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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband Die besten Ärzte erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband Die besten Ärzte ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 256 Taschenbuchseiten.
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Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1841 - Die Frage, auf die es keine Antwort gab
Notärztin Andrea Bergen 1320 - Tu nichts, was du morgen bereust
Dr. Stefan Frank 2274 - Bitte hilf mir, Dr. Frank!
Der Notarzt 323 - Julianes großes Gesundheits-Projekt
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 477
Veröffentlichungsjahr: 2025
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2015/2017/2018 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © Shutterstock AI
ISBN: 978-3-7517-8611-9
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https://www.luebbe.de
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Chefarzt Dr. Holl 1841
Die Frage, auf die es keine Antwort gab
Die Notärztin 1320
Tu nichts, was du morgen bereust
Dr. Stefan Frank 2274
Bitte hilf mir, Dr. Frank!
Der Notarzt 323
Julianes großes Gesundheits-Projekt
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Contents
Die Frage, auf die es keine Antwort gab
Warum Dr. Holls Patientin ihr Schweigen nicht brechen will
Von Katrin Kastell
Langsam geht Miriam Brandstätter durch die Straßen. Sie hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll, fühlt sich elend und verlassen. Da erhält sie plötzlich von hinten einen Stoß. Ein stechender Schmerz durchzuckt sie, bevor sie mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlägt und das Bewusstsein verliert.
Erst in der Berling-Klinik kommt sie wieder zu sich, wo Chefarzt Dr. Holl sich um ihre Verletzung kümmert. Natürlich will er wissen, was geschehen ist, aber Miriam gibt ihm keine Antwort.
Genauso wenig wie auf die Frage, warum sie so traurige Augen hat …
Das Problem war nicht zu lösen, mochte Annemarie Peters sich den Kopf auch noch so sehr zerbrechen. Schon allein der Wunsch bereitete ihr ein schlechtes Gewissen. Trotzdem wurde er mit jedem Tag stärker. Aber es gab eben keine Lösung.
Man konnte kein Kind, das man liebte und das an einem hing, aus seinem Leben verbannen, ohne Schuldgefühle zu bekommen.
Genau das hätte Annemarie Peters machen müssen, um ihrem Leben eine positive Wende zu geben. Dabei war sie völlig unverschuldet in diese Situation geraten. Als sie Danilo bei sich aufgenommen hatte, hatte ihr Leben ganz anders ausgesehen.
Seufzend entfernte sie sich von dem Kindergarten, in den sie Danilo gebracht hatte. Dies war das letzte Jahr, das er hier verbringen würde. Im nächsten Jahr begann die Schule. Wenn Annemarie Peters sich vorstellte, was dann erst an Belastungen auf sie zukam, hätte sie weinen können. Das wollte sie nicht. Es war ihr zu viel.
Andererseits hatte sie im letzten Jahr oft genug geweint. Walters Tod war unerwartet gekommen. Herzinfarkt. Sekundentod. Der Notarzt hatte nichts mehr tun können. Er hatte nicht einmal mehr eine Reanimation versucht, weil es sinnlos gewesen wäre.
Seither war Annemarie allein. Danilo, ihr Pflegekind, sollte unter dem Tod seines Pflegevaters so wenig wie möglich leiden. Für den Jungen musste sie stark sein.
Sie lenkte die Schritte zum Friedhof. Anfangs hatte sie geglaubt, Danilo würde sie über den Verlust ihres Mannes hinwegtrösten. Stattdessen war der Kleine ihr zur Belastung geworden.
Prompt meldete sich wieder das schlechte Gewissen. Sie durfte ihr Pflegekind nicht als Belastung sehen. Schließlich liebte sie den Jungen. Doch sie mochte es drehen und wenden, wie sie wollte – Danilo war der Hemmschuh, der sie daran hinderte, nach dem Tod ihres Mannes ein neues Leben zu beginnen.
Sie kaufte einen Blumenstrauß und stand lange vor Walters Grab.
Sag mir, was ich tun soll!, bat sie in Gedanken. Oft genug hatte sie gelesen oder gehört, dass Hinterbliebene von einem geliebten Menschen aus dem Jenseits einen Hinweis erhalten hatten. Annemarie wusste nicht, ob das stimmte oder nicht. Sie bekam jedenfalls keine Botschaft von Walter.
„Ich bin zweiundvierzig“, murmelte sie leise und stellte sich das Gesicht ihres Mannes vor. „Nicht mehr so jung, dass ich mir mit Zukunftsplänen noch viel Zeit lassen könnte. Aber auch noch nicht so alt, dass ich eben keine Pläne mehr hätte. Was soll ich bloß tun? Ich kann doch Danilo nicht abschieben.“ Sie seufzte. „Oder?“, fügte sie flüsternd hinzu.
Stille. Abgesehen vom Rascheln in den Bäumen und den Stimmen zweier alter Frauen, die in der Nähe auf einer Bank saßen, war nichts zu hören. Botschaften aus dem Jenseits gab es nicht, oder sie waren anderen Menschen vorbehalten.
Annemarie Peters verließ den Friedhof so unschlüssig, wie sie ihn betreten hatte. Auch ein Gang durch die Hauptgeschäftsstraße ihres Wohnviertels in München brachte keine Erkenntnis, sondern festigte höchstens ihren geheimen Wunsch.
Sie wollte ihr Leben nach dem gravierenden Einschnitt, den Walters Tod darstellte, neu ordnen, und dabei konnte sie kein Pflegekind brauchen. Aber hatte sie das Recht, sich selbst an die erste Stelle zu setzen? Durfte sie ihr neues Leben auf dem Unglück eines unschuldigen Kindes aufbauen?
Die Antwort lag auf der Hand: nein! Trotzdem …
Innerlich zerrissen und unschlüssig, erreichte Annemarie rechtzeitig den Kindergarten, um Danilo abzuholen. Sie wurde gleich von einer Betreuerin angesprochen.
„Danilo hat sich offenbar erkältet“, berichtete die Betreuerin. „Mir ist im Lauf des Vormittags aufgefallen, dass er Fieber hat.“
„Heute Morgen war er noch völlig gesund“, erwiderte Annemarie erstaunt und auch besorgt.
„Ich weiß, Frau Peters, aber es geht ihm stündlich schlechter.“
Die Betreuerin begleitete Annemarie zum Umkleideraum, in dem Danilo wie ein Häufchen Elend auf einer Bank saß.
„Ich will nach Hause“, klagte der Fünfjährige, der sonst nicht wehleidig oder auch nur empfindlich war. „Tante Annemarie, ich bin sooo müde!“
„Ja, mein Schatz, natürlich.“ Annemarie Peters legte ihm die Hand auf die Stirn und entschied sich sofort anders. Er glühte ja regelrecht! „Vorher gehen wir aber zu Dr. Stein.“
„Bitte nicht! Ich will nach Hause“, jammerte Danilo und hustete.
„Dr. Stein kümmert sich um dich und gibt dir etwas gegen die Erkältung“, versprach Annemarie. „Danach fühlst du dich bestimmt besser, und du kannst auch gut schlafen.“
Das brachte Danilos Klagen zum Verstummen. Annemarie bedankte sich bei der Erzieherin und versicherte, Danilo morgen nicht in den Kindergarten zu bringen.
Der Besuch beim Hausarzt brachte nicht allzu viel. Dr. Stein horchte den Kleinen lediglich ab und verschrieb einen für Kinder geeigneten Hustensaft. Dann waren sie entlassen.
Zu Hause brachte Annemarie das fiebernde Kind gleich ins Bett, wo Danilo sofort die Augen zufielen. Sie ließ die Tür des Kinderzimmers einen Spalt breit offen stehen und setzte sich vor den Fernseher, um sich abzulenken.
Viel half es nicht, weil sie mit jedem Tag, der seit dem Tod ihres Mannes verstrich, unruhiger wurde. Etwas musste geschehen, doch eine Lösung war nicht in Sicht.
***
Manchmal hätte Dr. Stefan Holl die von ihm geleitete Berling-Klinik in München am liebsten gar nicht verlassen, um ständig für seine Patienten da zu sein. Er war jedoch vernünftig genug, sich nicht zu viel zuzumuten. Ein übermüdeter Arzt half schließlich niemandem, im Gegenteil.
„Auch Feierabend?“, fragte Dr. Daniel Falk, Freund und Stellvertreter des Klinikleiters. „Keine Notfälle in letzter Minute? Kein liegen gebliebener Schreibkram, der unbedingt noch heute erledigt werden muss?“
„Zum Glück nicht“, erwiderte Stefan Holl. „Und das ist mir nur recht. Ich will schließlich kein Vater sein, den seine Kinder an der Haustür abweisen, weil sie keine Versicherungen abschließen wollen.“
„Na, da brauchst du keine Angst zu haben“, meinte Daniel lachend. „Viele Kinder könnten froh sein, einen Vater zu haben, der sich so viel wie du um sie kümmert.“
„Und dabei soll es auch bleiben.“ Stefan Holl verabschiedete sich von Daniel vor der Klinik, stieg in seinen Wagen und startete den Motor. Er konnte mit gutem Gewissen nach Hause fahren. In der Berling-Klinik war ein reibungsloser Ablauf garantiert. Dafür standen seine zuverlässigen Mitarbeiter ein.
