5,99 €
Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1801: Ein Mann gibt sich auf
Notärztin Andrea Bergen 1280: Unglück am Rheinufer
Dr. Stefan Frank 2234: Osterfest mit Schrecken
Dr. Karsten Fabian 177: Der Fremde, der mein Vater ist
Der Notarzt 283: Ihr Hilferuf blieb ungehört
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
Jetzt herunterladen und sofort sparen und lesen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 607
Veröffentlichungsjahr: 2022
Katrin Kastell, Marina Anders, Stefan Frank, Ina Ritter, Alexa Reichel
Die besten Ärzte - Sammelband 36
Cover
Impressum
Ein Mann gibt sich auf
Vorschau
Ein Mann gibt sich auf
Weiß Dr. Holl Hilfe in größter Not?
Von Katrin Kastell
Für den IT-Experten Mirco Heinze ist seine wunderschöne Frau die Liebe seines Lebens. Er ist glücklich mit ihr an seiner Seite, obwohl er sich insgeheim wünscht, Carmen wäre ein bisschen leidenschaftlicher und nicht so prüde.
Umso erschütterter ist er, als er eines Tages von der Arbeit nach Hause kommt und sie in flagranti mit einem anderen Mann erwischt. Der Anblick seiner nackten Frau in den Armen ihres Liebhabers bricht Mirco schier das Herz. Er ahnt nicht, dass dieser skrupellose Mistkerl, mit dem Carmen ihn betrogen hat, ihm nicht nur seine Frau genommen hat, sondern sich anschickt, sein ganzes Leben zu zerstören …
Beim Juwelier hatte das teure Goldcollier mit drei winzigen Tänzerinnen, die mit Diamanten besetzt waren, Mirco Heinze gefallen. Er hatte es gekauft, ohne zu zögern, und den Beteuerungen des Verkäufers, dass es sich um eine exquisite spanische Goldschmiedearbeit handle, die ihren Wert behalte, kaum Beachtung geschenkt.
Die Kette war schön und passte zu Carmen, die schon in der Schulzeit für das Ballett geschwärmt und früher selbst getanzt hatte. Der Preis von zehntausend Euro war Mirco egal gewesen, schließlich wollte er seiner Frau zu ihrem dritten Hochzeitstag eine ganz besondere Freude machen.
Nun öffnete er das Schmuckkästchen immer wieder und beäugte sein Geschenk skeptisch. Ob es ihr wohl gefiel? Vielleicht hätte er doch lieber mit ihr gemeinsam zum Juwelier gehen sollen, damit sie sich etwas nach ihrem Geschmack hätte aussuchen können. Doch, das wäre wirklich besser gewesen. Er hatte nicht richtig nachgedacht.
Nervös wippte er mit den Füßen, und natürlich verschüttete er etwas Orangensaft auf dem Wohnzimmerteppich. Immerhin hatte er nicht auch noch seinen Anzug ruiniert. Rasch sprang er auf und eilte in die Küche, um ein feuchtes Tuch zu holen. Wegen seiner Tollpatschigkeit sollte Carmen keine unnötige Arbeit haben.
Während er den Fleck entfernte, sah er immer wieder zur Treppe, die hoch zu den Schlafzimmern führte. Carmen war schon eine halbe Stunde über der Zeit, und für seine Reservierung in einem der vornehmsten und zurzeit begehrtesten Restaurants Münchens drohte es zu spät zu werden.
Die Tische dort waren kaum zu ergattern, und wenn man mehr als fünfzehn Minuten zu spät kam, wurden sie an hoffnungsvoll wartende Gäste vergeben, die zur Not den ganzen Abend an der Tür standen und vergeblich warteten. Dabei spielte es keine Rolle, wie prominent ein angemeldeter Gast auch sein mochte. Kam er zu spät, musste er wieder gehen.
„Carmen! Bist du bald fertig?“, rief Mirco nach oben, als der Teppich sauber war. Er wollte sie nicht drängen und fühlte sich ungut dabei. „Sonst muss ich uns in einem anderen Lokal einen Tisch besorgen, und an einem Freitagabend wird das eng. Aber wenn du noch Zeit brauchst, dann schaffe ich das schon irgendwie“, fügte er rasch hinzu, um ihr nicht den Eindruck zu vermitteln, ungeduldig zu sein.
Es kam keine Antwort, und zehn Minuten später stieg sie die Treppe hinunter. Wie immer verschlug ihre Schönheit ihm den Atem. Wie sehr er diese Frau liebte! Sie trug ein schlichtes, sehr elegantes schwarzes Kleid, das eng an ihrem Körper anlag und ihre vollen Brüste und ihre schmale Taille betonte.
