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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1799: Nur ein Teil deines Herzens
Notärztin Andrea Bergen 1278: Dr. Kaufmann gibt nicht auf!
Dr. Stefan Frank 2232: Ich will nur dich!
Dr. Karsten Fabian 175: Tatort Altenhagen
Der Notarzt 281: Die hübsche Ärztin wollte mehr für ihn sein
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 597
Veröffentlichungsjahr: 2022
Katrin Kastell, Marina Anders, Stefan Frank, Ina Ritter, Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 34
Cover
Impressum
Nur ein Teil deines Herzens
Vorschau
Nur ein Teil deines Herzens
Plötzlich war das Ende ihres Glücks ganz nah
Von Katrin Kastell
Vielleicht ist es Schicksal, dass die bildhübsche Krankenschwester Laura Bertram Dienst hat, als der charmante, äußerst attraktive Robin Vogt mit einer komplizierten Mittelfußfraktur in die Berling-Klinik eingeliefert wird.
Laura und Robin fühlen sich sofort stark zueinander hingezogen. Es ist wie ein süßer Rausch, von dem der Patient und die Krankenschwester gleichermaßen erfasst werden.
Schon schmieden sie Zukunftspläne für die Zeit nach Robins Entlassung – da taucht überraschend eine fremde, sehr elegante Frau in der Klinik auf, um Robin zu sich nach Hause zu holen …
Laura saß vor der Umkleidekabine des Herrenausstatters und blätterte in einer Modezeitschrift. Der Bericht über die aktuellen Farben des Winters weckte ihr Interesse. Sie las ihn aufmerksam. Erst ein Räuspern über ihrem Kopf ließ sie wieder aufschauen.
„Na, wie sehe ich aus?“, erkundigte sich der schlanke Mann und breitete mit einer etwas verlegenen Geste die Arme aus. „Bitte, ganz ehrlich, Laura, bin ich dafür nicht schon zu alt?“
„Quatsch!“, erwiderte sie spontan und betrachtete ausgiebig das Outfit des Freundes. „Dreh dich mal.“
„Ich bin doch nicht auf dem Laufsteg“, murrte er leise, kam dann aber doch ihrer Aufforderung nach, wenn auch mit sichtlichem Unwillen.
„Der Pullover sitzt gut, aber die Jeans könnte ein bisschen enger sein.“
„Ganz meine Meinung“, mischte sich jetzt der Verkäufer ein. „Ihre Frau hat recht. Diese Hose ist zu groß. Einen Moment, ich hole sie Ihnen eine Nummer kleiner.“
Laura grinste ihren Begleiter amüsiert an.
„Sehen wir wirklich aus wie ein Ehepaar?“, fragte sie, als der Verkäufer außer Hörweite war.
„Keine Ahnung. Wie sehen Ehepaare denn aus? Was unterscheidet sie von einem befreundeten Paar?“
Laura dachte nach, doch bevor sie eine Antwort fand, kam der flinke Verkäufer schon zurück, zwei weitere Jeans über dem Arm.
„Also gut“, seufzte Christian. „Die noch, aber dann ist Schluss. Ich habe genug anprobiert.“
„Stell dich nicht so an!“, rief Laura ihm in die Kabine nach. „So was machen wir Frauen fast jede Woche einmal.“
Was er ihr antwortete, verstand sie nicht. Also vertiefte sie sich wieder in die neuen Winterfarben, bis Christian ein weiteres Mal vor sie hintrat. Diesmal passte die Jeans perfekt. Sein ansehnlicher Hintern kam gut zur Geltung. Doch jetzt meckerte er über den Preis.
„Hundertfünfzig Euro für eine Jeans ist ganz schön happig. Ich weiß nicht, ob ich …“
„Bei deinem Gehalt kannst du dir das durchaus leisten“, meinte sie. „Nimm sie. Und den Pullover auch. Darin siehst du richtig flott aus.“
„Ach wirklich? Also gut, wenn du meinst, ich verlass mich auf dich.“
Einige Minuten später trat er in den Sachen aus der Kabine, in denen er gekommen war. Dem Verkäufer drückte er Jeans und Pullover in die Hand.
„Noch einen passenden Gürtel vielleicht?“, erkundigte der sich geschäftstüchtig. „Wir haben auch ganz neue Mohairschals hereinbekommen. Wenn Sie hier mal schauen wollen?“
„Danke, das wär’s für heute“, erwiderte Christian und schüttelte den Kopf.
An der Kasse steckte er seine Kreditkarte ins Lesegerät, nahm den Beleg entgegen und verließ mit Laura den Laden. Draußen auf der Straße seufzte Christian auf.
„Das war viel anstrengender, als eine Stunde im OP zu stehen.“
„Du übertreibst wie immer“, erwiderte Laura gelassen. „Was machen wir jetzt? Ich hätte gern einen Kaffee.“
„Dann lade ich dich dazu ein.“
Die Temperatur lag bei null Grad. Es begann leicht zu schneien. Nach ein paar Schritten betraten sie ein Café am Viktualienmarkt.
„Auch was Süßes zum Kaffee?“ Christian deutete auf die üppige Kuchentheke.
Rasch schätzte Laura die für heute noch vertretbaren Kalorien ab, dann entschied sie sich für einen Striezel, ein typisch bayrisches Schmalzgebäck. Christian schloss sich ihr an.
„Danke jedenfalls, dass du mitgekommen bist“, sagte er, nachdem sie an einem Tisch Platz genommen hatten. „Ich kann das selbst nicht gut einschätzen, was mir passt und was mir steht.“
„Dafür sind Freunde da“, erwiderte Laura und strich ihm mit dem Handrücken über das Kinn. „Du hast dich gar nicht rasiert“, stellte sie fest.
„Morgen wieder. Heute war mein freier Tag, da hab ich es mal nicht so genau genommen.“
Cappuccino und Kuchen wurden serviert. Beim Anblick des Gebäcks bekam Laura richtig Appetit. Vielleicht würde sie deswegen das Abendessen ausfallen lassen, aber sicher wusste sie es noch nicht. In drei Stunden könnte sie durchaus wieder hungrig sein.
„Was steht denn morgen früh an?“
„Zunächst das Übliche, zwei Oberschenkelhalsprothesen“, erwiderte Christian. „Anschließend ein Ellenbogenersatz. Ich habe am Vormittag mit Dr. Holl telefoniert. Das Ellenbogengelenk für die Patientin ist endlich eingetroffen. Darauf haben wir schon seit ein paar Tagen gewartet. Jetzt kann’s endlich losgehen.“ Christian trank einen Schluck Kaffee. „Und was ist mit dir? Hast du morgen Dienst?“
Da Laura sich gerade ein Stück Schmalzgebäck in den Mund geschoben hatte, beließ sie es bei einem Nicken.
„Wir könnten morgen Abend ins Kino gehen. Was meinst du?“
„Mal sehen.“ Laura zeigte sich nicht sonderlich begeistert. „Vielleicht treffe ich mich morgen mit einer Freundin.“
„Ganz, wie du willst“, sagte Christian. „Gib mir nur rechtzeitig Bescheid.“
Er hatte sein Gebäck schneller aufgegessen als seine Begleiterin und schob seinen Teller jetzt zur Seite.
„Am Mittwoch ist Jahrestag. Unternehmen wir etwas?“
Ein trauriger Schatten legte sich über Lauras Gesicht.
„Was schlägst du denn vor?“
„Wir gehen essen und bestellen uns Eriks Lieblingsessen.“
Tafelspitz mit Röstkartoffeln, Cremespinat und Apfelkren – dafür hätte man ihren Bruder nachts aufwecken können.
„Einverstanden“, sagte sie und leerte ihre Tasse.
Vor fünf Jahren war Erik nach langer Krankheit gestorben. Weder die lückenlose Betreuung der Ärzte in der Berling-Klinik noch die rührende Liebe seiner kleinen Schwester hatten sein Leben retten können. Heute wäre er sechsunddreißig, ein Jahr jünger als sein bester Freund Christian Schelling.
Christian arbeitete als Chirurg in der Berling-Klinik und nahm hauptsächlich die operative Behandlung von Knochen, Implantaten, Frakturen, Tumoren und Gelenkfehlstellungen vor. In dieser Spezialdisziplin war er sehr erfolgreich.
Chefarzt Dr. Holl beglückwünschte sich noch heute, den jungen Kollegen mit einem ordentlichen und vor allem langfristigen Vertrag engagiert zu haben.
Laura Bertram, Eriks zwölf Jahre jüngere Schwester, arbeitete inzwischen als Krankenpflegerin ebenfalls in der Berling-Klinik. Christian hatte ihr gesagt, dass neue Pflegekräfte gesucht wurden. So hatte sie sich beworben und eine Vollzeitstelle bekommen.
Damals, als Erik starb, hatte sie noch mitten in der Ausbildung gesteckt. Dieses tragische Ereignis hatte sie vollkommen die Orientierung verlieren lassen. Im ersten Impuls hatte sie alles hinwerfen und sogar ihre Ausbildung abbrechen wollen.