Ein Krankenwagen bog um die Ecke und stoppte vor dem Eingang der Notaufnahme. Holger Strackmeier, der Arzt im Praktikum, eilte mit Schwester Doris aus der Ambulanz. Da der Krankenwagen kein Blaulicht eingeschaltet hatte, brauchte Stefan Holl nicht einzugreifen. Es konnte sich um keinen dringenden oder besonders schweren Fall handeln.
Während Dr. Holl das Klinikgelände verließ, sah er im Rückspiegel, wie ein Mann in die Ambulanz geführt wurde. Auf den einzelnen Stationen der Klinik herrschte bereits Nachtruhe. Assistenzärzte waren in Bereitschaft. In sehr schweren Fällen würde man ihn selbstverständlich verständigen. Alles war geregelt.
Zu Hause wurde Stefan Holl von seiner Frau und seinen vier Kindern erwartet, und auch daheim fand er alles zu seiner Zufriedenheit vor.
Das Familienleben war intakt. Aus dem Kreis der Verwandten, die ganz in der Nähe wohnten, gab es nur erfreuliche Nachrichten. Es war ein Abend, der zwar nichts Besonderes bot, dafür aber für Entspannung und seelisches Gleichgewicht sorgte.
***
August Vierland rief seinen Sohn in sein Büro, das für den Eigentümer und Chef eines bedeutenden Unternehmens überraschend schlicht eingerichtet war. An Äußerlichkeiten erkannte man jedenfalls nicht, dass es hier täglich um die Leitung eines Millionen-Imperiums ging.
Carsten Vierland rechnete damit, dass sein Vater mit ihm eine der zahlreichen Entscheidungen besprechen wollte, die in der Firma nötig waren.
Bisher verstanden sich Vater und Sohn ausgezeichnet, weil August Vierland ein ausgesprochen kluger Seniorchef war. Er bezog seinen dreißigjährigen Sohn in alle Entscheidungen mit ein.
Letztlich hatte zwar der Senior das Sagen, weil er wegen seines Alters die größere Erfahrung besaß. Oft genug berücksichtigte er aber die Meinung des Juniors, der sich dadurch nie übergangen fühlte.
„Setz dich“, bat August Vierland seinen Sohn. Auf dem Schreibtisch lagen keine Unterlagen mehr, und die Sekretärin war schon nach Hause gegangen. „Es dauert nicht lang.“
„Ich habe es nicht eilig“, entgegnete Carsten und ließ sich auf den bequemen Besucherstuhl vor dem Schreibtisch sinken. „Worum geht es denn? Gibt es ein Problem?“
„Nein, nicht direkt“, wehrte sein Vater ab. „Ich wollte dich nur warnen. Nein“, verbesserte er sich lächelnd, „das wäre übertrieben. Es soll keine Warnung sein, sondern eher ein Hinweis. Deine Mutter wird in der nächsten Zeit ein bestimmtes Ziel verfolgen, und ich bin grundsätzlich ihrer Meinung. Daher …“
„Was für ein Ziel?“, warf Carsten ein.
August Vierland seufzte. Diese direkte Art hatte sein Sohn von ihm geerbt.
„Nun, wir sind beide der Meinung, dass du mit dreißig Jahren endlich heiraten solltest. Es geht um den Bestand der Familie und der Firma.“
Carsten hatte zwar im Moment nicht damit gerechnet, dass dieses Thema aktuell wurde. Allerdings wusste er seit längerer Zeit, dass seine Eltern sich daran störten, dass er immer noch unverheiratet war.
„Ich habe es eigentlich nicht so eilig“, fuhr sein Vater fort. „Deine Mutter aber drängt. Mach dich also darauf gefasst, dass sie dich in der nächsten Zeit mit möglichen Heiratskandidatinnen zusammenbringt. Das wollte ich dir nur vorwegsagen, damit es deshalb zu keinen Spannungen kommt.“
„Das wird es nicht“, beteuerte Carsten. „Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen eine Heirat einzuwenden.“
„Aber?“ Auch sein Vater verlor keine Zeit mit umständlichen Fragen und kam sofort auf den Punkt. „Was spricht dagegen?“
„Dass ich noch keine geeignete Frau gefunden habe“, erwiderte Carsten. „Das ist alles. Wenn unter den Kandidatinnen, die Mama für mich auftreibt, eine ist, die mir gefällt und mit der ich mich gut verstehe, habe ich nichts einzuwenden.“
Sein Vater nickte anerkennend.
„Will ich keine, suche ich selbst weiter“, fügte Carsten hinzu.
„Ja, warum auch nicht?“ August Vierland stand auf, weil es nicht mehr zu sagen gab. „Dann sind wir uns in allen Punkten einig. Es freut mich, dass du dich nicht querlegst.“
In bestem Einvernehmen verließen die beiden Männer das Chefbüro. Während August Vierland schon in die Parkgarage im Tiefgeschoss fuhr, ging Carsten noch einmal in sein eigenes Büro und holte seine Sachen. Zehn Minuten später machte er sich in seinem schwarzen Sportwagen ebenfalls auf den Heimweg.
Vor einigen Jahren hatten sie einen Sicherheitsexperten konsultiert, da man in der heutigen Zeit vorsichtig sein musste. Die Gefahr von Überfällen und vor allem Entführungen bestand immer. Eine Maßnahme, die dieser Experte empfohlen hatte, bestand darin, ständig die Fahrstrecke zu ändern. Niemand sollte sich darauf einstellen können, wo sein Opfer auftauchen würde. Das verminderte das Risiko.
Heute entschied Carsten sich für die Strecke, die an der Berling-Klinik vorbeiführte. Er selbst war noch nie Patient dieser bekannten Privatklinik gewesen, aber ab und zu wurde in den Medien über dieses Krankenhaus berichtet.
Heiraten, dachte Carsten, warum eigentlich nicht? Er hatte lange genug das ungebundene Leben eines Junggesellen geführt. Wenn er die Richtige fand, sollte es ihn freuen. Die Frage war nur – wer war die Richtige? Woran erkannte er sie?
Er hatte nicht die Absicht, jemanden um Rat zu fragen. Bestimmt hätte ihm jeder eine andere Antwort gegeben. Für seine Mutter war bei der zukünftigen Schwiegertochter sicher die Herkunft am wichtigsten. Die Frau des Juniorchefs sollte gesellschaftlich etwas darstellen und die Familie Vierland repräsentieren können.
Sein Vater hätte in erster Linie darauf geachtet, dass die Schwiegertochter aus einer reichen Familie stammte, am besten aus einer, die ein Unternehmen besaß, das zum Vierland-Imperium passte.
Carsten selbst hätte nicht genau sagen können, was er von seiner zukünftigen Ehefrau erwartete. Er mochte schöne oder zumindest hübsche Frauen. Dumm durften sie selbstverständlich auch nicht sein. Und er musste sich gut mit ihnen verstehen. Doch woran merkte er, dass er es mit einer Frau ein Leben lang aushalten konnte? Sicher genügte es nicht, nur in sie verliebt zu sein. Aber …
Im nächsten Moment wurde Carsten von seinen Überlegungen abgelenkt. Ein Stück vor ihm rammte ein Mann auf Inline-Skates eine Fußgängerin, die zur Seite geschleudert wurde und stürzte.
Der Rollschuhläufer wäre beinahe auch gestürzt. Er ruderte mit den Armen durch die Luft, fing sich und verschwand um die nächste Straßenecke.
Carsten Vierland hielt neben der verunglückten Frau und sprang aus seinem Wagen.
„Haben Sie sich verletzt?“, rief er und lief auf die Fremde zu.
Sie stützte sich auf eine Hand und fasste sich mit der anderen an den Kopf.
Carsten beugte sich über sie.
„Können Sie aufstehen? Brauchen Sie einen Arzt?“
„Nein, nein, es geht schon wieder“, murmelte sie benommen.
„Warten Sie, bleiben Sie noch unten.“ Carsten ging in die Hocke und legte ihr die Hand an die Wange. Aufmerksam betrachtete er eine blutende Stelle an ihrer Stirn. „Sie sind mit dem Kopf auf dem Pflaster aufgeschlagen.“
„Es geht schon“, wiederholte sie.
„Kommen Sie, ich bringe Sie in die Berling-Klinik“, bot Carsten an. „Das sind nur wenige Schritte. Ich fahre Sie auch mit dem Wagen. Kommen Sie“, drängte er, als sie nicht reagierte, und zog sie behutsam hoch.
Die Frau schien keine weiteren Verletzungen zu haben. Zumindest konnte Carsten keine feststellen. Sie war schwach, und er musste sie auf den wenigen Metern zu seinem Wagen stützen. Trotz der kurzen Strecke schnallte er sie an und fuhr zur Berling-Klinik, bog in die Einfahrt und richtete sich nach dem Schild, das ihn zur Notaufnahme leitete.
Ein junger Arzt und eine sehr tüchtig wirkende Schwester etwa im Alter des Arztes kümmerten sich sofort um die Frau, die ihren Namen mit Miriam Brandstätter angab.
„Was ist geschehen?“, erkundigte sich der Arzt, während er die Patientin untersuchte, um sich ein erstes Bild vom Ausmaß der Verletzungen zu machen.