Nicht ein einziges Mal hatte er sie bisher ungeschminkt gesehen. Es war, als ob sie sich ohne Maske ungeschützt fühlte. Aber Carmen verstand es, mit relativ wenig Make-up Akzente zu setzen und ihre meergrauen Augen optimal zu unterstreichen. Überhaupt hatte sie gelernt, ihre Schönheit zu inszenieren. Irgendwann war ihr klar geworden, dass sie sich nun einmal nicht unsichtbar machen konnte, obwohl ihr das in jungen Jahren oft lieb gewesen wäre.
Bewundernd sah Mirco sie an. Das war seine Ehefrau. Sein Stolz hatte etwas Banges, denn er wusste, wie wenig er zu ihr passte. Sie war vollkommen, und er wirkte an ihrer Seite wie ein Waldtroll – unkultiviert und grob. Auch der teure Designeranzug, den er trug, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er aus einer gänzlich anderen Welt stammte und sich mühsam hochgearbeitet hatte.
„Du siehst bezaubernd aus“, machte er ihr ein Kompliment und konnte den Blick nicht von ihr wenden.
Carmen Heinze lächelte gnädig wie eine Königin, die ihrem Hofstaat gütig erlaubte, sich an ihrer Pracht sattzusehen.
„Danke, Mirco, das ist lieb von dir“, bedankte sie sich huldvoll. Als er sie küssen wollte, wich sie geschickt aus, sodass seine Lippen die ihren nicht berührten. „Der Lippenstift. Das weißt du doch!“, tadelte sie ihn sanft.
„Entschuldige!“ Er errötete. Dabei wusste er doch, wie ungern sie von ihm berührt wurde! „Können wir aufbrechen?“
Sie hakte sich bei ihm unter. In ihren filigranen Stöckelschuhen war sie so groß wie er. Mirco wunderte sich jedes Mal, wie es ihr gelang, in solchen Schuhen mühelos zu schweben. Die über zehn Zentimeter hohen, spitzen Absätze schienen ihr nichts auszumachen.
Er wäre nach dem ersten Schritt gestürzt und hätte sich alles gebrochen. Vielleicht musste man für manches weiblich sein, überlegte er. Lag der Schwerpunkt des weiblichen Körpers anders als bei Männern? War das weibliche Schmerzempfinden weniger ausgeprägt? Er hoffte es, denn ihm taten die Füße schon weh vom Hinsehen.
Höflich hielt er Carmen die Tür des Sportwagens auf und wartete, bis sie gut saß und angeschnallt war. Erst dann schloss er die Tür und stieg auf der Fahrerseite ein.
„Hoffentlich bekommen wir unseren Tisch noch! Ansonsten müssen wir improvisieren. Uns fällt schon etwas ein!“, bereitete er sie auf die möglichen Schwierigkeiten vor.
Gleichgültig zuckte sie nur die Schultern. Manchmal fragte er sich, ob er überhaupt etwas tun oder sagen könnte, was sie ernstlich berührte und interessierte. Vermutlich nahm sie ihn wie einen zuvorkommenden Diener wahr, der nur ganz am Rande in ihrer eigentlichen Welt eine Rolle spielte.
Mirco nahm ihr das nicht übel. Für ihn war es auch nach drei Jahren noch ein Wunder, dass sie seinen Antrag angenommen hatte und seine Frau geworden war. Sie hatte nie gesagt, dass sie ihn liebte, und er hütete sich, sie danach zu fragen, was sie für ihn empfand oder was er für sie war. Manches blieb am besten unausgesprochen.
Mit gerunzelten Brauen und sichtlich verärgert sah der Kellner ihm entgegen, als sie das Restaurant betraten, aber dann fiel sein Blick auf Carmen, die gerade an der Garderobe ihren Mantel abgab. Bewunderung und Verehrung leuchteten aus seinen Augen.
„Madame!“ Er führte sie ohne ein Wort des Tadels an einen der schönsten Tische, und Mirco war ganz sicher, dass es nicht der Tisch war, der ursprünglich für sie reserviert gewesen war. Irgendjemand würde an diesem Abend gewaltig fluchen. Es sollte nicht sein Problem sein.
„Vielen Dank!“, bedankte er sich bei dem Kellner. Der hob in perfekter Arroganz eine Braue und nickte herablassend.
„Was war denn das?“, wollte Carmen wissen.
„Er wollte uns nur zu verstehen geben, dass wir diesen Tisch ausschließlich deiner Schönheit verdanken.“
Sie schmunzelte, wirkte aber nicht geschmeichelt. Für Carmen war es Alltag, dass Menschen alles taten, um ihr zu gefallen und ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schönheit war Segen und Fluch.