Mit viel Zuspruch und der ständigen Bereitschaft, für sie da zu sein, hatte Christian sie schließlich erfolgreich von diesem Schritt abgehalten. Im Laufe der Zeit hatte sich ihr unermesslicher Schmerz in einen Zustand gewandelt, der mit Wehmut besser umschrieben war. Heute konnte sie akzeptieren, dass das Leben trotz des Todes eines nahestehenden Menschen weiterging, ja, weitergehen musste.
Der ältere Bruder war für sie ihre Familie gewesen und ein Ersatz für den früh verstorbenen Vater, der nie darüber hinwegkam, dass seine Frau ihn und die Kinder wegen eines wesentlich jüngeren Mannes verlassen hatte. Inzwischen war auch sie verstorben. Von ihrem Lebensgefährten wollte Laura nichts wissen. Sie kannte ihn auch kaum.
„Hallo, was ist los?“ Christians schlanke Hand wedelte vor ihrem Gesicht. „Komm zurück, du bist mal wieder ganz weit weg.“
Laura lächelte, konnte sich aber nicht entschließen, ihm den Grund für ihre kurze Abwesenheit zu nennen.
„Ich habe an die Arbeit gedacht“, log sie. „In letzter Zeit habe ich oft Ärger mit Kerstin. Ständig glaubt sie, mir Vorschriften machen zu müssen, nur, weil sie ein paar Jahre älter ist als ich.“
„Versuch einfach, dich gut mit ihr zu stellen“, riet Christian ihr. „Das ist besser für das Arbeitsklima.“ Er beugte sich ein wenig vor und dämpfte die Stimme. „Ich sag’s dir jetzt schon, aber du musst es noch für dich behalten. Kerstin wird kündigen.“
„Na so was! Danke für die Info. Das freut mich. Und weißt du auch, warum sie von der Klinik weg will?“
„Und ob ich das weiß.“ Sein Blick wurde verschwörerisch. „Ich habe sie engagiert. Sie wird meinen Vater betreuen.“
Erstaunt öffnete Laura den Mund und vergaß sekundenlang, ihn wieder zuzuklappen.
„Na so was!“, sagte sie noch einmal, doch es klang schon gar nicht mehr so erleichtert. „Ist sie denn auch in Altenpflege ausgebildet?“
„Ja, sie hat mir ihre Zeugnisse gezeigt. Ich kann meinen Vater nicht mehr allein lassen. Darum bin ich über Kerstins Unterstützung sehr froh.“ Damit war dieses Thema für ihn offensichtlich erledigt.
Kurz darauf winkte Christian der Bedienung und zahlte.
„Du bist eingeladen“, sagte er zu Laura. „Schließlich hast du mich in Sachen Mode beraten.“
Anschließend bestellte er ein Taxi, das zuerst Laura nach Haidhausen in ihre kleine Wohnung brachte und ihn dann nach Oberföhring, wo er mit seinem Vater allein in einer alten Jugendstilvilla wohnte.
***
Der Einbau des Hüftgelenks in den Oberschenkel verlief problemlos. Die sechzigjährige Patientin lag in Vollnarkose auf einem speziellen Tisch. Gemeinsam mit Dr. Holl hatte Dr. Christian Schelling den Eingriff anhand der Röntgenbilder und eines Computerprogramms am Bildschirm exakt vorgeplant.
Die Operation wurde von vorn durchgeführt. Christian zog einen kurzen, cirka acht Zentimeter langen Schnitt auf dem rechten Oberschenkel. Bei dieser Technik wurden die Muskeln nur zur Seite geschoben und daher nicht gequetscht oder eingekerbt. Diese minimal-invasive Vorgehensweise schonte die große Hüftmuskulatur und ermöglichte eine schnelle Heilung und frühe Rehabilitation.
Das einzusetzende Material bestand aus Keramik. Es verminderte den Abrieb und zeichnete sich durch lange Haltbarkeit aus. Fast alle Patienten gewannen nach diesem Eingriff ihre Mobilität in Rekordzeit zurück und konnten schon nach wenigen Tagen wieder nach Hause entlassen werden.
Mithilfe der Bildschirmnavigation legte Dr. Holl die genaue Positionierung des aus zwei Teilen bestehenden Implantats fest. Dies und die genaue Beinlängeneinschätzung waren nötig, um ein Hinken zu verhindern.
Christian entfernte die geschädigten Knochenteile, verankerte den Gelenkschaft im Oberschenkel und steckte den kugelförmigen Gelenkkopf passgenau in die Gelenkpfanne.
Die Chirurgen hatten sich bei diesem Eingriff einvernehmlich für Knochenzement entschieden, einen Kunststoff, der den Metallschaft dauerhaft im Knochen verankerte.
Dr. Andrea Kellberg verkündete zufriedenstellende Kreislaufwerte. Alles verlief optimal. Eine Bluttransfusion war nicht nötig geworden.
„Sie können schon zurückfahren“, sagte Dr. Holl zur Anästhesistin. „Wir haben’s gleich.“
Nach einer guten Stunde war die minimal-invasive Implantation erfolgreich beendet. Es war die letzte OP für heute. Beide Ärzte spürten, dass sie genug getan hatten.
„Jetzt muss ich mich endlich mal wieder in Ruhe hinsetzen“, sagte Dr. Holl. „Gehen wir noch auf einen Kaffee?“
Wenig später saßen sie in der um diese Zeit ziemlich leeren Cafeteria. Der Klinikchef trank einen Espresso, sein jüngerer Kollege einen Cappuccino.
Stefan Holl wusste, dass Dr. Schelling eine intensive Schulung als orthopädischer Chirurg absolviert und schon viele Hüft-OPs durchgeführt hatte. Seit dieser Spezialist in der Berling-Klinik arbeitete, kamen mehr und mehr Menschen auch von weit außerhalb, um sich hier operieren zu lassen. Was sowohl dem Ruf, als auch den Finanzen des Hauses guttat.
Dr. Holl wollte gerade sagen, wie zufrieden er mit Dr. Schellings Arbeit war, als dieser ihm zuvorkam.
„Da wir gerade ungestört beisammensitzen, muss ich Ihnen leider etwas gestehen, Dr. Holl.“ Christian räusperte sich. „Es handelt sich um eine Kündigung …“
„Hoffentlich nicht Ihre.“ In einem Anflug von Enttäuschung stellte Stefan seine Tasse zurück, die ohnehin schon leer war.
„Nein, nein. Es handelt sich um Frau Lechner.“
„Ach so, ja, das weiß ich. Schade. Sie war eine tüchtige Pflegekraft.“
„Sie wird bei mir als Privatpflegerin arbeiten. Bitte glauben Sie nicht, dass ich sie abgeworben habe. Es ergab sich im Laufe eines Gesprächs, dass sie sich verändern wollte, warum auch immer. Und da ich mich schon seit einiger Zeit nach einer Pflegerin für meinen Vater umschaue, habe ich ihr ein Angebot gemacht. Ich wollte, dass Sie das wissen, bevor es Ihnen von anderer Seite zugetragen wird.“
„Danke für Ihre Information“, sagte Dr. Holl und zog leicht die Schultern an. „Die freie Stelle ist schon ausgeschrieben. Nein, ich bin Ihnen nicht böse. Mitarbeiter kommen und gehen. Das ist nun mal so. Mal bedaure ich es, mal nicht. Hauptsache, Sie bleiben uns noch lange erhalten.“
„Ich habe nicht die Absicht wegzugehen“, versicherte Christian eilig. „Ich liebe München. Und ich liebe meine Arbeit und ebenso das gute Betriebsklima hier.“
„Das freut mich, Herr Kollege.“
Auf Christians Gesicht zeigte sich ein befreites Lächeln.
„Ich lebe hier in meinem Elternhaus zusammen mit meinem Vater, auch er ist ein waschechter Münchner.“
„Darf ich fragen, was Ihrem Vater fehlt?“
„Fortschreitende Demenz. Seit meine Mutter vor zehn Jahren an einem Gehirntumor gestorben ist, braucht er ständig jemanden um sich herum. Ein paarmal ist er schon weggegangen und hat nicht mehr zurückgefunden. Die Polizei brachte ihn dann nach Hause.“
Christian verstummte kurz und seufzte traurig.
„Und da ich nicht ständig bei ihm sein kann, möchte ich diese Aufgabe einem Pfleger oder einer Pflegerin übertragen. Natürlich wird er auch regelmäßig von einem Kollegen untersucht. Aber wie wir ja wissen, gibt es für diese Krankheit noch keine Therapie.“
Dr. Holl nickte zustimmend, und Christian nippte an seinem Kaffee.
„Die Kosten für die Ganztagsbetreuung sind zwar beträchtlich, aber Vater hat von meinem Großvater ein ordentliches Barvermögen geerbt“, fuhr der Arzt fort. „Außerdem hat er während seiner aktiven Tätigkeit als Notar sehr gut verdient.“
„Ich wünsche Ihnen und Ihrem Vater alles Gute“, sagte Dr. Holl.
Nach der kurzen Pause schlenderten sie auf die Station zurück. Alle Patienten, die von Dr. Christian Schelling heute operiert worden waren, befanden sich schon wieder auf ihren Zimmern und wurden postoperativ von den Pflegekräften versorgt.