„Ein Mann auf Inline-Skates hat sie zu Boden gestoßen“, berichtete Carsten Vierland. „Ich kam zufällig vorbei und habe es gesehen.“
„Können Sie den Mann beschreiben?“, fragte der Arzt. „Nur für den Fall, dass die Verletzungen doch ernster sind, als es scheint und wir Anzeige erstatten müssen.“
„Höchstens achtzehn, schlank, eine Jacke mit einem Emblem auf dem Rücken, einem Bild.“ Carsten Vierland zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht, was es darstellte.“
„Eine Sonne“, warf Miriam Brandstätter matt ein, während die Schwester ihr auf die Liege im Untersuchungsraum half. „Gelb und orange. Die Strahlen der Sonne hatten die Form von Flammen.“
„Kümmern Sie sich um alles weitere, Herr Doktor?“, fragte Carsten Vierland.
Der junge Arzt nickte. „Ich bin AIP, Arzt im Praktikum“, bemerkte er ganz nebenbei. „Holger Strackmeier. Könnten Sie bitte der Schwester Ihre Personalien geben, falls die Patientin Sie als Zeugen braucht?“ Als Carsten Vierland zustimmend nickte, wandte sich der AIPler an die Schwester. „Erledigen Sie das, Maria. Ich komme hier allein klar.“
Carsten Vierland machte am Pult der Notaufnahme alle nötigen Angaben und zögerte hinterher zu gehen.
„Kann ich hier warten?“, erkundigte er sich bei der Schwester.
„Selbstverständlich.“ Sie deutete auf die Kunststoffstühle, die an der Wand befestigt waren, lächelte knapp und ging rasch wieder in den Untersuchungsraum.
Holger Strackmeier befestigte soeben einen leichten Verband an der Stirn der Patientin.
„Sie haben Glück im Unglück“, stellte er fest. „Nichts gebrochen, und außer den Strümpfen ist sogar die Kleidung heil geblieben. Nur das hier ist unangenehm.“ Er deutete auf die rasch anschwellende Stelle an der Stirn. „Sie bleiben am besten heute Nacht bei uns auf der Station zur Beobachtung.“
Miriam Brandstätter wollte nicken, verzog jedoch sofort schmerzhaft das Gesicht. Sie erhob keinen Einwand, weil sie die Gründe kannte, aus denen sie das Krankenhaus nicht verlassen durfte.
„Wer hat Nachtdienst auf der Inneren?“, fragte Holger Strackmeier die Schwester, während er sich an den kleinen Schreibtisch in der Ecke setzte und die nötigen Eintragungen auf dem Patientenblatt erledigte.
„Schwester Annegret“, erwiderte Maria.
„Das ist gut“, murmelte Holger, mehr an sich selbst als an jemanden im Raum gerichtet. Bei der dienstältesten Schwester der Berling-Klinik, die schon unter dem Gründer hier gearbeitet hatte, konnte er sicher sein, dass die Patientin in regelmäßigen Abständen darauf überprüft wurde, ob durch den Schlag auf den Kopf Blutungen im Gehirn auftraten.
Schließlich übergab er die Patientin in die Obhut von Pfleger Lucca, der sie auf die Station brachte und dort Schwester Annegret anvertraute.
Während Maria noch im Untersuchungsraum aufräumte, trat Holger Strackmeier vor die Tür der Ambulanz und atmete die frische Nachtluft ein.
Bisher verlief sein Nachtdienst ruhig. Er hatte erst einen älteren Mann, der wegen Herzbeschwerden mit einem Krankenwagen eingeliefert worden war, untersucht und starke Herzrhythmusstörungen festgestellt. Seiner Meinung nach war die Lage nicht lebensbedrohend, doch als Arzt im Praktikum durfte er das nicht entscheiden. Daher hatte er den Patienten an den Assistenzarzt Dr. Jordan auf der Inneren weitergegeben.
Jetzt diese junge Frau mit der leichten Gehirnerschütterung, bei der für ihn ebenfalls nicht viel zu tun gewesen war. Wenn der Abend und die Nacht so blieben, konnte er sich nicht beklagen. Schließlich hatte er auch in der Berling-Klinik schon ziemlich hektische Schichten erlebt, obwohl dies keine Unfallklinik war.
Holger Strackmeier stand am Beginn seiner Laufbahn. Dieses praktische Jahr nach der Universität bereitete ihn auf den Beruf vor, den er sich aus ehrlichem Interesse ausgesucht hatte. Und er wusste jetzt schon, dass er kein besseres Krankenhaus hätte finden können als Dr. Holls Berling-Klinik.
***
Die Haushälterin zog sich diskret zurück, nachdem sie den ersten Gang aufgetragen hatte, und grüßte Carsten Vierland in der Halle der Villa.
Der junge Mann fing beim Betreten des Speisezimmers einen vorwurfsvollen Blick seiner Mutter auf.
„Wir wollten soeben zu essen beginnen“, bemerkte Patrizia Vierland ungehalten. „Wo warst du denn? Du weißt doch, dass wir pünktlich essen.“
„Und du hast direkt hinter mir das Büro verlassen“, fügte August Vierland hinzu.
„Tut mir leid, ich wurde unterwegs Zeuge eines Unfalls.“ Carsten lächelte seinen Eltern zu und setzte sich an den Tisch. „Ein junger Mann auf Inline-Skates ist mit einer Frau zusammengestoßen. Ich habe sie in die Berling-Klinik gebracht.“
„Ernste Verletzungen?“, erkundigte sich ein Vater.
Carsten schüttelte den Kopf. „Sie ist vermutlich mit einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen. Aber es hätte schlimmer ausgehen können.“
„In der heutigen Zeit ist man nirgendwo mehr sicher, nicht einmal in unserem früher so ruhigen Viertel“, bemerkte Patrizia. „Carsten, dein Vater hat mir etwas sehr Erfreuliches berichtet. Du hast nichts gegen Heiratspläne. Stimmt das?“
„Grundsätzlich schon“, bestätigte Carsten und begann zu essen. „Ich habe allerdings die Einschränkung gemacht, dass es die richtige Frau sein muss.“
„Lass mich nur dafür sorgen“, meinte seine Mutter zufrieden lächelnd. „Darum kümmere ich mich.“
Carsten hielt es für besser, von Anfang an für klare Verhältnisse zu sorgen.
„Ich entscheide, welche Frau für mich richtig ist, Mama.“
„Sicher, sicher.“ Jetzt lächelte seine Mutter amüsiert. „Und wie soll diese Frau aussehen?“, erkundigte sie sich mit einem leicht ironischen Unterton. Sie kannte ihren Sohn und wusste aus früheren Gespräche, dass er keine genauen Vorstellungen hatte. Daher war sie überzeugt, dass er letztlich auf ihre Vorschläge eingehen würde.
„Ich werde es wissen, wenn ich sie treffe“, entgegnete Carsten und verbarg, dass er sich über eine Mutter ärgerte – und über sich selbst, weil er eben nicht wusste, was für eine Lebenspartnerin er einmal haben wollte.
„Sie muss zu dir und der Familie passen“, warf August Vierland ein. „Es wird sich schon die Richtige finden.“
Er schlug einen Ton an, der deutlich zeigte, dass für ihn das Thema erledigt war.
Seine Frau schwieg gern, lief doch alles nach ihren Vorstellungen. Und Carsten war froh, dass ihn seine Eltern in Ruhe ließen.
Nach der Mahlzeit zog Carsten sich in seine Privaträume in der Villa zurück und setzte sich an seinen Computer. Er arbeitete zurzeit daran, das Familienunternehmen mit Hilfe der neuesten Technik weltweit bekannt zu machen und neue Kunden zu werben. Diesen Teil der Öffentlichkeitsarbeit hatte ihm sein Vater überlassen, weil er in seinem Alter keine Lust mehr hatte, sich mit Computern zu beschäftigen. Er hielt sich lieber an die alten Methoden, telefonierte und schrieb Briefe.
Meistens arbeitete Carsten zwei bis drei Stunden konzentriert an seinem Gerät, doch heute tauchte immer wieder eine Szene vor ihm auf. Er sah die junge Frau, die von dem Inline-Skater gerammt wurde, und vor allem erinnerte er sich an ihr Gesicht.
Es war kein auffälliges Gesicht gewesen, weder besonders schön noch außergewöhnlich. Trotzdem hatte er es nicht vergessen.
Im Untersuchungsraum der Ambulanz hatte es einen kurzen Moment gegeben, in dem er der Fremden direkt in die Augen sah. Sie hatte es in ihrem benommenen Zustand gar nicht richtig mitbekommen. Daher hatte sie bestimmt ihre Gefühle und Gedanken auch nicht abgeschirmt und vor allem nichts gespielt.
In ihren Augen hatte er Angst, Verzweiflung und sogar Panik gelesen, und dafür gab es keine Erklärung. Der Zusammenstoß war unangenehm, aber nicht traumatisch gewesen. Der Sturz hatte keine schlimmen Folgen nach sich gezogen. Eine Nacht im Krankenhaus war unangenehm, mehr aber auch nicht. Trotzdem war die Panik in ihren Augen nicht zu übersehen gewesen. Warum? Die Frage ließ Carsten nicht mehr los.
Schließlich konzentrierte er sich doch auf seine Tätigkeit, um keine Fehler zu begehen und das heutige Pensum hinter sich zu bringen. Danach bereitete er sich für die Nacht vor und versuchte, sich zu entspannen. Er brauchte Ruhe und Erholung, um für seinen anstrengenden Beruf fit zu sein.
