Die besten Ärzte - Sammelband 12 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 12 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1777: Frieda lädt ein!
Notärztin Andrea Bergen 1256: Wo seid ihr nur?
Dr. Stefan Frank 2210: Ein Herbstspaziergang mit Folgen
Dr. Karsten Fabian 153: Doch am Krankenbett war sie allein
Der Notarzt 259: Ausritt ins Ungewisse

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 610

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Impressum

BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgaben: Copyright © 2013/2014/2016 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv von © Bastei Verlag/A.v.Sarosdy ISBN 978-3-7325-9181-7

Katrin Kastell, Marina Anders, Stefan Frank, Ina Ritter, Karin Graf

Die besten Ärzte 12 - Sammelband

Inhalt

Katrin KastellDr. Holl - Folge 1777Für die alleinerziehende Lilian Baumgart ist es ein schwerer Schock, als Dr. Holl, der Chefarzt der Berling-Klinik, ihr die Diagnose verkündet: Bei ihrer kleinen Tochter muss die von einem Tumor befallene Thymusdrüse entfernt werden. Tatsächlich wird Friedas Muskelschwäche von Tag zu Tag bedrohlicher, und die Zeit drängt. Verzweifelt überlegt Lilian, wie sie Frieda aufheitern kann. Da vertraut ihr die Kleine einen Herzenswunsch an: Wenn sie wieder gesund ist, will sie eine riesige Geburtstagsparty feiern, zu der alle Nachbarskinder eingeladen sind! Lilian verspricht ihrer Tochter, dass es der tollste Kindergeburtstag aller Zeiten werden wird. Das hofft sie aus tiefstem Herzen, doch noch weiß sie nicht, ob ihr geliebtes Kind seinen siebten Geburtstag überhaupt erleben wird ...Jetzt lesen
Marina AndersNotärztin Andrea Bergen - Folge 1256Aufgeregt tastet sich der dreizehnjährige Mark an der kalten Höhlenwand entlang. Endlich ist es ihm einmal gelungen, den Argusaugen seiner überängstlichen Mutter zu entkommen und die verborgene Höhle im Wald zu erkunden. Da werden die Jungs aus seiner Klasse staunen, wenn er, "Mark-Hasenfuß", als Erster hier heruntersteigt! Oder sich grün und blau ärgern, dass er ihnen zuvorgekommen ist! Doch als Mark sich weiter vorwagt, kriecht ihm die Feuchtigkeit der unterirdischen Grotte in die Kehle, und ein stählerner Ring legt sich um seinen Hals! Oh nein, ein Asthmaanfall naht! Verzweifelt packt Mark nach seiner Gürteltasche, in dem er sein Notfallspray verwahrt - und greift ins Leere! Er muss die Tasche verloren haben! Hii-hilfe!, will Mark schreien, doch über seine Lippen kommt nur ein Röcheln. Ich will nicht sterben!, ist alles, was er noch denken kann, bevor er das Bewusstsein verliert...Jetzt lesen
Stefan FrankDr. Stefan Frank - Folge 2210Melanie ist das hübscheste und intelligenteste Kind auf der ganzen Welt, das versichert ihr ihre Mama Barbara jeden Tag. Doch nun soll plötzlich alles anders werden. Seit Dr. Frank gesagt hat, dass Melanie bald ein Geschwisterchen bekommen wird, ist ihre Mama ganz aus dem Häuschen. Auf einmal ist nur noch die Rede von diesem Jungen. Ihre Mama ist sich ganz sicher: Der kleine Bruder wird alles noch viel toller machen als Melanie. Das kann die Fünfjährige jedoch nicht hinnehmen. Was soll denn dann aus ihr werden? Als sie im Kindergarten das Märchen von Hänsel und Gretel kennenlernt, nimmt in ihrem Kopf langsam ein Plan Gestalt an: Sobald das Baby auf der Welt ist, wird sie es in den Wald bringen. Von dort aus findet es bestimmt nie wieder nach Hause, und Melanie hat ihre Mama wieder ganz für sich alleine...Jetzt lesen
Ina RitterDr. Karsten Fabian - Folge 153Carmen, eines der schönsten Mädchen aus dem Heidedorf Altenhagen, hat immer nur mit den Männern gespielt. Jetzt scheint sie einen zum Heiraten gefunden zu haben - einen sehr reichen Geschäftsmann, der sie auf Händen trägt. Doch die junge Liebe wird auf eine harte Bewährungsprobe gestellt, als Carmen schwer erkrankt. Man weiß nicht, ob die Krankheit in ihrem Fall zum Tode führt. Man weiß nur, dass sie ansteckend ist ...Jetzt lesen
Karin GrafDer Notarzt - Folge 259"Wir sehen uns kaum noch, der eine kommt, der andere geht!", beschwert sich Lea König bei ihrem Freund, dem Notarzt Dr. Peter Kersten. Damit hat sie leider recht, denn in den letzten Wochen war in der Notaufnahme die Hölle los. Um endlich wieder einmal in Ruhe Zeit miteinander verbringen zu können, beschließt der Notarzt, seine Freundin mit einem Kurzurlaub auf einem Pferdehof im Schwarzwald zu überraschen. Er hat nämlich herausgefunden, dass die Besitzerin des Hofs, Martha, früher eine enge Vertraute von Lea war. Auf dem Reiterhof wird jedoch schnell klar, dass die beiden hier keineswegs ein erholsames Wochenende erwartet: Martha und Lea begegnen sich mit unverhohlener Feindschaft. Dr. Kersten ist fassungslos. Was geht hier nur vor sich? Und was hat es mit der jungen Laura auf sich, die auf dem Hof scheinbar wie eine Sklavin gehalten wird? Lea und Peter beschließen, das Geheimnis der hübschen Frau herauszufinden und ihr zu helfen. Doch da galoppiert Laura überstürzt vom Hof, und was dann passiert, lässt dem Notarzt und seiner Freundin das Blut in den Adern gefrieren ...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Frieda lädt ein!

Vorschau

Frieda lädt ein!

Dr. Holl und ein ganz besonderer Geburtstag

Von Katrin Kastell

Für die alleinerziehende Lilian Baumgart ist es ein schwerer Schock, als Dr. Holl, der Chefarzt der Berling-Klinik, ihr die Diagnose verkündet: Bei ihrer kleinen Tochter muss die von einem Tumor befallene Thymusdrüse entfernt werden.

Tatsächlich wird Friedas Muskelschwäche von Tag zu Tag bedrohlicher, und die Zeit drängt. Verzweifelt überlegt Lilian, wie sie Frieda aufheitern kann. Da vertraut ihr die Kleine einen Herzenswunsch an: Wenn sie wieder gesund ist, will sie eine riesige Geburtstagsparty feiern, zu der alle Nachbarskinder eingeladen sind!

Lilian verspricht ihrer Tochter, dass es der tollste Kindergeburtstag aller Zeiten wird. Dabei ist es eher unwahrscheinlich, dass ihr geliebtes Kind seinen siebten Geburtstag überhaupt erlebt …

Lilian begriff noch nicht ganz, was Dr. Holl ihr gerade erklärte. Ihr Herz schlug heftig, in den Ohren rauschte das Blut, und ihre Augen füllten sich mit Feuchtigkeit. Aber Tränen waren jetzt fehl am Platze.

Sie brauchte einen kühlen Kopf. Doch wie bekam sie den, wenn sich darin die Gedanken nur so überschlugen?

Der Chefarzt der Berling-Klinik wartete ein paar Atemzüge, damit sich die junge Frau etwas fassen konnte.

„Für die Operation brauchen wir natürlich Ihr Einverständnis. Hier geschieht alles nur in völliger Übereinstimmung mit den Eltern“, nahm er das Gespräch wieder auf. „Sie müssen sich auch nicht sofort entscheiden, aber allzu viel Zeit sollten wir nicht verstreichen lassen. Je weniger, desto besser.“

Dr. Stefan Holl warf einen Blick auf das Kind, das in dem Spielzimmer der pädiatrischen Station mit seinem Plüschbär flüsterte und sich nicht für das Gespräch der beiden Erwachsenen zu interessieren schien.

„Bitte geben Sie mir noch etwas Zeit. Ich muss über alles nachdenken und mich auch mit meiner Mutter besprechen. Bisher dachten wir, dass eine Medikamenten-Therapie ausreichen würde. Und nun wird eine Operation notwendig. Das ist eine neue Situation und ein Schock für mich.“

„Holen Sie auch die Meinung von Kollegen ein, wenn Sie sich nicht sicher sind. Ich habe keine Einwände, Frau Baumgart. Gern gebe ich Ihnen eine Liste der Zentren, die …“

„Nein, nein“, wehrte sie heftig ab. „Frieda soll in Ihrer Klinik operiert werden. Meine Mutter hat uns hierher zu Ihnen geschickt. Vor zehn Jahren war sie Patientin in Ihrer Klinik. Sie hatte Brustkrebs und ist geheilt. Noch heute schwärmt sie von Ihrem Können.“ Für den Bruchteil einer Sekunde schob ein Lächeln die Mundwinkel der jungen Frau nach oben.

„Das freut mich zu hören“, sagte Dr. Holl, und seine Worte waren nicht nur so dahingesagt. Auch nach einer langen Berufserfahrung gab es für ihn keine größere Befriedigung, als die Patienten seiner Klinik geheilt nach Hause zu entlassen. „Bringen Sie Ihre Mutter doch zur nächsten Besprechung mit. Vielleicht erkenne ich sie wieder.“

„Ja, das werde ich tun. Bitte erklären Sie ihr genau, was mit Frieda geschehen soll. Meine Mutter war mir immer eine gute Beraterin.“

Lilian Baumgart zog hörbar die Luft ein und warf dann einen Blick auf ihre Tochter. Diese hatte jetzt noch weitere Plüschtiere im Kreis aufgestellt und hielt ihnen mit erhobenem Zeigefinger einen Vortrag, dessen Inhalt Dr. Holl aber nicht verstehen konnte.

