterben sogar, weil sie nicht genug zu essen haben. Das habe ich dir schon oft genug gesagt, aber du hast es wohl wieder vergessen.“

„Habe ich nicht.“

„Lass es gut sein“, bat Jörg besänftigend. Er wollte jetzt bei Tisch keine Grundsatzdiskussion über das Elend in der Welt führen.

Antonia schluchzte auf, die Tränen flossen zahlreicher. Als Bianca mit einem Lappen zurückkam, legte sie ihn einfach auf den Tisch und zog das Kind hoch.

„Komm, wir gehen in dein Zimmer.“

Die Kleine ließ sich an die Hand nehmen und folgte ihrer Tante.

Inzwischen beseitigte Nina den Schaden.

„Ich weiß nicht, was mit Antonia los ist“, sagte sie und hielt dem Hausherrn noch mal die Fleischplatte hin, doch auch Jörg war jetzt der Appetit vergangen.

„Danke, ich habe genug.“ Nachdenklich schaute er auf die Reste auf seinem Teller. „Hat es Ärger in der Kita gegeben?“

„Nicht, dass ich wüsste“, sagte Nina und nippte an ihrem Weinglas. „Jedenfalls ist sie sehr unaufmerksam, träumt am helllichten Tag und macht nicht das, was ich ihr auftrage. Wie soll das erst werden, wenn sie in die Schule kommt?“

„Dort wird sie sich schon einfinden, andere Kinder tun das ja auch.“

Er seufzte bekümmert. Seiner Tochter fehlte die Mutter. Nina war manchmal zu streng. Und Bianca, an der Antonia sehr hing, hatte einen anstrengenden Job in der Berling-Klinik.

„Ich setze mich für ein paar Minuten nach draußen, danach bin ich für zwei Stunden in meinem Arbeitszimmer und möchte nicht gestört werden“, fuhr er nach einer kurzen Pause des Schweigens fort.

„Dafür sorge ich, Jörg“, sagte sie. „Du kannst dich ganz auf mich verlassen.“

„Danke, Nina.“ Er legte ihr kurz die Hand auf die Schulter, was bei ihr nur einen kaum merklichen Seufzer hervorrief.

„Schon gut“, quetschte sie hervor.

Alle diese harmlosen Dankesbezeugungen gingen ihr unendlich auf die Nerven. Wann packte er sie endlich mal um die Hüften, presste sie an sich, ließ seine Lippen über ihren Hals gleiten? Zeigte ihr, wie sehr es ihn nach ihr verlangte?

Allmählich könnte er damit aufhören, sich und seine Bedürfnisse zu verleugnen. Seine Augen verrieten doch längst, wie es um ihn stand. Warum erlegte er sich also noch immer diese Zurückhaltung auf?

Doch bevor sie sich noch mehr über ihn ärgerte, nahm sie ihn schon wieder vor sich selbst in Schutz. Hier im Wohnzimmer seines Hauses war vielleicht nicht der richtige Platz für sehnsüchtige Umarmungen. Jederzeit konnten Antonia und Bianca zurückkommen. Er wollte offensichtlich nicht, dass sie schon jetzt etwas mitbekamen. Trotzdem, wenn er nur wollte, fanden sich doch leicht tausend Möglichkeiten, ungestört zu sein …

Seit sie in seinem Haus lebte und ihn besser kennengelernt hatte, wollte sie nicht nur Anerkennung für ihre Arbeit, sondern auch seine Liebe. Doch mit Gefühlen tat er sich anscheinend ziemlich schwer.

Vor vier Jahren hatte er nicht nur seine Frau bei einem Autounfall verloren, auch seine Schwiegereltern waren bei diesem Horror-Crash ums Leben gekommen. Diesen Schicksalsschlag hatte ein Geisterfahrer zu verantworten, der ebenfalls nicht überlebte.

Nina fand, dass ein attraktiver Mann wie Jörg sein Leben nicht ohne Partnerin verbringen sollte. Das hatte sie ihm schon mehrfach gesagt, doch er winkte bei solchen Gesprächen immer nur ab.

Gut Ding will Weile haben, sagte sie sich in der Küche, als sie das Geschirr in die Spülmaschine stellte, und tröstete sich, dass sie ja doch am längeren Hebel saß. Sie hielt alles von ihm fern, was ihn belasten könnte, kochte ihm seine Lieblingsgerichte und sorgte für ein gemütliches Heim.

Das allein zählte. Eines Tages musste er einfach seine Gefühle für sie entdecken und erkennen, dass es die ideale Frau doch schon gab, noch dazu unter seinem Dach in unmittelbarer Nähe.

Diesen Mann ganz für sich zu gewinnen war ihr heimliches Ziel. Als Unternehmensberater gehörte er zweifellos zu den Spitzenverdienern. Er besaß diese komfortable Villa in Maxvorstadt, dazu ein Büro in Schwabing mit mehreren Angestellten und außerdem noch ein Ferienhaus direkt am Starnberger See, das er jedoch zu ihrem Kummer höchst selten nutzte.

Wenn sie nur ein einziges Mal dort mit ihm allein und ganz ungestört sein könnte, ohne Bianca und Antonia, würde sie ihm schon zeigen, wie schön und beglückend die Liebe zwischen Frau und Mann sein konnte.

Aber die Arbeit war ihm wichtiger, noch jedenfalls. Manchmal kam er erst spät abends vom Büro nach Hause. Als sie ihn einmal fragte, was ein Unternehmensberater so mache, hatte er ihr etwas von Strategien zur Optimierung von Unternehmensabläufen erzählt, von Konzepten zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und von Personalberatung. Obwohl sie nichts verstand, hatte sie interessiert dreingeschaut.

Weniger angenehm fand sie, dass auch noch seine Schwägerin hier lebte. Diese junge Krankenpflegerin war die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau. Wahrscheinlich fühlte er sich ihr irgendwie verpflichtet.

Nina war so in ihre Überlegungen vertieft, dass ihr ein Teller entglitt und auf dem gefliesten Küchenboden zerbrach. Grimmig fegte sie die Scherben zusammen.

Plötzlich stand Bianca in der Tür.

„Was ist passiert?“

„Alles in Ordnung, mach dir keine Gedanken. Hat sich die Prinzessin wieder beruhigt?“

„Sie schläft jetzt ein bisschen. Du solltest sie nicht zwingen, Fleisch zu essen. Manche Kinder mögen es nun mal nicht. Das wird sich mit der Zeit schon ändern, vor allem, wenn man es ihr nicht ständig aufdrängt.“

Nina ließ die Scherben geräuschvoll von der Schaufel in den Abfalleimer fallen, bevor sie sich aufrichtete.

„Was meinst du denn damit?“

„Lass sie selbst entscheiden, was sie essen will und was nicht.“

„Es gibt nun mal Dinge, die Kinder nicht selbst entscheiden können. Und dazu gehört auch, was und wie viel sie essen. Zu viel oder zu wenig, beides ist schädlich. Ich glaube, ich kann das besser beurteilen als du. Ich habe nämlich eine Ausbildung zur Erzieherin.“

„Wirklich?“ Bianca zog die Schultern hoch. Dieser Hinweis schien ihr egal zu sein. „Trotzdem möchte ich dich bitten, Antonia nicht zu quälen. Damit erreicht man bei ihr nur das Gegenteil. Sie wird schon essen, wenn man sie dabei nicht unter Stress setzt.“

„Diese Bemerkung hättest du dir sparen können“, sagte Nina mit unüberhörbarer Schärfe.

„Was ist denn los?“ Plötzlich stand Jörg in der Küche. „Eure Streiterei hört man bis auf die Terrasse. Hat man nicht mal am Sonntag ein bisschen Ruhe?“

Bianca senkte schuldbewusst den Kopf, während Nina gleich versuchte, den Hausherrn zu besänftigen.

„War nur ein kurzes Wortgeplänkel“, sagte sie und warf Bianca einen giftigen Blick zu.

***

An diesem schönen Sommertag genossen die Holls ihren Garten. Juju plantschte mit einer riesigen Gummiente im Swimmingpool. Stefan und Julia hatten es sich auf Liegestühlen bequem gemacht und tranken zwischendurch mit Strohhalmen ihre eisgekühlten Säfte.

