Die besten Ärzte - Sammelband 14 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 14 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1779: Seine tapfere Schmerzpatientin
Notärztin Andrea Bergen 1258: Mariellas Brüderchen
Dr. Stefan Frank 2212: Doch vergessen werde ich dich nie!
Dr. Karsten Fabian 155: Eine Lüge zu viel
Der Notarzt 261: Ich kann dir nicht mehr glauben

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 592

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum

BASTEI ENTERTAINMENT Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG Für die Originalausgaben: Copyright © 2013/2014/2016 by Bastei Lübbe AG, Köln Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller Verantwortlich für den Inhalt Für diese Ausgabe: Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln Covermotiv von © Branislav Nenin / shutterstock ISBN 978-3-7325-9183-1

Katrin Kastell, Liz Klessinger, Stefan Frank, Ulrike Larsen, Karin Graf

Die besten Ärzte 14 - Sammelband

Inhalt

Katrin KastellDr. Holl - Folge 1779Schon seit längerer Zeit leidet die junge Anwältin Johanna Mosbach unter starken Schmerzen und ständiger Übelkeit. Eines Tages bricht sie mitten im Gerichtssaal zusammen. Erst in der Berling-Klinik erwacht sie aus ihrer Bewusstlosigkeit. Es sind umfangreiche Untersuchungen notwendig, bis der Grund für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen gefunden ist. In der Nebenschilddrüse hat sich ein Tumor gebildet, der schnellstens entfernt werden muss. Natürlich hat Johanna Angst vor der Operation, aber Chefarzt Dr. Stefan Holl und Dr. Simon Kramer kümmern sich rührend um ihre Patientin und versuchen, ihr die Angst zu nehmen. Sie versichern ihr, dass sie wieder ganz gesund wird und nach der Entfernung des Tumors ein normales Leben führen kann. Was die Ärzte nicht ahnen: Es ist nicht nur die Angst vor der Operation, die Johanna Mosbach quält. Sie spürt auch eine entsetzliche Leere, und ihr wird schlagartig bewusst, dass sie nicht länger mit der Lüge leben kann, die sie seit drei Jahren mit sich herumträgt ...Jetzt lesen
Liz KlessingerNotärztin Andrea Bergen - Folge 1258Beim ersten leisen Wimmern ihres kleinen Sohnes ist Natascha auf den Beinen. Nein, nicht schon wieder! Marlons schmale Stirn fühlt sich heiß an, und sein Babykörper glüht! Seit Wochen schon kommen und gehen die rätselhaften Fieberschübe, für die kein Kinderarzt bisher eine Erklärung hat. Als das Thermometer kurz darauf über vierzig Fieber anzeigt, zögert Natascha keine Sekunde länger und wählt mit zitternden Fingern die 110... Noch in derselben Nacht überstürzen sich auf der Baby-Intensivstation des Elisabeth-Krankenhauses die Ereignisse, als sich Marlons Zustand rapide verschlechtert! In den frühen Morgenstunden kommt eine schreckliche Wahrheit ans Licht, an der Marlons Mutter zu zerbrechen droht: Der Säugling leidet an einer aplastischen Anämie, und nur eine Knochenmarktransplantation könnte ihn noch retten...Jetzt lesen
Stefan FrankDr. Stefan Frank - Folge 2212Als Stefan Frank seine Kollegin Sarah Weinhäuser nach vielen Jahren zum ersten Mal wiedersieht, erschrickt er zutiefst! Die junge Kinderchirurgin ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Tiefe Sorgenfalten haben sich in ihr Gesicht eingegraben, und sie ist abgemagert bis auf die Knochen. Was mag ihr nur Schreckliches widerfahren sein? Stockend und unter Tränen erzählt sie dem Grünwalder Arzt schließlich, was der Grund für ihre Veränderung ist: Sarahs Ehemann hat sich vor ihren Augen das Leben genommen! Und nicht nur das: Auf seiner Beerdigung musste sie dann erfahren, dass er sie über Jahre hinweg mit anderen Frauen betrogen hat. Als sie ihren Bericht beendet hat, stellt sich Dr. Frank nur eine Frage: Kann ein Mensch, der so viel Leid ertragen musste, je wieder lernen, wie man lacht und liebt?Jetzt lesen
Ulrike LarsenDr. Karsten Fabian - Folge 155Dass Florentine Fabian Happy Ends und Hochzeiten liebt, ist in Altenhagen allgemein bekannt. Und so will die Landarztfrau Amor auch jetzt mal wieder zu Hilfe kommen. Denn dass die alleinstehende Mutter Meike Peters und der Maler Thomas Barden ein ideales Paar wären, ist für Florentine klar. Außerdem hätten Meike und ihre kleine Tochter es verdient, endlich glücklich zu werden, nach allem, was sie im Leben durchgemacht haben. Als Meike die Fabians eines Tages zu sich einlädt, hofft Florentine auf gute Neuigkeiten. Doch was die junge Frau ihnen dann anvertraut, macht alle Hoffnungen auf ein schnelles Happy End zunichte ...Jetzt lesen
Karin GrafDer Notarzt - Folge 261Im Schwesternzimmer der Notaufnahme herrscht eine ausgelassene Stimmung: Stolz zeigt Schwester Sabrina den funkelnden Ring an ihrem Finger. Ihr wunderbarer Freund Toni hat ihr vor einigen Tagen einen überraschenden Heiratsantrag gemacht, den sie überglücklich angenommen hat. Peter Kersten freut sich mit Sabrina, denn er weiß nur zu gut, dass es im Leben der jungen Frau nicht immer so rosig zugegangen ist. Sabrina ist im Heim aufgewachsen und war einige Zeit drogenabhängig und am Rande eines endgültigen Abgrunds. Umso erleichterter ist der Notarzt, dass sie es doch noch geschafft hat, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken. Doch nach der anfänglichen Euphorie verändert sich Sabrina schlagartig. Ihre roten Augen verraten immer öfter, dass sie geweint hat, und sie zieht sich zurück. Was ist nur los? Niemand ahnt, dass Sabrina ihren Freund bei etwas Schrecklichem beobachtet hat. Sie weiß jetzt, dass alles, was zwischen ihnen war, Lügen gewesen sein müssen. Die verzweifelte Schwester weiß nicht mehr ein noch aus. Zuflucht sucht sie bei einer ehemaligen Freundin, und plötzlich ist sie ihrem früheren Milieu wieder ganz nah ...Jetzt lesen

Inhalt

Cover

Impressum

Seine tapfere Schmerzpatientin

Vorschau

Seine tapfere Schmerzpatientin

Dr. Holl gab ihr die Hoffnung zurück

Von Katrin Kastell

Schon seit längerer Zeit leidet die junge Anwältin Johanna Mosbach unter starken Schmerzen und ständiger Übelkeit. Eines Tages bricht sie mitten im Gerichtssaal zusammen. Erst in der Berling-Klinik erwacht sie aus ihrer Bewusstlosigkeit. Es sind umfangreiche Untersuchungen notwendig, bis der Grund für die gesundheitlichen Beeinträchtigungen gefunden ist. In der Nebenschilddrüse hat sich ein Tumor gebildet, der schnellstens entfernt werden muss. Natürlich hat Johanna Angst vor der Operation, aber Chefarzt Dr. Stefan Holl und Dr. Simon Kramer kümmern sich rührend um ihre Patientin und versuchen, ihr die Angst zu nehmen. Sie versichern ihr, dass sie wieder ganz gesund wird und nach der Entfernung des Tumors ein normales Leben führen kann.

Was die Ärzte nicht ahnen: Es ist nicht nur die Angst vor der Operation, die Johanna Mosbach quält. Sie spürt auch eine entsetzliche Leere, und ihr wird schlagartig bewusst, dass sie nicht länger mit der Lüge leben kann, die sie seit drei Jahren mit sich herumträgt …

Atme tief durch, ein und aus! Ignoriere die Schmerzen! Sei stark! Reiß dich zusammen! Kipp jetzt bloß nicht um …

Die junge Anwältin starrte blicklos auf die Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag. Soeben war der Scheidungsprozess von der Familienrichterin ganz im Sinne ihrer Mandantin entschieden worden. Sie hatte gute Arbeit geleistet, doch Stolz auf ihren Erfolg wollte sich nicht einstellen.

Wie ein Tsunami breiteten sich erneut diese entsetzlichen Qualen, die sie so fürchtete, im ganzen Körper aus. Noch dazu so schnell, dass sie kaum atmen konnte. Ihre Mandantin sagte etwas, das wie „Danke“ klang.

„Ist Ihnen nicht gut, Frau Mosbach?“, fragte sie dann.

Nur gedämpft drangen die Worte zu ihr durch. Wo kam im Gerichtssaal plötzlich der Nebel her? Wieso wurde es so dunkel an diesem sonnigen Frühlingstag?

Johanna versuchte, sich vom Tisch hochzustemmen. Sie musste die Akte noch einpacken. Der Gerichtssaal begann sich um sie zu drehen, schneller, immer schneller. Ihre Knie gaben nach, der Fußboden kam näher, die grauen Schwaden färbten sich so schwarz wie die Anwaltsrobe, die sie trug. Sie stöhnte auf und sackte in sich zusammen.

***

„Wie geht es Ihnen?“

Warm drang die männliche Stimme in ihr Bewusstsein. Vorsichtig öffnete sie die Augen. Noch waren die Schmerzen weit weg, aber sie spürte schon, wie sie schleichend wieder näherkamen, sich in den Knochen, im Bauch und in den Nieren festsetzten und wie eine neue Runde der Qualen begann.

Eine Weile wehrte sie sich noch dagegen, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Da, wo sie jetzt herkam, hatte nichts wehgetan. Die Bewusstlosigkeit hatte sie davor geschützt.