Bevor er nach Hause fuhr, machte er noch einen Rundgang. Zurzeit befand sich eine hilfsbereite Nachbarin bei seinem Vater, er konnte sich also Zeit lassen.
Ab dem nächsten Ersten zog Kerstin dann in die beiden nicht benutzten Räume im Erdgeschoss, von denen einer gleich neben dem Schlafzimmer des Vaters lag. So war die Pflegerin immer in seiner Nähe.
Ganz wohl war Christian bei der Vorstellung nicht, Kerstin nun ständig unter seinem Dach zu haben. Sie konnte manchmal ziemlich bestimmend sein und schien wohl auch ein Auge auf ihn geworfen zu haben.
Aber da er den Vater gut versorgt wissen wollte, während er in der Berling-Klinik arbeitete, und es sehr schwierig zu sein schien, eine gute Pflegekraft zu finden, redete Christian sich ein, es bliebe ihm gar nichts anderes übrig, als Kerstin zu engagieren.
Zunächst hatte er gezögert, ihr das separate Zwei-Zimmer-Apartment anzubieten, sich dann aber über seine eigenen Zweifel hinweggesetzt. Das Wohl des Vaters erschien ihm wichtiger. Und das Haus war groß genug. Sogar eine Familie mit mehreren Kindern hätte noch bequem Platz.
***
Laura kaute immer noch an Christians Eröffnung herum. Nicht, dass sie missgünstig wäre, aber dass ausgerechnet die arrogante Kerstin eine gute Pflegerin für Christians Papa sein sollte, bezweifelte sie doch stark. Sie gönnte es Kerstin einfach nicht, in der schönen Villa zu wohnen.
Laura sah schon kommen, dass sich die Kollegin über kurz oder lang als Hausherrin aufspielen würde. Ganz klar, diese Schlange war auf Männerfang. Schon seit geraumer Zeit suchte sie nach ihren eigenen Worten ein gut gepolstertes Nest, in das sie einziehen konnte. Von einer glücklichen Familie hatte sie geschwärmt, von reizenden Kindern und angenehmen finanziellen Verhältnissen.
Auf keinen Fall, hatte Kerstin gesagt, wollte sie sich ewig als Krankenpflegerin abrackern. Allerdings fehlte ihr zur Erfüllung all dieser Wünsche noch der entsprechende Mann.
Wenn der manchmal etwas naive Christian Kerstins Absichten nicht schnell genug erkannte, würde Laura ihn warnen müssen.
Andererseits sah sie natürlich ein, dass er wirklich dringend Hilfe brauchte. Den Vater in ein Heim zu geben, das war für ihn keine Option.
„He, warum schaust du so grimmig drein? Was ist los mit dir?“
Marion stellte ihr Tablett mit dem Essen und einem Glas Saft auf den Tisch.
„Ach nichts“, erwiderte Laura und versuchte ein lockeres Lächeln anzuknipsen.
„Störe ich dich?“
„Nein, überhaupt nicht. Setz dich. Ich musste gerade über etwas nachdenken.“
„Dieses Etwas scheint dir aber Kopfzerbrechen zu machen“, meinte Marion.
Da Laura sich sehr gut mit der Kollegin verstand, erzählte sie ihr kurzerhand, was sie gerade so beschäftigte.
„Mach dir doch nicht so viele Gedanken“, schlug Marion zwischen zwei Bissen Risotto vor. „Wenn dem Doc damit geholfen ist, ist’s doch gut. Oder bist du etwa eifersüchtig?“
„Unsinn!“ Laura schüttelte eine Spur zu heftig den Kopf. „Da ist nichts zwischen uns. Christian war der beste Freund meines Bruders. Seit Eriks Tod hat sich Christian um mich gekümmert. Na ja, wir haben uns beide ein bisschen Halt gegeben. Und weil wir Freunde sind, mache ich mir natürlich Sorgen, wenn da irgendwas laufen sollte, was ihn unglücklich macht.“
„Hm.“ Marion schien noch nicht ganz überzeugt von Lauras Erklärung.
„Außerdem ist er viel zu alt für mich.“
„Wirklich?“
„Dreizehn Jahre sind ein zu großer Unterschied.“
„Nun ja.“ Marion zuckte mit den Schultern. „Wenn das der einzige Minuspunkt ist …“
„Findest du etwa nicht?“
„Ein reifer Mann, kein Jungspund …“
Lauras Brauen zogen sich ärgerlich zusammen.
„Sag mal, hast du auch noch was anderes drauf als diese kurzen Kommentare?“
„Vielleicht bist du ja doch eifersüchtig und weißt es nur noch nicht. Denn eigentlich sollte es dir doch egal sein, was Dr. Schelling tut.“
„Ich glaube, du willst mich absichtlich missverstehen. Entschuldige, dass ich dich mit meinem Problem belästigt habe“, erwiderte Laura seufzend.
Sie wollte gehen, doch Marion hielt sie am Arm fest.
„Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt“, sagte sie mit bittendem Ton. „Ich hab’s wirklich nicht bös gemeint.“
„Ist schon gut. Du hast ja recht. Wieso kümmere ich mich um Dinge, die mich eigentlich gar nichts angehen? Christian ist siebenunddreißig. Da wird er seine Entscheidungen wohl allein treffen können.“
„Der Meinung bin ich auch.“ Marion nickte ihr aufmunternd zu und widmete sich wieder ihrem Risotto, während Laura sich auf dem Weg auf die Station energisch befahl, sich keine Sorgen mehr um Christian zu machen, weil es nicht nötig war.
***
Am frühen Abend wurde ein neuer Patient eingeliefert. Er hatte Münchens schönstes Wahrzeichen besichtigt, war beim Abstieg vom Turm von St. Peter die Stufen hinuntergefallen und hatte sich so schwer am linken Fuß verletzt, dass er nicht mehr auftreten und nur noch mit einem Ambulanzfahrzeug in die Klinik gebracht werden konnte.
Dr. Jordan, der diensthabende Arzt in der Notaufnahme, begutachtete den angeschwollenen Fuß. Auch einige Einblutungen waren zu erkennen.
„Um eine genaue Diagnose zu bekommen, müssen wir den Fuß röntgen“, ordnete er an.
Als die bildgebende Diagnostik vorlag, schüttelte der Arzt besorgt den Kopf.
„Hier wird es nicht mit einer konservativen Behandlung getan sein“, stellte er fest. „Die Fraktur muss operiert werden.“
„Um Himmels willen.“ Betroffen verzog der junge Mann das Gesicht. „Muss das wirklich sein?“
„Ich fürchte, ja. Schauen Sie, hier verlaufen verschiedene Bruchlinien. Die Knochen sind deutlich verschoben. Das ist eine komplizierte Fraktur. Hier sind genaue Korrekturen erforderlich, anderenfalls könnten Sie etwas zurückbehalten.“
So schnell wollte sich der Patient mit der Auskunft des Arztes nicht zufriedengeben.
„Warum legen Sie den Fuß nicht einfach in Gips?“
„Dann heilen die Stücke falsch zusammen. Sie werden Schwierigkeiten beim Laufen haben, womöglich sogar dauernde Schmerzen.“
„Verdammt, warum muss das ausgerechnet mir passieren?“ Stöhnend bog der Patient den Kopf nach hinten.
„Die Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten, Herr …“
Dr. Jordan schaute auf das Krankenblatt, das Schwester Sina schon ausgefüllt hatte.
„Herr Vogt. Wie ich sehe, sind Sie sechsundzwanzig. Sie werden Ihren Fuß also noch lange brauchen. Ein Grund mehr, die bestmögliche Therapie zu wählen. Außerdem können Sie den Fuß nach einer Operation schneller belasten. Der Gips bleibt mindestens sechs Wochen drauf, und Sie müssen an Krücken gehen.“
Dr. Jordan wies Schwester Sina an, eine schmerzstillende Salbe aufzutragen und dann einen lockeren Verband zu legen.
„Wenn die Schmerzen zu groß werden, sagen Sie Bescheid, dann bekommen Sie noch eine Spritze. Operieren können wir frühestens morgen. Sie müssen also hierbleiben.“
Der junge Mann presste enttäuscht die Lippen zusammen.
„Ich wollte mit Freunden zum Skifahren nach Kitzbühel.“
Jan Jordan ging das Gejammer des Patienten ziemlich auf die Nerven.
„Das können Sie vergessen“, erklärte er knapp. „Skilaufen? In diesem Winter ganz bestimmt nicht mehr. Schwester Sina, bringen Sie ihn auf die Station.“
Gemeinsam halfen Arzt und Pflegerin dem Verletzten in einen Rollstuhl.
„Und warum kann die Operation nicht sofort stattfinden?“
„So dringend ist es nun auch wieder nicht“, beschied Dr. Jordan ihm. „Die Schwellung sollte erst etwas nachlassen. Morgen kümmert sich unser Knochenspezialist um Sie. Alles klar, Herr Vogt?“
Robin Vogt verzog das Gesicht, was Schwester Sina sofort zu einem tröstenden Lächeln veranlasste. Der attraktive junge Mann gefiel ihr auf Anhieb. Es tat ihr leid, dass sie jetzt dienstfrei hatte und sich nicht weiter um ihn kümmern konnte.