Dr. Stefan Holl, Chefarzt der Berling-Klinik, ging in Gedanken schon mal den Operationsplan für die kommende Woche durch. Auf dem Papier machte das Ganze stets einen geordneten Eindruck, doch wenn dann Notfälle eintrafen, wurde das Konzept komplett umgestellt. Dann war es schwierig, wieder eine erträgliche Reihenfolge für die Patienten festzulegen, die nun länger warten mussten, weil eine Transplantation oder die Behandlung eines Polytraumas nicht aufgeschoben werden konnten.

Die meisten Kranken hatten Verständnis für solche Maßnahmen, aber es gab auch solche, die vermuteten, dass man mit einem zusätzlichen Geldbetrag, am besten diskret im Kuvert, auch eine schnellere Heilung erreichen konnte.

Wann immer Stefan auf eine solche Meinung traf, erklärte er die Vorgänge in seiner Klinik und überzeugte so auch die letzten Zweifler.

Aber jetzt Schluss mit solchen Überlegungen, befahl er sich. Bei herrlichem Sommerwetter hatte er frei und verbrachte im Kreise seiner Lieben einen traumhaft schönen Tag, während sein Kollege und Freund Daniel Falk ihn in der Klinik vertrat.

„Geht’s dir gut?“ Julia ließ ihr Buch sinken und schaute zu ihm hinüber.

„Sehr gut“, erwiderte er grinsend. Fast das ganze Wochenende lag vor ihm, und das würde er auskosten. „Aber jetzt brauche ich eine kleine Abkühlung“, sagte er und erhob sich von seinem Liegesessel.

Juju kreischte entzückt auf, als Stefan auf der Treppe am Beckenrand stand und mit den Zehen die Wassertemperatur prüfte.

„Mach eine Arschbombe, Papa.“

„Das ist was für die Jüngeren“, rief Stefan und schüttelte lachend den Kopf. „Ich lass es lieber langsam angehen.“

Mit geradezu aufreizender Langsamkeit nahm er jede Stufe der Metallleiter. Das wiederum brachte die Elfjährige dazu, Wasserfontänen auf den Vater abzufeuern.

Schließlich tauchte Stefan bis zu den Schultern ein. Juju hechtete auf ihn zu und klammerte sich wie ein Äffchen an seine Schultern.

Schmunzelnd betrachtete Julia die Vater-Tochter-Idylle durch ihre Sonnenbrille. Den lauten Aufforderungen der beiden, sich ebenfalls ins Wasser zu stürzen, kam sie nicht nach.

„Ich hab’s hier auch schön“, rief sie zurück. „Das kann noch warten.“

Minuten später kam der fünfzehnjährige Chris vom Handballtraining nach Hause. Als er sah, dass Papa und die kleine Schwester große Wellen im Pool machten, gab es auch für ihn kein Halten mehr. Die Tasche ließ er fallen, streifte T-Shirt, Shorts und Schuhe in Windeseile ab und nahm Anlauf. Mit angezogenen Knien platschte er zu Jujus Vergnügen mit dem Hinterteil ins Wasser.

Julias Handy auf dem kleinen Beistelltisch läutete. Tochter Daniela, die zwanzigjährige Biologie-Studentin, meldete sich vom Comer See, wo sie mit ein paar Freunden das Wochenende verbrachte.

„Wie geht’s euch denn so?“

„Hallo, Schatz. Lieb von dir, dass du anrufst. Bis vor Kurzem war alles noch himmlisch ruhig im Garten, doch jetzt machen Papa, Juju und Chris einen Höllenlärm im Swimmingpool.“

„Kraxelt Marc noch in den Bergen rum? Ich konnte ihn nicht erreichen.“

„Deinem Zwillingsbruder geht es gut. Die Nacht wird er auf einer einsamen Hütte verbringen.“

Julia hörte ihre Tochter leise lachen.

„Na ja, so einsam auch wieder nicht“, meinte Dani. „Er ist ja in flotter Begleitung.“

„Ach, wirklich?“ Julia richtete sich ein wenig auf. „Hat er eine neue Freundin? Mir hat er noch nichts davon erzählt.“

„Mir auch nicht“, erwiderte die Tochter. „Vielleicht will er sein Geheimnis noch ein wenig für sich behalten.“

„Und vielleicht ist es auch nichts Ernstes“, mutmaßte Julia. Schon, als sie diese Worte aussprach, wurde ihr klar, wie hoffnungsvoll sie klangen. Als Mutter musste sie sich zwangsläufig daran gewöhnen, dass die Zwillinge längst flügge waren. Ganz leicht fiel ihr das allerdings nicht.

Daniela war eine kontaktfreudige und attraktive junge Frau mit vielseitigen Interessen. Sie und ihr Bruder Marc sahen sich sehr ähnlich. Wenn Julia manchmal Kinderfotos betrachtete, empfand sie immer leichte Wehmut und konnte kaum glauben, wohin die Zeit entschwunden war.

Sowohl Dani als auch Mark planten, ein ganzes Studienjahr im Ausland zu verbringen. Noch waren diese Pläne nicht spruchreif, aber Stefan hatte neulich gesagt, sie sollten sich als Eltern schon mal auf einen längeren Abschied einstellen.

„Mach dir keine Sorgen, Mama. Grüß alle“, drang Danis warme Stimme an ihr Ohr. „In zwei Tagen bin ich wieder zu Hause. Ich mach jetzt Schluss, und lieb hab ich dich auch.“

„Ich dich auch, mein Kind“, sagte Julia in einem Anflug von Rührung. Und bevor sie ihr noch schnell dazu raten konnte, abends am Seeufer einen Pullover überzuziehen, um sich vor einer Erkältung zu schützen, hatte Dani den Kontakt schon unterbrochen.

Nachdem Julia ihren Lieben eine Zeit lang beim fröhlichen Treiben zugeschaut hatte, streckte sie ihre Gliedmaßen, stand auf und schaute in der Küche nach, was Cäcilie für den Abend vorbereitet hatte.

Ein paar kalte Platten und ihr berühmter Waldorf-Salat warteten schon darauf, verspeist zu werden. Da es bis zur Essenszeit noch eine Weile hin war, nahm Julia sich einen Apfel aus der Obstschale.

Eine Stunde später rief auch Marc an und gab Grüße für alle durch. Julias Mutterherz weitete sich vor Freude. Zwar hätte sie ihre Lieben heute gern alle am Tisch gehabt, aber wenn das nicht möglich war, nahm sie auch gern mit den telefonischen Verbindungen vorlieb. Die waren jedenfalls besser als Funkstille.

***

„Sag mal, arbeitest du nicht zu viel?“ Jörg betrachtete seine Schwägerin mit prüfenden Blicken. „Du siehst etwas mitgenommen aus.“

„Das kommst dir nur so vor“, wehrte sie ab.

„Vielleicht hast du zu wenig Freizeit oder kommst zu wenig an die frische Luft?“ Jörg ließ nicht locker.

„Mach dir keine Sorgen um mich“, erwiderte Bianca spöttisch. „Arbeit hat noch keinen umgebracht. Das musst du selbst doch am besten wissen. Du bist ja mehr in der Firma als daheim.“

„Sei bloß nicht so frech“, wies er sie schmunzelnd zurecht.

Mit liebevollen Blicken betrachtete er sie. Vor einigen Jahren war sie noch ein schüchternes Mädchen gewesen, das ständig daran zweifelte, ihre Ausbildung als Schwesternschülerin und die damit verbundenen Aufgaben zu schaffen.

Inzwischen verdiente sie als Krankenpflegerin in der Berling-Klinik ihr eigenes Geld. Sie war viel selbstsicherer geworden, was zur Folge hatte, dass sie sich auch von ihm nicht mehr alles sagen ließ. Ihre Berufswahl bereute sie bis heute nicht. Das imponierte ihm.

Sie saßen auf der Terrasse. Es war einer dieser seltenen Abende, an denen Nina von Birk wieder einmal ihre fünfundachtzigjährige Tante Hedwig besuchte und ihr dabei ein wenig zur Hand gehen musste.

„Hast du schon deinen Urlaub geplant?“, erkundigte sich Jörg. Meistens fuhren sie im Sommer zusammen an die italienische Adria.