„Sie werden verstehen, dass ich völlig außer mir bin“, fuhr sie mit einem verzweifelten Ton in der Stimme fort. „Warum mein Kind? Frieda ist doch erst sechs. Wird sie eine Operation überhaupt überstehen?“

„Natürlich werden wir sie gut vorbereiten und alle nötigen Tests durchführen. Ja, ich glaube, sie wird es schaffen. Um einen Eingriff kommen wir nicht herum. Außerdem klagt sie über Schmerzen in der Brust, und Sie berichten selbst, dass sie zunehmend unter Atemnot leidet. Kommen Sie, schauen wir uns noch mal das Röntgenbild an.“

Dr. Holl deutete in den Nebenraum. Lilian folgte ihm. Die Tür blieb offen, um das Kind im Auge zu behalten.

„Sie sollten auch den Vater mitbringen, wenn …“

„Es gibt keinen“, fiel ihm Lilian eine Spur zu aggressiv ins Wort. „Entschuldigen Sie“, fügte sie gleich hinzu, als ihr dies bewusst wurde. „Frieda hat leider nur einen biologischen Vater, aber keinen, der sich wirklich um sie kümmert.“

„Das tut mir leid für Frieda“, sagte Dr. Holl bedauernd. „Aber dafür hat sie eine liebende Mutter.“ Er deutete auf den Bildschirm. „Was Sie dort sehen, ist der Thymus, ein zweilappiges Organ, das sich hinter dem Brustbein befindet. Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass die Thymusdrüse von großer Bedeutung für die körpereigene Immunität ist. Außerdem regelt sie das Wachstum und den Knochenstoffwechsel. Bei Frieda ist der Thymus deutlich vergrößert.“

Vor Kurzem war bei Lilians kleiner Tochter eine beginnende Myasthenia gravis festgestellt worden, eine seltene Autoimmunkrankheit, die eine zunehmende Muskelschwäche im ganzen Körper bewirkt. Durch diese fehlgesteuerte Immunreaktion konnte es bei fortschreitender Krankheit im schlimmsten Fall zu lebensgefährlichen Schluck- und Atemstörungen kommen.

Und nun zeigte die letzte Computertomografie bei Frieda auch noch die Umrisse eines Tumors innerhalb der Thymusdrüse. Dieser Tumor könnte für die Muskelschwäche verantwortlich sein. Was in diesem Fall bedeutete, dass nach seiner Entfernung mit einiger Wahrscheinlichkeit auch die Myasthenia gravis geheilt war. Aus diesem Grund hielt Dr. Holl die Operation für unumgänglich. Es musste nur noch der richtige Zeitpunkt gefunden werden.

Als Lilian das Gebilde sah, wurde ihr vor lauter Angst ganz schlecht, und sie schlug sich die Hand vor den Mund.

„Mein Gott, das ist ja entsetzlich.“

„Drei Viertel dieser Tumore sind gutartig. Nun haben wir es aber auch noch mit einer Myasthenia gravis zu tun, sodass uns keine andere Wahl bleibt, als die Thymusdrüse mitsamt der Geschwulst zu entfernen.“

„Kann Frieda denn so geheilt werden, dass sie ein ganz normales Leben führen kann, als Kind und auch als Erwachsene?“

„Sie kann durchaus von dieser Operation profitieren. Und weil sie noch so jung ist, sogar wieder ganz gesund werden.“

„Mit oder ohne Garantie?“

Lilian verstand selbst nicht, warum ihre Worte so spöttisch klangen. Dr. Holl konnte schließlich nichts dafür, dass sie ein krankes Kind hatte. Suchte sie vielleicht nur nach einem Schuldigen, den sie für Friedas lebensgefährliche Krankheit verantwortlich machen konnte?

„Wir tun, was in unserer Macht steht. Und das ist nicht wenig“, sagte der Klinikchef, nachdem er seine Gedanken ein wenig gesammelt hatte. „Garantien gibt es in unserem Leben nicht. Auch wenn wir das noch so gern hätten.“

„Meine Bemerkung war dumm, verzeihen Sie bitte. Aber ich bin noch ganz durcheinander durch den neuen Befund. Ich hatte mich ja schon darauf eingestellt, dass Frieda womöglich lebenslang Medikamente nehmen muss. Eine Operation jagt mir doch große Angst ein. Sie ist mein Ein und Alles. Ich würde alles für sie tun, sogar mein Leben geben.“

Dr. Holl lächelte mitfühlend. Er war selbst Vater von vier Kindern und verstand sie vollkommen.

„Sprechen Sie mit Ihrer Mutter, auch mit anderen Angehörigen und Freunden. Ich weiß, dass ein solcher Schritt gut überlegt sein muss. Meine Kollegen und ich stehen Ihnen immer für alle Fragen zur Verfügung.“

„Mama, wann gehen wir nach Hause?“ Frieda stand plötzlich neben ihnen. Dr. Holl und Lilian hatten sie nicht kommen hören.

„Gleich, mein Schatz. Sag Dr. Holl auf Wiedersehen.“

Brav erfüllte Frieda den Wunsch ihrer Mutter und streckte dem Arzt ihre kleine Hand hin. Dr. Holl ging auf die Knie, um mit seiner Patientin auf Augenhöhe zu sein.

„Vielleicht besuchst du mich ja bald wieder“, sagte er und deutete auf den Plüschbären. „Und deinen Freund kannst du natürlich immer mitbringen. Wie heißt er denn?“

„Burlibaus“, erklärte das Kind ernst.

Dr. Holl schob sich wieder hoch und strich dem Kind noch einmal über die blonden Locken.

„Ich weiß auch nicht, woher sie den Namen hat“, erklärte Lilian. „Entweder hat sie ihn irgendwo gehört, oder sie hat ihn selbst erfunden. Burlibaus muss überallhin mitkommen, auch wenn wir nur etwas einkaufen. Einmal hat sie ihn im Laden vergessen. Das war eine Katastrophe. Aber zum Glück war er noch da, als wir nach ihm suchten.“

Dr. Holl brachte Frieda und ihre Mutter zum Aufzug.

„Wie gesagt, denken Sie über alles nach. Rufen Sie mich an, wenn Sie eine Entscheidung getroffen haben.“

***

Als sie nach Hause kamen, stand ein Kleintransporter vor dem Haus. Cousine Thea trug gerade mit ein paar jungen Männern ihre Sachen ins Haus.

Letzten Monat war vereinbart worden, dass Thea mit ihrem kleinen Jungen ebenfalls hier einzog. Nun wurde es zwar ein wenig eng, aber weder Lilians Mutter noch Lilian selbst hatten es übers Herz gebracht, die Nichte und Cousine abzuweisen. Irgendwie würde es schon gehen. Zwar verfügte das Haus über sechs kleine Zimmer, eine Dachkammer und eine Küche, aber nicht alle Räume waren gleich gut zu beheizen.

Lilians Mutter Elsa hatte die marode Immobilie von ihrer Tante geerbt. Ein paar Reparaturen hatte sie durchführen lassen, aber die ganz große Renovierung mit neuen Fenstern, einem neuen Dach und dem Einbau einer modernen Heizung würde mehr als dreißigtausend Euro verschlingen, wie der Baumeister Brandl in seinem Kostenvoranschlag vorgerechnet hatte.

Lilians Mutter besaß nur ein paar Ersparnisse, die dafür längst nicht reichten. Und ihre Bank, bei der sie einen größeren Kredit beantragen wollte, hatte sie abblitzen lassen. Die Immobilie war als Sicherung nicht ausreichend. Angeblich.

Was sollte Elsa da machen? Sie konnte ihren Bankberater ja nicht mit vorgehaltener Pistole zur Herausgabe des Geldes zwingen. Manchmal allerdings wünschte sie sich, sie könnte diesen Mut aufbringen. Es ging schließlich um ihre Familie, die wie alle anderen auch ein anständiges Leben verdient hatte.

Außerdem bezog nur Elsa Baumgart ein geregeltes Einkommen. Lilian arbeitete in den Abendstunden oft als Serviererin, war aber nicht fest angestellt. Von diesen beiden Verdiensten mussten sie leben, sich kleiden und das Haus mehr schlecht als recht instand halten. Wenn irgendwann wieder mal ein großer Sturm kam und Teile des Daches mit sich nahm, würde guter Rat ausgesprochen teuer sein.

Und jetzt kam auch noch Friedas Krankheit hinzu und die Angst, dass die Krankenkasse teure Therapien ablehnen könnte.

Lilian hatte keine Einwände gegen Theas Einzug ins Haus. Es war ihr sogar ganz recht. Der vierjährige Jonas und Frieda konnten miteinander spielen. Außerdem würde Thea sich abends, wenn Lilian arbeiten musste, um Frieda kümmern.

Das gab Lilian die Möglichkeit, ihren Chef darum zu bitten, sie häufiger abends einzusetzen. Zwar glaubte sie nicht, dass Mario Herzog darauf eingehen würde, aber sie musste es wenigstens versuchen.