„Ich weiß nicht“, flüsterte Johanna.

„Sie sind im Gerichtssaal zusammengebrochen“, sagte der Mann im weißen Kittel freundlich. „Vor wenigen Minuten hat man Sie hergebracht. Ich nehme an, Sie hatten dort zu tun.“

„Ich bin Anwältin. Die Verhandlung war gerade zu Ende, da …“

Johanna schloss die Augen wieder und versuchte, sich an die Entscheidung der Richterin zu erinnern.

„Mein Name ist Stefan Holl. Sie befinden sich in der Berling-Klinik. Bitte versuchen Sie, mir zu schildern, was passiert ist. Geben Sie uns Hinweise. Sie müssen uns helfen, Ihrem Problem auf die Spur zu kommen.“

„Ich hatte fürchterliche Schmerzen, nicht zum ersten Mal …“

„Wo im Körper treten die Schmerzen auf?“

„Eigentlich überall, auch im Kopf, mir war furchtbar übel …“ Johanna bewegte ein wenig den Kopf hin und her. „… Schmerzen im Bauch und im Magen …“ Sie brach ab und runzelte die Stirn. Erst jetzt schienen die ersten Worte des Arztes ihre Wirkung zu entfalten. „Berling-Klinik, sagen Sie?“ Ein wenig kniff sie die Augen zusammen. „Dr. Holl … wirklich?“ In ihren Worten schwang etwas Erleichterung mit. „Was für ein Glück, dass ich bei Ihnen gelandet bin. Ich kenne Sie … ich war schon mal hier …“ Hechelnd brach sie ab.

Noch gab Stefan Holls Gedächtnis keine Rückmeldung, wann er die junge Frau behandelt hatte.

„Versuchen Sie, gleichmäßig zu atmen. Reden Sie langsam.“

Der Chefarzt der Klinik stand in der Notfallambulanz der Berling-Klinik neben der Trage, auf der die junge Frau mit getrübtem Bewusstsein und unklaren Symptomen eingeliefert worden war. Ihre akuten Symptome standen nicht mit einem Unfall in Zusammenhang. Hier lagen offensichtlich internistische Beschwerden vor.

Schwester Gundula hatte der Patientin die Kleidung bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Die Vitalparameter wie Blutdruck, Puls und Atemfrequenz wurden gemessen.

Der Kollege Hansen, der in der Notaufnahme Dienst hatte, tippte auf eine Vergiftung, aber Dr. Holl fand die Symptome für diese Annahme nicht ausreichend.

Die Frau konnte selbstständig atmen. Ihre Haut war schweißbedeckt. Das Bewusstsein hellte sich zunehmend auf. Stefan inspizierte den schlanken Körper und begann mit einer routinemäßigen Tastuntersuchung. Die harte Bauchdecke ließ ihn an eine Kolik der unteren Bauchorgane denken.

„Wie heißen Sie?“

„Johanna Mosbach. Mir ist übel“, ächzte sie, bevor sie sich in die von Schwester Gundula bereitgehaltene Schale erbrach. Sie würgte heftig, aber es kam kein Mageninhalt, sondern nur etwas Gallenflüssigkeit. Dr. Holl hielt die Patientin fest.

„Wir finden heraus, was mit Ihnen los ist. Seien Sie ganz ruhig. Welche Symptome hatten Sie in der letzten Zeit? Erzählen Sie mir alles, auch wenn Sie es für unwichtig halten. Leiden Sie unter Müdigkeit oder Depressionen?“

Johanna versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagen wollte. Noch waren die Schmerzen nicht mit voller Wucht zurückgekehrt, aber sie fürchtete sich schon jetzt vor einer neuen Welle.

„Ja“, murmelte sie. „Mir ist oft schwindelig, und ich leide unter Übelkeit, Gelenkschmerzen …“ Erschöpft brach sie ab und schwieg. Es dauerte eine Weile, bis sie weitersprechen konnte. „Ich bin oft abgeschlagen … kann mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren.“

Dr. Holl erkundigte sich nach einer bestehenden Schwangerschaft. Eine Frage, die seine Patientin jedoch verneinte.

„Es war vor drei Jahren … ein Autounfall. Der Bruder meines Verlobten … saß neben mir … er starb … hier in der Berling-Klinik.“

Schlagartig erinnerte sich Stefan Holl an das dramatische Geschehen von damals. Die Frau war mit Prellungen und einigen Weichteilverletzungen eingeliefert worden.

Viel bedrohlicher waren jedoch die Blutungen aus der Gebärmutter. Sie ließen sich nicht mehr stoppen, der acht Wochen alte Embryo wurde bereits ausgetrieben. Stefan selbst hatte anschließend die Kürettage vorgenommen. Der junge Mann, der mit ihr im Fahrzeug gesessen hatte, verstarb während der Notoperation auf dem OP-Tisch. Sein Blut wies einen hohen Alkoholspiegel auf.

Johanna Mosbach hatte ihn damals zum Schweigen verpflichtet. Da Gernot Siebert, der Bruder des Verstorbenen und ihr Verlobter, noch nichts von der Schwangerschaft wusste, wollte sie ihm im Nachhinein mit dieser traurigen Nachricht keinen zusätzlichen Kummer bereiten.

Die Familie hatte schon genug Kummer wegen Michaels Tod. Mit der Fehlgeburt werde sie allein fertig, hatte sie Dr. Holl eindringlich versichert. Er erinnerte sich, dass er diese Entscheidung nicht richtig fand. Aber er hatte sich dem Wunsch der Patientin gefügt.

Und jetzt war sie erneut in seine Klinik eingeliefert worden.

„Sie müssen hierbleiben“, ordnete Dr. Holl an. „Wir werden unverzüglich mit den Untersuchungen beginnen. Ich schreibe Sie krank. Wo arbeiten Sie?“

Trotz ihrer Benommenheit schlich sich jetzt ein winziges Lächeln in ihre Mundwinkel. Sie wusste, dass ihr Chef mit dem Chefarzt der Berling-Klinik verschwägert war.

„In der Kanzlei Lassow“, sagte Johanna.

„Na so was, dann informiere ich ihn persönlich.“

Stefan drückte der blassen Patientin schmunzelnd die Hand. Richtig, sein Schwager Axel Lassow hatte neulich mal seine neue Anwältin erwähnt, die trotz ihrer jungen Jahre außerordentlich erfolgreich sei. Natürlich hatte Stefan nicht wissen können, dass es eine Frau war, die er vor Jahren schon einmal in seiner Klinik behandelt hatte.

„Dann erneuern wir hiermit unsere alte Bekanntschaft“, fuhr Dr. Holl in lockerem Ton fort, da er sie nicht noch mehr beunruhigen wollte. „Ich werde Ihnen helfen. Es kommt alles wieder ins Lot.“

„Bitte tun Sie mir einen Gefallen, rufen Sie meinen Verlobten an. Gernot Siebert. Seine Nummer finden Sie auf meinem Handy.“

Sie wollte sich aufrichten, doch Dr. Holl drückte sie sanft auf die Liege zurück und schaute sich nach ihren Sachen um.

Schwester Gundula hatte alles zusammengelegt. Sie holte die Tasche, öffnete sie vor Johannas Augen, die das Handy herausfischte und es Dr. Holl reichte. Wie zu erwarten, gehörte der Verlobte zu den Favoriten. Stefan brauchte nur kurz auf seinen Namen zu tippen und zu warten.

***

„Johanna ist schon wieder nicht pünktlich“, stellte Annemarie Siebert enttäuscht fest. „Ruf sie noch mal an. Sie arbeitet viel zu viel, das muss sich unbedingt ändern.“

„Sie ist eben sehr gewissenhaft“, meinte Gernot verdrossen. „Außerdem möchte sie in ihrem Beruf Karriere machen. Mach dir keine Sorgen, sie wird schon zurückrufen.“

Seine Mutter stand auf und ging unruhig im großen Wohnraum auf und ab. Nach einer Weile blieb sie plötzlich stehen und fixierte ihren Sohn streng.

„Habt ihr euch gestritten? Sag mir die Wahrheit!“

Gernot Siebert, ein attraktiver Mann, verdrehte die Augen.

„Es ist, wie ich es sage. Ich sollte sie vom Tutzinger Bahnhof abholen, doch sie war nicht in der S-Bahn. Natürlich habe ich sie gleich angerufen, konnte sie aber nicht erreichen. Und nein, wir haben uns nicht gestritten.“

Annemarie trat auf das Fenster zu, um die ersten Frühlingsboten im großen Garten zu betrachten. Tulpen, Narzissen und Hyazinthen, vom Gärtner Toni im Vorjahr gesetzt, blühten schon. Ebenso die beiden Kirschbäume, der Haselstrauch und die Schlehe.

Nervös strich sich Gernots Mutter eine Strähne aus der Stirn.

„Es ist doch sonst nicht ihre Art, einfach abzutauchen, ohne Bescheid zu geben. Vielleicht ist sie in der Kanzlei aufgehalten worden. Ruf doch dort mal an.“

Er folgte dem Ratschlag seiner Mutter. Ein paar Sekunden lauschte er dem Freizeichen, dann sprang der Anrufbeantworter an und teilte mit, dass die Kanzlei zurzeit nicht besetzt sei. Gernot schaute auf die Uhr. Klar, Freitagnachmittag, die Mitarbeiter des Anwaltsbüros waren schon auf dem Weg ins Wochenende.

Jetzt klingelte sein Handy.

„Das ist sie!“, verkündete er nach einem kurzen Blick auf den kleinen Bildschirm. „Na endlich!“ Und sofort darauf sprach er ins Handy: „Was ist denn los? Wir warten schon auf dich.“

Zu seiner Überraschung antwortete ihm eine männliche Stimme.