Im Einschlafen verfolgte ihn jedoch wieder ein Augenpaar, in dem er unerklärliche Angst gesehen hatte. Es war fast, als drohte diese junge Frau an etwas zu zerbrechen.
Miriam Brandstätter …
Er hatte sich den Namen gemerkt, obwohl er sicher nichts mehr mit ihr zu tun haben würde. Weshalb auch? Sie wurde in der Berling-Klinik optimal medizinisch versorgt, es war nicht viel passiert, und es gab kaum ein polizeiliches oder gerichtliches Nachspiel. Ein nochmaliges Zusammentreffen mit Miriam Brandstätter war daher nicht wahrscheinlich.
***
Schwester Annegret betrat das letzte Zimmer auf dem Gang. Sie hatte dafür gesorgt, dass die neue Patientin hierher gelegt wurde, weil sie diesen Raum für sich allein hatte. Andere Patientinnen wären gestört worden, wenn die Schwester sich immer wieder von Frau Brandstätters Zustand überzeugte.
Der Auftrag an Schwester Annegret war klar. Die junge Frau musste in regelmäßigen Abständen geweckt und befragt werden. An ihren Antworten war zu erkennen, ob sie noch immer bei klarem Bewusstsein war oder ob sich bereits Störungen eingestellt hatten, die auf eine Gehirnblutung hinwiesen.
Annegret hätte bei ihrer Erfahrung diese Anweisung gar nicht gebraucht. Sie wusste oft besser als so mancher Assistenzarzt, was zu tun war.
„Frau Brandstätter“, sagte sie leise, während sich die Tür hinter ihr automatisch schloss. „Frau Brandstätter, aufwachen“, fuhr sie fort und schaltete das Licht ein. Erst jetzt sah sie, dass die Patientin gar nicht schlief. Schon beim letzten Kontrollgang war das so gewesen. „Wie fühlen Sie sich?“
„Danke, gut“, erwiderte Miriam Brandstätter leise.
„Wieso schlafen Sie nicht?“ Annegret schüttelte ihr das Kopfkissen auf, das ziemlich zerwühlt war, und zog die Decke glatt. „Haben Sie Schmerzen?“
„Nein“, flüsterte Miriam Brandstätter.
„Können Sie wegen des Schocks nicht schlafen?“, fragte Annegret mitfühlend. „Ich kann mir vorstellen, dass es schlimm sein muss, so aus heiterem Himmel …“
„Nein, es ist alles in Ordnung“, fiel Miriam Brandstätter ihr ins Wort.
„Chris, der jüngere Sohn von Dr. Holl, läuft auch leidenschaftlich gern auf Inline-Skates. Wenn ich ihn auf diesen Rollen dahinflitzen sehe, wird mir immer ganz schwindelig.“ Sie lachte leise. „Ich glaube, würde er mit mir zusammenstoßen, würde ich meterweit durch die Luft fliegen.“
Miriam Brandstätter reagierte nicht, sondern starrte gegen die Wand.
Schwester Annegret war inzwischen sicher, dass die Patientin etwas bedrückte, worüber sie nicht sprechen wollte. Ihren eigentlichen Auftrag hatte die gewissenhafte Pflegerin erfüllt. Sie kümmerte sich jedoch um alle Patienten ganz besonders aufopfernd und beschränkte sich dabei nicht auf die bloße Pflichterfüllung. Darin ähnelte sie dem Klinikleiter und Chefarzt Dr. Holl, mit dem sie sich darum auch so gut verstand.
„Haben Sie vielleicht ein Problem, bei dem ich Ihnen helfen kann?“, erkundigte Annegret sich freundlich. „Sie können sich gern mit mir über alles unterhalten. Das muss nicht einmal etwas mit dem Krankenhaus zu tun haben. Während der Nachtschicht habe ich Zeit, mir die Sorgen und Nöte meiner Patienten anzuhören.“
„Es ist nichts“, wehrte Miriam Brandstätter ab und entschuldigte sich gleich darauf. „Es tut mir leid, ich wollte nicht unfreundlich sein. Ich bin müde, Schwester, und möchte schlafen.“
„In Ordnung“, meinte Annegret, ohne im Geringsten beleidigt zu sein. Schließlich musste jeder Mensch selbst wissen, ob er sich einem anderen anvertraute oder nicht. „Ruhen Sie sich aus. Ich werde Sie bald wieder wecken. So geht das die ganze Nacht, bis der Arzt Sie morgen bei der Visite sieht. Er wird dann entscheiden, ob Sie nach Hause gehen können.“
Annegret machte eine Eintragung im Patientenblatt und kehrte in den Aufenthaltsraum zurück, um sich mit einer Tasse Kaffee zu stärken und die Beine etwas zu erholen. Sie hatte getan, was sie konnte, und griff nach einer Zeitschrift, um sich die Zeit mit Lesen zu vertreiben. Dr. Jordan, der für die Innere zuständig war, hatte sich in den Ruheraum zurückgezogen, so dass Annegret niemanden hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte.
Bald ertönte der Schwesternruf und sorgte dafür, dass Annegret sich nicht langweilte. Es machte ihr jedoch nichts aus, dass der halbe Kaffee in der Tasse kalt wurde und sie den Artikel erst später zu Ende lesen konnte. Schließlich war die Arbeit in der Berling-Klinik ihr Leben …
Miriam Brandstätter hatte zwar behauptet, schlafen zu wollen, doch von Ruhe war keine Rede. Sie lag in dem Krankenhausbett und kam sich vor wie aus Glas, aus hauchdünnem Glas, das jederzeit zerbrechen konnte.
Der Verstand sagte ihr, dass sie dem Arzt in der Ambulanz die Wahrheit hätte sagen sollen. Sie konnte jedoch nicht darüber sprechen, was sie bedrückte.
Nach einem so heftigen Sturz wie nach dem Zusammenprall mit dem Skater drohte ihr höchste Gefahr, die nichts mit der leichten Gehirnerschütterung zu tun hatte. Wieso hatte sie nicht den einfachen Satz über die Lippen gebracht, der für Hilfe gesorgt hätte?
Sie kannte die Antwort. Schon einmal hatte eine ähnliche Katastrophe ihr Leben fast zerstört. Und nun wieder. Sie sah keinen Ausweg.
Die alte Schwester vorhin hatte ihr angeboten, sich bei ihr auszusprechen. Diese Schwester Annegret weckte Vertrauen, weil sie sich aufrichtig für ihre Mitmenschen zu interessieren schien.
Miriam glaubte der Schwester sogar, dass sie gern geholfen hätte. Doch bei ihr ging es nicht um die medizinische Hilfe, für die Schwester Annegret bestimmt gesorgt hätte. Viel wichtiger wäre gewesen, das eigentliche Problem zu lösen, und dafür gab es keine Lösung.
Miriam Brandstätter hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Als Schwester Annegret erneut ins Zimmer kam, um ihren Zustand zu überprüfen, wusste Miriam nicht, ob nur Minuten oder Stunden vergangen waren.
Diesmal beschränkte Annegret sich darauf, kurz mit ihrer Patientin zu sprechen und in den Unterlagen einzutragen, dass alles in Ordnung war. Danach kehrte sie in den Aufenthaltsraum zurück, um zu lesen, und Miriam grübelte weiter, wobei sich ihre Gedanken ergebnislos im Kreis drehten.
***
Der Mann betrachtete unschlüssig den erleuchteten Eingang der Notaufnahme. Es war riskant, sich ärztlich behandeln zu lassen. Schließlich hatte er sich bei einem Einbruch verletzt, der leider sofort entdeckt worden war. Falls die Polizei bereits eine Fahndung herausgegeben hatte, konnte er hier durchaus in eine Falle laufen.
Andererseits war der Schnitt in der Hand so tief, dass das Blut schon durch das Tuch sickerte, das er als Verband benützte. Er musste etwas unternehmen, und dafür hatte er sich ohnedies für ein relativ kleines Krankenhaus entschieden. In der Berling-Klinik war man vielleicht noch nicht informiert.
Also los, dachte der Mann. Notfalls hatte er in der Jackentasche ein Schnappmesser, dessen Klinge lang genug war, um jeden aus dem Weg zu räumen, der ihn festhalten wollte.
Holger Strackmeier zog es vor, während Nachtschichten nicht zu schlafen. Es fiel ihm viel zu schwer, rasch wach zu werden, wenn er gebraucht wurde. Lieber schlief er außerhalb der Dienstzeit und beschäftigte sich während der Schicht, wenn er nicht gerade mit Patienten zu tun hatte.
Heute Nacht hatte er ein medizinisches Fachbuch mitgebracht. Er saß im Dienstzimmer des Arztes und las, als sich leise die Eingangstür öffnete. Er blickte hoch und sah einen Mann in Jeans und Lederjacke, etwa dreißig. Die linke Hand hatte er verbunden.
„Hallo.“ Holger Strackmeier trat auf den Korridor. „Ich habe gar keinen Wagen gehört.“
„Ich habe ihn draußen auf der Straße abgestellt, weil ich die Patienten nicht wecken wollte“, erwiderte der Mann und zeigte auf seine Hand. „Können Sie mir helfen? Ich habe mich an einer zerbrochenen Glasscheibe verletzt.“
„Schwester Maria!“, rief der AIP und winkte den neuen Patienten in den Untersuchungsraum. „Wenn Sie einen Ausweis und vielleicht auch die Versicherungskarte bei sich haben, geben Sie bitte beides der Schwester. Sie kann dann die Schreibarbeit erledigen, während ich mir das hier ansehe.“ Er deutete auf den provisorischen Verband.