Wenn sie an diesen Mann dachte, dem mehrere Hotels, Restaurants und Nachtclubs gehörten, befielen sie die unterschiedlichsten Empfindungen. Mario war ein toll aussehender Mann, keine Frage. Aber gleichzeitig hatte er eine herablassende Art an sich, die sie immer wieder ärgerte. Ja, manchmal fand sie ihn sogar ausgesprochen hochmütig, wenn er ihr großspurig erklärte, dass es jedem Menschen in diesem Land selbst überlassen blieb, ob er etwas aus seinem Leben machte oder nicht.

Der selbstgefällige Herr Herzog hatte gut reden. Die Hälfte der Etablissements war ihm durch Erbschaft zugefallen. Inzwischen unterhielt er auch eine Catering-Firma und hob immer wieder hervor, dass er mit seinem Sinn für Innovationen für viele Menschen Arbeitsplätze schaffe.

Was auch sicher stimmte. Dennoch, die Art und Weise, wie er sich als Chef verhielt, passte Lilian oft nicht. Wenn sich die Gelegenheit ergab, widersprach sie ihm, was ihm meist nur ein spöttisches Lächeln entlockte. Dann tat er so, als würde er ihre Anregung überdenken, und ließ sich trotzdem von seinen Vorschriften für das Personal nicht abbringen.

Andererseits empfand sie auch eine gewisse Faszination, die von ihrem Chef ausging. Was zur Folge hatte, dass sie sich in seiner Nähe ziemlich anstrengen musste, ihre ambivalenten Gefühle nicht offensichtlich werden zu lassen.

Manchmal gab Mario Herzog große Partys, die viele bekannte Gesichter aus der Münchner Schickeria besuchten. Einmal hatte er sogar Lilian dazu eingeladen. Natürlich war sie nicht hingegangen.

Was hätte sie auch anziehen sollen? Sie konnte es sich nicht leisten, so durchgestylt daherzukommen wie seine flotte Freundin Nadja, die angeblich ihr Geld als Model verdiente. Wenn sie allerdings da war, beobachtete sie argwöhnisch jeden Schritt ihres goldenen Hahns und achtete kompromisslos darauf, dass ihm keine andere zu nahekommen konnte. Sobald eine es versuchte, ging Nadja sofort dazwischen.

Nachdem Thea zwei Kisten ausgepackt hatte und Frieda mit Jonas im Kinderzimmer verschwunden war, tranken die beiden Cousinen Kaffee in der Küche.

„Dass ihr mich mit Jonas aufgenommen habt, ist ganz großartig. Wenn du wüsstest, wie dankbar ich euch bin.“ Thea drückte Lilians Hand. „Ich will meinen Beitrag leisten und euch ganz bestimmt nicht zur Last fallen. Meine staatliche Unterstützung ist nicht gerade gewaltig, aber ich übernehme alle Hausarbeiten. Und die Kinder betreue ich auch.“

Unerwartet brach Lilian in Tränen aus. Jetzt löste sich ein wenig die Spannung, die sie seit dem Gespräch mit Dr. Holl gefangen hielt.

„Was hast du denn, meine Liebe?“ Thea rückte näher und legte einen Arm um die Cousine.

„Frieda hat einen Tumor in der Thymusdrüse“, kam es stoßweise über Lilians Lippen. „Sie muss operiert werden. Ich hab solche Angst.“

Lilian weinte sich die ganze Angst von der Seele, in der ein heilloses Durcheinander herrschte.

„Was ist denn das für eine Krankheit?“, fragte Thea leise. „Wie kann der liebe Gott es nur zulassen, dass unschuldige Kinder erkranken.“

„Keine Ahnung, das musst du ihn schon selbst fragen“, raunzte Lilian. Allmählich beruhigte sie sich wieder, was auch nötig war. Auf keinen Fall wollte sie, dass Frieda etwas von ihrer Panik bemerkte. Sie griff nach einem Taschentuch, wischte sich über das Gesicht und putzte sich die Nase.

„So, Schluss mit der Heulerei. Jetzt wird nach vorn geschaut. Was anderes bleibt mir ja auch nicht übrig.“

„Ich stehe dir bei, wo ich nur kann.“

„Das ist lieb von dir, Thea. Ich bin froh, dass du da bist. Jetzt kann ich abends öfter arbeiten. Mach dir ums Geld keine Sorgen. Wir legen alle zusammen, dann kommen wir schon über die Runden. Hauptsache, die Kinder leiden keine Not. Es ist doch selbstverständlich, dass du hier wohnst. Mama ist schließlich deine Patentante.“

Lilian atmete noch einmal tief durch. Zwar sah sie jetzt nicht unbedingt klarer, aber dem schwarzen Loch, das sie aufsaugen wollte, hatte sie erfolgreich getrotzt.

„Die Mama möchte abends auch mal gern was mit ihren Freundinnen unternehmen. Das sagt sie zwar nicht, aber ich weiß es. Wenn du jetzt bei uns bist, kann sie das sicher öfter tun als bisher. Es ist für uns alle eine gute Lösung. Hauptsache, du brauchst dich nicht mehr über deinen unverschämten Vermieter zu ärgern.“

„Da sagst du was. Nach der letzten Mieterhöhung hätte ich ihn am liebsten umgebracht. Ständig hat er mir irgendwelche Papiere vorgelegt, die angeblich rechtfertigten, dass er mehr Kohle verlangen darf. Dieser Mistkerl.“

„Reg dich nicht auf, Schätzchen. Es ist vorbei.“ Lilian schaute auf die Uhr. „Ich muss in einer Stunde los. Machst du das Essen für die Kinder?“

„Du kannst dich voll auf mich verlassen. Wie eine Glucke werde ich unsere Kleinen beschützen. Und wenn ich sie zu Bett bringe, lese ich ihnen noch vor.“

Frieda war sofort einverstanden gewesen, dass der kleine Junge vorerst bei ihr einquartiert wurde. Sein Bett passte noch gut in das Zimmer hinein.

Bei Jonas mussten sie abwarten, wie er damit klarkam, denn bisher hatte er immer bei seiner Mama geschlafen. Elsa aber fand, er müsse nun endlich von Mamas Bett entwöhnt werden.

„Dazu wird es allmählich Zeit, sonst hängt er noch ewig an deinem Rockzipfel“, hatte sie erklärt.

„Gut, dann mache ich mich mal startklar“, sagte Lilian.

„Isst du nichts?“

„Nein, ich esse im Restaurant, wenn die meisten Gäste weg sind.“

Die schlanke Frau verschwand im Bad und betrachtete prüfend ihr Gesicht. Die Augenregion war vom Weinen noch etwas gerötet. Das musste sie heute ein bisschen abdecken.

Das lange blonde Haar schlang sie ein paar Mal um ihre rechte Hand und fixierte es mit zwei Spangen am Hinterkopf. Dann schlüpfte sie in eine frische weiße Bluse und in einen schwarzen, knielangen Rock. Mario Herzog wollte es so. Seiner Meinung nach waren schwarz und weiß die besten Farben für diejenigen seiner Mitarbeiter, die mit den Gästen in Kontakt kamen.

Einmal war sie in einer violetten Bluse erschienen, da hatte er sie kurzerhand wieder nach Hause geschickt. Mario Herzog. Ein dominanter Mann. Sie seufzte. Auch wenn es nicht leicht war, mit ihm auszukommen, musste sie ihn nehmen, wie er war. Ihn zu erzürnen, das konnte sie sich in ihrer Situation gar nicht leisten.

***

Mario Herzog steckte im Stau, was ihn maßlos ärgerte. Erst kürzlich hatte er gelesen, wie viel Zeit für jeden Einzelnen im Jahr verloren ging, weil er in einer Blechkarawane feststeckte. Schade, dass er kein James-Bond-Auto besaß. Die Dinger konnten sogar fliegen, wenn es erforderlich war.

Soeben hatte er seine Freundin Nadja zum Flieger gebracht. Eigentlich hatte er mit ihr zwei Wochen auf Mallorca in seiner Finca verbringen wollen, aber er konnte jetzt nicht weg. Der geplante Kauf eines neuen Hotels im Süden von München war noch nicht in trockenen Tüchern und seine Abwesenheit aus München daher ein viel zu großes Risiko.

Vielleicht würde er nachkommen, hatte er beim Abschied vage angedeutet und noch hinzugefügt, dass sie sich auch ohne ihn sicher gut amüsieren würde. „Du schreckliches Scheusal“, waren ihre Abschiedsworte gewesen, bevor sie durch die Sicherheitsschleuse entschwand. Süß, die Kleine.

Als er endlich das Restaurant El Mundo erreichte, war die Küchen-Crew schon bei der Arbeit. Er sagte schnell guten Tag, fragte, ob alles in Ordnung sei, und verschwand dann in seinem Büro, wo er ein paar Telefonate erledigte.

Es klopfte an der Tür. Die junge Serviererin steckte den Kopf zur Tür herein. Mit einem kurzen „Entschuldigung“ wollte sie sich gleich wieder zurückziehen, als sie sah, dass er beschäftigt war.

Während er weitersprach, winkte er ihr, hereinzukommen. Ein paar Sekunden später beendete er das Gespräch und legte das Handy auf den Tisch zurück.

„Was gibt’s denn, Lilian?“

„Ich kann später wiederkommen …“

„Nun rede schon. Was ist los?“

Sie kam ein paar Schritte näher. Unverhohlen genussvoll musterte er ihre schlanke Gestalt. Auch wenn ihre Füße jetzt in bequemen schwarzen Sandalen steckten, war sie immer noch relativ groß. Er überlegte, ob er ihr deutlicher zeigen sollte, dass er sie mochte.