„Nein“, erwiderte Bianca nach kurzem Zögern. „Ich möchte mir eine Wohnung suchen und sie einrichten. Sollte ich was finden, muss ich den Urlaub ohnehin ausfallen lassen.“

Der Schwager schaute sie ungläubig an. Erst nach und nach schien er den Sinn ihrer Worte zu begreifen.

„Du willst ausziehen?“

„Es wäre doch mal an der Zeit …“

„Aber warum denn?“, fiel er ihr ins Wort. In seinen Augen stand tiefe Ratlosigkeit. „Was fehlt dir denn hier? Das Haus ist doch riesig. Sogar die doppelte und dreifache Menge Leute fände hier bequem Platz. Und wenn du mit dem großen Erkerzimmer nicht genug hast, kannst du dein Reich nach Belieben ausweiten.“

„Darum geht es doch gar nicht, Jörg.“

Bianca holte tief Luft, bevor sie zu einer Erklärung ansetzte.

„Ich will dir nicht ständig auf der Tasche liegen. Du nimmst ja nicht mal einen Mietanteil von mir. Ich bin jetzt vierundzwanzig. In dem Alter sollte man schon selbständig sein und sich von der Familie abgenabelt haben, findest du nicht?“

„Hör auf, über die Miete zu reden. Ich bin nicht darauf angewiesen, dass du mir monatlich ein paar hundert Euro zahlst. Vergiss es also.“

„Das weiß ich. Und doch wäre mir wohler, wenn ich auch etwas zum Haushalt beitragen könnte.“

„Wir sind miteinander verwandt, also lass das Geld aus dem Spiel. Du bist die kleine Schwester meiner verstorbenen Frau. Saskia hätte gewollt, dass ich mich um dich kümmere, damit es dir gut geht. Das weiß ich ganz sicher.“

Seine Stirn kräuselte sich. Gerade schien ihm ein völlig neuer Gedanke zu kommen. Er legte den Kopf auf die Seite.

„Oder hast du jemanden kennengelernt?“

„Nein, natürlich nicht.“ Ihre Stimme klang energisch, aber auch ein wenig empört. „Ich habe keinen Freund. Wer sollte auch eine Frau wie mich interessant finden?“

„Du bist ausgesprochen … hübsch.“ Eigentlich hatte er „schön“ sagen wollen, doch das brachte er nicht über die Lippen. Es könnte zu intim klingen und sie verschrecken. „Außerdem hast du einen klugen Kopf und bist überhaupt ein umgänglicher Mensch.“

So viele Komplimente auf einmal! Bianca spürte, wie sie errötete. Sie hoffte nur, dass er es in der zunehmenden Dunkelheit nicht bemerkte.

„Also, ich würde alles daransetzen, dich näher kennenzulernen, äh … wenn ich ein junger Mann wäre.“

„Hältst du dich etwa schon für alt?“ Bianca lachte leise.

„Na ja, sagen wir mal so, ich befinde mich in der Mitte des Lebens, und deins nimmt jetzt erst so richtig Fahrt auf.“ Nach diesen Worten gönnte er sich einen Schluck Wein.

„Es gibt keinen Kandidaten, mit dem ich eine Beziehung anfangen könnte oder möchte. Außerdem habe ich keine Zeit.“

„Das gibt’s nicht. Zeit für einen Menschen, den man mag, hat man immer. Man muss sie sich nur nehmen, Kleines.“

Er legte eine kurze Pause ein.

„Du arbeitest zu viel. Die ständigen Nachtdienste, die Überstunden – auch in deinem Alter braucht man ausreichende Erholungspausen. Nie gehst du aus oder triffst dich mit Freunden.“

„Hin und wieder schon. Mir macht die Arbeit nun mal verdammt viel Freude. Wenn aus unserer Klinik kranke Menschen als geheilt entlassen werden, habe ich auch einen kleinen Anteil daran.“

„Ich möchte nicht, dass du ausziehst“, griff Jörg Biancas Worte wieder auf. „Wir brauchen dich hier. Und wie willst du das Antonia erklären?“

Bianca senkte den Kopf. Jörg füllte sein Glas erneut, Bianca wollte keinen Wein mehr.

„Du hast ja recht“, meinte sie jetzt ziemlich kleinlaut. „Ich würde sie genauso vermissen wie sie mich. Aber da ist ja auch noch Nina.“

„Ohne Nina würde hier im Haus wohl ein gewaltiges Chaos herrschen“, pflichtete Jörg seiner Schwägerin bei. „Aber die Beziehung zwischen ihr und Toni ist nun mal nicht optimal, wie wir erst kürzlich wieder erleben durften. Dich liebt sie, und das nicht nur, weil du ihre Tante bist, sondern weil ihr euch so nah seid. So viel ist klar, dein Weggang würde ihr das Herz brechen. Sie hat doch schon ihre Mama verloren.“

Bianca seufzte. Warum machte Jörg ihr das Herz so schwer?

„Sie bittet mich ständig, ihr von ihrer Mama zu erzählen, obwohl sie sich kaum an sie erinnern kann.“

„Vielleicht gerade deswegen“, warf Jörg ein.

„Du hast sicher recht. Inzwischen habe ich schon alle Geschichten durch. Aber sie will sie immer wieder hören. Ich muss ihr die gesammelten Zeitungsartikel vorlesen, und gemeinsam schauen wir die Fotos an. Ihre Mama auf der Bühne, das gefällt ihr wahnsinnig gut, vor allem auch die tollen Kleider.“ Bianca lachte leise.

„Nicht nur wir haben sie geliebt“, sagte Jörg traurig. „Auch ihre Fans. Sie war auf dem besten Weg, eine ganz Große zu werden.“

„Eine ganz Große?“, wiederholte Bianca nachdenklich. „War sie das denn nicht schon?“

Saskia hatte auf den Bühnen der Welt von Tokio bis New York gesungen. Ihr dramatischer Sopran war von einem begeisterten Publikum bejubelt worden. Sie hatte eine vielversprechende Karriere vor sich gehabt. Schon damals bewunderte Bianca ihre Schwester grenzenlos für ihre unglaubliche Gesangsbegabung. Sie selbst konnte keinen Ton halten. Die ganze Familie war unglaublich stolz auf Saskia und natürlich darauf, dass diese große Künstlerin aus ihrer Mitte kam.

Bianca fühlte sich ihr näher verbunden als den Eltern. Und dann wurden Mutter, Vater und Schwester auf einmal brutal aus dem Leben gerissen. Konnte es einen schrecklicheren Verlust geben?

Manchmal ging sie auf den Friedhof, um mit ihrer Familie stumme Zwiesprache zu halten. In letzter Zeit hatte sie die Besuche reduziert, weil sie immer noch abgrundtief traurig nach Hause kam und sich fragte, ob der Schmerz denn niemals aufhören würde.

„Weißt du, ich war damals nicht glücklich über ihren Erfolg. Ich war eifersüchtig.“

Nach einer langen Pause hörte sie Jörgs Stimme wieder. Die Nacht hatte sich inzwischen über die Stadt gesenkt und die Dämmerung verdrängt. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Aber der Abendstern leuchtete unübersehbar am nächtlichen Himmel. Im Garten spendeten ein paar Akku-Leuchten etwas Licht.

„Wenn sie zu ihren Auftritten reiste, blieb ich mit Antonia allein zurück“, fuhr Jörg fort.

Bianca spürte, wie unendlich schwer ihm das Reden fiel.

„Saskia und ich …“ Er musste schlucken. „… wir wurden uns fremd. Ihr ging es um ihre Karriere, da störten Antonia und ich wohl ein bisschen. Manchmal fühlte ich mich ziemlich allein gelassen. Alles andere war wichtiger als ich.“ Seine Stimme wurde rau. „Heute bedauere ich sehr, dass wir über diese negativen Gefühle nie gesprochen haben. Ich wollte sie nicht belasten und ihr keine Steine in den Weg legen, verstehst du?“

„Wer sagt dir, dass sie nicht über kurz oder lang wieder ganz zu dir zurückgefunden hätte? Du hast keine Schuld an dem schrecklichen Unfall. Es bringt nichts, sich im Nachhinein mit Vorwürfen zu quälen. Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen.“

„Für mich war es wie ein Weltuntergang. Wenn ich damals meine Arbeit nicht gehabt hätte, ich weiß nicht, wo ich gelandet wäre. Dabei hätte ich mich mehr um mein Kind kümmern sollen. Stattdessen gab ich die Verantwortung an eine Kinderfrau ab.“

„Es war, wie es war, und es ist, wie es ist.“ Bianca wollte das Gespräch abbrechen, bevor es einen noch qualvolleren Verlauf nahm. „Sei Antonia weiterhin ein guter Vater. Sie liebt dich so sehr.“

Jörg lachte unvermittelt auf. „Woher hast du Küken eigentlich all diese Weisheiten?“, erkundigte er sich, streckte seine Hand aus und kniff sie liebevoll in den Arm.