„Spreche ich mit Herrn Gernot Siebert?“

„Ich verstehe nicht …“

„Ich bin Stefan Holl, Chefarzt der Berling-Klinik. Bitte bleiben Sie ruhig. Frau Mosbach bat mich, mit Ihnen zu sprechen. Sie ist vor Kurzem mit einigen unklaren Symptomen bei uns eingeliefert worden. Soweit wir sehen können, besteht kein Grund zur Sorge. Wir untersuchen sie gerade.“

„Das ist ja schrecklich!“, entfuhr es Gernot. Seine Hand, die das Telefon hielt, begann zu zittern.

„Was ist los?“, wollte seine Mutter wissen und ging auf ihn zu. Gernot forderte sie mit einem Handzeichen zum Schweigen auf.

„Warten Sie, ich gebe Ihnen Frau Mosbach. Sie ist jetzt bereit, Ihnen selbst zu berichten, was passiert ist.“

„Hallo, Gernot …“ Johannas Stimme klang dünn und etwas zögernd. „Dr. Holl hat dir ja schon gesagt, was passiert ist. Mir wurde im Gerichtssaal plötzlich übel. Und dann hab ich auch noch das Bewusstsein verloren.“

„Wieder deine Kopfschmerzen? Du hättest deswegen längst zum Arzt gehen sollen.“

„Jetzt bin ich ja in Behandlung“, gab Johanna zurück. „Dr. Holl wird schon herausfinden, warum es zu diesem Zusammenbruch gekommen ist. Er glaubt nicht, dass meine Kopfschmerzen die Ursache sind. Die sind eher ein Symptom.“

„Weiß man schon etwas Genaueres?“

„Die ersten Untersuchungen haben stattgefunden, aber es liegen noch keine Ergebnisse vor.“

„Ich komme sofort zu dir.“

„Es ist besser, wenn du bis morgen wartest. Es werden noch weitere Tests gemacht, wir hätten also gar keine Zeit für uns.“

„Musst du auch über Nacht in der Klinik bleiben?“

„Man will mich für ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten. Und ich denke, dem werde ich mich fügen. Ich will auch wissen, was mit mir los ist.“

„Ach, mein armer Schatz. Dass ich dir nicht helfen kann, macht mich ganz verrückt. Ich könnte Dr. Hartmann zu dir schicken …“

„Nein, das ist wirklich nicht nötig“, unterbrach sie ihn. „Ich bin hier in den besten Händen.“

„Also gut, wie du meinst, aber wir telefonieren später noch einmal. Hast du dein Handy jetzt bei dir?“

„Ja.“

„Dann bis später, Schatz. Ich denke an dich.“

Gernot legte das Telefon auf den Tisch. Nun, da er mit Johanna gesprochen hatte, war seine Angst nicht mehr so groß, dennoch steckte ihm der Schreck noch in den Gliedern.

„Was hat sie denn gesagt?“, drängte seine Mutter. „In welcher Klinik ist sie überhaupt?“

„In der Klinik, in der Michael gestorben ist.“ Seit diesem dramatischen Ereignis damals wurde der Name Berling bei den Sieberts nicht mehr ausgesprochen.

Mit versteinerter Miene sank Annemarie in ihren Sessel. Nach einer Weile schloss sie die Augen und versank in den Erinnerungen. Doch dann gab sie sich einen Ruck.

„Auch das noch“, presste sie hervor. „Dort kann sie nicht bleiben.“

Gernot ließ sich mit einem schweren Seufzer auf das Sofa fallen.

„Johanna ist im Gerichtssaal bewusstlos geworden …“

„Dann bekommt sie ein Baby!“

Um die bösen Geister der Vergangenheit zu bannen, klammerte sie sich an diesen Gedanken.

„Ich würde mich so sehr freuen. Du weißt doch, dass ich mich nach einem Enkelkind sehne. Allerdings bitte ich mir aus, dass ihr noch vor der Geburt heiratet. Bei uns in der Familie soll alles seine Ordnung haben …“

„Hör auf, Mama!“ Gernot atmete tief durch. „Es steht doch noch gar nicht fest, ob sie schwanger ist. Deine Phantasie geht wieder mal mit dir durch. Warten wir doch erst mal ab, was die Untersuchungen ergeben. Morgen fahre ich zu ihr.“

„Da wir gerade darüber sprechen, also ich finde es nicht gut, dass die Frauen heute ihren Kinderwunsch so lange hinausschieben, bis sie Ende dreißig sind. Immer erst die Karriere und dann erst ein Kind. Das kann auch gewaltig schiefgehen, weil die Fruchtbarkeit der Frau …“

Weiter kam sie nicht. Es klingelte. Das mussten die ersten Gäste sein. Zum Glück, dachte Gernot, der jetzt wenig Lust verspürte, dieses Thema zu vertiefen. Er eilte zur Tür.

***

Annemarie fing sich erstaunlich schnell. Niemand merkte ihr bei der herzlichen Begrüßung an, dass sie vor zwei Minuten noch heftig mit ihrem Schicksal gehadert hatte.

Für heute Abend waren langjährige Freunde der Familie eingeladen. Die Hubers brachten ihre Tochter mit, ein hübsches Mädchen von zwanzig Jahren namens Jasmin, das Kunstgeschichte studierte.

Sie war zehn Jahre jünger als Gernot. Er fand den Altersunterschied zu groß, doch Annemarie behielt die junge Frau immer im Auge, erkundigte sich bei den Eltern nach den Fortschritten im Studium und wollte wissen, ob Jasmin schon in festen Händen war. Eine Frage, die von den Eltern bisher immer verneint wurde.

Heimlich wünschte sich Annemarie eher eine Schwiegertochter wie Jasmin, die keine Karriere anstrebte, sondern nur ein bisschen herumstudierte, bis sie den richtigen Mann kennenlernte.

Eine unbedarfte junge Frau wie Jasmin konnte sich problemlos den familiären Gegebenheiten der Sieberts anpassen, ihrem Mann ein gemütliches Heim bereiten und der Schwiegermutter bei den Repräsentationspflichten zur Hand gehen. Und natürlich musste diese Frau in erster Linie für Annemaries Enkel da sein. Mindestens drei sollten es schon sein.

Ob Johanna diese Wünsche erfüllen würde, stand auf einem ganz anderen Blatt. Sie war gebildet und kannte sich natürlich in allen rechtlichen Dingen bestens aus, was Annemarie aber nicht unbedingt als Vorteil wertete. Frauen mit so viel Wissen neigten eher zum Aufbegehren.

Jasmin hingegen könnte man wegen ihrer entzückenden Naivität noch formen. Schade, dass Gernot so wenig Interesse an ihr erkennen ließ.

Wenn er denn nun mal Johanna heiraten wollte, dann sollte er in Gottes Namen seinen Willen haben – allerdings unter bestimmten Bedingungen. Immerhin würde sie in eine wohlhabende Familie einheiraten, die schon seit vielen Jahrzehnten eine gut gehende Firma für Tiefbau und Erdarbeiten betrieb.

Gernot schwebte vor, dass Johanna sich dann nur noch um die rechtlichen Angelegenheiten der Firma kümmerte. Doch daran, befürchtete Annemarie, schien sie nicht sonderlich interessiert zu sein.

Allerdings, und bei diesem Gedanken wurde die Hausherrin wieder ruhiger, war Johanna der Familie zu ewigem Dank verpflichtet. Sie konnte sich ihren Verpflichtungen nicht entziehen. Denn für die große Katastrophe, die der Familie widerfahren war, war sie verantwortlich. Auch wenn Gernot nichts davon hören wollte, trug Johanna die Schuld am Tod seines Bruders. Noch heute krampfte sich Annemaries Herz zusammen, wenn sie an ihren jüngeren Sohn Michael dachte. Und sie dachte jeden Tag an ihn.

Aber jetzt musste sie sich um die Gäste kümmern. Jasmin und ihre Eltern waren die Ersten. Sie begrüßten sich herzlich. Die Besucher überreichten Wein und Blumen. Annemarie wurde nicht müde zu betonen, dass Jasmin seit dem letzten Treffen noch hübscher geworden sei.

Für das Essen war eine Catering-Firma mit Personal engagiert worden. Ein junger Mann kam bereits mit einem Tablett voller Champagnergläser in den Salon.

„Dann stoßen wir schon mal an. Ich freue mich, dass ihr da seid“, sagte Annemarie und hielt ihr Glas noch etwas höher. Gernot besann sich auf seine Rolle als Hausherr, in die er seit dem Tod seines Vaters vor zehn Jahren geschlüpft war. Was ihm nicht immer passte, aber er war nun mal der letzte männliche Siebert.

Er kam seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen ohne Murren nach und unterhielt sich so charmant mit den Gästen, dass Annemarie tiefe Zufriedenheit empfand. Es konnte also trotz der Hiobsbotschaft aus dem Krankenhaus noch ein vergnüglicher Abend werden.

Kaum hatten alle an ihren Gläsern genippt, trafen die Gerlings ein. Die herzliche Begrüßung wiederholte sich. Alle drei Familien waren in der besten Münchner Gesellschaft beheimatet. Man kannte sich. Die Verbindungen untereinander funktionierten wie Netzwerke. Und beim Heiraten blieb man eigentlich auch am liebsten unter sich.

***

Dr. Simon Kramer betrat das Zimmer der kürzlich eingelieferten Patientin. Er stellte sich vor und erkundigte sich nach ihrem augenblicklichen Befinden. Nach den bis jetzt vorliegenden Befunden bekam sie so lange in regelmäßigen Abständen schmerzstillende Injektionen, bis man wusste, welche Ursache für die Schmerzen verantwortlich war. Die Übelkeit hielt jedoch weiter an.