„Ich wollte dir sagen, dass ich jetzt praktisch jeden Tag arbeiten könnte … wenn du mir die Möglichkeit dazu gibst.“

„Ach so.“ Er stand auf und ging auf sie zu, doch sie wich nicht zurück, sondern hielt seinem Blick ruhig stand. „Hast du nicht ein Kind, das du versorgen musst?“

Mario legte Wert auf einen familiären Umgangston in seinen Betrieben. Darum duzte er seine Mitarbeiter und erlaubte es ihnen ebenfalls. Allerdings hieß das nicht, dass man sich deswegen mehr Freiheiten herausnehmen durfte.

„Das ist richtig, aber ich muss das nicht allein tun. Es gibt noch andere in der Familie, die sich um meine Tochter kümmern.“

„Hm.“ Er betrachtete sie eingehend. Dann ging er einmal um sie herum.

„Was soll das?“ Sie schaute ihn an. „Ich habe mich nicht zu einer Casting-Show angemeldet, sondern will nur wissen, ob …“

„Schon gut, schon gut.“ Mit einer schnellen Handbewegung brachte er sie zum Schweigen. „Reg dich nicht auf. Ich habe deinen Vorschlag zur Kenntnis genommen, aber im Augenblick kann ich keine zusätzlichen Stunden vergeben.“

Er stand so dicht vor ihr, dass sie den Duft seines Rasierwassers wahrnahm. Der durchdringende Blick seiner dunklen Augen verunsicherte sie, was sie wiederum ärgerte. Warum schaute er sie so unverwandt an?

„Was kannst du denn sonst noch, außer Gäste bedienen? Ich meine, hast du eine Ausbildung gemacht? Und wenn ja, welche?“

„Ich bin Bürokauffrau, kann aber wegen Frieda keinen Vollzeitjob annehmen. Abends habe ich mehr Zeit, weil sie dann betreut wird.“

„Frieda heißt die Kleine also.“ Er schien zu überlegen. „Tut mir leid, Lilian. So bald sich etwas ergibt, komme ich auf dich zu. Und jetzt an die Arbeit.“

Der Abend begann relativ ruhig. Nicht alle Tische waren besetzt, als gegen acht Uhr eine kleine Gruppe das Lokal betrat. Zu Lilians Überraschung war es Chefarzt Dr. Holl, der sich freute, noch vier freie Plätze vorzufinden. Bei ihm waren noch ein Herr und zwei Damen, von denen eine bestimmt seine Frau war.

Dass er sich darüber wunderte, sie hier zu sehen, ließ er sich nicht anmerken.

„Von Ihnen lasse ich mich gern bedienen, Frau Baumgart. Was haben Sie uns als Spezialität des Tages anzubieten?“

Sie legte allen vier Personen am Tisch die Speisekarten vor und referierte, was Chefkoch Pedro vor Kurzem verkündet hatte.

„Heute empfiehlt der Küchenchef seine hausgemachten Nudeln mit Jakobsmuscheln und Zuckerschoten. Oder ein Lammcurry mit gelben Linsen. Ganz frisch ist das Wolfsbarschfilet. Dazu wird mediterranes Gemüse gereicht.“

Mit diesen Vorschlägen ließ sie die Gäste allein, damit sie in Ruhe auswählen konnten. Allmählich füllte sich das Restaurant. Es wurde hektischer, aber Lilian verlor nicht den Überblick.

Seit einem halben Jahr arbeitete sie bereits bei Mario. Anfangs war sie unsicher gewesen, ob ihr das Servieren überhaupt lag. So etwas hatte sie noch nie gemacht, aber zum Überlegen blieb keine Zeit. Sie brauchte den Job, sprang ins kalte Wasser und lernte schnell, worauf es bei dieser Tätigkeit ankam.

Dr. Holl und seine Begleiter machten jedenfalls einen äußerst zufriedenen Eindruck, als er die Rechnung verlangte.

„Es war sehr gut. Wir werden wiederkommen.“ Dann beglückte er sie mit einem Trinkgeld, das sie in dieser Höhe nicht jeden Tag bekam. „Von uns allen“, sagte der Arzt. „Auf Wiedersehen, Frau Baumgart. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sehen wir uns nächste Woche.“

Lilian nickte. „Danke für Ihren Besuch. Es freut mich, dass Sie zufrieden waren.“

Gegen zweiundzwanzig Uhr leerte sich das Restaurant.

„Wer waren die Leute, um die du dich heute so besonders aufmerksam gekümmert hast?“, wollte Mario wissen.

„Dir entgeht wohl nichts“, gab sie etwas schnippisch zurück.

„Sei doch nicht gleich eingeschnappt, ich hab ja nur ganz nett gefragt. Und ich interessiere mich nun mal für meine Kundschaft.“

„Einer der Herren war der Chefarzt der Berling-Klinik. Kennst du die?“

„Ah, Leute der gehobenen Gesellschaft also. Das freut mich. Hoffentlich erzählen sie in ihren Kreisen, dass sie bei uns zufrieden waren. Damit uns die Gäste nicht ausgehen. So, jetzt essen wir noch einen Happen.“ Er klatschte in die Hände, um die anderen Mitarbeiter an den Tisch zu rufen.

Pedro servierte dem Personal seine Nudeln.

Lilian machte es inzwischen nichts mehr aus, spät abends zu essen. Und der spanische Küchenchef erklärte immer wieder, dass diese späten Essenszeiten bei seinen Landsleuten durchaus üblich waren.

Bevor sie nach Hause ging, machte Lilian noch die Abrechnung.

„Wiedersehen“, rief sie durch die offen stehende Tür in Marios Büro. „Bis Donnerstag.“

Es kam keine Antwort. Mario telefonierte mal wieder. Es hörte sich an, als spräche er mit seiner schönen Freundin, die immer so aussah, als wäre sie soeben dem Titelbild einer Modezeitschrift entstiegen.

Lilian verdrehte die Augen und verließ das Lokal. Draußen schlug ihr ein eisiger Wind entgegen. Sie fröstelte. Also auf zur S-Bahn. Noch war es zu kalt, um mit dem Rad zu fahren. Energisch schlang sie den dicken Wollschal doppelt um den Hals. Eine Erkältung konnte sie sich jetzt wegen Frieda nicht leisten. Ebenso wenig den damit verbundenen Verdienstausfall. Sie war ja nicht fest angestellt, sondern arbeitete auf Stundenbasis.

Plötzlich stand Mario neben ihr.

„Ich kann dich mitnehmen“, sagte er. „Mein Wagen steht dort drüben.“

„Danke, das ist nicht nötig.“

„Nun komm schon“, sagte er, schob die Hand unter ihren Arm und zog sie einfach mit sich fort.

Lilian wollte protestieren, dann aber siegte die Einsicht, dass sie auf diese Weise viel schneller ins Bett kam. Und vor allem trocken, denn soeben mischten sich Regentropfen in den Wind.

Da er sie schon einmal heimgebracht hatte, kannte er den Weg. Vor dem Haus blieb er stehen. Zum Glück sah man in der Dunkelheit nichts von der schäbigen Fassade des Gebäudes.

„Danke, Mario, sehr nett von dir. Dann bis übermorgen.“

„Schlaf gut, meine Schöne“, sagte er, griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss darauf.

Völlig benommen stieg sie aus. Was war das denn gewesen?

***

Dass Elsa Baumgart einen Termin bei Dr. Holl hatte, behielt sie für sich. Mit einem Taxi ließ sie sich in die Berling-Klinik bringen. Eine Fahrt mit der Bahn kam an diesem Tag nicht in Frage. Lilian und Thea wussten von nichts. Sie hatte es einfach nicht fertiggebracht, Tochter und Nichte von der Verhärtung in der Brust zu erzählen, die damals nicht operiert worden war. Kam der Krebs jetzt nach zehn Jahren zurück?

Sie wollte es nicht glauben und versuchte gleichzeitig, sich auch gegen den schlimmsten Befund zu wappnen. Mit ihren siebenundfünfzig Jahren war sie doch hoffentlich noch nicht am Ende ihres Lebens angelangt!

Zum Glück musste sie in der Berling-Klinik nicht lange warten, bis sie zur Mammografie gerufen wurde.

Als der Befund vorlag, rief man sie in das ambulante Sprechzimmer des Chefarztes. Täuschte sie sich, oder erinnerte er sich nicht mehr an sie?

„Bitte nehmen Sie Platz, Frau Baumgart. Die Röntgenbilder ergeben keinen klaren Befund. Ich mache jetzt eine Tastuntersuchung, danach einen Ultraschall. Machen Sie bitte den Oberkörper frei, und legen Sie sich auf die Liege.“

Dr. Holl studierte die Krankengeschichte der Patientin.

„Sie waren deswegen schon mal bei uns und wurden operiert“, stellte er mit freundlicher Miene fest.

Elsa streckte sich auf der Liege aus. Allein die Anwesenheit des Arztes gab ihr neuen Mut. Während er das kühle Gel auf der Brust verstrich, klärte sie ihn darüber auf, dass sie die Großmutter von Frieda Baumgart war, der kleinen Patientin mit dem Tumor in der Thymusdrüse.

„Sagen Sie, Dr. Holl, kann meine Enkelin ihre Krankheit von mir haben? Gibt es da Gene bei mir, die ich über meine Tochter an sie weitergegeben haben könnte?“

„Sie meinen, weil Sie Brustkrebs hatten? Nein, das ist völlig ausgeschlossen, Frau Baumgart. Bitte denken Sie nicht so etwas.“

Aufmerksam betrachtete Stefan Holl den Bildschirm, während er mit dem Schallkopf über die Brust der Patientin fuhr.