„Ich rede viel mit Patienten, besonders auch mit Schwerkranken. Es ist unglaublich, aber mir haben schon Menschen kurz vor ihrem eigenen Ende Trost gespendet. Vielleicht, weil sie dann die Endlichkeit ihres Daseins akzeptieren müssen und daher mehr Gelassenheit haben. Das hat mich immer wieder sehr beeindruckt.“

„Du bist ein tolles Mädchen, Bianca.“ Jörg griff nach seinem Glas. „Ich wünsche dir das Allerbeste. Und wenn ich dich um etwas bitten darf … bleib bei uns. Wenigstens noch ein, zwei Jahre. Dann ist Antonia etwas älter und wird es besser verkraften können, wenn du ausziehst. Ohne dich kann ich mir dieses Haus nicht vorstellen. Und ich will’s auch nicht.“

„So spruchreif ist meine Idee noch gar nicht“, lenkte Bianca ein. „Und außerdem bin ich ja nicht aus der Welt, nur weil ich woanders wohne.“

Seine Worte berührten sie. Aber sie hätte sich eher die Zunge abgebissen, als das ihm gegenüber einzugestehen.

***

„Wir machen heute einen Spaziergang. Was hältst du davon?“

Nina von Birk bemühte sich um einen freundlichen Ton, aber der schien bei Antonia nicht anzukommen.

„Ist mir viel zu heiß“, erwiderte sie, bevor sie fest die Lippen zusammenkniff.

Nina kannte diesen Gesichtsausdruck. Den hatte Jörgs Tochter immer, wenn ihr etwas nicht passte und sie sich widersetzte.

„Aber es ist doch abgekühlt. Und wenn du willst, essen wir hinterher ein Eis.“

Antonia schüttelte stumm den Kopf.

„Herrgott noch mal, deine Sturheit ist wirklich abstoßend. Ich hab dir schon so oft erklärt, dass man sich anpassen muss im Leben, mein Fräulein. Du bist nicht allein auf der Welt. Willst du deinen Papa wieder traurig machen? Er hat genug um die Ohren. Also, nun komm endlich.“

Erneutes Kopfschütteln.

„Dann zieh ich dir jetzt die Schuhe an.“

„Lass mich.“

„ Weißt du, was passiert, wenn man ständig mit dem Kopf durch die Wand will und überall aneckt? Man holt sich nur blaue Flecken und blutige Schrammen, und die tun auch noch weh.“

Nina musste an sich halten, um nicht wütend zu werden und diese Wut an dem Kind auszulassen. Aus leidvoller Erfahrung wusste sie, dass dies die Lage nur noch verschlimmerte. Dabei drängte die Zeit, wie sie mit einem kurzen Blick auf die Uhr feststellte.

Und dann kam ihr eine Idee. Ihr Treffen mit Boris im Englischen Garten bot eine ausgezeichnete Möglichkeit, Antonia doch noch zu überreden. So oder so, sie musste diese Verabredung einhalten. Und das Kind konnte auf keinen Fall allein zu Hause bleiben.

„Wir gehen an den Teich zu den Enten“, schlug sie vor. „Und wir nehmen genug Brot mit. Wenn du aber nicht willst, dann werfe ich das Brot in den Müll, und die kleinen Entchen müssen hungern.“

„Ich komme mit“, sagte Antonia. „Die Enten sind so süß. Aber diese Schuhe zieh ich nicht an. Ich will die Sandalen.“

„Selbstverständlich.“ Nina lächelte gequält. „Welche dürfen es denn sein? Die roten oder die weißen?“

Nach längerer Überlegung entschied sich Antonia für die roten. Und endlich verließen sie das Haus. Nina nahm das Auto. Das Kind musste hinten einsteigen, was schon wieder für eine kleine Diskussion sorgte.

„Ich bin doch kein Baby mehr“, erklärte Antonia. „Bald komme ich in die Schule.“ Tatsächlich war sie für ihr Alter ein großes Mädchen.

„Aber die gesetzliche Vorschrift lautet nun mal, dass Kinder hinten sitzen müssen. Wenn nicht, werden wir von der Polizei angehalten und dann gibt’s Ärger. Also los, hinten rein. Warum machst du bei mir immer so einen Aufstand? Dein Papa erlaubt doch auch nicht, dass du vorn sitzt.“

Schließlich gehorchte Antonia. „Müssen wir weit fahren?“

„Wir fahren zum Kleinhesseloher See. Der liegt im Englischen Garten. Dort waren wir schon mal. Erinnerst du dich?“

„Nein.“

Nina wollte den Wagen starten, als ihr einfiel, dass sie das Brot vergessen hatte. Damit konnte sie das Kind eine Weile beschäftigen, während sie mit Boris sprach. Noch wusste sie nicht, was er von ihr wollte. Aber ihr schwante schon, dass es nichts Angenehmes sein würde. Schnell ging sie noch mal ins Haus zurück.

Nun wurde es aber höchste Zeit. Boris konnte ungemütlich werden, wenn er warten musste. Aber nach Antonias Trödelei würde sie unweigerlich zu spät kommen.

Sie waren im Seehaus verabredet. Zum Glück fand sie einen Parkplatz in unmittelbarer Nähe. Sie nahm Antonia an die Hand und ging mit ihr zum Seeufer.

„Sind gar keine Enten da“, stellte Antonia enttäuscht fest.

„Die kommen schon noch. Musst ein bisschen warten. Wirf schon mal ein paar Bröckchen ins Wasser.“ Nina drückte dem Kind die Plastiktüte mit den getrockneten Brotstücken in die Hand.

Antonia beschattete die Augen und suchte den See in alle Richtungen ab.

„Hallo, schöne Frau! Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.“

Nina fuhr herum. „Nicht so laut!“, zischte sie und deutete auf den Rücken des Kindes.

„Warum hast du die Kleine mitgebracht?“, erkundigte sich Boris.

„Was sollte ich denn sonst tun? Sie allein im Haus lassen? Hör zu, ich habe keine Zeit, dich ständig zu treffen. Also, was willst du?“

„Ich brauche Geld. Im Augenblick bin ich nicht so flüssig.“

„Das warst du noch nie“, stellte Nina höhnisch fest.

„Ich brauche zwei neue Zahnkronen. Den Termin beim Zahnarzt habe ich schon.“

„Kronen? Warum lässt du dir keine Füllungen machen? Die sind billiger.“

Der schlanke Mann betrachtete Nina belustigt, gab aber keine direkte Antwort auf ihre Frage.

„Macht alles zusammen dreitausend. Und vielleicht noch einen Tausender für die Lebenshaltungskosten obendrauf. Du weißt, München ist ein teures Pflaster.“

„Warum gehst du dann nicht dorthin, wo es billiger ist? Aufs Land zum Beispiel.“

„Weil du hier bist, mein Goldstück. Und weil ich in deiner Nähe sein möchte.“

Er wollte ihr die Wange streicheln, doch sie wich zurück. Dass ihr Exmann sie jetzt wieder mit Beschlag belegte, passte ihr ganz und gar nicht. Es gab auch keine Verpflichtung für sie, seinen Wünschen nachzukommen. Nur leider hatten sie eine gemeinsame unrühmliche Vergangenheit, auf die sie nicht stolz sein konnte. Und von der Jörg, ihr Arbeitgeber, nie etwas erfahren durfte.