Wenige Minuten später betrat Laura das Krankenzimmer.
„Hallo“, sagte sie und stellte sich vor. Dass sie immer noch unter ihrer schlechten Stimmung litt, sah man ihr an.
„Hallo“, knurrte Robin. „Was geschieht jetzt mit mir?“
„Erst einmal kriegen Sie jetzt gleich ein Abendessen.“
„Ich bin völlig verzweifelt. Denken Sie wirklich, dass ich jetzt was essen kann?“
„Warum nicht? Essen hält Leib und Seele zusammen“, versuchte sie den aufgebrachten Mann zu beruhigen.
„Mag schon sein, aber ob das auch so ein Krankenhausessen schafft, kann ich kaum glauben. Das ist doch ohnehin Einheitskost.“
„Probieren Sie es. Wenn es Ihnen nicht schmeckt, lassen Sie es halt stehen“, erwiderte Laura mit gleichbleibender Freundlichkeit. „Später schaut Dr. Donat noch mal nach Ihnen. Soll ich Ihnen beim Ausziehen helfen?“
Robin blieb nichts anderes übrig, als ihr Angebot anzunehmen. Die enge Jeans, ein teures Designerstück, hatte man ihm im Ambulanzfahrzeug schon zerschnitten, um ihm die höllischen Schmerzen beim Herunterstreifen zu ersparen.
Laura half ihm aus Pullover und Hemd. Und da er nichts weiter dabei hatte, zog sie ihm einen dieser albernen Klinikkittel über, in dem sich die meisten Patienten wie ein Kleinkind vorkamen.
„Haben Sie jemanden, der Ihnen ein paar Sachen herbringen kann?“
„Ja, das regele ich schon“, erwiderte er zugeknöpft. Erst als ihm klar wurde, dass diese umwerfend aussehende Krankenschwester nichts für sein Unglück konnte, hellte sich seine Miene etwas auf. „Ich bin ein verdammter Pechvogel.“
„Manchmal passiert einem etwas, womit man nicht gerechnet hat. Aber machen Sie sich keine allzu großen Sorgen. Sie hätten sich bei dem Sturz noch viel mehr brechen können. Unser Dr. Schelling kriegt den Fuß wieder hin, das kann ich Ihnen garantieren.“
„Wirklich?“
„Er ist der Spezialist für Frakturen. Bei ihm sind Sie in den denkbar besten Händen, glauben Sie mir.“
Laura betrachtete den jungen Mann mit wachsendem Interesse. Seine tiefblauen Augen übten eine geradezu faszinierende Wirkung auf sie aus.
Er gab sich keine Mühe, seinen Kummer über das Pech vor ihr zu verbergen. Sogar ein paar Tränen liefen über sein schönes Männergesicht.
Das rührte Laura so sehr, dass sie kurz davor war, ihm ein paar widerspenstige Locken seines Haares zurückzustreichen.
Da er diese Geste aber missverstehen könnte, tat sie nichts dergleichen, sondern munterte ihn mit einem freundlichen Lächeln auf. Auf dem Gang weiter unten war schon ein Klappern zu hören, was bedeutete, dass der Essenswagen schon näher heranrollte.
„Ich lasse Sie jetzt allein. Wenn es ein Problem gibt, klingeln Sie, und ich komme sofort.“
Er nickte abwesend und wandte sich dann seinem Handy zu. Dass Laura mit einem „bis später“ hinausging, schien er nicht zu bemerken.
***
Juju Holl, das Nesthäkchen in der Arztfamilie, weinte bitterlich, als Papa Stefan nach Hause kam.
„Um Himmels willen, was ist denn passiert?“, erkundigte er sich bei seiner Frau, die ihre Tochter fest an sich gedrückt hielt.
„Jujus Schulkameradin Chiara ist tödlich verunglückt“, sagte Julia leise. „Es war ein Autounfall. Ihre Mutter ist schwer verletzt.“
„Mein Gott, wie schrecklich.“ Stefan setzte sich zu den beiden.
Juju schluchzte. Nur unverständliche Laute kamen über ihre Lippen.
„Das ist ein schwerer Schicksalsschlag für die Familie“, sagte Julia Holl. „Manchmal ereignen sich solche Dinge. Dagegen kann man nichts tun.“
Jetzt warf sich das Mädchen an die Seite des Vaters. Stefan barg es in seinen Armen. Sie warteten geduldig, bis Juju sich ein wenig beruhigte. Alles andere musste jetzt warten.
„Wie habt ihr es erfahren?“, wollte er wissen.
„Emmas Mutter rief an.“ Julia wischte sich über die Augen. Auch sie war ziemlich mitgenommen von der Hiobsbotschaft. Erst vor drei Tagen waren Emma, eine andere Freundin Jujus, und Chiara hier gewesen. Julia hatte den Kindern Saft und die restlichen Weihnachtskekse serviert.
Gestern war der erste Schultag nach den Ferien gewesen. Und heute hatte sich dieser schreckliche Unfall ereignet.
„Das wird ein Schock für die ganze Klasse sein“, fuhr Julia fort. „Möglicherweise müssen die Kinder psychologisch betreut werden. Ich habe schon mit der Lehrerin telefoniert und meine Hilfe angeboten.“
„Das war gut.“ Stefan drückte Julias Hand.
„Emmas Mutter hat noch gesagt, dass Frau Borg schwanger ist. Ob sie das Kind behalten kann, steht noch nicht fest. Man hat sie ins Marien-Krankenhaus gebracht.“
Mit ihren Eltern an der Seite wurde Juju ein wenig ruhiger.
„Du sagst doch immer, dass Kinder einen Schutzengel haben“, hielt sie ihrer Mutter vor. „Wo war denn der von Chiara?“
Stefan und Julia warfen sich einen ratlosen Blick zu.
„Nun ja“, meinte Stefan nach kurzer Überlegung. „Wir wissen ja nicht genau, wie es zu dem Unfall kam. Wenn Menschen große Fehler machen, zum Beispiel beim Lenken eines Wagens oder einer Bahn, dann kann der Schutzengel nicht schnell genug eingreifen und …“
„Also gibt es keine Schutzengel“, rief Juju klagend. „Oder sie tun gerade etwas anderes, wenn ein Kind in Gefahr ist.“
„Natürlich helfen sie den Menschen, wenn sie können. Auch den Erwachsenen.“ Stefan musste jetzt eine Antwort finden, die Juju halbwegs zufriedenstellte. Er gab sich einen Ruck. „Aber es stimmt, sie können nicht immer die gesamte Menschheit vor Unglücken und Katastrophen schützen. Das heißt aber nicht, dass du nun nicht mehr an sie glauben sollst.“
„Hast du schon mal Schutzengel gesehen?“ Juju hob das verweinte Gesicht zu ihrem Vater auf.
„Nein“, sagte er. „Ich glaube, man sieht sie nicht. Es sind übernatürliche Wesen. Wie gesagt, man kann nur an sie glauben. Manche Künstler haben sie aber auf Bildern verewigt, die im Museum zu sehen sind. Wenn du willst, gehen wir am Sonntag hin.“
„Ja, das will ich“, bestätigte Juju nach kurzem Nachdenken.
„Auch wenn man sie nicht sehen kann, so weiß ich doch, dass du einen hast, mein Schatz“, fügte Julia hinzu. „Denk nur an deine Krankheit.“
Überdeutlich kam die Erinnerung zurück, als die Jüngste in der Familie ihre Leukämie-Erkrankung überwunden hatte. Wie froh und glücklich waren sie damals alle gewesen, als nach einer erfolgreichen Therapie die Entwarnung kam.
„Ja, ich bin wieder gesund geworden.“ Juju schaute zu ihrem heiß geliebten Vater auf. „Aber das habe ich auch dem Papa zu verdanken. Er hat mich behandelt. Und was hat mein Schutzengel getan?“
„Als er sah, dass Papa alles richtig machte, hatte er keinen Grund einzugreifen“, erklärte Julia ihrer Tochter.
„Hm.“ Die Argumente der Eltern musste sie erst einmal auf sich wirken lassen.
„Wir wär’s, wenn wir jetzt etwas zu essen machen? Du könntest mir dabei helfen.“
Juju war sofort einverstanden. Cäcilie, die Wirtschafterin bei den Holls, kam erst kommenden Montag aus ihrem Weihnachtsurlaub zurück. Während ihrer Abwesenheit hatten sowohl Julia als auch die vier Holl-Kinder sich abwechselnd in der Küche betätigt. Stefan fiel die Rolle des Servierers zu.
Dani und Marc, die erwachsenen Zwillinge, kochten mit Vorliebe asiatische Reis- und Gemüsegerichte. Chris, der mittlere Sohn, war ein großer Pasta-Fan, und Juju hätte am liebsten täglich Würstchen oder Burger gegessen, was bei den anderen weniger gut ankam.
„Immer Würstchen und Burger sind ungesund“, belehrte Studentin Dani die kleine Schwester. Zurzeit absolvierte sie einen Kurs in Ernährungsbiologie. Daraus folgte, dass sie ihrer Familie immer wieder Vorträge über ausgewogene Ernährung, über Nährstoffe und Energieumsatz hielt. Juju fand das meistens nicht so interessant.