Elsa ließ die Untersuchung mit geschlossenen Augen über sich ergehen. Bitte, liebes Schicksal, stürz mich nicht schon wieder ins Chaos. Sie erinnerte sich noch genau an die Gefühle von damals, als ihr Dr. Holl den Krebsbefund eröffnen musste. Damals hatte sie geglaubt, die Welt ginge unter.

„Was sehen Sie?“, fragte sie mit dünner Stimme.

„Diese Stelle ist zwar auffällig, aber über ihre Beschaffenheit kann ich nichts sagen. Ich fürchte, Sie kommen um eine Biopsie nicht herum. Sprechen Sie gleich in der Verwaltung vor, damit Sie noch in dieser Woche einen Termin bekommen, Frau Baumgart. Ich halte diesen kleinen Knoten für gutartig, aber wir brauchen trotzdem Gewissheit, damit Sie auf der sicheren Seite sind.“

„Muss der Tumor auch dann entfernt werden, wenn er gutartig ist?“

„Nicht unbedingt. Oft reicht es bei gutartigen Tumoren aus, sie regelmäßig zu kontrollieren. Die wenigsten werden bösartig. Viele verschwinden sogar von selbst wieder. Das Fibroadenom entsteht durch eine Wucherung des Drüsengewebes. Wenn es schmerzhaft wird, rate ich zu einer Entfernung. Beim Lipom hingegen handelt es sich meist um kleine, weiche Geschwulste. Ganz generell kann man sagen, dass gutartige Tumore häufiger sind als bösartige. Bitte verfallen Sie jetzt nicht in Panik, Frau Baumgart. Wir sehen uns dann zur Biopsie wieder.“

Elsa wischte sich das Gel von der Brust und schlüpfte in ihre Kleider. Auch wenn Dr. Holl bemüht war, ihre Befürchtungen zu zerstreuen, blieb das ungute Gefühl.

„Bei der Gelegenheit würde ich gerne wissen, wie es mit meiner Enkelin weitergeht.“ Sie gingen zusammen hinaus. Draußen auf dem Gang zog Dr. Holl sie ans Fenster. Von dort aus hatte man einen weiten Blick über den parkähnlichen Klinikgarten. Auch wenn man noch nichts davon sah, so stand der Frühling schon in den Startlöchern.

Dr. Holl erklärte die seltene Krankheit in ihren Grundzügen und sagte, dass er eine rasche Operation für die beste Therapie hielt.

„Ich bin sonst nicht so schnell mit dem Skalpell dabei, aber Frieda ist noch ein Kind. Und hier gilt: Je jünger die Patientin bei der Operation ist, umso größer sind die Chancen der Heilung.“

Elsa registrierte jedes Wort, während sie ihren Arzt beim Sprechen betrachtete.

„Wann wird es so weit sein?“

„Ich werde mich mit Ihrer Tochter absprechen. Wann hat sie am besten Zeit?“

„Wenn es um Frieda geht, immer. Lilian ist den ganzen Tag zu Hause. Erst abends, wenn ich da bin, geht sie ein paar Stunden arbeiten.“

„Im El Mundo, ich weiß. Sie ist übrigens eine sehr aufmerksame Serviererin. Frieda geht noch nicht zur Schule, wenn ich mich recht erinnere.“

„Erst im September.“

„Bis dahin hat sie den Eingriff längst hinter sich. Falls der Tumor bösartig ist, muss er aus dem Körper raus, damit er nicht weiterwachsen kann. Es ist gut möglich, dass damit dann auch die Myasthenie komplett ausgeheilt ist.“

„Das wäre das schönste Geschenk für mich“, sagte die besorgte Großmutter. Wegen ihrer feuchten Augen sah sie die Außenwelt für ein paar Sekunden nur noch verschwommen.

Dr. Holl hielt die Hand der Patientin beim Abschied etwas länger als gewöhnlich fest. Elsas Vertrauen zu diesem Arzt wuchs.

„Nach meiner Erfahrung ist ein solcher Eingriff umso erfolgreicher, je eher er durchgeführt wird. Ganz besonders auch dann, wenn es sich um so junge Patienten handelt.“

„Sie werden das Richtige tun, Dr. Holl. Dessen bin ich mir ganz sicher. Bei Ihnen ist Frieda in den besten Händen. Und ich übrigens auch.“

Auch wenn er schon auf eine lange Berufserfahrung zurückblickte, erfüllte ihn immer noch jedes Lob und jeder Dank mit tiefer Befriedigung.

„Wir sehen uns schon bald wieder, Frau Baumgart. Bis dahin alles Gute.“

Als Stefan Holl damals die Klinikleitung von seinem Schwiegervater übernahm, hatte er sich oft gefragt, ob er dieser großen Verantwortung überhaupt gewachsen war. Sehr schnell verschwanden seine Zweifel. Heute bewältigte er jede neue Herausforderung mit der Sicherheit des erfahrenen Arztes. Auch wenn viele Fälle standardmäßig behandelt wurden, sollten seine Patienten nie das Gefühl haben, in der Berling-Klinik herrsche Routine.

***

„Du hast Besuch“, sagte Thea mit verschwörerischer Miene, als ihre Cousine vom Einkaufen nach Hause kam.

„Besuch? Ich?“ Lilian schüttelte verwundert den Kopf. Wer mochte das sein? Sie erwartete niemanden.

„Ein hübscher Kerl. Und er behauptet, Friedas Vater zu sein.“

Vor lauter Schreck fielen ihr fast die Einkaufstüten aus der Hand. Sie wurde blass, dann rot.

„Bist du wahnsinnig, wie kannst du ihn hereinlassen? Wo ist Frieda?“

Thea begann zu zittern. „Aber, Lilian, ich wusste doch nicht … Frieda ist mit Jonas im Kinderzimmer … er sitzt auf dem Sofa …“

Lilian atmete tief ein. Ihre Energie kehrte zurück, und sie erholte sich schnell von der kurzen Schrecksekunde.

„Und er raucht!“, stellte sie fest. „In unserem nikotinfreien Haus!“

Thea merkte es jetzt auch. Sie wollte etwas sagen, doch Lilian stürmte schon davon. Sie stieß die Tür auf. Eine Begrüßung schenkte sie sich.

„Was willst du hier?“, fragte sie betont ruhig. Er sollte bloß nicht merken, wie aufgebracht sie war. „Mach sofort die Zigarette aus.“

„Hallo erst mal!“

Lilian holte eine Untertasse aus dem Schrank und setzte sie geräuschvoll vor ihn auf den Tisch.

„Ausdrücken! Sofort!“, verlangte sie.

„Du bist heute aber schlecht drauf!“, maulte er und drückte die Zigarette aus. „Deine Mitbewohnerin war viel netter zu mir.“

Lilian verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ihn eine Weile schweigend, bevor sie ihm gegenüber im Sessel Platz nahm.

„Philipp, ich wiederhole meine Frage: Was willst du?“

„Herrgott noch mal, sei doch nicht so abweisend. Es ging mir schlecht in der letzten Zeit.“

„Sicher hast du das Geld für den mehr als überfälligen Unterhalt dabei“, sagte sie mit beißendem Spott.

Der blasse junge Mann mit den schwarzen Locken stöhnte auf und barg für einen kurzen Moment sein Gesicht in den Händen.

„Wenn ich Geld hätte, würde ich es dir doch sofort geben. Das kannst du mir glauben. Aber leider komme ich kaum selbst über die Runden. Darum wollte ich dich fragen, ob du vielleicht …“

Lilians Lachen klang eine Spur zu schrill. Schwungvoll warf sie das Haar nach hinten, das sie offen trug.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder? Du kommst hierher und schnorrst mich an? Tut mir leid, daraus wird nichts. Ich verdiene nicht viel. Und ohne Mutti könnte ich mit meiner Tochter kaum überleben.“

„Frieda ist auch meine Tochter“, sagte Philipp.

„Warum hast du dich dann nie um sie gekümmert? Weder zum Geburtstag noch zu Weihnachten kam irgendwas von dir, kein Anruf, keine Karte, einfach nichts.“

„Du kennst doch meine Probleme. Ich hab mich bewusst von euch ferngehalten und wollte euch meine Anwesenheit nicht zumuten. Aber jetzt ist Schluss mit Drogen. Du kannst meinen Bewährungshelfer fragen. Johann sagt, ich wäre auf einem guten Weg. Und er hat mir auch geraten, die familiären Dinge zu regeln.“

„Welche familiären Dinge?“ Lilian setzte sich kerzengerade hin. „Wir sind keine Familie. Du bist Friedas biologischer Vater, sozusagen ein Samenspender. Ihr richtiger Vater bist du nicht. Sie kennt dich ja nicht einmal.“

„Weil du ihr nie von mir erzählt hast“, sagte er und verzog gekränkt das Gesicht.

„Stimmt. Was hätte ich ihr auch sagen sollen? Dein Papi ist ein Dealer. Ein paar Einbrüche hat er auch schon auf dem Kerbholz. Im Augenblick sitzt er wieder mal im Gefängnis. Darum kann er dich nicht besuchen.“ Lilian schnaufte. „Glaubst du wirklich, so was würde ein kleines Mädchen verstehen?“

„Hast du ihr gesagt, ich wäre tot?“

„Nein. Sie fragt nicht nach dir.“

Philipp Reichart verlegte sich jetzt aufs Flehen.