„Haben Sie schon etwas herausgefunden?“, wollte Johanna wissen. Sie war blass, und rings um die Augen lagen dunkle Schatten.

„Es gibt einen ersten Hinweis, dem wir nachgehen werden. Hatten Sie mal Probleme mit der Schilddrüse?“

„Nicht, dass ich wüsste“, erwiderte Johanna nach kurzer Überlegung.

„Sie haben zu viel Kalzium im Blut“, sagte er. „Wurde das schon mal diagnostiziert?“

„Nein.“ Johanna betrachtete den Arzt, der am Fußende ihres Bettes stand und den Metallrahmen mit beiden Händen umklammerte. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte sich auf den Stuhl gesetzt, aber sie wagte nicht, ihn darum zu bitten. Sicher hatte er es eilig. „Und was bedeutet das?“

Simon hoffte, dass seine Miene nichts von seinem Verdacht verriet. Er war sich ja selbst noch nicht sicher. Erst wenn die Befunderhebung abgeschlossen war, konnte eine mögliche Therapie geplant werden.

„Für mich ist es wichtig, so schnell wie möglich wieder arbeiten zu können.“ Johannas Worte klangen dringlich. „Als Anwältin habe ich nicht wenige Mandanten zu betreuen.“

„Das verstehe ich gut. Dennoch rate ich Ihnen, sich jetzt alle Zeit der Welt für eine gesicherte Diagnose zu nehmen. Das ist äußerst wichtig. Nur dann können wir gemeinsam beraten, wie es weitergehen soll.“

Er lächelte beruhigend, doch der Ernst in seinen Augen blieb.

„Gibt es sonst noch etwas, worüber Sie mit mir reden möchten? Ich habe Zeit.“

Er sah ihr an, dass sie nicht gesprächsbereit war. Offensichtlich gehörte sie nicht zu den Patientinnen, die mit dem Arzt lang und breit über ihre gesundheitlichen Probleme zu sprechen pflegten. Er wartete noch eine Weile, ob sie vielleicht ihre Meinung änderte, aber sie blieb stumm.

„Sie können mich jederzeit rufen lassen“, sagte er, bevor er sie verließ. „Und klingeln Sie sofort, wenn es Ihnen schlechter geht. Versprechen Sie mir das?“

„Ja, natürlich“, erwiderte sie etwas unwirsch.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein, vielen Dank.“

Ich bin in Gnaden entlassen, dachte er halb ärgerlich, halb belustigt. Die meisten Patienten waren froh, wenn ihr Arzt ausführlich mit ihnen sprach. Diese Frau schien seine Fragerei eher lästig zu finden. Sie wollte lieber allein sein. Also war es besser, sich nicht aufzudrängen. Behutsam zog er die Tür hinter sich zu.

Schwester Judith, die gerade vorbeiging, blieb stehen und warf ihm einen erfreuten Blick zu.

„Gut, dass ich dich treffe. Kommst du heute Abend auch zur Party von Jan Jordan?“

Simon wollte die Frage spontan verneinen. Er hatte auch eine Einladung von dem Kollegen Jordan bekommen, aber eigentlich waren ihm Partys generell eher ein Gräuel. Da sich Dr. Jordan außerdem eines hohen Rufs als Womanizer erfreute, konnte Simon sich schon im Voraus ausmalen, wie es auf dieser Sause zugehen würde, nämlich ziemlich heiß. Jan Jordan als lauter Gastgeber im Mittelpunkt ließ keine Gelegenheit aus, sich von seinem Gefolge feiern zu lassen.

Da Simon aber von Schwester Judith mehr als angetan war, gefiel ihm die Aussicht, ein paar Stunden mit ihr zusammen zu sein. Mit ihr konnte er sich gut und angeregt unterhalten, wie er schon mehrmals festgestellt hatte.

„Ich weiß nicht so recht.“ Er dehnte seine Worte, um Zeit zum Nachdenken zu haben. „Eigentlich meide ich solche Zusammenkünfte. Meistens reden alle laut durcheinander, sodass man sich nur schreiend verständigen kann. Dazu spielt noch ohrenbetäubende Musik und …“

„Wir könnten ja einfach für eine halbe Stunde vorbeischauen“, fiel sie ihm ins Wort. „Und danach gehen wir irgendwo etwas essen oder trinken in einer Wein-Bar ein Gläschen. Ich kenne ein nettes Lokal, da gibt es leckeren französischen Käse zum Rotwein. Da geht es ganz bestimmt ruhiger zu. Wäre das ein Vorschlag zur Güte?“

„Keine schlechte Idee“, meinte Simon anerkennend. „Wir lassen uns auf der Party blicken und verdrücken uns nach erfolgtem Gesichtsbad heimlich wieder.“ Er schaute auf die Uhr. „Jetzt habe ich noch einen Besprechungstermin beim Chefarzt. Wann und wo treffen wir uns?“

Damit nicht gleich Gerede aufkam, vereinbarten sie, getrennt gegen zwanzig Uhr beim Kollegen Jordan einzutreffen und später dann mit einem Taxi zu dem Lokal zu fahren.

„Ich freu mich“, sagte Simon noch schnell, bevor er sich abwandte.

Ein Bekenntnis, das durchaus der Wahrheit entsprach. Nach der langen Zeit des Alleinseins sehnte er sich jetzt immer öfter nach weiblicher Gesellschaft. Am liebsten wäre ihm ein lockerer Kontakt zu einer Frau wie Judith. Eine enge Beziehung wollte er nicht. Und an die große Liebe glaubte er schon lange nicht mehr. Ein ehrlicher, vielleicht etwas warmherziger Austausch würde ihm schon genügen.

Er blieb stehen und schaute aus dem Fenster in den frühlingshaften Tag. Zum ersten Mal seit jener großen Enttäuschung empfand er so etwas wie Optimismus.

Vergessen und vergeben war noch nichts. Eine Frau, die er für seine Seelenverwandte hielt, hatte ihn abgezockt. Immer wieder erbat sie sich Geld von ihm, zuletzt fünftausend Euro. Damit verschwand sie auf Nimmerwiedersehen.

Oh ja, sie wollte mit ihm eine Familie gründen und Kinder haben. Wenn sie davon sprach, geriet sie regelmäßig ins Schwärmen. Aber sie brauchte auch immer wieder Geld für die kranke Mutter, der sie eine teure Augenbehandlung in einer spanischen Klinik ermöglichen wollte. Wie hätte er denn ahnen können, dass diese Frau sich nur aus Berechnung an ihn herangemacht hatte und ihre heißen Liebesschwüre nur Lippenbekenntnisse waren?

Jedes Wort hatte er Ellen geglaubt. Nicht im Entferntesten war bei ihm ein Verdacht aufgekommen, dass sie ihn nur ausnutzte. Erst als sie immer seltener nach München kam, weil sie ihre Mutter jetzt in der Nürnberger Wohnung pflegen musste, begann er Nachforschungen anzustellen. Er fand heraus, dass die Adresse, die sie ihm gegeben hatte, nicht stimmte. Aber da war sie schon über alle Berge. Wahrscheinlich hatte Ellen ihm auch einen falschen Namen genannt, er wusste es nicht, wollte es auch gar nicht mehr wissen.

Als sie die Fünftausend von ihm erbat, hörte er zwar ein Alarmsignal in seinem Kopf, aber es war so leise, dass er darüber hinwegging. Was er schon wenig später bitter bereute.

Lange hatte er überlegt, ob er zur Polizei gehen und Ellen anzeigen sollte, doch dann überwog bei ihm die Scham, im Freundes- und Bekanntenkreis für einen Trottel gehalten zu werden. Er wusste ja rein gar nichts von ihr.

Also vertuschte er die Sache und versuchte, allein darüber hinwegzukommen. Natürlich erfuhren auch die Kollegen in der Berling-Klinik nichts von seinem Missgeschick. Niemand wusste davon. Außer Ellen natürlich.

Die amüsierte sich sicher noch heute über seine Leichtgläubigkeit. Vielleicht hatte sie ja auch schon ein neues Opfer gefunden. Sie war attraktiv und hatte keine Probleme, die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zu ziehen.

Seit jenem Erlebnis waren enge Beziehungen für ihn tabu. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer, heißt ein altes Sprichwort. Er traf aber auch keine Frau, die ihn so sehr interessierte, dass er es noch mal versucht hätte.

Als sein Handy ihn an einen Termin erinnerte, zuckte er unmerklich zusammen. Besprechung beim Chefarzt! Eilig machte sich Simon auf den Weg, um Dr. Holl nicht warten zu lassen.

***

„Kommen Sie herein!“, rief Stefan dem Kollegen von seinem Schreibtisch aus zu. „Und setzen Sie sich neben mich. So haben wir den Bildschirm beide vor uns. Kaffee?“

Dr. Simon Kramer hatte sich innerhalb seines Fachgebietes auf die endokrine Chirurgie spezialisiert und bedeutete eine echte Bereicherung für die Berling-Klinik.

„Nein danke.“ Simon kam der Aufforderung des Klinikchefs nach, griff sich einen Stuhl und nahm Platz. Der Bildschirm war schon eingeschaltet.

„Soeben sind weitere Befunde eingetroffen, allerdings weniger erfreuliche. Wir müssen über Frau Mosbach reden.“

„Ja, das müssen wir.“ Simon nickte zustimmend. „Ich war gerade bei der Patientin und habe versucht, sie ein bisschen aufzumuntern. Nach wie vor klagt sie über Schmerzen, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt. Ihren schlechten Zustand führt sie auf die Migräneanfälle zurück.“

„Ich weiß. Aber ihre Schmerzen im Kopf und die im Körper sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Das Ergebnis sagt ganz klar, dass wir es hier mit einem primären Hyperparathyreoidismus zu tun haben.“

Simon runzelte die Brauen.