Mutter und Tochter begaben sich in die Küche. Julia schlug Rührei mit Tomaten vor.
„Dazu backen wir ein Brot.“ Sie holte die fertige Backmischung aus dem Vorratsschrank. „Weißt du noch, wie der Teig angerührt wird?“
Juju nickte eifrig und band sich sogar eine Schürze um, bevor sie alle Zutaten in eine passende Schüssel gab.
Julia war froh, dass ihre Tochter vom Kummer erst einmal abgelenkt war. Morgen würde sie mit der Lehrerin und anderen Müttern über eine würdige Trauerfeier für Chiara beraten.
***
Nachdem Dr. Christian Schelling sich die Röntgenbilder angeschaut hatte, begrüßte er den neuen Patienten.
„Da haben Sie sich ja einen ordentlichen Fehltritt geleistet, Herr Vogt“, sagte er freundlich lächelnd. „Aber machen Sie sich keine Sorgen, das kriegen wir wieder hin.“
Robin schien sein Pech inzwischen ein wenig verwunden zu haben. Dr. Schelling nahm an seinem Bett Platz und erklärte ihm die geplante Vorgehensweise.
„Bei Ihnen ist der fünfte Mittelfußknochen gebrochen, aber nur wenig verschoben. Hier können wir ein Schraubenimplantat einsetzen. Dazu ist nur ein kleiner Schnitt notwendig. Anschließend stellen wir den Fuß in Gips ruhig.“
„In Gips?“ Robin verzog das Gesicht.
„Na ja, wir nennen es so. Tatsächlich ist es eine Alternative, nämlich ein Castverband, so was wie ein Kunststoffgips. Dieses Gewebe besteht aus Glasfasern oder Polyester. Das ist insofern günstig, weil es weniger wiegt, eine höhere Festigkeit hat und gegenüber Wasser unempfindlich ist. Schon nach einer halben Stunde ist so ein Verband voll belastbar. Aber vorher müssen die Knochenstücke natürlich in die richtige Lage gebracht werden. Das erledigen wir morgen.“
„Und wann kann ich nach Hause?“
„Ein oder zwei Tage nach der OP. Allerdings müssen regelmäßig Röntgenkontrollen vorgenommen werden. Danach entscheiden wir, wann der Fuß allmählich wieder belastet werden kann.“
„Und die Operation ist wirklich nötig?“
„Ja, unbedingt. Beim Bruch des fünften Mittelfußknochens kommt es häufiger zu einer falschen Gelenkbildung. Damit hätten Sie dann ewig Schwierigkeiten und Schmerzen. Das muss nicht sein, schon gar nicht in Ihrem Alter.“
„Also gut, ich füge mich in mein Schicksal, bleibt mir ja auch gar nichts anderes übrig“, erwiderte Robin mit gespielter Ergebenheit. „Seinem Schicksal entkommt man nicht.“
„Es wird alles wieder in Ordnung kommen“, erklärte der Chirurg, nahm die Röntgenbilder an sich und stand auf.
„Morgen um neun legen wir los. Gleich kommt noch Frau Dr. Kellberg, um mit Ihnen eventuelle Allergien zu besprechen.“ Christian ging zur Tür.
„Warten Sie, Doktor!“, rief der Patient ihm nach. „Wo ist Schwester Laura? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.“
„Ich glaube, sie hat frei.“
„Ach wirklich? Ich hätte so gern noch mit ihr gesprochen. Sie ist wirklich eine ganz liebe Person. Sie hat mich so nett getröstet. Ich möchte mich bei ihr bedanken.“
Christian presste unwillkürlich die Lippen zusammen. Als ihm das bewusst wurde, flüchtete er sich in ein Lächeln.
„Ich werde sie Ihnen vorbeischicken, wenn ich sie sehe“, versprach er und verließ schnell das Zimmer.
Tatsächlich kreuzten sich wenig später ihre Wege. Laura begrüßte ihn und wollte wissen, ob alles okay sei.
„Bestens“, erwiderte Christian und überlegte ernsthaft, ob er das Versprechen, das er Robin Vogt gegeben hatte, wirklich einlösen sollte. „Der smarte Patient von Zimmer zwölf hat sich nach dir erkundigt“, teilte er dann launig mit.
Laura errötete sanft. „Wirklich?“
„Er scheint dich zu mögen.“ Er betrachtete sie prüfend. Schlich sich da nicht ein leises Strahlen in ihre schönen Augen? „Ganz begeistert hat er von deiner Zuwendung erzählt. Morgen früh operiere ich ihn.“
Das Strahlen vertiefte sich.
„Dann will ich mal gleich nach ihm schauen“, sagte Laura und schwebte davon.
Mit einer gewissen Verbitterung schaute er ihr nach. Wenn sie mit ihm sprach, hatte sie noch nie diesen Ausdruck im Gesicht gehabt. Aber was erwartete er? Laura und er kannten sich ewig. Und sie hatte wohl noch nie mit dem Gedanken gespielt, dass zwischen ihnen mehr sein könnte als Freundschaft.
***
„Ich habe schon gehört, dass es Ihnen heute besser geht“, sagte Laura beim Eintreten.
„Hallo, Schwester Laura!“ Robin breitete die Arme aus. „Ich freue mich, Sie zu sehen. Wo haben Sie denn den ganzen Tag gesteckt?“
„Vor einer Stunde war Schichtwechsel. Ich habe Dienst bis zum frühen Abend.“
„Dann können Sie mir ja Gesellschaft leisten“, erwiderte er mit einem charmanten Lächeln. „Der Schock über mein Missgeschick sitzt immer noch tief. Nur Sie können mir da heraushelfen.“
„Na hören Sie mal, Sie sind hier nicht allein. Wir haben insgesamt dreißig Patienten auf dieser Station. Die anderen wollen auch alle betreut werden.“
„Aber ich bin der Netteste von allen“, erwiderte er so selbstbewusst, dass Laura lachend den Kopf schüttelte.
„An Minderwertigkeitskomplexen scheinen Sie nicht zu leiden“, stellte sie fest.
„Sollte ich?“
„Keine Ahnung.“ Ihr gefiel das Geplänkel. „Schön, dass Sie Ihre Lage so humorvoll sehen.“ Sie wollte sich wieder entfernen, doch er hielt sie zurück.
„Ich glaube, Sie sollten mal meinen Blutdruck messen, ich bin ziemlich nervös.“
„Einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.“ Zwei Minuten später kam Laura mit dem Messgerät zurück. Während sie die Manschette aufpumpte, schaute Robin Vogt sie unentwegt an, doch peinlich war ihr das nicht. Vielmehr fühlte sie sich von ihm so sehr angezogen, dass sie sich am liebsten zu ihm auf die Bettkante gesetzt hätte.
Natürlich tat sie es nicht. Erstens könnte jemand hereinkommen und sie sehen, und zweitens würde Robin Vogt ihr Verhalten ganz sicher falsch verstehen.
Falsch verstehen? Fast hätte sie über sich selbst gelacht. Was gab es da falsch zu verstehen? Robin war der erste Mann seit Langem, der ein heftiges Interesse in ihr weckte. Natürlich musste sie alles tun, ihn das nicht merken zu lassen.
Doch anscheinend war es dazu schon zu spät. Er schaute sie auf eine Art und Weise an, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ.
„Hundertzwanzig zu achtzig.“ Ihre Stimme klang gepresst. „Der Blutdruck ist in Ordnung, aber die Herzfrequenz ein paar Takte zu schnell.“
„Und du weißt, warum“, sagte er leise, umfasste ihr Handgelenk und ließ es nicht mehr los. „Dass ich das schönste Mädchen seit Langem ausgerechnet in einer Klinik treffe, ist ja so was von verrückt.“ Er richtete sich ein wenig auf. „Du spürst es doch auch. Unsere Begegnung ist kein Zufall, das ist Schicksal.“
„Aber hör mal, wir kennen uns doch gar nicht“, versuchte sie seinen Enthusiasmus zu stoppen.
„Ich habe das Gefühl, dich schon ewig zu kennen“, erwiderte er so ernst, dass ihr die Knie weich wurden. „Du und ich, das ist ein wahr gewordener Traum.“
Laura schluckte.
„Auch wenn sich das nicht schickt, am liebsten würde ich den Anfang unserer Liebe mit einem Kuss besiegeln.“
Bei dem Tempo, das er vorlegte, befiel sie auch noch ein Schwindel. Liebe? Hatte sie richtig gehört? Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
„Ich sehe schon, das ist ein bisschen viel für dich. Es tut mir leid, wenn ich dich mit meinem Bekenntnis erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Aber ich weiß, dass wir füreinander bestimmt sind. Denk darüber nach. Lass die Situation auf dich wirken.“
„Woher willst du das denn so schnell wissen?“, fragte Laura und umklammerte das Messgerät.