Mirco bestellte Champagner, und als die langstieligen Gläser gefüllt waren, hoffte er, dass es ihm trotz seiner Nervosität gelang, keines umzuwerfen. Warum brachte sie ihn selbst jetzt noch derart aus dem Konzept? Er musste sie nur ansehen, und schon raste sein Puls, und ihm wurde warm und kalt. Würde er sich je daran gewöhnen, in ihrer Nähe sein zu dürfen?
„Carmen, ich möchte mich bei dir für diese drei Jahre bedanken. Es macht mich glücklich und froh, dich an meiner Seite zu haben. Seit wir damals in die fünfte Klasse gekommen sind und ich dich das erste Mal sah, bist du die Liebe meines Lebens, und das wirst du immer sein. Danke!“ Sie stießen an, und er schob das schwarze Schmuckkästchen über den Tisch.
„Mirco, wir wollten uns doch keine Geschenke machen!“ Es war ihr unangenehm, dass sie nichts für ihn hatte.
„Jeden Morgen, wenn ich neben dir aufwachen darf, beschenkst du mich“, antwortete er mit Wärme, und es war ihm ernst.
Carmen tat seine Liebe geradezu weh. Warum schrie er sie nie an und machte ihr Vorwürfe? Warum klagte er sie nie dafür an, dass sie ihm so wenig gab und so viel von ihm nahm? Er war ein guter, großzügiger Mann mit einem gewaltigen Herzen. Wie gerne hätte sie ihn lieben können!
Er hätte es verdient gehabt, geliebt zu werden, aber leider ging es im Leben nicht gerecht oder fair zu. Das war etwas, was jeder irgendwann akzeptieren musste. So leid es ihr auch tat, so konnte sie doch keine Gefühle für ihn erzwingen. Es war ihr einfach nicht möglich.
„Ist die schön!“, murmelte sie andächtig, als sie die Kette sah. „Mirco, die muss ein Vermögen gekostet haben! Du bist verrückt!“
„Gefällt sie dir?“ Seine Augen strahlten wie bei einem kleinen Jungen am Muttertag, wenn der gedeckte Frühstückstisch die ersehnte Reaktion ausgelöst hatte.
„Gefallen? Ich habe eine so bezaubernde Kette noch nie gesehen“, schwärmte sie.
„Darf ich sie dir umlegen?“ Vorsichtig hob er ihr Haar etwas an, und schämte sich, als es ihm in seiner Aufregung nicht gleich gelang, den Verschluss zu schließen.
Geduldig wartete sie, bis er es geschafft hatte.
„Danke!“ Sie küsste ihn rechts und links auf die Wange, und Mirco war selig.
Während des Essens lächelten sie sich häufiger an und wechselten hin und wieder ein paar Worte. Carmen war erleichtert, als sie auf dem Heimweg waren. Der Abend hatte sie berührt, aber er war auch anstrengend für sie gewesen.
In Mircos Gesellschaft fühlte sie sich heruntergekommen und schäbig. Sie hätte ihm so gerne gesagt, dass er keinen Grund hatte, ihr dankbar zu sein. Sie hätte ihm gerne gesagt, dass er gut daran täte, sie aus dem Haus zu werfen, und dass sie keine Träne wert war. Dass sie schwieg, machte sie vor sich selbst billig und wertlos.
„Ich bin sehr müde und habe Kopfweh“, sagte sie entschuldigend, als Mirco sie zärtlich auf die Schulter küsste, nachdem er zu ihr ins Bett gekommen war. Es war seine dezente Art zu fragen, ob sie mit ihm schlafen wolle. In der Regel wollte sie nicht, und auch das nahm er klaglos hin.
„Schlaf gut, Carmen. Ich danke dir für den schönen Abend!“
„Mirco, es tut mir leid, dass ich …“
„Nicht!“, unterbrach er sie sanft. „Es ist in Ordnung! Träume etwas Schönes!“
***
„Und wie war der Hochzeitstag mit deinem vertrottelten Gatten? Hast du ihn um den Finger gewickelt wie immer? Der will es doch nicht anders! Er hat bestimmt ordentlich etwas springen lassen, oder?“ Das hämische Gelächter ihres Geliebten tat Carmen weh.
Oskar Birkle schlenderte quer durch ihren Laden auf sie zu und bewegte sich auf seine unverwechselbare, aufreizende Art, die bei allem Ekel vor seiner boshaften Ader ihr Verlangen erregte. Er zog sie besitzergreifend an sich und küsste sie gierig.
„Soll er ruhig bezahlen und dir wie ein alter Ritter den Hof machen! Du gehörst mir!“, triumphierte er, und seine Hände nahmen ihren Körper in Besitz, ohne danach zu fragen, ob sie das wünschte.