„Eine Überfunktion der Nebenschilddrüse? Das ist allerdings gar nicht gut.“ Aufmerksam las er den Befund.

„Da bin ich ganz Ihrer Meinung. Noch immer ist die Ursache für diese Krankheit nicht bekannt, aber in den meisten Fällen geht sie mit einem Adenom in der Nebenschilddrüse einher. Meistens ist die Zellwucherung gutartig. Ob das in unserem Fall auch so ist, müssen wir herausfinden. Jedenfalls treten bei ihr die klassischen Beschwerden auf.“ Dr. Stefan Holl stützte das Kinn auf die Hand.

Simon erinnerte sich an seine Assistentenzeit.

„Stein-, Bein- und Magenpein“, kam es spontan über seine Lippen. „So haben wir die Symptome dieser Krankheit immer zusammengefasst.“

Dr. Holl lächelte verschwörerisch. „Genauso habe ich es auch noch gelernt. Knochen- und Gelenkschmerzen, Harnwegsinfektionen, chronische Erschöpfung, Schmerzen im Oberbauch – und das sind nur einige Beschwerden auf einer breiten Skala. Sogar Depressionen infolge der erhöhten Hormonproduktion sind nicht selten. Mit Frau Mosbach haben wir also eine echte Sorgenpatientin.“

„Parathormon – das Hormon der Traurigkeit“, sagte Simon nachdenklich. „Es passt irgendwie zu ihr. Sie wirkt so niedergeschlagen, sagt aber nicht, was sie bedrückt. Aber vielleicht irre ich mich ja auch.“

Stefan erhob sich und ging ein paar Schritte durch sein Büro. Dass die damalige Fehlgeburt noch heute bei ihr Trauer und Kummer hervorrief, konnte er sich eigentlich nicht vorstellen. Aber er würde sie einmal darauf ansprechen. Er blieb stehen und wandte sich an den Kollegen.

„Diese Überproduktion kann sogar das Wachstum der Herzmuskelzellen beeinflussen und zur Nierensteinbildung beitragen. Darum müssen wir es so schnell wie möglich stoppen.“

„Eine operative Entfernung des Adenoms ist hier das Mittel der Wahl“, erwiderte Simon.

„Ganz genau. Dieser Eingriff muss sofort erfolgen. Danach sollte sich die Ausschüttung des Parathormons normalisieren. Ich hoffe sehr, dass wir auch die anderen Folgen wieder rückgängig machen können. Vor allem den Abbau von Knochensubstanz müssen wir aufhalten. Aber all diese Maßnahmen werden Zeit brauchen, viel Zeit.“

Simon verzog das Gesicht.

„Die Patientin möchte lieber heute als morgen wieder arbeiten. Sie steht in den Startlöchern.“

„Ich weiß, aber das wird kaum möglich sein. Keine Sorge, ich telefoniere mit meinem Schwager. Frau Mosbach arbeitet in seiner Kanzlei. Er wird Verständnis dafür haben, dass sie auch nach einer Operation nur eingeschränkt einsatzfähig ist.“ Dr. Holl blieb stehen und wies auf seinen Mitarbeiter. „Sie werden den Eingriff als leitender Chirurg durchführen, Herr Kollege. Ich spreche morgen mit ihr und bereite sie darauf vor.“

Simon fühlte sich geehrt, dass Dr. Holl ihm diese Aufgabe übertrug.

„Ich werde bei der Operation dabei sein“, fuhr Stefan fort. „Und sicher wollen auch einige unserer jungen Kollegen zuschauen. Immerhin ist diese OP eine knifflige Sache. Nach den bisherigen Befunden ist nur eine Nebenschilddrüse befallen. Die sollte komplett entfernt werden. Sollte die Wucherung entgegen allen Erwartungen doch bösartig sein, müssen wir bei einem zweiten Eingriff noch mehr Gewebe entfernen.“

Nach weiteren intensiven Gesprächsminuten verabschiedete sich Simon von seinem Chefarzt. Er war froh, dass Dr. Holl es übernahm, die Patientin zu informieren. Ihm würde das schwerfallen. Gerade bei dieser jungen Frau, die eine unsichtbare Mauer umgab, verspürte er merkwürdige Hemmungen.

***

„Gernot!“ Wie eine Ertrinkende streckte Johanna die Hände nach ihrem Liebsten aus, die er sofort ergriff und küsste. „Bitte weine nicht, mein Schatz. Es macht mich schon traurig genug, dich so zu sehen. Es wird alles gut.“

„Nichts wird gut“, schluchzte die unglückliche Frau. „Heute Vormittag hat man mir eröffnet, dass ich um eine baldige Operation nicht herumkomme.“

„Operation? Das ist ja furchtbar. Warum denn? Und warum so plötzlich? Du bist doch nur überarbeitet! Ein paar Tage Ruhe und …“

„In einer der Nebenschilddrüsen befindet sich ein Tumor“, stieß Johanna hervor. „Und der muss raus. Sofort!“

„Nebenschilddrüsen?“, wiederholte der Bauunternehmer. „Ich wusste gar nicht, dass es die überhaupt gibt.“

„Ist jetzt auch egal. Ich habe wahnsinnige Angst, dass es Krebs sein könnte.“

„Um Himmels willen, Schatz, mal den Teufel nicht an die Wand. Glaub mir, es wird alles gut.“

„Auch wenn du das ständig wiederholst, es überzeugt mich nicht.“ Johanna wischte sich die Tränen fort. Erst als sie Gernots betroffene Miene sah, besann sie sich. „Entschuldige bitte, wenn ich ein bisschen zu ruppig bin. Das hat nichts mit dir zu tun. Ich habe einfach Angst vor der Zukunft.“

„Ich bin doch da. Du musst dich nicht fürchten. Ach, übrigens, ich soll dir auch viele Grüße von Mama bestellen.“

„Danke.“ Johanna schwieg.

„Sie wäre gern mitgekommen, aber du weißt ja, die Luft in den Krankenhäusern bekommt ihr nicht. Davon wird ihr immer übel.“

„Die Ärmste“, bemerkte Johanna mit einem Anflug von Ironie. Der war jedoch so kurz, dass Gernot nichts davon bemerkte.

„Sieh zu, dass du die Operation schnell hinter dich bringst. Dann fahren wir gemeinsam für ein paar Tage weg. Das Ziel darfst du dir aussuchen. Und Mama will wissen, wann du bei uns einziehst. Sie besteht darauf, dass dies bald geschieht.“

„Sehr lustig, und von Tutzing nach München stehe ich dann immer eine Stunde im Stau“, widersprach Johanna. Längere Anfahrtswege zur Kanzlei Lassow wollte sie nach Möglichkeit vermeiden.

Andererseits empfand sie auch den Wunsch, so oft wie möglich bei Gernot zu sein. Bei ihm fand sie Schutz und Geborgenheit, die sie trotz ihrer nach außen hin so selbstsicheren Fassade dringend brauchte. Wenn da nur nicht ständig seine Mutter in der Nähe wäre.

„Wir reden noch darüber“, fügte sie versöhnlich hinzu. „Jetzt denke ich nur bis zur Operation. Und dann sehen wir weiter.“

Gernot erzählte von dem Abendessen, das Mama gegeben hatte, und berichtete detailliert, was die Gäste gegessen und getrunken hatten, worüber gesprochen worden war und dass alle die besten Genesungswünsche übermitteln ließen.

Letzteres war eine Lüge. Bei Tisch war überhaupt nicht über Johannas Klinikeinlieferung gesprochen worden. Seine Mutter wollte es nicht. Krankheiten in der Familie machte man ihrer Meinung nach nicht öffentlich. Solche Dinge behielt man für sich. Die anderen handhabten das ebenso.

„Dr. Holl behandelt mich“, sagte Johanna. „Und ein Arzt namens Kramer.“

„Dr. Holl, ach … Ist der immer noch hier?“

„Natürlich ist er immer noch hier. Die Berling-Klinik ist doch seine Klinik“, erwiderte Johanna, Silbe für Silbe betonend. Aber sie merkte schon, dass Gernot nicht an die Vergangenheit rühren wollte.

„Hätte ja sein können, dass er sich inzwischen zur Ruhe gesetzt hat.“

„In dem Alter ist er noch nicht.“

Gernots Brust hob und senkte sich.

„Fühlst du dich hier wirklich gut aufgehoben? Vergiss nicht, Michael ist hier gestorben. Ihm hat Dr. Holl nicht mehr helfen können.“

Johanna spürte ihr Herz heftig schlagen.

„Michaels Verletzungen waren zu schwer und zu zahlreich, ihm konnte kein Arzt der Welt mehr helfen. Sein Organismus hat das nicht mehr geschafft. Auch wenn ein Arzt noch so gut ist, gottgleich ist er nicht. Ich glaube, dass man damals wirklich alles Menschenmögliche getan hat, um sein Leben zu retten.“

„Dennoch, wenn du die Klinik wechseln willst, werde ich das sofort in die Wege leiten. Mama meint auch, dass es besser wäre.“

„Nein, kein Wechsel.“ Sie blieb hier, weil sie Dr. Holl vertraute. Er trug keine Schuld an dem, was damals geschehen war. Er hatte ihr geholfen und ihren Wunsch nach Schweigen erfüllt. Dafür war sie ihm noch heute dankbar.

Ihr war klar, dass es lange dauerte, bis alle Beteiligten die schlimmen Ereignisse einigermaßen verkraften konnten. Auch wenn Annemarie immer über ihren jüngsten Sohn geschimpft hatte, weil er sich nicht im Geringsten für die väterliche Baufirma interessierte, so war er doch ihr erklärter Liebling gewesen.