„Ich hab keine viertausend Euro“, zischte sie. „Und ich wüsste auch nicht, woher ich sie nehmen sollte. „Dreihundert kann ich dir geben. Mehr auf keinen Fall.“

„Soll das ein Witz sein?“ Er lachte. „Ich bin sicher, dass du von damals noch ein paar Kröten auf dem Konto hast. Du warst doch immer so sparsam. Vergiss nicht, dass ich für uns beide in den Knast gegangen bin. Dass du verschont geblieben bist, hast du nur mir zu verdanken.“

„Na ja, so war es ja nun auch nicht. Ich …“

„Es war genau so“, beharrte er auf seiner Sicht der Dinge. „Wenn ich damals vor Gericht ausgepackt hätte, dann wärst auch du hinter Schloss und Riegel gewandert. Oder willst du, dass die ganze Sache noch mal aufgerollt wird?“

„Komm mir nicht mit der Vergangenheit, ich habe auch eine Strafe bekommen.“

„Ja, zur Bewährung. Die hätte ich auch gern gehabt.“

Boris spuckte aus und schob sich mit der Hand ein paar Haarsträhnen aus der Stirn.

„Jetzt jedenfalls brauche ich Geld. Sieh zu, dass du welches auftreibst. Und die dreihundert nehme ich natürlich auch zur Überbrückung. Ich hoffe, du hast sie dabei.“

„Nein, natürlich nicht“, widersprach sie. „Ich laufe doch nicht mit so viel Geld herum, wo es überall von Taschendieben nur so wimmelt.“

„Und wie gedenkst du, mir die Kröten zu geben? Überweisen geht nicht. Zurzeit habe ich kein Konto.“

„Ich habe zu Hause was liegen und bring es beim nächsten Mal mit.“

„Kommt nicht infrage. Darauf kann ich mich nicht einlassen.“

Grimmig schüttelte Boris den Kopf. Dann zog er eine zerfledderte Geldbörse hervor und öffnete sie.

„Schau rein! Da sind zwei Euro fünfundvierzig drin. Das ist alles, was ich besitze. Dafür kann ich nicht mal mehr ein Ticket für die S-Bahn kaufen, geschweige denn irgendwas zum Essen. Soll ich vielleicht verhungern? Willst du, dass ich wieder auf die schiefe Bahn gerate? Dann müsste ich der Polizei aber die Wahrheit über dich sagen. Dass du damals kräftig mitgeholfen hast, das Zeug zu versilbern …“

Aus den Augenwinkeln sah Nina das Kind näher kommen.

„Sei still!“, fuhr sie ihren Exmann an. „Also gut, fahren wir. Aber das ist eine Ausnahme.“

„Es sind keine Enten da“, klagte Antonia.

„Vielleicht ein anderes Mal“, sagte Nina. „Dann fahren wir eben wieder nach Hause.“

„Du hast mir ein Eis versprochen.“ Antonia schaute zwischen Nina und Boris hin und her.

„Wir müssen zurück“, sagte Nina und sah schon, dass sich eine unangenehme Situation anbahnte.

Ninas Exmann ging in die Hocke.

„Hallo, junge Dame, ich bin der Boris. Und wie heißt du?“

Das Kind nannte seinen Namen.

„Freut mich, dich kennenzulernen, Antonia.“ Boris federte wieder hoch. „Also, ich wäre auch für ein Eis. Liebste Nina, du bist überstimmt. Weiter vorn habe ich einen Eismann gesehen. Also auf dorthin.“

Er reichte Antonia die Hand, die sie vertrauensvoll ergriff.

„Ich mag aber nicht laufen“, murrte sie in der Hoffnung, in Boris einen Verbündeten gefunden zu haben, und der verstand sofort.

„Na, das Problem lösen wir gleich.“ Er hob das Kind hoch und setzte es auf seine breiten Schultern. „Gut so? Na, dann traben wir mal los.“

Sie erreichten den Wagen. Nachdem alle ihre Wünsche geäußert hatten, füllte der junge Verkäufer drei Waffeln mit verschiedenen Eissorten. Da Nina nicht genügend Kleingeld hatte, musste sie mit einem Fünfzig-Euro-Schein bezahlen.

Das Wechselgeld nahm Boris entgegen und ließ es mit einem spitzbübischen Lächeln in seiner Tasche verschwinden.

„Als kleine Anzahlung“, raunte er Nina zu. „Ich bedanke mich schon mal ein kleines bisschen.“

***

Bianca Baumann begann ihren Dienst am frühen Nachmittag. Als sie sich auf den Weg zur Klinik machte und mit dem Fahrrad auf die Hauptstraße einbog, sah sie den Wagen mit Nina am Steuer kommen.

Das Fahrzeug stand allen zur Verfügung, aber da Nina auch die umfangreichen Einkäufe erledigte, nutzte sie es am meisten.

Jörg, der Top-Verdiener im Hause, fuhr hingegen mit der S-Bahn ins Büro. Seiner Aussage nach war er gern unter Leuten und konnte dort die besten Beobachtungen machen. Nur wenn es abends sehr spät wurde, kam er mit dem Taxi.

Neben Nina saß ein Mann, den Bianca nicht kannte. Nina schien er allerdings nicht fremd zu sein. Die beiden unterhielten sich gestenreich.

Einen Moment lang überlegte Bianca, ob sie umkehren sollte, um zu sehen, wie es ihrer Nichte ging. Doch dann dachte sie an Kollegin Marion, mit der zusammen sie pünktlich ihren Dienst aufnehmen musste, und setzte ihre Fahrt fort. Antonia befand sich in guten Händen.

Kaum war sie in der Klinik angekommen, vergaß sie die kleine Beobachtung wieder. Gerade besprach sie mit Marion die Neuzugänge des Tages, da kam ein Ruf von Zimmer acht. Der Patient mit dem Lungenemphysem war kollabiert. Ihm hatte man bereits mit einer Drainage die Luftansammlung in der Lunge herausgesaugt, damit sie sich wieder entfalten konnte. Aber relativ oft kam es trotz erfolgreicher Behandlung zu einem Rezidiv. So auch jetzt.

„Wir müssen operieren“, sagte Dr. Holl leise zu Bianca, nachdem er den dreißigjährigen Mann untersucht hatte. „Rufen Sie Frau Dr. Kellberg und stellen Sie sicher, dass der OP zwei zur Verfügung steht. Und Sie müssen assistieren.“

Dann wandte er sich an den Kranken, der mühsam nach Luft rang.

„Herr Schulz, seien Sie ganz ruhig. Mit einem kleinen Eingriff tragen wir die geplatzten Lungenbläschen ab. Dann verkleben wir die betroffene Stelle, und damit dürfte das Problem behoben sein. Haben Sie keine Angst, Sie werden nichts davon spüren.“

Marion übernahm den Stationsdienst, während Bianca Dr. Holls Anordnungen befolgte. Andrea Kellberg, die Anästhesistin, narkotisierte den Mann.

Als Stefan von ihr grünes Licht bekam, begann er mit dem Eingriff. Er legte drei kleine Schnitte in der Brust, sodass er einen Tubus mit einem Trokar zwischen zwei Rippen in den Brustraum einführen konnte. Mit Hilfe einer Kamera ließ sich das Innere der Lunge bestens inspizieren.

„Halten Sie das“, verlangte Dr. Holl. Während Bianca seiner Aufforderung nachkam, wunderte sie sich, wie ruhig sie blieb. Gleichzeitig empfand sie tiefe Genugtuung, bei dieser OP dabei sein zu dürfen.

„Da haben wir sie“, sagte Stefan, als die geplatzten Lungenbläschen auf dem Bildschirm erschienen. „Die müssen alle raus.“

Nun führte er eine Minizange und einen Greifer bis nahe an das beschädigte Gewebe heran und begann, mit der Zange die Bläschen abzutrennen und zu zerkleinern. Auf diese Weise transportierte er nach und nach die kranken Teile des Organs nach draußen. Bianca gab die Gewebeproben für die Laboruntersuchungen in kleine Behälter.

Wieder schaute Stefan auf den Bildschirm und schob das Laparoskop in den oberen Teil der Brusthöhle, bis das Rippenfell sichtbar wurde. Mit einer Schere schnitt er ein Stück vom Rippenfell ab. Dieser Vorgang ermöglichte der Lunge, an dieser Stelle zu verkleben, ein Vorgang, der einem weiteren Kollaps vorbeugte.