„Bitte, Lilian, du musst mir helfen. Lass mich hier übernachten. Ich kann bald in eine WG einziehen, aber noch ist es nicht so weit.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage.“

„Eine Nacht oder zwei. Wenn’s hochkommt drei. Willst du, dass ich bei diesen Temperaturen auf der Straße schlafe?“

„Es gibt Obdachlosenunterkünfte …“

„Die sind immer voll.“

Plötzlich stand Frieda im Raum. Sie wollte ihrer Mama gerade das Bild zeigen, das sie gemalt hatte, und schaute nun neugierig auf den fremden Mann.

Lilians Ärger auf Philipp wuchs. Warum brachte er sie in eine solche Situation?

„Hallo, Frieda!“, sagte Philipp so freundlich, dass Frieda verlegen lächelte.

Wenn er jetzt noch sagt, ich bin dein Papa, werfe ich ihn auf der Stelle hinaus, dachte Lilian. Doch er schien nicht vorzuhaben, das Kind in Verwirrung zu stürzen. Immerhin.

„Das Bild ist wunderschön, Liebes.“ Lilian betrachtete die bunte Zeichnung. „Wir sprechen später darüber, ich komme gleich. Geh inzwischen zu Thea und Jonas.“

Sie legte das jüngste Werk ihrer Tochter auf den Tisch. Frieda trollte sich, und Lilian drückte die Tür hinter ihr zu.

„Ich will alles wiedergutmachen“, fuhr Philipp fort. „Das heißt nicht, dass ich dir in irgendwas reinreden …“

„Das Sorgerecht liegt allein bei mir“, informierte sie ihn kühl.

„Das weiß ich. Mir ist schon klar, dass ich noch nicht einmal die Chance hätte, es wenigstens mit dir teilen zu dürfen. Was ich gern tun würde, das kannst du mir ruhig glauben. Ich will wirklich mein Leben ändern und ein anständiger Mensch werden. Und clean bin ich auch.“

„Na super. Die Einsicht kommt zwar etwas spät, aber besser spät als nie. Wie alt bist du jetzt?“

„Weißt du nicht mehr, wann mein Geburtstag ist?“ Philipp wirkte richtig bekümmert.

„Doch, natürlich. Den kann man nicht vergessen. Es ist der erste April. Mit anderen Worten, du bist so was wie ein Aprilscherz.“

Lilian lächelte so breit, dass ihre weißen Zähne sichtbar wurden. Endlich lockerte sich die angespannte Atmosphäre ein wenig.

„Wenn du wüsstest, wie oft ich diese Bemerkung in meinem Leben schon gehört habe.“ Jetzt musste auch Philipp lachen.

„Du müsstest demnächst dreißig werden.“

„Ganz richtig, du weißt es also noch.“

Die gewisse Zufriedenheit, die in seiner Miene lag, entging Lilian nicht. Sie musste weiterhin auf der Hut sein, durfte sich von seinem sichtbar zur Schau getragenen Bedauern nicht täuschen lassen. Schon einmal war sie darauf reingefallen, um dann nur feststellen zu müssen, dass er sich trotz seiner Beteuerungen nicht geändert hatte.

„Willst du wirklich, dass der Vater deiner Tochter unter einer Isarbrücke schläft?“

„Ich lasse mich nicht erpressen. Hau ab. Sofort!“

Sie schaute ihm in die Augen. Von der ehemaligen Verliebtheit war nichts, aber auch gar nichts mehr zu spüren.

Gut, er war Friedas Vater. Auch er hatte an diesem wunderbaren Kind mitgewirkt, ob ihr das nun gefiel oder nicht.

Philipp nutzte die Pause, um ihr noch einmal eindringlich zu erklären, welche Pläne er für die Zukunft hatte. Sogar ein Job als Auslieferungsfahrer stand in Aussicht.

„Ich werde dir von meinem ersten Lohn alles abgeben, was ich entbehren kann. Das schwöre ich dir.“

Lilian stand auf und ging ein paar Schritte auf und ab. Sie hatte nicht die Absicht, auf seine Versprechungen einzugehen oder ihn gar darauf festzulegen. Schließlich kannte sie ihn.

„Drei Nächte in der Dachkammer, keine Stunde länger. Für dein Essen musst du selbst sorgen. Und waschen kannst du dich nur am Becken. Ich will dich in unserem Bad nicht sehen. Einen Schlüssel gebe ich dir nicht, darum sei abends da, bevor wir schlafen gehen. Kommst du später, bleibt die Tür verschlossen.“

Philipp betrachtete sie versonnen. Sein Gesicht hellte sich auf.

„Wie ich höre, hast du an deinem Kasernenhofton noch gearbeitet. Chapeau! Okay, ich hole meine Sachen und bin gegen acht Uhr da.“

„Und noch was, von den Kindern hältst du dich fern“, sagte sie, als sie ihn zur Tür brachte. Drei Sekunden lang überlegte sie, ob sie von Friedas Krankheit sprechen sollte, dann entschied sie sich dagegen.

„Ganz wie du willst“, erwiderte er. Für die Aussicht auf ein Schlaflager im Warmen hätte er auch seine Seele verkauft – falls jemand sie denn haben wollte.

***

So ganz teilte Elsa die harte Meinung ihrer Tochter nicht. Zweifellos taugte Philipp nicht viel, aber ihrer Ansicht nach war er kein durch und durch schlechter Mensch, sondern hatte halt von frühauf einfach viel mehr Pech im Leben gehabt als andere Kinder seines Alters.

Philipps traurige Geschichte war der Klassiker: Die Mutter schwach und labil, der Vater ein Säufer. Philipp sagte selbst, dass die Geburt seiner Tochter eine großartige Erfahrung für ihn gewesen sei. Es hätte alles gut werden können, aber dann betätigte er sich des schnellen Geldes wegen wieder als Dealer – und wurde prompt geschnappt. Die Drogenfahnder hatten ihm eine Falle gestellt und ihn auf frischer Tat ertappt. Da er Wiederholungstäter war, ließ der Richter keine Gnade mehr walten. Er musste in den Knast – wenige Wochen nach Friedas Geburt.

Lilian trennte sich sofort von ihm und besuchte ihn kein einziges Mal. Unter das Kapitel Philipp zog sie einen dicken Schlussstrich, der schon eher ein Balken war. So überwand sie ihre Enttäuschung und organisierte ihr Leben neu – ohne ihn.

Elsa bewunderte ihre energische Tochter und war sich bewusst, dass Lilian diese Eigenschaft nicht von ihr, sondern von Lilians viel zu früh verstorbenem Vater geerbt hatte.

Natürlich akzeptierte sie Lilians Entscheidung, aber es tat ihr leid, dass Frieda ohne Vater aufwachsen musste. Freilich, ein krimineller Vater nützte einem Kind auch nicht viel, besonders dann nicht, wenn er die meiste Zeit hinter Gittern verbringen musste. Bei Drogensüchtigen gab es wenig Aussicht auf Besserung.

Über all das dachte Elsa nach, während sie mit nacktem Oberkörper unter einem dünnen Leinentuch in einem Behandlungsraum der Berling-Klinik lag. Eine nette Pflegerin hatte sich als Schwester Marion vorgestellt und sie um ein wenig Geduld gebeten.

„Dr. Holl wird gleich bei Ihnen sein.“

Elsa verspürte ein gewisses Mitgefühl für Friedas Vater, der mit seinen bald dreißig Jahren in eine mehr als ungewisse Zukunft schaute. Andererseits musste jeder Mensch dieses Alters nun mal die Verantwortung für sich tragen. Jetzt überfallartig bei ihnen aufzutauchen, um Geld zu betteln und bei ihnen gratis wohnen zu wollen, das war jedenfalls sicher nicht der richtige Weg.

Die Tür ging auf. Elsa hob ein wenig den Kopf und ließ ihn erleichtert zurücksinken. Allein Dr. Holls Anblick beruhigte sie schon ein wenig.

„Guten Tag, Frau Baumgart, entschuldigen Sie bitte die Verspätung“, sagte Stefan Holl, während er schnellen Schrittes näher kam. „Wir hatten einen Herzstillstand bei einem Patienten, konnten ihn aber zum Glück wiederbeleben. Aber jetzt zu Ihnen. Darf ich?“

Er zog das Leinentuch weg und ließ sich viel Zeit damit, die betroffene Brust mit den Röntgen- und Ultraschallbefunden zu vergleichen. Die gespeicherten Aufnahmen erschienen auf dem Bildschirm. Mit einem blauen Filzstift malte er einen kleinen Kreis auf die Haut im rechten Quadranten oberhalb der Brustwarze.

„Die Verhärtung liegt ziemlich dicht unter der Haut. Mit einer Stanze entnehme ich eine Gewebeprobe. Vorher aber betäube ich die Stelle.“

Schwester Marion betrat ebenfalls den Raum. Sie assistierte dem Chefarzt bei diesem kleinen Eingriff. Die Spritzen und die Stanze lagen schon auf einem kleinen Tablett bereit.

„Jetzt kommt ein Nadelstich“, sagte Dr. Holl. „Und jetzt noch einer.“

Anschließend wartete er ein paar Minuten, bis die Lokalanästhesie wirkte.

„Spüren Sie noch etwas?“, fragte er dann und fuhr mit den Fingerspitzen über die Stelle.

„Nein, überhaupt nichts.“ Da Elsa in ihrer Lage nicht den Kopf schütteln konnte, bewegte sie ihn auf der Unterlage leicht hin und her. Sie hoffte, rechtzeitig wieder zu Hause zu sein, bevor Lilian ins Restaurant fuhr.

Ihrer Tochter gegenüber hatte sie nicht über ihren Termin in der Klinik gesprochen, sondern nur verlauten lassen, dass sie heute ein paar Einkäufe zu erledigen gedenke. Lilian hatte zurzeit genug um die Ohren, da wollte Elsa vorerst nicht über ihre Entdeckung in der Brust sprechen.