„Das ist keine Frage des Wissens oder der Vernunft. Mein Herz sagt mir so deutlich wie nie zuvor, dass du die Frau bist, auf die ich schon lange warte. Darf ich dich küssen, Laura?“
Eigentlich wollte sie Nein sagen, aber alles in ihr drängte zu ihm. Sie war nicht mehr in der Lage, die Folgen ihres Handelns abzuschätzen. Keine Warnlampe leuchtete, nirgendwo tauchte ein Schild mit dem Schriftzug „Achtung!“ auf.
Aber zum Glück kam jetzt die Anästhesistin herein und enthob Laura einer Entscheidung.
„Einen schönen guten Abend“, sagte die Ärztin aufgeräumt und ging mit ausgestreckter Hand auf den Patientin zu. „Herr Vogt? Ich bin Dr. Kellberg und werde Sie morgen lokal narkotisieren. Mein Kollege Dr. Schelling meinte, dass bei Ihnen auch eine Lokalanästhesie reichen würde. Er hat maximal eine Stunde für die OP geplant. Sind Ihnen Allergeien bekannt …“
Laura nutzte die Gelegenheit, sich wieder auf sicheres Terrain zu retten. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete sie mehrmals tief durch. Unglaublich, was dieser Patient in ihr ausgelöst hatte. Hoffentlich kehrten bald wieder die Vernunft und ein klarer Durchblick zurück.
Warum sollte sie sich in eine Beziehung mit unklarem Verlauf stürzen? Es ging ihr doch gut. Und eigentlich fehlte ihr auch die Liebe nicht.
Oder doch?
***
Am nächsten Morgen kamen Dr. Schelling und Dr. Holl in den OP zwei, als der Patient schon in Seitenlage auf der verstellbaren Tabula lag. Robin Vogt war wach, aber die Lokalanästhesie wirkte schon. Der Patient wirkte leicht benommen.
Leise Klaviermusik beschallte den Saal. Da Christian in diesem Bereich der Chirurgie spezialisierter war als der Chefarzt, fungierte Stefan als zweiter Operateur und war sich auch nicht zu schade, Anweisungen des jüngeren Kollegen auszuführen.
„Wir werden hier versuchen, den Eingriff durch einen kleinen Hautschnitt vorzunehmen, was das Risiko einer Wundinfektion minimiert“, sagte Christian durch seinen Mundschutz hindurch.
Ohne dass er es wollte, musste er an den gestrigen Abend denken. Das kurze Gespräch, als Laura aus dem Zimmer des Patienten kam. Das glückselige Lächeln in ihrem Gesicht. Das Leuchten in den braunen Augen.
„He, was ist los mit dir?“, hatte er sie gefragt.
„Nichts, was soll denn sein?“
„Du wirkst so abwesend, als kämst du geradewegs von einem anderen Stern. Hat der Patient Vogt dich verwirrt?“
„Verwirrt?“, wiederholte sie wie ein Papagei. „Wie kommst du darauf? Wir hatten ein angeregtes Gespräch.“
„Das sieht man.“ Er kam sich schon wie eine männliche Gouvernante vor. „Er muss dir ja was ganz Besonderes erzählt haben.“
Leider erfuhr er keine weiteren Details, wobei er sich auch fragte, ob er die wirklich wissen wollte. Bevor er noch etwas Verbindendes sagen konnte, kam ein Ruf in die Notaufnahme. Also ließ er Laura stehen und eilte davon.
Christian atmete tief durch und schaute auf das kurze Skalpell in seiner Hand. Jetzt war nicht die Zeit, sich Gedanken über Lauras seltsame Verirrungen zu machen. Er war hier, um dem jungen Patienten den Mittelfuß so zu richten, dass alles gut war, ganz egal, welche Absichten dieser gegenüber Laura hegte. Wichtig war allein der Erfolg dieser Operation, damit Robin Vogt sich in absehbarer Zeit wieder ganz normal auf seinen Füßen fortbewegen konnte.
Während Stefan die Blutstillung vornahm, schob Christian mit Hilfe der Röntgenkontrolle einen Draht in die schmale Wunde und zog damit die Bruchfragmente des fünften Mittelfußknochens so zusammen, dass die Bruchlinien genau aneinanderlagen.
„Passt perfekt“, bemerkte Dr. Holl, der den Zusammenhalt der Frakturstücke gründlich prüfte.
Nun probierte Christian kurz die Funktion des kleinen Bohrers aus. Als ein leises Brummen ertönte, führte er das Gerät in die feinen Knochenfragmente. Dadurch entstand ein Kanal, in den er eine stabile Schraube so tief hineinschob, bis die Bruchlinie zwischen den beiden Stücken fast nicht mehr erkennbar war.
„Geht es Ihnen gut?“, erkundigte sich Stefan Holl bei dem Patienten, der nur einen kurzen Laut von sich gab. Die Chirurgen deuteten ihn als Zustimmung.
Es erfolgte eine letzte Bildschirmkontrolle. Anschließend wurde der Fuß zwecks Ruhigstellung mit dem Kunststoffmaterial einbandagiert. Das Ganze sah aus wie ein Stiefel.
„Jetzt muss nur noch alles verheilen!“ Mit diesen aufmunternden Worten des Chefarztes versehen wurde der Patient in sein Zimmer zurückgebracht.
***
Laura war ziemlich aufgeregt, als sie Robin mittags das Essen brachte. Eigentlich gehörte das nicht zu ihren Aufgaben, aber sie wollte ihn einfach wiedersehen, auch wenn sie sich das nicht eingestand. Und natürlich wollte sie auch erfahren, ob seine Äußerungen von gestern ernst gemeint waren.
„Wie ist es dir ergangen?“, fragte sie und stellte das Tablett auf den Nachttisch, der eine ausziehbare Platte hatte.
„Ich hab gar nichts gespürt“, berichtete Robin und schaute sie so intensiv an, dass ihr schon wieder ganz heiß wurde. „Einen Teil der OP habe ich sogar verschlafen, obwohl es nur eine Lokalnarkose war.“
Sie schmolz geradezu unter seinem Blick. Und ihre Wangen bekamen schon wieder diese verräterische rosige Farbe. Dabei hatte sie sich vorgenommen, die Gelassenheit in Person zu sein! Nur mit der Durchführung haperte es ein wenig.
„Hattest du Angst um mich?“, fragte Robin.
„Aber nein.“ Ihr kurzes Auflachen klang gekünstelt. „Wenn du hier bei uns von zwei Spezialisten operiert wirst, hast du nichts zu befürchten. Und jetzt solltest du etwas essen.“ Sie half ihm, sich aufzurichten und die Beine über die Bettkante nach unten hängen zu lassen.
„Im Liegen ist das Ding nicht ganz praktisch“, meinte Robin seufzend. „Zum Glück ist es ziemlich leicht.“
„Leichter jedenfalls als Gips. Die Dinger heißen übrigens Walker. Und es gibt sie in verschiedenen Farben.“
„Mir wäre es lieb, wenn ich diesen Verband nicht brauchen würde, dann könnte ich nämlich mit dir ausgehen. Und wir würden es uns bei mir gemütlich machen.“
Seine Worte klangen verheißungsvoll. Laura fühlte sich immer heftiger zu ihm hingezogen. Noch kämpfte sie dagegen an, aber sie ahnte schon, dass sie dieser Anziehungskraft kaum widerstehen konnte.
„Was nicht ist, kann ja noch werden“, sagte sie und erwiderte seinen glutvollen Blick, schaute aber als Erste weg.
Einen kurzen Augenblick herrschte Stille.
„Was machst du beruflich?“, fragte Laura dann, so locker es ihr in dieser Situation möglich war. „Erzähl mir was von dir.“
„Seit dem Herbst studiere ich in München BWL, aber dieses Fach liegt mir nicht.“
„Und warum wechselst du dann nicht?“
Für einen kurzen Moment zog er trotzig die Mundwinkel nach unten.
„Das würde meinem Vater nicht gefallen. Er hat sich nun mal in den Kopf gesetzt, dass ich die Firma übernehmen soll, damit er sich zur Ruhe setzen kann. Ich fürchte aber, daraus wird nichts. Ich bin zwar an der Uni eingeschrieben, aber ansonsten lasse ich mich dort kaum blicken. Und einen Abschluss mache ich ganz bestimmt nicht.“
Vater-Sohn-Konflikt, dachte Laura mitfühlend.
„Und wenn du ganz ruhig mit ihm über deine Wünsche redest?“
„Ha!“, rief er aus. „Du kennst meinen alten Herrn nicht. Der wusste schon immer, was das Beste für mich war. Auf Teufel komm raus will er mich nach seinen Wünschen formen. Darum hab ich es auch nicht mehr ausgehalten und bin nach München gegangen. Hat ihm natürlich nicht gepasst, aber ich habe ihm erklärt, dass ein Studium in München qualitativ besser ist. Wenigstens das hat er geschluckt.“
Robin war jetzt so aufgebracht, dass sie beruhigend seine Hand streichelte.
„Was willst du denn stattdessen machen?“
„Keine Ahnung. Geografie vielleicht. Ich habe mich noch nicht entschieden. Ist jetzt aber auch nicht so wichtig. Hauptsache, ich kriege jeden Monat mein Geld.“
Laura wusste aus den Patientenunterlagen, dass Robin sechsundzwanzig war. In dem Alter sollte man eigentlich wissen, wohin die Reise gehen sollte. Aber er schien es nicht nötig zu haben, sich für die Zukunft beruflich fit zu machen.