„Ich habe nur meinen Personalausweis bei mir“, erwiderte Dennis Wax und holte aus der Jackentasche einen Ausweis, der auf den Namen Heiner Gebhardt ausgestellt war. Schwester Maria nahm ihn entgegen, bedankte sich und setzte sich an den Schreibtisch, um das nötige Formular auszufüllen. Dennis Wax antwortete auch auf die Frage, in welcher Krankenkasse er versichert war.
Holger Strackmeier hatte unterdessen Schutzhandschuhe angezogen, den Verband entfernt und die Wunde begutachtet.
„Das ist noch einmal gut gegangen“, urteilte er und entschied, keinen älteren Kollegen hinzuzuziehen, wie seine Anweisung für einen schwierigen Fall lautete. Es waren keine Sehnen oder Adern verletzt. „Ich werde die Wunde gründlich desinfizieren und dann klammern.“
„Tut das weh?“, fragte Dennis Wax besorgt. Seine Angst bezog sich tatsächlich nur noch auf den Schmerz, weil der junge Arzt hier offenbar keine Ahnung hatte, dass die Polizei nach seinem Patienten suchte.
„Ich gebe Ihnen eine Injektion“, erwiderte der AIP und verlangte von Schwester Maria eine schmerzstillende Spritze. Die Schwester reichte ihm die nötigen Geräte und Tinkturen, um die Schnittwunde zu versorgen.
Holger Strackmeier arbeitete gern als Arzt und freute sich, dass er einen Patienten nicht an einen Kollegen weitergeben musste. Er handelte rasch und sehr sicher. Chefarzt Dr. Holl hatte ihn schon dafür gelobt, dass er alles, was er bereits selbstständig erledigen durfte, sehr geschickt und kompetent machte.
„Jetzt noch der Verband“, sagte er beruhigend zu seinem Patienten. „Dann können Sie nach Hause gehen. Aber lassen Sie die Wunde gleich morgen von einem Arzt Ihrer Wahl kontrollieren. Der Verband darf nicht nass werden. Achten Sie vor allem beim Duschen darauf. Und strengen Sie die linke Hand in den nächsten paar Tagen nicht an.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Das werden Sie aber ohnedies nicht machen, wenn die schmerzstillende Wirkung der Spritze nachlässt.“
„Geben Sie mir etwas gegen die Schmerzen, damit ich die Nacht durchhalte“, verlangte der Patient.
Holger nickte und reichte ihm zwei Tabletten, mehr nicht. Auch in diesem Punkt hielt er sich an die allgemeinen Anweisungen von Chefarzt Dr. Holl, der zwar keinen Patienten leiden ließ, aber auch nicht unnötig großzügig mit Medikamenten umging.
„Der Arzt, der Sie weiterhin behandelt“, sagte der AIP zum Abschluss, „wird Sie auch krankschreiben.“
„Ich arbeite selbstständig“, erwiderte Dennis Wax und konnte zum ersten Mal seit Betreten der Ambulanz grinsen.
Allerdings würde der gute Doktor früher oder später feststellen, dass es keinen Heiner Gebhardt bei der genannten Krankenversicherung gab. Schließlich war der Name erfunden, und der Personalausweis war hervorragend gefälscht. Die Berling-Klinik blieb auf den Kosten für diese Behandlung sitzen, doch das bereitete Dennis Wax nicht das geringste Kopfzerbrechen.
„Gut gemacht, Herr Doktor“, stellte Dennis Wax zum Abschied fest, schenkte Schwester Maria einen anzüglichen Blick und ging.
„Bei dem Kerl bekomme ich Gänsehaut“, stellte Maria fest.
„Auch nicht unbedingt mein Typ“, bestätigte Holger. „Er hat etwas Unangenehmes an sich, aber mit dem haben wir ohnedies nichts mehr zu tun. Würde er noch einmal zu uns kommen, um sich bei uns weiter behandeln zu lassen, hätte er es gleich gesagt. Den sind wir los.“
„Zum Glück“, fügte Schwester Maria hinzu und kehrte an ihren Platz hinter dem Pult der Notaufnahme zurück, während Holger Strackmeier sich erneut seiner medizinischen Fachliteratur widmete.
***
Beim Frühstück beobachtete Hermine Steinmetz verstohlen, aber besorgt ihren Mann. Nach zweiundzwanzig Ehejahren gab es nichts, was sie nicht über ihn wusste. Davon war sie überzeugt.
Jedenfalls war ihr bekannt, dass er seit knapp einem Jahr Probleme mit Magen und Darm hatte. Leibschmerzen, Blähungen und Verstopfung waren die Symptome, und der Hausarzt hatte von der Möglichkeit häufig auftretender Störungen auf Grund von Stress und zu großer Belastung gesprochen.
Allerdings hatte der Arzt auch auf die Möglichkeit hingewiesen, dass es sich um eine Colitis ulcerosa handeln konnte, eine geschwürige Dickdarmentzündung. Bisher war es jedoch noch zu keinen Blutungen gekommen, die ein Alarmsignal dargestellt hätten.
Die Crohnsche Erkrankung wäre auch eine mögliche Erklärung für die Beschwerden gewesen, eine Krankheit, die den gesamten Darm in sämtlichen Schichten befallen und zu Entzündungen führen konnte.
Beide Krankheiten mussten unbedingt medikamentös behandelt werden, aber vorher war eine Spiegeluntersuchung des Dickdarms nötig.
Der Hausarzt drängte schon länger auf einen stationären Aufenthalt in der Berling-Klinik, mit der er sehr gute Erfahrungen gemacht hatte, doch Reinhold hatte sich bisher stets gedrückt. Dafür hatte er alle möglichen Ausreden erfunden. Hermine war sicher, dass er einfach Angst vor der Untersuchung hatte, obwohl er verstandesmäßig wusste, dass er sich ihr stellen musste.
„In einer halben Stunde muss ich los.“ Reinhold nickte, als seine Frau auf die Kaffeekanne deutete, und ließ sich nachschenken. „Danke. Tut mir leid, aber die Reise ist nötig.“
„Das weiß ich“, bestätigte Hermine. Schließlich war Reinhold Gebietsleiter einer großen Firma und musste sich um den Verkauf kümmern. Dafür musste er Kunden besuchen und die eigenen Leute kontrollieren. Das tat er seit Jahren.
Flüchtig registrierte sie, dass er sich noch nie für eine Reise entschuldigt hatte. Erst seit einigen Wochen betonte er immer wieder, wie nötig diese Reisen waren.
„Wenn du zurückkommst, solltest du dich unbedingt im Krankenhaus untersuchen lassen. Du schiebst das schon viel zu lange vor dir her“, mahnte sie.
„Ich werde darüber nachdenken“, versprach Reinhold.
„Du sollst nicht nachdenken, sondern einen Termin machen, an dem sie dich aufnehmen“, drängte Hermine. „Du bist immerhin schon zweiundvierzig.“
„Und was soll das heißen?“, fragte er unbehaglich.
„Das soll heißen, dass sich in unserem Alter, also ab vierzig, durchaus gefährliche Krankheiten entwickeln können“, redete Hermine ihm zu. „Oder hast du noch nie davon gehört, dass aus langanhaltenden Entzündungen chronische Beschwerden entstehen können? Sie können sogar zu Krebs führen, und das wollen wir bestimmt beide nicht.“
„Natürlich nicht“, wehrte Reinhold ab, dem das Thema eindeutig unangenehm war. „Also gut, nach der Reise überlege ich, wann ich in die Berling-Klinik gehe.“
Hermine seufzte. Vermutlich musste sie über Reinholds Kopf hinweg einen Termin vereinbaren und ihn damit zwingen, sich endlich der Darmspiegelung zu unterziehen. Natürlich verstand sie, dass jeder vor einer solchen Untersuchung zurückscheute, weil sie bestimmt nicht angenehm war, aber Reinhold kam nicht darum herum.
Endlich war es so weit, Reinhold verabschiedete sich, und Hermine begleitete ihn an den Wagen und winkte, während er wegfuhr. Erst danach öffnete sie das Antiquariat, das sie im selben Haus betrieb.
Finanziell hatte sie es nicht nötig, diesen Laden zu führen, und er warf auch keinen großen Gewinn ab, doch sie liebte Bücher, vor allem alte. Und sie unterhielt sich gern mit Menschen, die ähnlich leidenschaftlich sammelten wie sie.
Reinhold Steinmetz verließ München nicht. Er hatte ein Ziel, das lediglich in einem anderen Bereich der Stadt lag. Angelina Fiersing wartete schon in ihrer Wohnung sehnsüchtig auf ihn, und er schloss sie in die Arme und begrüßte sie mit einem leidenschaftlichen Kuss.
„Endlich“, flüsterte Angelina. „Du hast mir so gefehlt!“
„Du mir auch“, versicherte er und ließ sie gar nicht mehr los.
„Ich war am Wochenende so einsam, dass ich es fast nicht ausgehalten habe.“ Angelina sagte es ohne Vorwurf, aber der Mann wusste, dass sie enttäuscht war.
Er hatte ihr ursprünglich versprochen, sich möglichst von seiner Frau loszueisen und das Wochenende mit ihr zu verbringen. Letztlich hatte es nicht geklappt. Sie hatten nur telefoniert und waren beide frustriert gewesen.