Kurze Zeit nach seinem Tod hatte sie einen Herzinfarkt erlitten und bestand seitdem auf Schonung. Keine schlechten Nachrichten, kein Ärger in der Firma, und vor allem keine gegensätzlichen Meinungen innerhalb der Familie durften sie erreichen. Sie nutzte den Herzinfarkt, um alle anderen zu tyrannisieren.

Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man. Aber manchmal blieben hässliche Narben zurück. Auch Johanna trug solche auf ihrer verletzten Seele. Vielleicht waren ihre körperlichen Schmerzen auch ein Ausdruck ihrer inneren Zerrissenheit.

Warum sonst stürzte sie sich täglich neu mit ihrer ganzen Kraft in den Beruf, gönnte sich keine Pause und schon gar keine Auszeit, obwohl sie die eigentlich dringend brauchte? Sechs Tage Urlaub mit Gernot am Gardasee waren die einzige Erholung gewesen, die sie sich im vergangenen Jahr gegönnt hatte.

Vielleicht war ihr Zusammenbruch ein Wink des Schicksals, endlich einmal innezuhalten, sich zu besinnen, dass es auch noch andere Werte gab als gewonnene Prozesse oder zufriedene Mandanten. Das Schicksal hielt ihr ein Stopp-Schild entgegen. Nichts ging mehr – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie lag entkräftet in einem Klinikbett. Jeder Schritt strengte sie an. Und auf die immer größer werdenden Schmerzen folgte eine immer höhere Medikamentendosierung.

„He, was ist los mit dir? Woran denkst du?“ Gernot merkte, wie sie ihm entglitt und in Gedanken ganz woanders war.

„An nichts Besonderes“, wehrte sie halbherzig ab. Einen Moment lang hatte sie überlegt, ob sie mit Gernot über ihre innere Leere sprechen sollte, doch dann würde er vielleicht glauben, er sei dafür verantwortlich. Und wirklich helfen konnte er ihr ja auch nicht. Vielleicht sollte sie doch eine Psychotherapie ins Auge fassen, wie ihr Dr. Holl gestern geraten hatte? Aber für so etwas hatte sie keine Zeit.

Sie musste selbst versuchen, sich von den schwarzen Gedanken zu befreien, die sie in regelmäßigen Abständen befielen. Sie war doch noch so jung. Andere Menschen ihres Alters fanden das Leben schön und aufregend.

Johanna entging nicht, dass Gernot immer wieder auf die Uhr schaute.

„Ich muss zurück nach Tutzing“, sagte er. „Es steht noch eine Besprechung mit der Gemeinde an. Dabei geht es um den Bau einer großen Sportanlage. Erinnerst du dich? Natürlich werde ich dafür sorgen, dass wir den Zuschlag bekommen.“

„Grüß Annemarie von mir“, sagte Johanna leise, als Gernot sich über sie beugte und ihr einen Kuss auf die Stirn drückte. „Sie soll sich keine Sorgen machen.“

„Ich werde es ihr ausrichten“, versprach er. „Ruf mich an, wenn du den genauen OP-Termin weißt.“

Als er ging, war sie wieder allein. Johanna lag in einem Einzelzimmer. Sie wollte keinen Kontakt zu anderen Menschen und sich schon gar nicht deren Krankengeschichten anhören. Ihre eigene genügte ihr vollauf.

Sie wusste, dass sie hier gut betreut wurde in der Berling-Klinik, auch wenn weder Gernot noch seine Mutter diesen Namen hören wollten. Schon kurz nach seinem Weggang befiel sie wieder diese Einsamkeit, die wie Kälte in ihre Glieder kroch und sich nicht vertreiben ließ.

Gleichzeitig aber kehrte ihr eiserner Wille zurück, ganz gesund zu werden und eines Tages dem Leben wieder Freude abzutrotzen – trotz des schlimmen Geschehens vor drei Jahren.

***

Sie blieben nicht lange auf Jan Jordans Fete. Der Kollege hatte sie ganz herzlich begrüßt und sie aufgefordert, sich wie zu Hause zu fühlen. Tatsächlich ging es gar nicht so laut und lärmend zu, wie Simon befürchtet hatte. Trotzdem gingen sie nach einer knappen Stunde wieder. Erst verschwand er, dann folgte ihm Judith.

„Und was machen wir jetzt?“

Schließlich einigten sie sich auf die kleine Wein-Bar, die Judith schon vorgeschlagen hatte. Nach kurzer Zeit erreichten sie ihr Ziel. Simon bezahlte den Fahrer.

Schon beim Eintreten fühlte er sich hier wohl. In der kleinen Bar herrschte eine Atmosphäre von Intimität und Gemütlichkeit. Es gab sogar einen Pianisten, der im Hintergrund romantische Weisen spielte. An einem der runden Bistrotische nahmen sie Platz.

Schnell wurden sie sich einig, eine Karaffe Rotwein zu bestellen, dazu eine kleine Käseplatte für zwei Personen.

„Woher kennst du das Lokal?“, erkundigte sich Simon. Immer wieder betrachtete er ihr apartes Gesicht. Die Nase etwas zu groß, aber der Mund voll und die Augen voller Lebenslust.

Judith lächelte und hob kurz die Schultern an.

„Hier war ich früher mal gelegentlich mit meinem Freund.“

Da gerade der Wein gebracht wurde, wartete er mit seiner Bemerkung, bis der junge Kellner wieder gegangen war.

„Und wo ist er jetzt, dein Freund?“

„Er hat sich in Luft aufgelöst. Pft, weg war er.“ Judith lächelte ironisch, legte den Kopf auf die Seite und hob ihr Glas.

Sie stießen miteinander an. Schon der erste Schluck war gut. Simon betrachtete noch zwei Sekunden lang das funkelnde Rot.

„In Luft aufgelöst?“, wiederholte er amüsiert. „Wie ist das zu verstehen?“

„Genau so, wie ich es gesagt habe. Er fuhr nach Hannover zu einem Bewerbungsgespräch. Es ging um eine Stelle in einem Autohaus. Von dort ist er nicht wieder zurückgekehrt.“

„Und mit welcher Begründung?“

„Mit keiner. Er hat sich einfach nicht mehr gemeldet. Auch seine Handy-Nummer funktionierte nicht mehr.“ Judith verzog das Gesicht. „Anfangs konnte ich es nicht glauben. Die Ungewissheit war für mich schlimmer als jeder Betrug. Ich weiß einfach nicht, was passiert ist. Aber er muss alles gut vorbereitet haben.“

Er betrachtete ihre feinen Gesichtszüge, die sich schon nach dem zweiten Schluck Wein ein wenig röteten, was ihr ganz ausgezeichnet stand.

„Natürlich habe ich lange herumgerätselt, warum er nicht einfach gesagt hat, dass Schluss ist. Es hätte mich zwar getroffen, aber so was passiert halt. Gestern noch im Glück, und heute ist alles ganz anders. Damit müssen viele Menschen fertig werden. Aber so einfach mir nix, dir nix von der Landkarte zu verschwinden, das ist schon hart.“ Ihre Stimme begann zu schwanken. „Auch im Bekanntenkreis wusste niemand etwas. Als hätte er seine komplette Identität hinter sich lassen wollen, um in eine neue zu schlüpfen.“

„Verrückte Geschichte.“ Simon war so voller Anteilnahme, dass er nach ihrer Hand griff und sie festhielt. „Bist du immer noch traurig?“

Sie wischte sich kurz über die Augen.

„Nein“, sagte sie jetzt wieder mit gefestigter Stimme. „Vielleicht habe ich ihm wehgetan, ohne es zu wissen.“

„Vielleicht meldet er sich ja wieder.“

„Möglich, aber jetzt will ich nichts mehr von ihm hören. Trotzdem bleibe ich dabei, so geht man doch nicht mit einem Menschen um, den man mal geliebt hat.“

„Da kann ich dir nur beipflichten“, sagte Simon mit deutlicher Anteilnahme. „Bist du jetzt darüber hinweg?“

„Vollkommen“, antwortete sie nach kurzer Überlegung. „Manchmal träume ich noch, dass er plötzlich wieder vor der Tür steht. Und während ich überlege, ob ich ihn hereinlassen soll oder nicht, werde ich wach.“

Simon schenkte die Gläser wieder voll und bestellte gleich eine neue Karaffe.

„Und was ist mit dir?“ Sie schaute ihm in die Augen. „Gab es in deinem Leben noch keine Enttäuschung?“

„Doch, sogar eine große.“ Von ihrer Ehrlichkeit angenehm überrascht, fand auch er zum ersten Mal den Mut, einem anderen Menschen von dieser dunklen Zeit zu erzählen. Er hielt seinen Bericht aber kurz. Und zu seinem großen Erstaunen fühlte er sich danach erleichtert. Es war gut, darüber gesprochen zu haben.

Gegen Mitternacht verließen sie das kleine Lokal. Simon hatte darauf bestanden, die Zeche allein zu zahlen. Die gegenseitigen Geständnisse, der Weingenuss, die Neugier auf den jeweils anderen, all das versetzte sie in eine angenehme Hochstimmung und brachte sie einander näher.

„Und was machen wir jetzt mit der angebrochenen Nacht? Fahren wir zu dir oder zu mir?“

Judiths Frage enthielt so viel Verheißung, dass der Wunsch, mit einer Frau zusammen zu sein, mit jeder Minute größer wurde. Um ihn wenigstens ein bisschen zu stillen, küsste er sie auf der Straße. Sein Atem ging schneller.

„Was ist dir denn lieber?“

„Mein Apartment ist ganz in der Nähe. Wir können sogar zu Fuß gehen.“ Judith übernahm die Initiative und hakte sich zielsicher bei ihm unter.