Mit geschlossenen Augen lag sie da. Dr. Holl gab Schwester Marion ein paar Anweisungen, die wohl bedeuteten, dass die Gewebeprobe schon entnommen war. Gemerkt hatte sie davon nichts.

„Alles erledigt, Frau Baumgart. Ich vernähe noch die kleine Wunde und klebe ein Pflaster darüber.“

Schwester Marion half der Patientin, sich aufzurichten.

„Wann liegt das Ergebnis vor?“, wollte Elsa wissen.

„In drei bis vier Tagen“, erwiderte Dr. Holl. „Ich rufe Sie an, sobald ich den Befund habe. Und bitte, machen Sie sich nicht verrückt.“

„Ich werde es versuchen“, versprach sie und zwang sich zu einem Lächeln.

Und tatsächlich fühlte sie sich auf dem Heimweg schon ein wenig besser. Dazu hatte sicher Dr. Holls ausgeglichene und ruhige Art beigetragen.

***

„Grüß dich, ich hätte einen zusätzlichen Job für dich“, wurde Lilian an diesem Abend von ihrem Chef empfangen. „Traust du dir zu, vertretungsweise die Buchhaltung für das Restaurant zu übernehmen?“

Lilian schaute ihn überrascht an. Mit einem solchen Angebot hatte sie nach der letzten Unterredung mit ihm nicht gerechnet.

„Klar kann ich das, aber wie gesagt, erst abends.“

„Wann du das machst, ist mir egal. Bis jetzt hat das Frau Fuchs erledigt, aber sie ist krank, und wie es aussieht, wird sie auch so schnell nicht zurückkommen. Inzwischen ist auch einiges liegen geblieben. Schau dir die Unterlagen an und sag mir dann, wie viel Stunden pro Woche du brauchst, um das alles wieder auf die Reihe zu kriegen.“

„Den Job übernehme ich gern. Morgen kann ich anfangen.“

„Dann machen wir es im Wechsel, einen Abend bedienst du im Restaurant, den nächsten kümmerst du dich um die Zahlen und so weiter. Einverstanden? Und was die Bezahlung betrifft, du wirst zufrieden sein, versprochen.“

„Das ist wirklich großzügig von dir, Mario, du wirst es nicht bereuen …“

Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischte er ihre Worte zur Seite. Es schien ihm geradezu peinlich zu sein, dass sie ihn für einen netten Zeitgenossen hielt.

„Das hat überhaupt nichts mit Menschenfreundlichkeit zu tun, Lilian. Ich befinde mich buchhaltungsmäßig in einer Notlage. Du kannst mir da raushelfen, solange Frau Fuchs krank ist. Und gute Leistung pflege ich nun mal gut zu bezahlen. Aber jetzt an die Arbeit. Das Lokal ist schon halb voll. Christian schafft das jetzt nicht mehr allein.“

Lilian verschwand rasch im Waschraum, um ihr Aussehen zu kontrollieren. Die dünne Haarsträhne, die sich aus der hochgesteckten Frisur gelöst hatte, steckte sie wieder fest. Bluse und Rock saßen perfekt.

Keine Schminke bei der Arbeit, verlangte Mario, und schon gar keine lackierten Fingernägel. Selbstverständlich nicht, Chef, dachte sie. Aber an der Strahlkraft ihrer tiefblauen Augen konnte sie nun mal nichts ändern. Sie wusch sich die Hände und ging zu ihrem Kollegen in den Gastraum.

Christian war so etwas wie der Oberkellner. Er teilte ihr die Tische zu, die sie heute zu bedienen hatte. Insgesamt wurde es ein eher ruhiger Abend, denn der kalte Nieselregen hielt wohl viele Leute davon ab, das Haus zu verlassen. Schon um zehn Uhr verließ der letzte Gast das Lokal.

Lilian aß heute nur ein belegtes Brot, das ihr Küchenchef Pedro allerdings mit einem kunstvoll geschnittenen Radieschen verzierte. Als sie gehen wollte, rief Mario sie noch mal zu sich.

„Ich habe einen Vertrag aufgesetzt“, sagte er und schob ihr ein Blatt hin. „Es fehlt nur noch deine Unterschrift.“

Lilian nahm unaufgefordert Platz und las den Vertrag durch, in dem festgelegt wurde, dass sie sich zehn Stunden pro Woche um die Buchhaltung des Restaurants kümmerte. Der Vertrag galt zunächst für sechs Wochen.

„Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Mario. Und ich werde mir alle Mühe geben, dich nicht zu enttäuschen.“

„Gut, dann sind wir uns also einig. Darauf trinken wir jetzt ein Gläschen Champagner.“

„Aber ich …“

„Nichts da, ich bestehe darauf.“

Zu ihrem Erstaunen stellte sie fest, dass ihm die Idee jetzt nicht spontan gekommen war, sondern er schon alles vorbereitet hatte. Eine Flasche lag im Eiskübel, davor standen auf einem Tablett zwei Gläser und ein Teller mit ein paar pikant belegten Kanapees.

Da sie ihr Kind heute Abend in guter Obhut wusste, willigte sie schließlich ein. Zwar befand sich Philipp noch im Haus, aber Mama hatte ihr versprochen, ihn von Frieda fernzuhalten.

Lilian wollte ihre Tochter nicht verwirren. Was hatte die Kleine davon, wenn sie erfuhr, dass es einen Papa gab, der dann nach ein paar Tagen wieder verschwand. Da war kein Papa besser.

Sie nahm auf dem Sofa Platz und schaute zu, wie Mario geschickt die Flasche öffnete. Ein kleines Schmatzen ertönte, als er den Korken herauszog und den perlenden Wein eingoss. Zum ersten Mal fielen ihr seine schönen Hände mit den langen, feingliedrigen Fingern auf.

Die Mitarbeiter behaupteten, dass der Boss sich hier manchmal ein kleines Schläfchen gönnte, wenn er sich wieder mal die ganze Nacht um die Ohren geschlagen hatte.

„Bitte sehr!“ Mit einem breiten Lächeln drückte er ihr ein Glas in die Hand. „Weiterhin auf gute Zusammenarbeit.“

Sie stießen miteinander an und schauten sich dabei sekundenlang in die Augen. Lilian empfand ein angenehmes Schwindelgefühl, und sie fragte sich, wann sie das letzte Mal zu einem Flirt bereit gewesen war. Sie konnte sich nicht erinnern.

***

Philipp bedankte sich überschwänglich bei Thea. Lilians Cousine brachte ihm in seine Dachkammer einen Teller mit belegten Broten und einen Tetrapak mit Saft.

„Du hast doch sicher Hunger“, sagte sie.

„Das ist wahnsinnig lieb von dir. Und wie appetitlich du das zurechtgemacht hast.“ Mit glänzenden Augen beäugte er die Schnittchen. „Komm doch einen Augenblick herein.“

Thea zögerte nur kurz, bevor sie seiner Aufforderung folgte. Hier oben war sie noch nie gewesen. An der fensterlosen Längswand stand ein altes Bett, an der Stirnseite ein Schrank, dessen linke Tür schief in den Angeln hing. Außer einem ausrangierten Tisch gab es nur noch einen Stuhl. Neben diesem Raum befand sich noch ein beengtes Kabuff mit Toilette und Waschbecken.

Eine ziemlich jämmerliche Bleibe für Friedas Vater, fand Thea.

Inzwischen war sie von Tante Elsa über alle Familienprobleme aufgeklärt worden. Dennoch empfand sie Mitleid mit dem gestrauchelten Mann, der seiner Tochter auf Lilians Geheiß nicht zu nahe kommen durfte. Nach Theas Meinung hätte er durchaus eine Chance verdient. Philipp war charmant und attraktiv. Er brauchte nur noch ein paar flotte Klamotten. In ihrem Kopf kreiste schon der Gedanke, ob sie ihm einfach etwas kaufen sollte – heimlich natürlich.

Nur die Aussicht, dass Lilian mit so viel Eigenmächtigkeit sicher nicht einverstanden wäre, hielt Thea davon ab. Aber wenigstens konnte sie ihm etwas zu essen bringen. Damit war sogar Elsa einverstanden, als sie mit ihr darüber gesprochen hatte. Sie waren sich jedoch beide einig, das für sich zu behalten.

Philipp griff nach einem Brot und biss hinein.

„Einfach köstlich“, seufzte er zufrieden. In atemberaubender Schnelligkeit aß er alles auf. „Mann, hatte ich einen Hunger“, bekannte er, schraubte den Saft auf und trank.

„Danke, Thea. Du bist ein herzensgutes Mädchen – ganz im Gegensatz zu deiner Cousine. Lilian hasst mich. Na ja, irgendwie kann ich es auch verstehen. Hab ihr ja auch allen Grund dazu gegeben. Ich hab ein paar Riesendummheiten begangen. Wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen. Aber nun muss ich damit leben.“

„Vielleicht überzeugst du sie, wenn du jetzt nichts mehr anstellst, was dich mit dem Gesetz in Konflikt bringt.“

„Ich möchte ja nur hin und wieder Kontakt zu meinem Kind. Gestern habe ich Frieda vom Fenster aus beobachtet. So ein süßes Mädchen. Und ich war an seiner Entstehung beteiligt. Das ist das Einzige, worauf ich in meinem Leben stolz sein kann.“

Thea wuchs jetzt mehr und mehr in die Vermittlerrolle hinein. Es musste doch möglich sein, dass Lilian ihrer Tochter einen gewissen Umgang mit ihrem Vater erlaubte. Er konnte das Kind ja im Beisein von Mutter oder Großmutter besuchen.