„Ich habe eine Stunde Zeit, bis die nächste Kundin kommt.“ Angelina deutete auf die Tür, die in ihren kleinen Kosmetiksalon führte. „Ich habe zugeschlossen. Wir sind ungestört“, erklärte sie lächelnd.
„Etwas Schöneres kann ich mir nicht wünschen“, versicherte Reinhold, und während er Angelina erneut leidenschaftlich an sich zog, dachte er einen Moment voll Unbehagen an sein Leiden, das er seiner Geliebten verschwiegen hatte. Über so etwas sprach man schließlich nicht mit einer Frau, die nicht nur sechzehn Jahre jünger war, sondern für die man nach drei Monaten noch aufregend und neu war und er man sich im besten Licht zeigen wollte.
Er schob die Gedanken an die Krankheit von sich, weil sie ihn gleichzeitig an Hermine und ihre Ratschläge erinnerte. Und das Letzte, woran er jetzt denken wollte, war seine Ehefrau, die er mit Angelina betrog.
***
Dr. Stefan Holl hatte mit der Familie gefrühstückt und machte sich nun voller Tatendrang auf den Weg in die Klinik.
Moni Wolfram erwartete den Chefarzt bereits mit starkem Kaffee, den sie jeden Morgen für ihn bereithielt.
„Keine besonderen Meldungen, Herr Dr. Holl“, fügte die Sekretärin dem freundlichen Gruß hinzu.
„Das ist immer ein gutes Zeichen“, erwiderte er, setzte sich an den Schreibtisch und nahm soeben den ersten Schluck Kaffee, als das Telefon im Vorraum klingelte.
„Herr Doktor, dringend auf die Innere!“, rief Moni zur offenen Tür herein.
Vergessen waren der Kaffee, der erste Blick auf die angefallenen Unterlagen auf dem Schreibtisch und auch die bevorstehende morgendliche Besprechung mit Daniel Falk.
Dr. Holl eilte den Korridor entlang zur Inneren Station, auf der hektische Betriebsamkeit herrschte. Dr. Sanders verschwand soeben in einem Patientenzimmer, Schwester Doris und Pfleger Jürgen folgten ihr und hielten dem Chefarzt die Tür auf.
Dr. Donat stand neben dem Bett der einzigen Patientin in diesem Raum.
„Verständigen Sie Dr. Falk“, verlangte er, ohne sich umzudrehen.
„Wird gemacht, Herr Doktor“, erwiderte Jürgen und lief an Dr. Holl vorbei hinaus.
„Was ist passiert?“, fragte Dr. Holl knapp, als er das Blut im Bett entdeckte. Gleichzeitig fing er aus den Augen der jungen Patientin einen Blick voll Panik auf.
„Schwangerschaftsblutungen“, erwiderte Dr. Donat knapp, während er konzentriert weiterarbeitete.
Dr. Holl runzelte die Stirn. Er kannte die Patientin nicht, was der Fall gewesen wäre, hätte sie gestern schon hier gelegen. Schwester Doris drückte ihm ein Klemmbrett mit den entsprechenden Unterlagen in die Hand, und er warf einen Blick darauf. Danach verdüsterte sich seine Miene noch mehr.
„Ich schaffe das nicht“, stellte der Kollege Donat fest. „Ist Dr. Falk bereit?“, rief er Jürgen zu, der gerade wieder hereinkam.
„Er bereitet sich im OP-Bereich vor“, meldete der Pfleger.
„Bringen Sie die Patientin zu ihm“, entschied Dr. Donat und trat zurück, damit der Pfleger und seine Kollegin die Patientin aus dem Zimmer schaffen konnten. „Sie wurde gestern Abend eingeliefert“, erklärte er dem Chefarzt, „nachdem sie von einem Inline-Skater gerammt worden war.“
„Verdacht auf Gehirnerschütterung.“ Dr. Holl nickte. „Das habe ich gelesen.“
„Mit ihrem Kopf ist alles in Ordnung“, erwiderte Peter Donat leicht gereizt. „Aber jetzt haben unvermittelt diese Blutungen eingesetzt.“
Dr. Holl deutete auf das Klemmbrett.
„Ich finde hier die Eintragungen von Schwester Annegret, dass die nächtlichen Kontrollen wegen der Gehirnerschütterung erfolgten.“ In seiner Stimme kündigte sich Unheil an. „Herr Strackmeier hat die Patientin in der Ambulanz aufgenommen. Wieso finde ich hier keine Eintragung über eine sofortige gynäkologische Untersuchung? Wieso wurde die Patientin nicht zumindest heute Morgen untersucht, beziehungsweise laufend kontrolliert? In welchem Monat ist sie schwanger?“
„Im vierten“, entgegnete Dr. Donat. „Aber Herr Strackmeier hat keinen Fehler begangen. Man sieht ihr die Schwangerschaft noch nicht an, und sie hat keine Angaben dazu gemacht.“ Jetzt zeigte auch er auf das Klemmbrett, nachdem er sich der Schutzhandschuhe entledigt hatte. „Auf Befragung hat sie nichts angegeben, und der diensthabende Arzt in der Ambulanz kann schließlich nicht automatisch bei jeder Patientin einen Schwangerschaftstest durchführen.“
„Sie hat die Schwangerschaft verschwiegen?“, fragte Dr. Holl erstaunt. „Nach einem so heftigen Sturz? War sie denn nicht bei klarem Verstand?“ Er blickte noch einmal auf die Unterlagen und gab sich selbst die Antwort. „Voll ansprechbar, logische Antworten“, las er ab. „Das verstehe ich wirklich nicht.“
Er nahm sich allerdings auch nicht die Zeit für langwierige Spekulationen, weil er im OP gebraucht wurde. Daniel Falk mochte der Chefchirurg seines Hauses sein, aber er selbst war Gynäkologe und musste als solcher versuchen zu retten, was noch zu retten war.
Eine Stunde später mussten Stefan Holl und Daniel Falk allerdings den Kampf um das ungeborene Kind aufgeben. Miriam Brandstätter hatte es verloren. Dass der jungen Frau keine Lebensgefahr drohte, war in diesem Moment nur ein geringer Trost.
Während sie sich der sterilen Kleidung entledigten und sich wuschen, kam Daniel Falk genau auf den Punkt zu sprechen, der Stefan Holl schon die ganze Zeit beschäftigte.
„Wieso hat die Patientin denn bei ihrer Einlieferung die Schwangerschaft nicht erwähnt?“, fragte er seinen Freund. „Hat der AIP einen Fehler gemacht?“
„Das war auch mein erster Gedanke“, gestand Dr. Holl. „Nein, Strackmeier hat richtig gehandelt. Die Patientin war trotz der leichten Gehirnerschütterung voll bei sich und beantwortete alle Fragen. Er hat genau eingetragen, dass sie zurzeit nicht in irgendeiner Behandlung steht, keine Medikamente nimmt und auch sonst gesund ist. Also hat er sie befragt. Und Schwester Annegret hat im Lauf der Nacht jedes Mal vermerkt, dass die Patientin voll ansprechbar war. Nein, die Frau hat einfach die Schwangerschaft verschwiegen, ob aus Ahnungslosigkeit oder aus einem besonderen Grund …“
Er vollendete den Satz nicht, sondern zuckte mit den Schultern.
„Keine Frau ist so ahnungslos“, wehrte Daniel ab. „Jede weiß, dass ein Sturz für eine Schwangere eine hohe Gefahr darstellt. Wenn Holger Strackmeier die Befragung durchgeführt hat, hätte sie ihren Zustand erwähnen müssen.“
„Ich werde der Sache nachgehen“, versprach Dr. Holl, der stets höchsten Wert darauf legte, dass alle seine Mitarbeiter perfekt arbeiteten. „Die Besprechung können wir meinetwegen heute ausfallen lassen. Bei mir gibt es keine großen und dringenden Probleme.“
„Bei mir auch nicht“, meinte Daniel Falk. „Gehen wir gleich zur Visite über.“
Dr. Holl kehrte in sein Büro zurück. „Versuchen Sie, Herrn Strackmeier zu erreichen“, bat er Moni Wolfram, bevor er sich für die Visite vorbereitete. „Wenn er sich meldet, will ich ihn umgehend sprechen.“
Moni stellte schon nach knapp zwei Minuten den AIPler zum Chefarzt durch. Holger Strackmeier klang anfangs noch verschlafen, wurde aber schnell munter, als er hörte, worum es ging.
„Selbstverständlich habe ich die Patientin befragt und nicht nur die entsprechenden Eintragungen auf dem Patientenblatt gemacht“, beteuerte er. „Und sie war voll ansprechbar. Schwester Maria kann das bestätigen. Sie war dabei.“
„Gut, danke“, entgegnete Dr. Holl, der den AIP darüber informiert hatte, was geschehen war. „Dann bin ich wenigstens beruhigt, was Ihr Verhalten angeht. Das der Patientin kann ich mir nicht erklären. Ist Ihnen vielleicht etwas an Frau Brandstätter aufgefallen?“
„Nein, abgesehen davon, dass sie apathisch wirkte, aber das habe ich auf die leichte Gehirnerschütterung zurückgeführt“, erwiderte Holger Strackmeier.