Die Operation dauerte eine gute Stunde. Bevor der Patient auf die Innere Station zurückgebracht wurde, verblieb er zunächst im Aufwachraum, bis er wieder ansprechbar und voll bei Bewusstsein war.

Als Bianca ins Dienstzimmer zurückkehrte, hatte Marion Kaffee gekocht.

„Vorsicht, ist heiß“, sagte sie und reichte der Kollegin einen Becher. Bianca nahm ihn dankend entgegen und trank in kleinen Schlucken.

„Das tut gut. Du hast immer genau das richtige Maß. Bei mir ist der Kaffee entweder zu stark oder zu dünn. Mein eigener Kaffee schmeckt mir nie.“

Marion zauberte sogar ein paar Kekse hervor. Die beiden Pflegerinnen genossen die Pause und wünschten sich für den Rest des Tages keine weiteren Zwischenfälle.

***

„Oh, là, là.“ Boris pfiff leise durch die Zähne. „Das ist ja ein Palast. Warum hast du ihn mir nicht schon früher gezeigt? Wirklich fein hast du es getroffen, mein Schatz.“

Nina gab keine Antwort. Sie hasste es, wenn er sie so ansprach. Aber es war sinnlos, ihm das austreiben zu wollen. So zu tun, als sei alles noch wie früher, schien ihm großes Vergnügen zu bereiten.

Schweigend stieg sie aus dem Fahrzeug, ging über den Kiesweg zum Haus und schloss auf. Wichtig war, ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Boris und das Kind folgten ihr.

„Geh schon mal hinein, Antonia“, befahl sie ihrem Schützling.

Doch Antonia ließ sich heute nichts sagen. Sie schien Boris zu mögen.

„Du kommst mit“, sagte sie zu Boris. „Ich zeige dir mein Zimmer.“

„Aber mit Vergnügen, gnädigste Prinzessin.“ Der Mann machte eine so übertriebene Verbeugung vor der Kleinen, dass sie lachen musste.

Nina sah mit wachsendem Ärger, wie sich ihr Exmann über das Kind Zugang zum Haus verschaffte. Sie wollte nicht, dass er sich hier umsah, doch Antonia ergriff seine Hand und zog ihn hinter sich her.

Er warf Nina einen entschuldigenden Blick zu und zog die Schultern hoch. Ich kann doch nichts dafür, wenn sie mich unbedingt herumführen will, lautete seine stumme Botschaft.

Doch so schnell gab sich Nina nicht geschlagen.

„Hattest du nicht noch einen Termin?“, versuchte sie ihn zurückzuhalten. „Den solltest du auf keinen Fall versäumen.“

Zwar rechnete sie nicht damit, dass Jörg um diese Zeit unverhofft zu Hause auftauchte, dennoch fühlte sie sich denkbar unwohl bei der Vorstellung, dass Boris hier nicht nur Antonias Zimmer begutachtete, sondern in erster Linie die Einrichtung des Hauses auf ihren Wert hin taxierte.

„Ich hab noch ein bisschen Zeit“, erwiderte Boris mit einem süffisanten Lächeln.

„Mein Zimmer ist oben“, sagte Antonia.

„Drei Minuten, dann bist du wieder weg“, zischte Nina ihm zu. Er reagierte nicht, sondern begleitete seine kleine Freundin die Treppe hinauf.

„Wow, du hast es aber schön“, stellte Boris fest, als er im Türrahmen stand und sich das Reich der Kleinen anschaute.

Seine Zelle im Knast hatte höchstens ein Fünftel dieses Raumes ausgemacht. Keine Frage, hier war der Wohlstand zu Hause. Eine Erkenntnis, die ihn freute.

„Zeigst du mir auch noch die anderen Zimmer?“

Während das Kind ihn arglos herumführte, traf Nina in der Küche in aller Eile ein paar Vorbereitungen. Jörg hatte am Morgen gesagt, dass er zum Essen da sein würde. Boris musste verschwinden. Auf keinen Fall durfte er dem Hausherrn begegnen.

Während sie beim Belegen des Pizzateigs noch überlegte, wie sie ihren Exmann wieder loswurde, ohne dass Antonia Einspruch erhob, inspizierte er in aller Ruhe den großen Wohnraum.

Die Bilder machten etwas her. Zwar hatte er keine Ahnung von Kunst, aber vorsichtshalber fotografierte er sie mit dem Handy. Sein Kumpel Bernd kannte einen Kunsthändler, der würde ihnen schon sagen können, wie viel die Gemälde wert waren. Auch den kleinen Sekretär mit den Intarsien nahm er auf, die teuer wirkende Stereoanlage, den riesigen Flachbildschirm.

„In dem kleinen Teich dort schwimmen Goldfische. Willst du sie sehen?“ Antonia zeigte aus dem Fenster.

„Tut mir leid, gnädigste Prinzessin, denen möchte ich nicht zu nahe kommen. Ich habe nämlich eine Fischallergie.“

Gern hätte er noch einen Blick hinter die Bilder geworfen. In reichen Häusern befand sich dort oft ein Tresor, doch in diesem Moment kam Nina aus der Küche.

„Jetzt wird es aber Zeit für dich“, sagte sie und bemühte sich, nicht allzu ungeduldig zu wirken.

„Boris kann doch mit uns essen“, schlug Antonia vor.

„Nein, das kann er ganz und gar nicht.“ Nina schob ihn zur Tür.

„Hau endlich ab!“, raunte sie ihm zu. „Sonst werde ich ungemütlich.“

„Reg dich nicht auf, mein Schatz, ich geh ja schon. Aber wir bleiben in Verbindung. Und denk daran. Fünftausend. Muss ja nicht alles auf einmal sein, kannst es auch in Raten zahlen …“

„Ich bin geradezu überwältigt von so viel Entgegenkommen“, sagte sie und zeigte ihm ihr giftigstes Lächeln. „Die dreihundert, und das war’s. Ich habe nicht so viel Geld.“

„Du vielleicht nicht, aber er“, säuselte er dicht an ihrem Ohr. „Und wie ich dich kenne, wird es dir doch nicht schwerfallen, von ihm was zu erbitten.“

Bevor er hinaus ins Freie trat, wandte er sich noch einmal um und winkte ins Haus zurück.

„Ciao, Bambina. Hat mich sehr gefreut, dich kennenzulernen. Bis bald mal wieder.“

Das Zuschnappen des Türschlosses löste bei Nina tiefe Erleichterung aus, doch die dauerte nicht lange.

Wie konnte sie sich diesen Kerl nur in Zukunft vom Leibe halten? Als sie sich das erste Mal nach seiner Haftverbüßung wiedersahen, hatte sie ja wirklich noch an eine neue Gemeinsamkeit gedacht. Aber seit sie in diesem komfortablen Haushalt arbeitete, hatte sich ihr Weltbild verschoben.

Dachte sie vor einiger Zeit noch, mit Boris wäre ein Neuanfang möglich, so empfand sie ihn heute nur noch als lästig und hätte ihn am liebsten aus ihrem Leben gestrichen. Natürlich durfte sie ihm das so krass nicht sagen, denn er konnte beängstigend jähzornig werden. Eine solche Situation wollte sie nicht riskieren.

Vielleicht besänftigte sie ihn, wenn sie ihm das geforderte Geld gab. Natürlich konnte sie das nicht einfach von Jörg verlangen, aber wenn sie behauptete, dass einige von den Haushaltsgeräten ersetzt werden mussten, weil sie nicht mehr funktionierten, könnte es vielleicht klappen. Auf diese Weise käme sicher ein hübsches Sümmchen zusammen.

Noch besser wäre es natürlich, wenn sie Jörg endlich in ihr Bett bekäme, und zwar dauerhaft. Dann gäbe es die Kreditkarte obendrauf, mit der sie dann nach Gutdünken schalten und walten konnte. Versonnen lächelte sie vor sich hin. Dann wären die Sorgen aus ihrem Leben ein für alle Mal verschwunden.

„Antonia?“

Als sie keine Antwort bekam, ging sie im Haus nachschauen und fand das Kind auf einem der breiten Polsterelemente.