„Eines Tages erbe ich ja doch alles. Wozu soll ich mir jetzt also den Kopf mit etwas vollstopfen, was mich nicht interessiert?“
„Was ist, wenn dein Vater herausfindet, dass du gar nicht richtig studierst?“, hielt sie dagegen.
Warum fing sie an, sich Gedanken über seine Probleme zu machen?
„Ich werde ihn schon irgendwie besänftigen.“ Jetzt lächelte er stolz. Sein Unmut war schon wieder verflogen. „Er hat ja nur mich. Ich bin das einzige Kind.“
„Und deine Mama?“
„Die hat auf sein Geld gepfiffen und ist mit einem anderen auf und davon. Das hat mein Vater bis heute nicht verwunden.“
Laura biss sich auf die Unterlippe. Ihr kam der Gedanke, dass Robin womöglich die Trennung seiner Eltern noch nicht verkraftet hatte.
„Aber jetzt habe ich dich kennengelernt. Ich bin ein Glückspilz. Ich möchte mit dir was unternehmen, auch wenn ich zurzeit keine großen Sprünge machen kann.“
Er warf einen schrägen Blick auf den Walker.
„Sag mal, hast du den Führerschein?“, fügte er dann hinzu.
„Ja, allerdings nicht allzu viel Fahrpraxis.“
„Das macht nichts. Dann könntest du das Steuer übernehmen. Die Fahrpraxis kommt dann ganz von selbst.“
„Aber zunächst einmal musst du ja noch hierbleiben.“
„Zwei oder drei Tage hat Dr. Schelling gesagt. Du musst mir jetzt schon versprechen, dass du mich besuchen wirst.“
„Das werde ich tun“, erwiderte Laura. „Aber jetzt musst du dich aufs Gesundwerden konzentrieren.“
Wieder tauschten sie einen innigen Blick. Sie fühlte sich ihm so nah wie noch nie einem Menschen zuvor, ihren Bruder Erik vielleicht ausgenommen. Jetzt gab es nur sie und Robin.
Laura erinnerte sich, dass sie eigentlich hier war, um allen kranken Patienten auf der Station beizustehen – und nicht nur einem einzigen. Darum musste sie jetzt unbedingt aus diesen Träumereien aussteigen und wieder in die Realität zurückkehren.
„Was ist, wenn dein Vater nun herausfindet, dass du gar nicht ernsthaft studierst? Hast du keine Angst, dass er dir dann das Geld streicht?“
„Ich weiß noch nicht, was dann sein wird. Lass uns von was anderem reden. BWL liegt mir nun mal nicht. Wenn ich an Wirtschaftsmathematik, an Organisation oder Management denke oder gar an Bilanzierung krieg ich Pickel.“
„Entschuldige“, bat sie leise.
„Außerdem gibt es viel interessantere Themen.“ Er zog sie sanft neben sich auf das Bett. „Zum Beispiel wir beide und wie wir mit unseren Gefühlen umgehen. Du hast mir vom ersten Augenblick an gefallen. Ich jedenfalls spüre ganz deutlich, dass wir zusammengehören.“ Er machte eine kurze Pause. „Hast du über das nachgedacht, was ich dir gestern gesagt habe?“
„Ja, natürlich habe ich das. Ich war so aufgewühlt, dass ich kaum schlafen konnte.“ Laura drehte ihm das Gesicht zu. „Von Tag zu Tag werden wir uns besser kennenlernen …“
„Mir ist, als würden wir schon alles voneinander wissen“, unterbrach er sie. „So ist nun mal das Wesen der Liebe. Sie kommt plötzlich wie ein Blitz, und innerhalb einer Sekunde ist dein Leben verändert.“
Laura war hingerissen von der Art und Weise, wie er ihre so junge Beziehung sah. War es überhaupt schon eine? Sie war sich da nicht so sicher.
Aber alles an Robin gefiel ihr. Sein Äußeres, seine Stimme, seine schlanke Figur. Wenn er stand, war er einen halben Kopf größer als sie. Wie gern würde sie sich an ihn anlehnen. Aber damit musste sie warten, bis er wieder fest auf beiden Beinen stand.
„Und jetzt möchte ich einen Kuss!“, bat er so samtweich, dass sie nicht widerstehen konnte.
Laura legte die Arme um seinen Hals. Seine festen Lippen legten sich verlangend auf ihren Mund. Ihr Herz raste, und ihr ganzer Körper vibrierte. Ja, sie begehrte ihn auch, hier in diesem Krankenzimmer, in das jederzeit jemand …
„Was ist denn hier los?“ Schwester Kerstins erstaunter Blick ging von einem zum anderen. Doch schnell wandelte sich ihr Erstaunen in höhnischen Triumph.
Während Laura sich von Robin abstieß, wollte er sie festhalten.
„Ich habe Herrn Vogt das Essen gebracht“, stammelte sie überrumpelt und ärgerte sich gleichzeitig, dass sie überhaupt eine Entschuldigung formulierte. Kerstin war schließlich nicht ihre Vorgesetzte.
„Das Essen“, wiederholte Kerstin genüsslich. „Das süße Dessert hast du ja offensichtlich nicht vergessen.“
Laura sprang auf, zog den Kittel nach unten und schickte sich an, den Raum zu verlassen.
„Nimm das Tablett wieder mit“, rief Robin ihr nach. „Ich habe ohnehin keinen Hunger.“
Kerstin verließ hinter Laura das Krankenzimmer.
„Ich kann kaum glauben, was ich da gesehen habe“, zischte sie in Lauras Nacken. „Ob das der Oberschwester gefallen wird?“
„Wenn dich Petzen glücklich macht, nur zu. Das ist deine Entscheidung.“
Laura hob ihren Kopf so hoch wie möglich und schob das Tablett in die dafür vorgesehene Stellage.
Danach wandte sie sich noch einmal um und versuchte, Kerstin mit einem vernichtenden Blick zu strafen. Doch die hielt die Arme vor der Brust verschränkt und grinste so boshaft, dass Laura Übelkeit empfand.
Was hatte sie sich da nur eingebrockt? Sie konnte sich lebhaft ausmalen, was Kerstin mit ihrem losen Mundwerk sagen würde: Die Laura legt sich ganz ungeniert zu einem Patienten ins Bett, oder so etwas Ähnliches …
***
Christian erfuhr als Erster von Lauras Verfehlung. Kerstin berichtete ihm brühwarm von dem Vorfall in Zimmer zwölf, als sie mittags in der Cafeteria saßen.
„Die Kollegin hat sich ziemlich ungeniert an den Patienten rangemacht“, teilte sie scheinbar gelassen zwischen zwei Löffeln Fruchtjoghurt mit. „Na ja, irgendwie ist es ja auch verständlich.“
„Was ist daran verständlich?“
„Robin Vogt ist eine Sahneschnitte von Mann“, erklärte Kerstin ihm. „Außerdem kommt er aus dem nordischen Finanzadel, er ist der einzige Spross einer Hamburger Reederei. Klar, dass die Frauen auf ihn fliegen.“
„Ach wirklich?“ Christian versuchte den Stich in seinem Herzen zu ignorieren. Schließlich war es nichts Neues, dass Laura sich gelegentlich mit einem jungen Mann traf. Warum auch nicht? Er tat es ja auch mit anderen Frauen, sie waren doch nicht miteinander verheiratet!
Bisher hatte sie sich fast immer mit Internet-Bekanntschaften getroffen. Und er war nicht müde geworden, sie vor solchen Verabredungen zu warnen. Wenn er versuchte, ihr ein solches Rendezvous auszureden, machte sie sich über den altmodischen Begriff lustig.
„Das nennt man heutzutage ein Date, mein Lieber“, klärte sie ihn auf.
Glücklicherweise fand Laura die Kandidaten in der Realität nicht so attraktiv, dass sie einen von ihnen wiedersehen wollte.
„Ich hab’s dir doch gesagt, aber du glaubst es ja nicht“, kommentierte er dann ihre Berichte und verspürte ein gewaltiges Triumphgefühl, das er aber sorgfältig vor ihr verheimlichte.
Jetzt allerdings lag die Sache anders. Er musste selbst zugeben, dass der Patient mit der Mittelfußfraktur ein äußerst attraktiver junger Mann war. Und natürlich war ihm auch schon aufgefallen, dass Laura ziemlich oft in das Krankenzimmer des Robin Vogt ging, was sie jederzeit mit der Betreuung des Kranken begründen konnte. Wenn Christian sie deswegen zur Rede stellte, würde er sich nur lächerlich machen.
Als ihm bewusst wurde, dass Kerstin ihn neugierig musterte, beendete er seinen Gedankenausflug.
„Sag mal, was hältst du davon, wenn wir heute Abend zusammen essen gehen?“
Zwei Sekunden lang sah Kerstin aus, als könne sie nicht glauben, dass er ihr diesen Vorschlag gemacht hatte.
„Aber ja, gern“, sagte sie dann schnell.