Dr. Holl beendete das Gespräch und trat die Visite an. Vorher ließ er durch Moni die Anweisung weitergeben, ihn sofort zu verständigen, sobald Frau Brandstätter wieder bei Bewusstsein war.
Er wollte soeben von der Visite in sein Büro zurückgehen, als ihn Schwester Doris informierte, er könne jetzt mit Frau Brandstätter auf der Wachstation sprechen.
Miriam Brandstätter sah Dr. Holl klar an, als er sich vorstellte.
„Ich habe das Kind verloren, nicht wahr?“, flüsterte sie.
„Ja, es tut mir leid“, erwiderte Dr. Holl. „Frau Brandstätter, wurden Sie bei der Einlieferung in die Ambulanz befragt, ob Sie zurzeit in Behandlung stehen oder Medikamente nehmen?“
„Ja, schon“, räumte sie ein, „aber …“
„Aber?“, drängte Dr. Holl, als sie verstummte. Er musste sich davon überzeugen, dass seine Mitarbeiter keinen Fehler begangen hatten. „Hat sich der Arzt in der Ambulanz nach Allergien, vor allem gegen Medikamente, erkundigt?“
Sie nickte.
„War Ihnen nicht klar“, fuhr Dr. Holl behutsam fort, „dass Sie nach diesem schweren Sturz im Krankenhaus die Schwangerschaft erwähnen sollten? Jeder Sturz kann ein ungeborenes Kind gefährden.“
„Ja, ich weiß“, flüsterte sie und bestätigte damit letztlich, dass der Arzt im Praktikum seine Pflicht erfüllt hatte. „Ich … ich konnte nicht darüber sprechen“, fügte sie hinzu.
Sofort keimte in Dr. Holl wieder der Verdacht auf, dass Holger Strackmeier vielleicht doch etwas übersehen hatte, das die Patientin an vernünftigen und vollständigen Angaben gehindert hatte.
„Warum nicht, Frau Brandstätter?“, hakte er nach. Als er noch immer keine Antwort erhielt, erklärte er ihr den Grund für seine Hartnäckigkeit. „Ich muss wissen, ob der Arzt in der Ambulanz etwas versäumt hat. Standen Sie unter Schock? Dachten Sie deshalb nicht mehr an die Schwangerschaft?“
„Ich … ich habe …“ Miriam Brandstätter begann zu weinen. „Ich habe nichts gesagt, weil ich diese Schwangerschaft auch nicht wollte“, flüsterte sie, schloss die Augen und drehte das Gesicht weg.
Dr. Holl schwieg daraufhin. Offenbar hatte diese Frau schwere persönliche Probleme …
***
Carsten Vierland kaufte einen Blumenstrauß, obwohl er gar nicht wusste, ob Miriam Brandstätter noch in der Berling-Klinik lag. Er hoffte es einfach und wollte nicht mit leeren Händen bei ihr erscheinen.
„Brandstätter?“ Die Angestellte an der Auskunft sah im Computer nach.
„Miriam Brandstätter“, bestätigte Carsten.
„Ja, die Patientin liegt auf der Chirurgie. Sie nehmen den Aufzug und …“ Die freundliche Mitarbeiterin erklärte dem Besucher den Weg und nannte auch die Zimmernummer.
Aufgeregt fuhr Carsten nach oben. Er klopfte an die angegebene Tür, öffnete und entdeckte Miriam Brandstätter in einem Drei-Bett-Zimmer. Sie lag am Fenster und hielt die Augen geschlossen. Die beiden anderen Patientinnen dankten freundlich auf Carstens Gruß, während er langsam näher ging.
„Sie schläft schon die ganze Zeit“, sagte die Frau im mittleren Bett. „Sind Sie der Mann oder der Freund?“
„Nein“, erwiderte Carsten. „Ich habe Frau Brandstätter nur nach dem Unfall hergebracht.“
„Ach so.“ Die Frau machte den Eindruck, als hätte sie ursprünglich noch etwas sagen sollen. Jetzt schwieg sie und vertiefte sich wieder in ihr Taschenbuch.
Carsten blieb neben dem Bett stehen und betrachtete die Schlafende. Miriam Brandstätter wirkte sehr mitgenommen, eigentlich noch blasser und schwächer als gestern Abend. Der Verband auf der Stirn war noch vorhanden. Sie bekam gerade eine Infusion. Bestimmt hatten die Ärzte eine Verletzung festgestellt, die ursprünglich nicht zu erkennen war.
Die Tür öffnete sich, und ein Arzt kam herein. Er stellte sich als Dr. Falk, Chefarzt der Chirurgie, vor.
„Sind Sie ein Angehöriger?“, erkundigte er sich und nickte bloß, als Carsten Vierland ihm seine Rolle erklärte. „Wenn Sie dann bitte draußen warten, bis ich hier fertig bin“, sagte er.
Carsten nickte und verließ das Patientenzimmer. Dr. Falk untersuchte seine Patientin, die davon erwachte, aber nichts sagte.
„Der Mann, der Sie zu uns brachte, wartet draußen“, bemerkte Dr. Falk, sobald er fertig war, und warf einen Blick auf die Unterlagen. „Hier fehlen Angaben, wen wir verständigen sollen.“
„Niemanden“, erwiderte Miriam Brandstätter matt.
Dr. Falk betrachtete sie aufmerksamer.
„Wenn Sie keinen Besuch haben wollen, kann ich Herrn Vierland wegschicken“, bot er an.
„Nein, ich bin kräftig genug.“ Miriam zeigte jedoch nicht, ob sie sich über die Ablenkung freute.
Dr. Falk verließ das Zimmer und nickte auf dem Korridor dem Wartenden zu. Carsten Vierland näherte sich Miriam Brandstätter zum zweiten Mal, und jetzt fand er in ihrem Blick Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit.
„Was ist denn passiert?“, fragte er spontan und vergaß sogar, sie zu begrüßen. „Was haben Sie? Sind Ihre Verletzungen doch schlimmer als zunächst angenommen?“
Miriam brauchte einige Sekunden, ehe sie sich auf die Fragen einstellte.
„Ich hatte einige … Probleme“, erwiderte sie ausweichend, weil sie nicht darüber sprechen wollte, was wirklich geschehen war. „Wie nett von Ihnen“, fuhr sie mit einem Blick auf die Blumen fort. „Dabei haben Sie mir schon geholfen. Ich stehe eigentlich in Ihrer Schuld.“
„Wenn ich noch etwas für Sie tun kann, brauchen Sie es nur zu sagen“, bot Carsten an und wusste selbst nicht so genau, weshalb er sich dermaßen um diese Frau kümmerte.
„Nein, danke, das ist bestimmt nicht nötig“, wehrte sie ab.
Carsten besorgte bei der Schwester eine Vase und stellte die Blumen auf den Nachttisch. „Wann werden Sie entlassen?“, fragte er.
„Darüber habe ich mit den Ärzten noch nicht gesprochen.“ Miriam betrachtete die Blumen und kämpfte mit den Tränen.
„Was ist denn los mit Ihnen?“ Carsten wollte nach ihrer Hand greifen.
„Nichts“, murmelte sie und zog die Hand weg.
Carsten holte eine Visitenkarte aus der Brieftasche und legte sie neben die Vase.
„Wenn Sie etwas brauchen oder sich nach Gesellschaft sehnen, rufen Sie mich einfach an“, bat er. „Unter einer dieser Nummern erreichen Sie mich, am besten auf meinem Handy. Und geben Sie mir bitte Ihre Telefonnummer, damit ich Kontakt zu Ihnen aufnehmen kann, falls Sie überraschend entlassen werden.“
Miriam nannte ihm die Nummer, doch da er sie sich nicht notierte, war sie überzeugt, dass er nur etwas Nettes hatte sagen wollen und sich bestimmt nicht bei ihr melden würde. Darum hatte sie auch nicht die Absicht, ihn anzurufen. Schließlich konnte sie einem Wildfremden nicht auf die Nerven fallen.
Als Carsten merkte, dass Miriam Brandstätter nicht zu einer längeren Unterhaltung aufgelegt war, wünschte er erneut alles Gute und verabschiedete sich.
Auf dem Korridor kamen ihm Dr. Falk und ein zweiter Arzt entgegen. Er stellte sich als Dr. Holl, Chefarzt der Berling-Klinik, vor.
„Sie waren Zeuge des Unfalls“, meinte Dr. Holl, „und da Frau Brandstätters Verletzungen doch ernster sind, als ursprünglich angenommen, möchte ich nähere Angaben über diesen Inline-Skater sammeln. Erinnern Sie sich an etwas? Ich finde hier nur eine Notiz über die Jacke des jungen Mannes.“
Carsten nickte, als der Chefarzt auf die Unterlagen auf einem Klemmbrett deutete.
„Frau Brandstätter selbst hat die Sonne auf dem Rücken des Täters beschrieben. Mir ist nur aufgefallen, dass es ein Emblem oder ein Bild war. Leider kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Es ging alles so schnell.“
Dr. Holl bedankte sich und betrat das Patientenzimmer, und Carsten kam zu dem Schluss, dass Miriam Brandstätter bei dem Unfall ziemlich ernste Verletzungen erlitten haben musste. Nicht nur der Leiter der Chirurgie, sondern auch der Chefarzt der Berling-Klinik persönlich kümmerte sich um sie. Allerdings würde er nicht erfahren, worum es sich handelte, sofern Miriam Brandstätter ihm nicht selbst eine Erklärung gab. Sie schien jedoch nicht gewillt zu sein, mit ihm darüber zu sprechen. Zumindest hatte sie vorhin eher abweisend gewirkt.