„Weißt du, Lilian ist nicht hartherzig. Das kommt dir nur so vor. Mich hat sie mit meinem Sohn auch aufgenommen. Und jetzt lebt sie in der ständigen Angst um Frieda.“ Und da sie schon einmal dabei war, erzählte Thea ihm auch gleich alle Details über Friedas Krankheit.

„Das macht mich jetzt aber sehr traurig“, erklärte Philipp. „Jetzt verstehe ich Lilian ein bisschen besser. Warum hat sie mir nichts davon gesagt?“

„Die Ärzte in der Berling-Klinik machen ihr große Hoffnung. Aber natürlich macht sie sich auch Sorgen, welche Kosten auf sie zukommen. Mit ihrem Job im El Mundo verdient sie ja nicht viel.“

Philipp schaute mit gramvollem Dackelblick in Theas haselnussbraune Kulleraugen. Dann drückte er ihr den leeren Teller in die Hand.

„Du bist ein ganz liebes Mädchen, vielen Dank für deine Hilfe.“

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er sie küssen, doch dazu kam es nicht. Es klopfte an die Tür.

„Thea, bist du dadrin?“

Thea zuckte zusammen, als sie Elsas Stimme hörte. Ein bisschen kam sie sich vor wie eine Verräterin, die plötzlich mit dem Feind paktierte.

„Komm bitte. Jonas weint schon die ganze Zeit. Ich kann ihn nicht beruhigen.“

Thea raffte den leeren Teller an sich und legte verschwörerisch den Zeigefinger auf die Lippen.

„Gute Nacht, Philipp“, flüsterte sie.

***

Die Kanapees waren wundervoll. Großes Lob für Pedro. Der Mann verstand wirklich etwas von seinem Handwerk, ganz gleich, ob er appetitliche Häppchen oder ein Feinschmeckermenü zauberte.

„Gut?“, fragte Mario augenzwinkernd.

„Köstlich.“ Lilian nahm immer wieder Schlückchen von dem göttlichen Gesöff und widersprach nicht, als er ihr leeres Glas erneut füllte. Sie genoss auch den Schwips, den sie schon deutlich spürte. Es war das erste Mal, dass sie Champagner trank. Wenn sie bisher Sekt getrunken hatte, dann höchstens ein Glas Prosecco bei einem Geburtstag.

„Wie findest du mich eigentlich?“, fragte er. „Ich würde es gern wissen. Weil du zu mir meist eher unfreundlich bist.“ Und als er Lilians ratloses Gesicht betrachtete, fügte er noch schnell hinzu: „Bin ich kein guter Chef?“

Lilian lächelte ironisch. Sie konnte nicht anders.

„Erwartest du wirklich, dass ich dich bewerte? Das kannst du vergessen, Mario. Ich gebe keine Kritik ab, weder positiv noch negativ. Ich bin deine Angestellte. Du bist der Chef. Punkt. Ich tue das, was wir vereinbart haben, und hoffe, dass du mit meiner Arbeit zufrieden bist. Umgekehrt wäre ich längst weg, wenn ich es bei dir nicht aushalten könnte. Lassen wir es doch dabei.“

Andererseits … wenn er sie so anschaute, wurde ihr ganz heiß unter ihrer weißen Bluse.

„Das ist doch schon mal eine klare Aussage“, stellte Mario fest und gönnte sich noch einen Schluck.

Lilian warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – und erschrak. Über all den vielen kleinen Schlückchen, den feinen Häppchen und dem Geplänkel war schon über eine Stunde vergangen. Sie sollte längst zu Hause sein.

„Ich muss jetzt los. Danke für den Champagner …“

Sie war schon aufgestanden, doch er zog sie wieder auf das Sofa zurück.

„Bleib noch ein bisschen bei mir“, bat er. „Ich habe dich gern um mich.“

„Wirklich?“ Lilian warf ihm einen skeptischen Seitenblick zu. Machte er sich lustig über sie?

Unter seinem glühenden Blick wurde ihr ganz heiß. Auf einmal verspürte sie eine gnadenlose Lust auf Nähe. Zärtlichkeit? Einen Mann zu küssen, das kam in ihrer Lebensplanung nicht mehr vor. Eigentlich glaubte sie, ganz gut damit klarzukommen, doch jetzt wurde ihr schlagartig bewusst, dass aus ihr ein Eisblock geworden war.

Männern ging sie prinzipiell aus dem Weg, aus lauter Vorsicht, falls die etwas von ihr wollten, was über einen kollegialen Kontakt hinausging. Ja, sie hatte ein Kind. Aber bedeutete das gleichzeitig einen Verzicht auf ein eigenes Liebesleben?

„He, was ist los mit dir? Du wirkst so nachdenklich?“

Sie spürte seine Hand auf ihrem Kopf. Mit einem jungenhaften Grinsen zog er die Klammern aus ihrer hochgesteckten Frisur. In dicken Strähnen fiel das lange Haar herunter, weit über ihre Schultern.

„Das wollte ich schon immer mal tun“, sagte er. „Es sieht wunderschön aus, dein Haar. Jetzt bist du ja nicht mehr im Dienst, und ich darf es bewundern.“

„Was fällt dir ein?“ Sie warf ihm einen strafenden Blick zu, aber Mario schien sich nicht sonderlich getroffen zu fühlen. Sein langer Arm umfasste ihre Schultern und zog sie näher.

Ihr Atem ging schneller. Das Herz verfiel in einen Galopp, und tief in ihrem Inneren befand sich ein hitziges Durcheinander. Sie fühlte sich von ihm angezogen und versuchte, energischen Widerstand zu mobilisieren. Das durfte nicht sein! Das war der helle Wahnsinn! Jetzt bloß keine Affäre, die sie zusätzlich zu ihren Sorgen nun wirklich nicht brauchte.

Doch alle Abwehrmechanismen schliefen und ließen sie im Stich. Sein Mund kam näher, küsste sie behutsam. Konnten Männerlippen wirklich so sanft sein? Die Art, wie er sie in seinen Armen hielt, vermittelte ihr das Gefühl von Schutz und Geborgensein.

Lilians Hände wanderten zu seinem muskulösen Nacken, fuhren durch sein dichtes Haar. Marios Hände lagen auf ihren Brüsten und glitten sanft nach unten, ohne dass sie ihnen die Erlaubnis dazu gegeben hätte.

Schließlich gab auch ihr Verstand den letzten kleinen Widerstand auf. Was geschah, ließ sich nicht mehr stoppen. Sie befand sich schon mittendrin in diesem Zustand der Leidenschaft. Ein Mann begehrte sie mit seinen ganzen Sinnen. Wann hatte sie das zuletzt erlebt? Die Sehnsucht nach Erfüllung war geradezu übermächtig. Und so nahm sie das, was diese Nacht ihr bot.

Als sie wieder klarer denken konnte, lagen sie nebeneinander auf dem Sofa. Sie roch die holzige Note seines Parfums. Vorsichtig richtete sie sich auf und betrachtete ihn. Mario war ein gut aussehender Mann. Volles Haar, ein breiter Mund in einem schmalen Gesicht, eine wohlgeformte Nase. Schade, dass er so überheblich war.

Seine Augen waren geschlossen. Schlief er? Als sie aufstehen wollte, umfasste seine Hand ihren Arm. „Wo willst du hin?“

„Nach Hause. Es ist schon spät.“ Sie machte sich los und kleidete sich an. Auch Mario schlüpfte in Hemd und Hose.

Während Lilian noch überlegte, ob sie das Geschehen zum Abschied kommentieren sollte und wenn ja, wie, wanderten von hinten seine Hände um ihre Taille. Zärtlich zog er sie an sich und drückte dabei viele kleine Küsse auf ihren Hals.

„Es war wunderschön mit dir“, sagte er. „Das müssen wir unbedingt wiederholen. Schenk mir dieses Glück.“

„Ach wirklich?“ Noch immer ganz befangen vom erlebten Liebestaumel war das alles, was sie an Spott aufbieten konnte.

„Ich muss los“, sagte sie nun schon eine Spur energischer. „Meine Tochter …“

„Sie wird schlafen. Außerdem ist sie doch nicht allein zu Hause.“

„Aber manchmal hat sie Albträume, dann ruft sie nach mir.“

„Okay, ich fahr dich.“

„Kommt überhaupt nicht in Frage. Wir haben eine ganze Flasche geleert. Wenn du in eine Kontrolle gerätst, ist dein Führerschein weg.“

Er überlegte. „Vielleicht hast du recht, das Risiko ist zu groß. Aber dann nimmst du dir ein Taxi. Ich bleibe den Rest der Nacht hier … und werde von dir träumen.“

Worte, die ihre Sehnsucht nach Romantik nur wieder neu anfachten. Dabei war ihnen beiden doch klar, dass es kein zweites Mal geben konnte. Er hatte seine Freundin. Und Lilian ihre Familie. Da gab es keinen Platz für eine wie auch immer geartete Beziehung.

Er machte sich an seinem Schreibtisch zu schaffen. Schließlich schob er ihr ein zusammengefaltetes Päckchen in die Hand. „Fürs Taxi“, sagte er.

Ihre Augen weiteten sich. Fünf Hunderter.

„Aber das ist ja … bist du verrückt? Wofür hältst du mich?“

„Nun mach kein Drama draus. Es ist eine Art Prämie für gute Arbeit und …“

Wieso hatte sie eigentlich gedacht, ihm trauen zu können?

„Du Mistkerl!“, fauchte sie ihn verletzt an. „Ich bin nicht käuflich.“