„Ich dachte als kleinen Einstand zu deinem Einzug in die Villa Schelling.“
„Das ist eine sehr nette Idee“, sagte Kerstin. „Aber was ist mit deinem Vater? Kann er ein paar Stunden allein bleiben?“
„Ich habe schon die ambulante Altenpflegerin bestellt. Sie bleibt bei ihm, bis ich wieder nach Hause komme.“
Christian hatte ein italienisches Restaurant ausgesucht. Dann berichtete er, dass die beiden Zimmer, die Kerstin bewohnen sollte, von der Zugehfrau sauber gemacht worden seien.
„Es ist alles bereit. Wann kommst du?“
„Übermorgen.“ Kerstin gelang es kaum, ihre überschäumende Freude über dieses Ereignis zu zügeln. „Ich bringe nicht viel mit.“
„Und was machst du mit deiner Wohnung?“
„Ich werde sie vorerst behalten“, erwiderte Kerstin. „Eine Freundin übernimmt sie für die nächsten vier Monate. Danach treffe ich eine Entscheidung.“
„Gut.“ Christian fand diese Regelung klug. Da nicht abzusehen war, wie lange Vater lebte und er daher Kerstins Dienste überhaupt beanspruchen musste, hatten sie sich einvernehmlich auf ein Arbeitsverhältnis mit einer normalen Kündigungsfrist geeinigt.
„Ich muss los“, sagte er und stand auf. „Für heute Nachmittag steht noch ein Ellenbogengelenk auf dem Plan.“
Katrin wünschte ihm viel Erfolg.
„Aber den hast du ja sowieso“, fügte sie noch hinzu.
„Danke für die Blumen“, erwiderte Christian und machte sich auf den Weg.
***
Stefan und Julia Holl hatten ihre Tochter in der Schulaula in die Mitte genommen. Jeder hatte zur Trauerfeier etwas mitgebracht: Blumen, bunte bemalte Karten, Briefe, Kerzen und Schmetterlingsbilder. Die Lehrerin erzählte Chiaras Geschichte. Einzelne Kinder trugen Gedichte vor. Und dann hielt Juju eine Trauerrede. Sehr gefasst ging sie auf die Bühne. Anfangs schwankte ihre Stimme noch etwas, doch dann wurde sie immer fester.
„Liebe Chiara, wir alle sind unsagbar traurig. Du fehlst uns. Du bist einen anderen Weg gegangen als wir. Nun müssen wir lernen, mit dieser Lücke zu leben. Das wird eine Weile dauern. Aber ich weiß schon jetzt, dass nichts mehr so sein wird wie früher. Du wirst ganz nah bei uns sein, auch bei der nächsten Klassenfahrt. Wir vergessen dich nicht. Wir alle wissen, dass du immer gern mit deinen Eltern gesegelt bist. Ich stelle mir vor, wie du auf einem weißen Schiff über das Meer gleitest, in eine Welt, die uns heute noch voneinander trennt …“
Jujus Stimme begann zu zittern. Sie brach ab und wischte sich über die Augen.
Stefan wollte schon aufstehen und seiner Tochter Beistand leisten. Seine Frau hielt ihn zurück.
„Lass nur“, flüsterte Julia. „Sie schafft das.“
Und wirklich fing sich Juju schnell.
„Wohin auch immer du segelst, liebe Chiara, unsere Gedanken und Erinnerungen werden dich begleiten. Du hast bei uns allen Spuren in unseren Herzen hinterlassen. Dafür danken wir dir.“
Ringsum wurden bewegte Laute, Schluchzer und Seufzer hörbar. Auch Julia kämpfte mit den Tränen. Ihr tiefes Mitgefühl galt den Eltern, die es schwer haben würden, den Tod ihres Kindes zu verkraften.
Juju kehrte zu ihren Eltern zurück, die beide die Arme um ihre Jüngste legten.
„Das hast du toll gemacht, es hat mich ganz tief berührt“, raunte Stefan. „Ich bin stolz auf dich.“
Der Schulchor sang Schön ist der Morgen … ganz neu geboren schenkt er den Tag …
Eine halbe Stunde später löste sich die Trauergemeinde auf. Juju ging in ihre Klasse. Der Unterricht fiel heute aus, aber die Kinder sollten darüber sprechen, was ihnen auf dem Herzen lag.
Dr. Holl und seine Frau fuhren nach Hause. Ein strahlend schöner Wintertag lag über München. Um nicht geblendet zu werden, klappte Stefan den Sonnenschutz herunter. Daheim angekommen, bereitete Julia mithilfe von Cäcilie einen Mittagsimbiss zu.
Nachdem Stefan sich gestärkt hatte, machte er sich wieder auf den Weg zur Klinik und versprach, heute früher als sonst nach Hause zu kommen.
„Das wäre schön.“ Julia brachte ihn zur Tür, wo sich das Paar mit einem Kuss verabschiedete. „Fahr vorsichtig.“
„Worauf du dich verlassen kannst!“ Stefan winkte ihr zu, bevor er in den Wagen stieg.
Die Klinik war nicht nur sein Lebenswerk, sondern auch das seines Schwiegervaters, der sie vor Jahrzehnten gegründet hatte. Nach Walter Berlings Rückzug in den Ruhestand hatte Schwiegersohn Stefan die Leitung übernommen. Heute wurde die Klinik von kompetenten und engagierten Mitarbeitern wie ein modernes Unternehmen geführt, dessen exzellenter Ruf bis an die Landesgrenzen reichte.
Kaum hatte Dr. Holl sein Ziel erreicht, brauchte eine junge Frau seine Hilfe. Sie war mit großen Unterleibsschmerzen, Vaginal-Blutungen und Kreislaufproblemen vom Notarztteam eingeliefert worden.
Nach ihren Angaben befand sie sich in der achten Schwangerschaftswoche. Dr. Holl, der auf eine lange Berufserfahrung im Bereich der Gynäkologie zurückblicken konnte, schöpfte noch während des Gesprächs mit der Patientin einen schlimmen Verdacht.
Er veranlasste eine Blutabnahme, dann nahm er einen transvaginalen Ultraschall vor. Nicht immer ließ sich mit dieser Methode eine Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter feststellen, doch diesmal sah der Arzt die Einnistung des Embryos im linken Eileiter.
Als dann noch die Laborwerte seine Vermutung bestätigten, ließ er sofort einen OP herrichten. Es schien bereits eine Eileiterruptur vorzuliegen, zumal die Bauchdecke der Patientin immer schmerzempfindlicher wurde.
Während er sich auf den Eingriff vorbereitete, narkotisierte Dr. Kellberg bereits die junge Frau. Wenig später erschien auch der Kollege Jordan. Stefan erklärte ihm kurz die Situation.
„Es ist Eile geboten. Ich gehe davon aus, dass bereits lebensgefährliche Blutungen in der Bauchhöhle vorliegen.“
Da eine Ruptur vorlag und der Kreislauf noch instabiler geworden war, blieb Stefan nur eine Bauchraumöffnung. Auf den weniger belastenden mikrochirurgischen Eingriff musste er in diesem Fall verzichten.
Das tat ihm leid, war aber nicht zu ändern. Da die junge Frau noch kinderlos war, hoffte er, ihr so wenigstens den Eileiter erhalten zu können.
Das erwies sich im Verlauf der Operation als Fehlschluss. Die betroffene Tube war derart geschädigt, dass den Chirurgen nichts anderes übrig blieb, als sie zu entfernen. Aber auch mit einem Eileiter konnte die Patientin wieder schwanger werden.
„Gerade noch rechtzeitig“, sagte Dr. Jordan nach dem Eingriff. „Das hätte auch böser ausgehen können.“
Die Operation hatte verhindert, dass der Chefarzt heute früher als sonst zu seiner Familie kam. Doch die war an solche Verspätungen schon gewöhnt.
***
Laura klingelte an Robins Haustür. Sie war ziemlich aufgeregt. Es war das erste Mal, dass sie sich seit seiner Entlassung wiedersahen – ganz privat in seiner Wohnung.
Es dauerte eine Weile, bis der Türsummer ertönte. Robin wohnte im zweiten Stock. Es gab zwar einen Aufzug, aber Laura nahm lieber die Treppe. Stufe für Stufe kam sie ihrem Glück näher. Sie freute sich so sehr darauf, wieder in seine Augen zu schauen.
Dann stand er im Türrahmen, blickte ihr lachend entgegen und öffnete die Arme ganz weit.
„Mein Engel!“, rief er aus. „Weißt du eigentlich, wie glücklich mich dein Anblick macht?“
„Hallo, Robin“, sagte Laura ein wenig verlegen, doch er schien keine Scheu zu kennen, drückte sie fest an seine Brust und bedeckte ihr Gesicht mit kleinen Küssen.
„Wollen wir nicht hineingehen?“, fragte sie, als sie hörte, wie sich hinter ihr die Aufzugstüren öffneten.
„Guten Abend, Frau Huber“, sagte Robin über ihre Schulter hinweg, zog sie in die Wohnung und schloss die Tür hinter ihnen.
„Geh nur voraus!“, sagte er und griff nach seinen Krücken. „Mindestens fünf Wochen soll ich mich so fortbewegen. Ob ich das schaffe, weiß ich noch nicht. Ist ziemlich mühsam.“