Oder teilnahmslos, verbesserte Carsten sich in Gedanken, während er zu seinem Wagen auf dem Parkplatz der Klinik zurückkehrte. Ja, das war auch eine Möglichkeit. Sie war teilnahmslos, weil sie unter dem Eindruck des Unfalls stand. Das wiederum ließ einen für ihn erfreulichen Schluss zu. Mit ihm hatte die Haltung dieser jungen Frau nichts zu tun gehabt.
Das ermutigte ihn, sich auch in Zukunft um sie zu kümmern, zumindest, solange sie in der Berling-Klinik lag. Als ihr Helfer hatte er dazu sogar eine gewisse Verpflichtung. Damit rechtfertigte er wenigstens vor sich, dass er Zeit für eine Fremde aufwandte, obwohl er eigentlich schon dringend in der Firma erwartet wurde.
***
Dr. Daniel Falk kehrte schon nach einem kurzen Gespräch mit Miriam Brandstätter an seine Arbeit auf der Station zurück. Stefan Holl blieb noch und stellte gezielte Fragen nach dem Täter.
„Ich weiß nicht mehr über ihn, als dass er diese auffällige Sonne auf der Jacke hatte“, erklärte die Patientin und zeigte deutlich, dass sie keine Lust hatte, mit dem Chefarzt zu sprechen.
„Nun gut, lassen wir das“, meinte Dr. Holl. „Frau Brandstätter, warum haben Sie uns bei Ihrer Einlieferung Ihre Schwangerschaft verschwiegen? Wollen Sie mit mir darüber sprechen?“ Als sie nur den Kopf schüttelte, bedrängte er sie nicht weiter. „Sie können sich jederzeit an mich wenden“, bot er trotzdem an. „Ich werde Sie selbstverständlich noch genauer untersuchen, aber falls es für Sie wichtig ist – Sie können jederzeit wieder ein Kind bekommen.“
Miriam Brandstätter zeigte nicht einmal, ob sie ihn gehört hatte. Sie blickte aus dem Fenster, und Dr. Holl zog sich nach einigen weiteren vergeblichen Versuchen, an sie heranzukommen, zurück.
Das bedeutete für den Chefarzt der Berling-Klinik allerdings nicht, dass er nicht weiter versuchen würde, dieser jungen Frau in ihrer Not zu helfen. Vorerst gab es jedoch andere Probleme, um die er sich kümmern musste.
Holger Strackmeier traf in der Berling-Klinik ein, und Dr. Holl zitierte den AIP zu sich. Strackmeier schilderte erneut, wie Frau Brandstätter eingeliefert worden war und was er unternommen hatte.
„Sie haben sich richtig verhalten“, urteilte Dr. Holl zuletzt sehr zur Erleichterung des angehenden Arztes. „Sie konnten nicht wissen, dass die Patientin schwanger ist.“
Nachdem auch dieser Punkt restlos geklärt war, bereitete Dr. Holl sich auf den Feierabend vor, verabschiedete sich von Moni Wolfram und traf auf dem Korridor Schwester Annegret, die auch heute den Nachtdienst auf der Inneren versah.
„Ich habe gehört, was mit Frau Brandstätter passiert ist“, sagte die ältere Schwester, nachdem Dr. Holl mit ihr einige allgemeine Worte gewechselt hatte. „Ich habe schon letzte Nacht gemerkt, dass sie ein Problem hat. Sie wirkte verstört und hatte Angst, aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Und sie ist mir eine Erklärung schuldig geblieben, so sehr ich auch Versucht habe, in sie zu dringen.“
„Genau wie mir heute“, erwiderte Dr. Holl. „Nun gut, Annegret, wir werden es nicht herausfinden, wenn die Patientin sich uns nicht anvertraut. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Dienst.“
„Und ich Ihnen einen schönen Feierabend, Chef“, sagte Annegret und ging zum Aufenthaltsraum, während Dr. Holl die Klinik verließ und nach Hause fuhr.
Es war ein normaler Abend im Kreis der Familie, normal sogar in Bezug auf Chris und seine schulischen Leistungen. Der Vierzehnjährige musste eine schlechte Zensur in Mathematik beichten.
„Schon wieder?“, stellte Stefan Holl wenig erfreut fest. „Ist dir eigentlich klar, dass du dich anstrengen musst, sonst gefährdest du durch diesen Schwachpunkt deine Versetzung. Wie wäre es mit Nachhilfeunterricht?“
Die Frage war eigentlich an Julia gerichtet, doch Chris wehrte sofort entsetzt ab.
„Nein, Papa, das schaffe ich auch allein“, beteuerte er. „Ich möchte mich echt nicht mit irgendeinem Typ hinsetzen, der mir dann auch noch am Nachmittag Mathe vorkaut.“
„Allein hast du bisher keine sonderlich großen Erfolge erzielt, um es vorsichtig auszudrücken“, hielt ihm sein Vater vor.
„Ich habe auch schon wesentlich bessere Noten geschafft“, widersprach Chris.
„Dann hast du dich aber auch ernsthaft bemüht und konzentriert gelernt“, bemerkte Julia. „Du bist daheim geblieben und hast aufs Fernsehen verzichtet, du hast keine Videospiele gemacht und deinen Computer nur zum Lernen benützt.“
„Das mache ich wieder“, beteuerte Chris, dem sehr viel daran gelegen war, keinen Nachhilfeunterricht zu bekommen. „Echt, ich packe das.“
„Wir werden sehen“, erwiderte Stefan vorsichtig. „Übrigens, Nachhilfeunterricht ist absolut keine Schande. Viele Schüler bekommen ihn in der heutigen Zeit, weil die Anforderungen in den Schulen sehr hoch geschraubt wurden.“
„Ich rühre mich nicht mehr aus meinem Zimmer, bis ich in Mathe der Beste in der Klasse bin“, schwor Chris.
„Der Zweitbeste würde uns schon genügen“, wehrte Stefan amüsiert ab.
Marc, Dani und Juju hatten sich aus der Diskussion herausgehalten. Sie beteiligten sich erst jetzt wieder an der Unterhaltung, bei der Stefan sich weitgehend auf die Rolle des Zuhörers beschränkte.
„Du bist heute mit deinen Gedanken nicht ganz da, Papa“, stellte Dani fest, nachdem Juju schon den Tisch verlassen hatte.
„Ich muss an eine Patientin bei uns denken“, erwiderte Stefan. „Sie wurde von einem rücksichtslosen Skater angerempelt, stürzte und verlor dadurch ihr Baby. Ich finde, dass ein solches Verhalten bestraft werden muss. Vor allem hat sich der junge Mann gar nicht um sie gekümmert. Ein Zeuge brachte sie zu uns in die Klinik.“
„Wie soll denn die Polizei einen Skater finden?“, fragte Marc. „Habt ihr vielleicht eine so genaue Beschreibung von ihm?“
„Leider nicht“, räumte sein Vater ein. „Wir wissen nur, dass er eine auffällige Jacke trug. Auf dem Rücken war eine Sonne mit flammenartigen Strahlen zu sehen.“
Chris, der schon hatte aufstehen wollen, weil ihn das Gespräch nicht interessierte, setzte sich wieder und hörte aufmerksam zu. Er erfuhr jedoch nicht mehr. Außer der Beschreibung der Sonne auf der Jacke gab es tatsächlich keine Hinweise auf die Identität des Schuldigen.
Er hatte diese Sonne schon gesehen, mehrmals sogar. Neben den Inline-Skates benützte er auch oft sein Skateboard. Und damit trainierte er besonders gern in einer nahen Parkanlage in der Halfpipe, jener riesigen liegenden halben Röhre, deren gekrümmte Wände gewagte Sprünge erlaubten. Dort hatte ein etwa Achtzehnjähriger mit exakt der beschriebenen Jacke mit seiner Geschicklichkeit dermaßen angegeben, dass Chris wegen des unerträglichen Imponiergehabes keinen Kontakt mit ihm gesucht hatte.
Das ließ sich doch nachholen. Wenn er diesen Typ mit der Sonnen-Jacke ansprach und ihn wegen seiner Sprünge bewunderte, kam es bestimmt zu einer längeren Unterhaltung. Chris stellte es sich bereits lebhaft vor. Er fand den Namen dieses Typen heraus oder stellte zumindest fest, wo der Kerl wohnte. Dann ging er zu seinem Vater und präsentierte stolz sein Wissen.
Er hätte damit einer Verletzten geholfen und seinem Vater einen großen Dienst erwiesen. Das stimmte die Eltern garantiert milde, was das schlechte Abschneiden in Mathe anging. Und Chris kam auf diese Weise todsicher um den Nachhilfeunterricht herum, den er als persönliche Demütigung betrachtete.
Was seine Eltern nicht wussten – auch sein Lehrer hatte ihm bereits Nachhilfestunden ans Herz gelegt. Zwei seiner Mitschüler hatten ihn daraufhin aufgezogen. Und einer hatte einen Satz mit nachhaltiger Wirkung von sich gegeben.
„Typisch“, hatte der Junge gehöhnt, „Chris ist zu blöde, um allein zu lernen. Er braucht einen Hilfspauker.“