Bereitwillig ließ er sich mitnehmen in eine verheißungsvolle Welt, die er schon viel zu lange vermisst hatte. Er kam sich vor wie ein männliches Dornröschen. Und Judith war die Prinzessin, die ihn erwecken würde – noch heute Nacht.

***

Johanna ließ die Worte des Arztes auf sich wirken.

„Wenn also das Adenom entfernt ist, werde ich wieder ganz normal leben können, vor allem ohne Schmerzen?“

„Davon gehen wir aus“, sagte Stefan Holl. „Die Zellwucherung in einer Ihrer Nebenschilddrüsen führt zu einer vermehrten Hormonausschüttung. Und diese Hormone, die zu viel sind, richten das Schmerzchaos in Ihrem Körper an.“

„Wie lange werde ich nicht arbeiten können?“

Als hätte der Besucher draußen vor der Tür nur auf dieses Stichwort gewartet, klopfte es – und Dr. Axel Lassow trat ein. Er hielt einen Blumenstrauß in der Hand und begrüßte seine Mitarbeiterin herzlich.

„Ich lass euch dann mal ein paar Minuten allein“, meinte Dr. Holl. Er hatte seinen Schwager gebeten, die Patientin davon zu überzeugen, dass sie nur dann wieder eine gute Anwältin sein könne, wenn sie dem Therapieplan zustimmte, den die Ärzte für sie ausgearbeitet hatten.

„Sie müssen sich Zeit für die Heilung lassen“, sagte jetzt auch Anwalt Lassow zu seiner Mitarbeiterin. „Einen Teil Ihrer Fälle übernehme ich selbst. Und den Rest bearbeitet ein neuer Kollege. Er heißt Achim Brendel.“

Johanna schluckte. Dr. Lassow hatte also schon Ersatz für sie gefunden.

„Heißt das, mein Platz ist schon besetzt?“

„Keineswegs“, erwiderte Stefans Schwager beruhigend. „Weil die Arbeit ständig zunimmt, hatte ich ohnehin vor, unser Team zu erweitern. Herr Brendel bleibt bei uns, auch wenn Sie wieder mit an Bord sind. Bitte, machen Sie sich keine Gedanken um Ihre berufliche Zukunft. Versprechen Sie mir das? Ihr Arbeitsplatz bei mir ist gesichert.“

Ein schwaches Lächeln erschien auf Johannas blassem Gesicht. Sie war ihm unendlich dankbar für diese Zusicherung. Und das sagte sie ihm auch in bewegten Worten.

Dr. Lassow blieb nicht lange. Er musste noch zu einem Termin am Münchner Oberlandesgericht.

„Wenn Sie erlauben, möchte ich mich bei meinem Schwager Stefan nach dem Fortschritt Ihrer Genesung erkundigen. Darf er mir Auskunft geben?“

Johannas Lächeln vertiefte sich.

„Ich habe keine Einwände“, sagte sie. „Und danke für die Blumen.“

Kurz nachdem sich ihr Chef verabschiedet hatte, erschien Dr. Kramer, der heute ziemlich gut gelaunt wirkte und ihr noch mal ausführlich den Hergang der Operation erklärte.

„Legen Sie mal den Kopf zurück“, verlangte er.

Johanna gehorchte. Simon fuhr mit dem Zeigefinger über ihren Hals.

„Mit Hilfe der Sonografie haben wir den Übeltäter geortet. Er befindet sich hier. Und genau hier machen wir einen kleinen Schnitt und holen ihn heraus. Sie bekommen eine Vollnarkose. Das Ganze ist in einer Stunde erledigt.“

„So schnell?“ Seine Fingerkuppe fuhr immer noch sanft auf ihrer Haut hin und her. Es war ein angenehmes Gefühl. Johanna schloss die Augen. Als er die Hand schließlich wegzog, verspürte sie so etwas wie Bedauern.

Sie schaute auf, direkt in seine grauen Augen, die ihr verrieten, dass der so unterkühlt wirkende Arzt auch sensibel sein konnte.

„Nach dem Eingriff müssen Sie sich noch schonen. Mindestens drei Wochen“, erklärte er und schenkte ihr ein teilnahmsvolles Lächeln. „Natürlich müssen Sie während dieser Zeit nicht in der Klinik bleiben, aber eine ständige Kontrolle der Laborwerte sollte vorerst beibehalten werden – in Ihrem eigenen Interesse.“

Der lächelt mich an, dachte Johanna. Ob er das bei allen macht?

„Tatsächlich ist der Eingriff nicht das Hauptproblem. Es kommt darauf an, wie groß der Schaden ist, den das Parathormon schon angerichtet hat. Und wichtig ist natürlich auch, dass die Schmerzen und die Übelkeit geheilt werden. Und dabei sind wir auf Ihre Mitarbeit angewiesen.“

Johanna nickte nur. Warum war Dr. Kramer heute so gesprächig? Er wirkte ein bisschen wie aufgedreht. Oder wie jemand, der immer noch von einem besonders schönen Erlebnis zehrte.

„Danke für Ihre Informationen“, sagte sie. „Ich werde tun, was Sie mir empfehlen, denn natürlich will ich meine Gesundheit zurück. Vor allem aber ein Leben ohne Schmerzen.“

Die Tür ging auf, und Schwester Judith schaute herein.

„Ach, hier bist du“, stellte sie fest. „Wir haben gerade Kaffee gemacht. Möchtest du auch einen?“

„Komme gleich“, erwiderte Dr. Kramer und wandte sich zu der Pflegerin um.

Johanna bemerkte das kurze Aufleuchten in seinen Augen. Und auch Schwester Judiths Lächeln verriet, dass sie Dr. Kramer zumindest ziemlich sympathisch fand. Aber ob wirklich zwischen den beiden mehr war als nur ein kollegiales Verhältnis, ließ sich aus diesem Blickkontakt nun auch wieder nicht schließen.

Und im Übrigen ging es sie ja auch gar nichts an. Sie hatte genug mit ihrem eigenen Privatleben zu tun, denn leider gab es Gernot nur im Doppelpack – mit Mama.

„Wir unterhalten uns noch mal vor dem Eingriff“, sagte Dr. Kramer zu Johanna. „Der Schweregrad des Eingriffs bei Ihnen ist nicht sehr hoch.“

Sie quittierte seine Bemerkung mit einem tiefen Seufzer.

Kaum war er weg, verstärkten sich die Schmerzen. Sie klingelte nach der Pflegerin, die ihr eine neue Injektion setzte.

***

Am gleichen Abend kam Dr. Holl noch mal bei ihr vorbei. Er setzte sich zu ihr.

„Wie fühlen Sie sich?“

„Es geht so“, erwiderte sie. Die Medikamente hielten die Schmerzen weitgehend im Zaum. Aber immer wieder stieg Übelkeit in ihr auf. Wenn sie nur an Essen dachte, begann ihr Magen schon zu rebellieren.

„Wie ich von Dr. Kramer weiß, hat er alles mit Ihnen besprochen, was die Operation betrifft. Haben Sie noch Fragen?“

„Nein, ich bin gut informiert.“

Stefan schwieg eine Weile. Er wollte etwas ansprechen, was ihm gleich von Anfang an aufgefallen war. Sorgsam überlegte er seine Worte.

„Ich habe mir Ihre Krankenunterlagen von damals noch mal angeschaut“, begann er schließlich. „Sie haben leider Ihr Baby verloren. Wie ist es Ihnen danach ergangen?“

„Bitte, Dr. Holl, ich möchte nicht, dass mein Verlobter davon erfährt“, sagte Johanna und atmete schwer.

„Aber jetzt, nach drei Jahren?“, warf Stefan ein.

„Er soll es auch heute nicht wissen. Warum schlafende Hunde wecken? Mit seiner Mutter ist es ohnehin schwierig. Er würde sich nur neue Sorgen machen. Welchen Sinn soll das haben?“

Sie holte tief Luft, bevor sie fortfuhr. „Ich wollte ihm ja alles sagen, sobald sich die Trauer um seinen Bruder ein wenig gelegt hatte. Aber als es ihm dann besser ging, sah ich, dass er unverändert eifersüchtig blieb auf seinen Bruder. Was sollte er davon haben, von meinem verlorenen Baby zu wissen? Du meine Güte, war es wirklich schon Leben – nach den wenigen Wochen?“ Johanna hatte so engagiert gesprochen, dass sie jetzt erschöpft abbrach.

„Selbstverständlich behalte ich all das für mich“, versuchte Stefan sie zu beruhigen. Er machte sich Vorwürfe, dass er wieder davon angefangen hatte. „Ich dachte nur, dass es Sie erleichtert, wenn Sie darüber sprechen können. Denn auch, wenn man nicht darüber reden will, vergessen kann man so was nie.“

Die Patientin ließ seine Worte auf sich wirken.

„Danke für Ihr Angebot, aber ich bin darüber hinweg. So ein beginnendes Leben ist doch erst mal nur eine Ansammlung von Zellen. Es ist noch nicht mal ein Fötus, sondern ein Embryo.“

Immerhin hat sie sich darüber informiert, dachte Stefan.

„Alles ist am Anfang der Entwicklung. Der Embryo hat keine Organe, keine Augen, kein Herz, nicht wahr?“

„Ab der fünften Schwangerschaftswoche beginnt das Herz zu schlagen. Nachweisbar ist der Herzschlag in der achten Woche“, bestätigte Stefan.