„Was ist denn los mit dir?“

„Ich bin müde. Und Bauchschmerzen habe ich auch“, klagte das Mädchen mit piepsiger Stimme.

„Hättest eben kein Eis essen sollen“, fuhr Nina ihren Schützling an. „Und dann noch so eins vom Eiskarren. Wer weiß, was da für Keime drin waren.“

***

Bevor die Ablösung für die Nachtschicht kam, machte Bianca einen Rundgang über die Station und schaute in jedes Krankenzimmer.

Bei dem Frischoperierten brannte Licht. Sie trat näher.

„Nanu, Herr Schulz“, sagte sie. „Warum schlafen Sie nicht?“

„Ich denke über so vieles nach.“ Er atmete ruhig. Die kurzfristig anberaumte OP zeigte ihre Wirkung.

Bianca prüfte die Lage der Drainage. Morgen würde Dr. Holl entscheiden, wann sie entfernt werden konnte.

„Nachdenken können Sie auch tagsüber. Sie sollten sich jetzt ausruhen. Die Nacht ist zum Schlafen da.“

„Bleiben Sie ein bisschen bei mir. Bitte.“

Er sagte das so nett, dass sie sich zu ihm setzte. Für Marion war sie ja jederzeit über den Pager erreichbar.

„Sie müssen keine Angst haben“, beruhigte sie ihn. „Mit der Operation ist Ihr Problem behoben.“

„Wie lange muss ich in der Klinik bleiben?“

„Das wird Dr. Holl entscheiden. Aber ich denke, mit einer Woche müssen Sie schon rechnen.“

„Ich habe schon von ihm gehört. Er soll ein guter Arzt sein.“

„Das ist er. Sogar einer der besten.“

„Dann habe ich ja noch Glück im Unglück gehabt.“

Es entstand eine längere Pause. Er lag da mit geschlossenen Augen. Bianca betrachtete ihn. Die Art und Weise, wie er sprach, machte einen sympathischen Eindruck auf sie. Im kantigen Gesicht sprießte ein kurzer Bart. Er war sehr schlank. Und der muskulöse Brustkorb deutete auf eine sportliche Betätigung hin.

Sie wollte sich schon leise davonstehlen, als er wieder sprach.

„Darf ich Sie um etwas bitten?“

„Natürlich dürfen Sie das.“

„Würden Sie wohl mal meine Hand halten? Nur ganz kurz.“ Seine Stimme klang belegt. „Ich bin sehr traurig.“

Schwester Bianca tat ihm den Gefallen. Sie nahm seine Hand in ihre beiden Hände.

„Sie haben nichts mehr zu befürchten …“

„Es ist nicht nur mein Lungenproblem, das mich aus der Bahn wirft. Vor ein paar Tagen hat mich meine Freundin verlassen. Sie heißt Jenny. Wir wollten sogar heiraten, aber dann ist sie einem anderen begegnet. Von einem Tag auf den anderen ist sie ausgezogen. Ich hatte keine Chance.“

„Das tut mir wirklich leid, Herr Schulz. Aber vielleicht überlegt sie es sich noch mal.“

„Das glaube ich kaum. Sie hat mich noch nicht mal angerufen, als sie von meiner Krankheit erfuhr. Ich bin ihr egal.“ Er seufzte tief. „Ich kann es immer noch nicht fassen. Plötzlich bricht die Welt zusammen, und nichts ist mehr wie vorher.“

Sie hielt immer noch seine Hand, streichelte sie sogar ein bisschen. Aber wie konnte sie ihn mit Worten trösten?

„Wenn sich die Liebe verabschiedet, ist es für den, der zurückbleibt, immer eine Katastrophe“, sagte sie. „Klingt banal, ist aber so.“

„Sprechen Sie aus Erfahrung?“

Bianca zögerte mit einer Antwort. Sie wollte nicht über ihre Gefühle sprechen, die gingen ihn nichts an.

In ihrem Herzen tobten oft die widersprüchlichsten Empfindungen. Immer wieder wollte sie weg aus diesem Haus, wo sie ständig an ihre unglückliche Liebe erinnert wurde. Dann wieder fühlte sie sich bei den Menschen, die ihre restliche Familie waren, beschützt und aufgehoben.

Inzwischen hatte sie sich zwar an das ständige Auf und Ab ihrer Empfindungen gewöhnt, aber es kamen auch mitunter Krisen, die sie nur schwer aushielt. Weil sie mit niemandem über ihr Gefühlschaos sprechen konnte, fühlte sie sich oft furchtbar hilflos.

Manchmal dachte sie sogar daran, eine Psychotherapie zu beginnen, redete sich aber immer wieder ein, ihr Herzensproblem allein lösen zu können.

„Warum sagen Sie nichts? Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen zu nahegetreten bin.“

„Aber das sind Sie doch gar nicht, Herr Schulz. Ich habe nur über Ihre Frage nachdenken müssen. Also: Was die Beziehung zweier Menschen betrifft, damit habe ich keine oder nur wenig Erfahrung. In den letzten Jahren habe ich meine Ausbildung zur Krankenpflegerin absolviert. Ich musste viel lernen. Jetzt arbeite ich in der Berling-Klinik. Diese Arbeit füllt mich ganz aus. Und manchmal habe ich mit Patienten zu tun, die nicht schlafen wollen.“

Im Schein der schwachen Beleuchtung sah sie, wie sich ein kleines Lächeln in seine Mundwinkel schlich. Das freute sie. Immerhin hatte sie ihn ein wenig von seinem Kummer abgelenkt.

„Vielleicht geht es besser, wenn Sie mir eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen.“

Wie auf Bestellung piepste der Pager in der Tasche ihrer Tunika. So konnte sie sich eine freundliche Ablehnung seines Wunsches sparen.

„Tut mir leid, ich muss ins Dienstzimmer zurück.“

„Schon klar“, sagte Florian Schulz. „Ich bin hier ja nicht der einzige Patient, der Ihre Hilfe benötigt. Danke, dass Sie mir trotzdem ein bisschen von Ihrer Zeit geschenkt haben. Es hat mir geholfen.“

„Alles Gute, Herr Schulz. Bis morgen.“

„Wiedersehen, Schwester Bianca.“

***

„Deine selbstgemachte Pizza schmeckt besser als in jedem Restaurant“, erklärte Jörg.

Nina freute sich und bot ihm noch ein Stück an.

„Nein danke, ich habe genug.“ Er schob den Teller zurück und stand auf. „Ich schau noch mal nach Antonia.“

Der Vater war nicht wirklich besorgt, weil sie nichts gegessen hatte. Der Hunger würde sich schon wieder einstellen. Seine Tochter hatte über Bauchschmerzen geklagt. Die waren bei Kindern häufig und hatten in der Regel nichts zu bedeuten.

Jetzt lag sie schon im Bett. Als er eintrat, schien sie zu schlafen. Doch kaum hatte er sich vorsichtig auf der Bettkante niedergelassen, schlug sie schon die Augen auf. Diese tiefblaue Farbe und das dichte Haar hatte sie von ihm, Mund und Nase eher von Saskia.

„Was war denn los, Liebes? Tut das Bäuchlein immer noch weh?“

„Nina sagt, es kommt vom Eis.“

„Aber nur, wenn es nicht in Ordnung war. Hast du denn viel gegessen?“

„Zwei Kugeln. Wie Nina und Boris.“

„Boris?“

„Er ist nett und hat mich auf den Schultern getragen.“

Jörg runzelte unbewusst die Brauen.

Antonia schaute ihren Vater verschmitzt an.

„Und ich bin seine Prinzessin.“

„Ach wirklich?“

„Und mein Zimmer hat ihm auch gefallen.“

„Das ist ja auch sehr schön“, pflichtete Jörg seiner Tochter bei. „Jetzt solltest du schlafen, Schätzchen. Oder soll ich dir noch was zu essen bringen?“

„Nein.“ Antonia bewegte den Kopf auf dem Kissen hin und her. Ihr Haar hatte die Farbe von reifem Weizen. Sie wies auf das Porträt ihrer Mutter, das in einem Holzrahmen in ihrem Regal stand. „Ich will das Bild von Mama haben.“

Jörg stand auf und griff danach. Bevor er es seiner Tochter in die Hand drückte, warf er einen Blick auf das Foto. Saskias blondes Haar wehte im Seewind. Zu dieser Zeit war sie mit Antonia schwanger. Es musste der letzte Urlaub auf Sylt vor Antonias Geburt gewesen sein. Wie glücklich sie aussah!