„Ja, ich hätte damals Trost gebraucht“, fuhr Johanna jetzt mit leiser Stimme fort. „Aber ich wollte Gernot den zusätzlichen Schmerz ersparen.“ Sie schluckte. „Der Unfall geschah am Vortag unserer Verlobung. Natürlich wurden alle Feierlichkeiten abgesagt. Wir haben uns dann erst zwei Jahre später verlobt.“

Eigentlich wollte Stefan nur herausfinden, wie sehr sie unter ihrer Depression litt. Denn er zweifelte nicht daran, dass die Depression sie immer noch gefangen hielt. Wie eine glückliche Frau sah sie jedenfalls nicht aus. Aber wenn sie keine Hilfe wollte, durfte er sich nicht aufdrängen.

Ein längeres Schweigen trat ein. Als Stefan dachte, es sei jetzt besser zu gehen, begann sie wieder zu sprechen.

„Ich saß damals am Steuer. Michael wollte selbst fahren, obwohl er betrunken war. Das konnte ich nicht zulassen. Er beschimpfte mich und griff mir während der Fahrt ins Lenkrad, ich verlor die Kontrolle – und dann geschah es.“

Johanna spürte noch heute den Schrecken. Jede einzelne Sekunde konnte sie im Zeitraffer nacherleben. Michaels Ärger, dass er nicht fahren durfte, ihre Panik, als der Wagen ins Schleudern geriet, der Aufprall, verbunden mit einem Wahnsinnsgeräusch, das sie noch lange in ihren Albträumen verfolgte. Michaels gellender Schrei …

Mit der Beifahrerseite knallte der Wagen gegen einen LKW. Sie wurde bewusstlos und erwachte erst im Rettungswagen wieder. Michael hatte nach Auskunft der Ärzte sein Bewusstsein nicht wiedererlangt.

Immerhin hatte sie jetzt über das Trauma von damals gesprochen, dachte Dr. Holl. Vielleicht war das ein Anfang.

„Wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe, sagen Sie einfach nur Bescheid.“

Er war schon an der Tür, als ihm noch etwas einfiel.

„Am Abend vor der Operation wird sich Dr. Kramer noch mal mit Ihnen unterhalten.“

Mit diesen Worten verabschiedete er sich. Johanna lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Es ging ihr nicht wesentlich besser, aber sie fühlte sich eine Spur entspannter, so als habe jemand ein klein wenig ihre innere Panzerung gelockert.

***

Dr. Simon Kramer befand sich immer noch auf einem gefühlsmäßigen Höhenflug. Die Nacht mit Judith war so schön gewesen. Es hatte schon einige Wiederholungen gegeben.

Er genoss diese neuen Empfindungen, die ihm eine angenehme Leichtigkeit verschafften. Plötzlich kam er morgens schnell aus den Federn, der Umgang mit seinen Patienten wurde verbindlicher, und auf die Abende freute er sich.

Judith machte immer neue Vorschläge, was sie unternehmen könnten. Kino, Theater, Disco-Club, Zoo, eine Reise nach Südtirol – sie sprühte nur so vor Ideen, wenn es um die Gestaltung ihrer gemeinsamen Freizeit ging.

Als sie aber ihrer Phantasie freien Lauf ließ und nach wenigen Tagen des Zusammenseins schon von ewiger Liebe sprach, trat er in Gedanken einen Schritt zurück, um wieder einen besseren Überblick zu bekommen.

„Ich weiß ganz sicher, dass du der Richtige für mich bist“, schwärmte sie. „Und wenn du genauso denkst, warum tun wir uns nicht zusammen? Du ziehst zu mir und kannst die Miete für deine Wohnung einsparen. Von unseren beiden Gehältern legen wir jeden Monat einen bestimmten Betrag zurück. Dann haben wir schnell die Anzahlung für eine Eigentumswohnung beisammen. In zehn Jahren spätestens ist der Kredit zurückgezahlt. Wir verdienen genug, um uns ein Kind leisten zu können, vielleicht sogar zwei und dann …“

„Jetzt gehen die Pferde mit dir durch“, meinte Simon trocken. „So weit sind wir noch nicht, meine Süße. Erst mal müssen wir uns besser kennenlernen. Noch wissen wir ja gar nicht, ob wir dauerhaft miteinander auskommen. Du kennst all meine schlechten Eigenschaften noch nicht. Wenn du die herausgefunden hast, reden wir weiter. Zwei kann ich dir schon verraten: Ich bin ein Morgenmuffel und ein Pessimist.“

Judith ließ sich von seinen Worten nicht beeindrucken, sondern strahlte noch ein bisschen mehr.

„Alle Männer haben Angst vor der endgültigen Bindung“, klärte sie ihn auf. „Glaubst du vielleicht, ich weiß das nicht? Du bist offensichtlich keine Ausnahme. Aber keine Sorge, du wirst schon bald merken, dass es nichts Schöneres im Leben gibt, als einen Menschen ganz für sich zu haben.“

„Nun ja“, meinte er gedehnt. „Das glauben alle Paare, wenn sie verliebt sind und die Welt nur rosarot sehen. Aber wenn man sich die Scheidungszahlen anschaut, wird man bald eines Besseren belehrt.“

Dieses Gespräch ging ihm durch den Kopf, als er an der Wäschekammer vorbeikam. Zwei schlanke Arme griffen nach ihm und zogen ihn in den fensterlosen Raum. Die Tür wurde mit dem Fuß zugedrückt.

Im Netz der Spinne gefangen, dachte er belustigt, aber auch ein wenig skeptisch.

Judith aber freute sich über ihren Fang, strahlte ihn an und drückte ihm einen zarten Kuss auf den Mund. Sie war dabei, frische Handtücher auf ihren Wagen zu laden.

„Du kommst mir gerade recht“, flüsterte sie ihm triumphierend ins Ohr.

Simon wunderte sich. So besitzergreifend hatte er sie gar nicht eingeschätzt, aber was wusste er schon wirklich von ihr?

Ihre Hände fuhren über seine Hüften, um sein Verlangen zu wecken. Fast hätte Simon dem nachgegeben, doch im letzten Moment erkannte er, wie verrückt diese Situation war. Wenn sie jemand hier erwischte, würde der Vorfall schnell die Runde machen. Das abfällige Gelächter wäre groß. Und alle würden ihnen die süffisante Frage stellen, ob es wirklich in der Wäschekammer besser ging als zu Hause im Bett. Für alle Zeiten würde er als sexbesessener Arzt verschrien sein.

Außerdem fürchtete er den Zorn des Chefarztes, der womöglich zu einer fristlosen Entlassung führte. Denn auch Simon fand, dass ein solches Verhalten eines Oberarztes nicht würdig war.

„Lass das“, hörte er sich sagen. Mit beiden Händen schob er sie von sich weg. „Wenn plötzlich jemand hereinkommt und uns hier ertappt, wäre das sehr unangenehm … für uns beide.“

„Findest du?“, seufzte sie bedauernd. „Schneller Sex mit dem zusätzlichen Kick, es an einem öffentlichen Ort zu tun und dabei erwischt zu werden …“

Was war bloß mit Judith los? Er kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

„Nein!“ Seine Stimme klang härter als beabsichtigt. „Das geht wirklich nicht. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn uns jemand sieht.“ Im nächsten Moment hatte er die Tür schon wieder geöffnet und stand auf dem Gang.

„Feigling!“, zwitscherte sie und lachte. „Dann bis heute Abend bei mir. Mal sehen, ob du dann auch so zurückhaltend bist.“

Er war schon ein paar Schritte gegangen, als er ruckartig stehen blieb und sich umwandte.

„Heute Abend geht es nicht“, sagte er. „Ich muss morgen früh um sieben in der Klinik sein. Gleich drei OPs stehen auf dem Plan.“

„Das macht doch nichts. Ich wecke dich pünktlich um sechs und serviere dir sogar noch ein kräftiges Frühstück.“

Simon schüttelte den Kopf. Wenn er zu ihr ging, würde er nur wenig Schlaf finden.

„Morgen Abend“, sagte er, winkte ihr noch einmal zu und eilte davon, um sich ihrem Einfluss zu entziehen.

Judith war nur kurz enttäuscht. Schon dachte sie darüber nach, wie sie ihn erneut in eine hübsche Falle locken könnte. Ihr ging das mit der neuen Beziehung nicht schnell genug. Für sie stand fest, dass sie den Richtigen gefunden hatte, auf den sie schon so lange wartete.

Vielleicht befiel sie am Abend ein unbändiges Herzrasen, das unbedingt von einem Arzt kontrolliert werden musste. Und wenn er nicht zu ihr kam, dann ging sie eben zu ihm. Irgendwas würde ihr schon einfallen.

***

Gernot fuhr am Abend noch mal in die Klinik, um seiner Johanna alles Gute für den morgigen Tag zu wünschen. Bei einem gemeinsamen Gespräch mit dem operierenden Arzt Dr. Kramer hatte er sich den Eingriff erklären lassen, sodass er sich jetzt ein Bild davon machen konnte.

„Es wird alles gut“, sagte er und strich Johanna über die Wange. „Keine Angst, mein Schatz.“

Bevor sie sich wieder über seinen Standardsatz aufregte, versuchte sie mit einem Lächeln ihren Unmut zu vertreiben.

„Es ist ja keine besonders große Sache. Dr. Kramer hat Erfahrung in solchen Dingen. Ich vertraue ihm. Aber erzähl mir von dir. Ist in der Firma alles okay?“`

„Den Zuschlag von der Gemeinde haben wir bekommen. Baustart ist in vier Wochen.“ Gernot beugte sich vor und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Mutter und ich, wir finden, du solltest nach deiner Entlassung erst einmal bei uns wohnen. Sie möchte dich so gern umsorgen.“

„Deine Mutter – mich?“ Johanna verzog das Gesicht. Diese Vorstellung amüsierte sie. Ausgerechnet Annemarie! „Ist nicht dein Ernst, oder?“