„Wie alt war sie da?“, fragte Antonia, obwohl sie diese Frage schon hundert Mal gestellt hatte. Nun spielte sich ein kleines Ritual zwischen Vater und Tochter ab, das beide umso mehr liebten, je öfter es stattfand.

Jörg tat, als müsse er kräftig nachdenken.

„Achtundzwanzig. Du warst schon unterwegs. Wir haben uns so auf dich gefreut. Bei den Untersuchungen erfuhren wir, dass da ein kleines, süßes Mädchen auf dem Weg zu uns ist. Auch den Namen hatten wir schon ausgesucht. Antonia fanden wir beide schön. Und wir sind froh, dass der Name dir auch gefällt.“

Dann musste Jörg seiner Tochter vom Tag ihrer Geburt erzählen. Wie sie mitten in der Nacht in die Berling-Klinik fuhren. Die Wehen waren schon sehr kräftig, aber das Baby hatte es nicht sehr eilig. Dann endlich, gleichzeitig mit dem Sonnenaufgang kam das Kind auf die Welt. Strahlendes Licht durchflutete das Zimmer. Der junge Tag schien sich ganz besonders über die neue Erdenbürgerin zu freuen. Mama und Papa weinten Tränen der Rührung, als sie ihre Kleine abwechselnd im Arm hielten.

Diese Stelle interessierte Antonia immer ganz besonders.

„Warum habt ihr geweint?“

„Vor lauter Glück und Freude“, erwiderte Jörg.

„Wenn doch meine Mama bei uns sein könnte.“ Jörgs Tochter seufzte.

„Das wär schön“, pflichtete Jörg ihr bei. „Manchmal geht es im Leben leider auch sehr traurig zu. Aber dir wird nichts passieren, mein Schatz. Ich beschütze dich.“

„Und meine Mama auch“, fügte Antonia energisch hinzu. „Sie ist jetzt mein Schutzengel. Und Schutzengel passen doch immer auf die Kinder auf.“

In aller Regel schon, dachte der Vater voller Wehmut, aber manchmal schauen sie gerade nicht hin, und dann passiert doch ein Unglück.

„Die Mama überwacht jeden Schritt von dir. Und sobald eine Gefahr droht, auch wenn sie noch so klein ist, greift sie ein. Jetzt musst du aber schlafen. Soll ich das Bild zurückstellen?“

„Nein, ich will es bei mir haben.“

Er platzierte es auf dem niedrigen Nachttisch, sodass sie es direkt vor sich hatte, wenn sie die Augen aufschlug.

„Jetzt ist sie ganz nah bei mir“, sagte das Mädchen, schloss die Augen und kuschelte sich zufrieden in das Kissen.

„Träum was Schönes, mein Liebes.“ Er zog die leichte Decke etwas höher und drückte seiner Tochter einen Kuss auf die Stirn. Als er sich an der Tür noch einmal umwandte, schlief sie schon.

***

„Trinken wir ein Glas?“, fragte Nina, die auf Jörg gewartet hatte. „Ich habe schon eine Flasche von deinem Lieblingssekt aufgemacht.“

„Wirklich?“ Er schenkte ihr ein Lächeln. „Dann sage ich nicht Nein.“

„Ich bringe alles auf die Terrasse. Setz dich schon hinaus.“

Jörg nahm in einem der bequemen Gartenstühle Platz. Einerseits mochte er es, von Nina so verwöhnt zu werden. Andererseits läutete manchmal ein Alarmglöckchen in seinem Kopf, der Ton war zwar dünn, aber durchaus vernehmbar.

Vielleicht bildete er es sich ja auch nur ein, dass sie ihm mehr entgegenbrachte als Sympathie.

Dennoch, wenn sie ihn so anschaute wie jetzt gerade, empfand er eine kurze Irritation, die ebenso schnell wieder verschwand. Er wollte Ninas Blicke gar nicht deuten. Und auch nicht wirklich wissen, wie sie zu ihm stand. Was sie dachte und empfand, war ihre Sache. Er jedenfalls fühlte sich nicht zu ihr hingezogen. Nina von Birk weckte keinerlei Begehren in ihm.

Es war ohnehin besser, diese Dinge schlummern zu lassen. Eine Affäre brachte nur Unruhe ins Haus, auch weil Antonia womöglich eifersüchtig reagierte. Das wollte er nicht. Der Hausfrieden in seinem privaten Umfeld ging ihm über alles.

Und wenn diese Beziehung wie alle zuvor nach kurzer Zeit wieder ihr Ende fand, würde sich die gute Zusammenarbeit bezüglich der Kindererziehung nicht mehr fortsetzen lassen. Und er stand wieder vor der Suche nach einer neuen Hausangestellten, eine Situation, die er nach Möglichkeit vermeiden wollte.

Als Wirtschafterin und Betreuerin für Antonia war Nina perfekt. Das allein zählte. Und solange sie ihre Aufgabe gut machte, gab es für ihn keine Notwendigkeit, sich über ihr Seelenleben Gedanken zu machen. Da sie ja auch hier im Haus wohnte, gehörte sie natürlich irgendwie zur Familie. Mehr gestand er ihr jedoch nicht zu.

Er hörte, wie sie das Tablett abstellte und die Gläser füllte. Dann reichte sie ihm ein Glas.

„Ein wundervoller Abend, findest du nicht?“

„Danke, Nina.“ Er nahm einen Schluck und lehnte sich zurück.

„Wie war dein Tag?“

„Danke der Nachfrage, ich habe ihn überstanden. Aber jetzt erzähl mir doch bitte mal, was dieser Boris in unserem Haus zu suchen hat.“

Es entstand eine Pause. Als sie zu lange dauerte, warf er Nina einen Seitenblick zu. Ihre gerade noch erstarrte Miene lockerte sich wieder. Ihre Worte klangen noch etwas atemlos, als sie zu sprechen begann.

„Boris ist ein Verwandter von mir. Genauer gesagt mein Cousin, also der Sohn meiner Tante Hedwig. Er war lange im Ausland. Jetzt ist er wieder da. Und darum habe ich ihm etwas für Hedwig mitgegeben.“

Jörg gab sich mit dieser Erklärung zufrieden.

„Na denn prost! Und ich dachte schon, er wäre dein Freund.“

Nina protestierte energisch.

„Wie kommst du denn darauf? Ich habe keinen Freund.“

Jörg musterte sie erstaunt. Warum reagierte sie so heftig? Einen Mann zu lieben war für eine Frau ihres Alters doch nichts Anrüchiges.

„Ich hätte auch gar keine Zeit, mich mit jemandem zu treffen“, fügte sie schulterzuckend hinzu.

„Dir steht vertraglich genug Freizeit zu“, sagte er augenzwinkernd. „Es liegt an dir, wie du sie nutzt.“ Jörg leerte sein Glas. Nina füllte es sofort wieder auf.

Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach.

Schließlich ertrug Nina das Schweigen nicht länger.

„Was für eine himmlische Ruhe. Und etwas frischer ist es auch geworden. Ich bin jedenfalls froh, dass die Hitze eine Pause macht.“

Mit den Worten über das Wetter wollte sie Antonias Vater gedanklich von Boris wegbringen. Zum Glück stellte er zur Anwesenheit eines fremden Mannes in seinem Haus keine weiteren Fragen. Nina hatte lange überlegt, ob sie von Antonia verlangen sollte, darüber zu schweigen und so zu tun, als müssten sie ein Geheimnis hüten. Andererseits konnte dieser Hinweis das Kind erst recht auf die Idee bringen, darüber zu reden.

Sehnsüchtig betrachtete sie den Mann ihrer Träume, der mit geschlossenen Augen in seinem Liegestuhl lag. Was würde passieren, wenn sie sich jetzt einfach über ihn beugte und versuchte, ihn mit heißen Küssen zu verführen?

„Wo ist eigentlich Bianca?“, wollte Jörg wissen, ohne die Lider zu heben. „Müsste sie nicht längst zu Hause sein?“