Carmen wollte ihn in seine Schranken weisen. Sie war nicht sein Besitz, mit dem er tun und lassen konnte, was ihm gefiel. Außerdem konnte jeden Moment ein Kunde den Laden betreten. Es war gemein, wie er Mirco verspottete. Nicht nur sie lebte von Mircos Geld. Oskar konnte sich seinen ausschweifenden Lebensstil nur dank ihres Mannes leisten, aber anstatt das anzuerkennen, verachtete er Mirco dafür.
„Lass mich!“, forderte sie schwach, schmolz zugleich aber unter seiner groben Zärtlichkeit dahin. Es war immer dasselbe, wenn sie in seiner Nähe war. Sie wollte ihn, und ihr Verstand hatte keine Chance.
Statt ihn hinauszujagen, wie sie es vorgehabt hatte, schloss sie den Laden und ging mit ihm in das gemütliche, kleine Hinterzimmer, das sie nicht zuletzt seinetwegen mit einem Sofa ausgestattet hatte. Das war das einzige Tabu, das sie bisher nicht gebrochen hatte. Sie erlaubte nicht, dass Oskar zu ihr ins Haus kam, wenn Mirco auf Geschäftsreise war. Das Hinterzimmer musste ihm genügen.
Oskar kam und ging, wie es ihm gefiel, nahm sich, was er wollte und sagte nie Danke. Er hatte noch nie einen Finger für sie gerührt, und seine schamlose Respektlosigkeit galt ihr genauso wie ihrem Mann. Carmen verachtete sich dafür, und doch war sie diesem Mann verfallen.
Wie oft hatte sie sich schon vorgenommen, sich von ihm zu trennen, aber sie schaffte es nicht. Vermutlich zog es sie derart zu ihm hin, gerade weil er sie schlecht behandelte und aus ihrer Schönheit keine große Sache machte. Er sah sie, wie sie wirklich war, dachte sie.
„Ich brauche achttausend Euro“, forderte er geschäftig, während er sich wieder anzog, nachdem sie Sex gehabt hatten.
„Achttausend Euro? Ich habe dir doch erst letzte Woche fünftausend gegeben. Wo soll ich schon wieder so viel Geld hernehmen?“ Sie war außer sich. Der Laden warf zwar inzwischen Gewinne ab, aber Oskars Geldverbrauch verschlang in einem Monat, was sie in einem Jahr erwirtschaften konnte.
„Hey, stell dich nicht so an! Dein Mann ist mehrfacher Millionär, und du kannst auf ihm spielen wie auf einer Blockflöte. Du musst ihn nur fragen, falls es dein Kreditkartenlimit übersteigt. Er kann dir keine Bitte abschlagen. Besorg mir das Geld, Prinzessin, und das pronto!“, befahl Oskar ihr verärgert.
„Hast du nie ein schlechtes Gewissen, von Mircos Geld deine Schulden zu bezahlen?“ Carmen konnte sich die Frage nicht verkneifen. Sie wollte ihm wehtun, ihn verletzen, so wie er sie verletzte.
Er lachte dröhnend, dann nahm er sie in den Arm und küsste sie geradezu brutal.
„Behalte deine Gewissensbisse für dich, meine Süße! Ich kann damit nichts anfangen. Im Leben gewinnen immer die Stärkeren, und die Schwächeren bezahlen. Das ist Evolution“, verkündete er selbstbewusst.
Carmen fragte sich, wer in diesem Fall der Starke und wer der Schwache war. Oskar war wie sie neunundzwanzig Jahre alt. Er hatte ein paar Semester Betriebswirtschaftslehre studiert und dann abbrechen müssen, weil er die Zwischenprüfung nicht geschafft hatte.
Grund war nicht, dass es ihm an Intelligenz fehlte, davon war sie überzeugt. Er war nicht dumm, zumindest war er es nicht immer gewesen. Seit sie ihn kannte, rauchte er Unmengen an Haschisch und schien nie völlig mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen anzukommen.
Irgendwann war dann die Spielsucht dazugekommen. Stunden stand er an Spielautomaten oder verschwand in schäbigen Hinterzimmern und spielte Skat um Geld. Ein sonderlich guter Spieler konnte er nicht sein, da er ständig von Schuldeneintreibern umschwärmt war.
Carmen kannte ihn seit Jahren nur noch auf der Flucht. Erst durch ihre Ehe mit Mirco war es etwas besser geworden, aber dafür verlor er zunehmend mehr Geld und schien keinerlei Maß mehr zu haben. Lange konnte das nicht mehr gut gehen. Irgendwann musste Mirco dem Einhalt gebieten und sie fragen, was sie mit all dem Geld machte.
Hielt Oskar sich bei alldem tatsächlich für einen Gewinner, weil er immer jemanden fand, der für ihn die Zeche bezahlte? Glaubte er, etwas Besonderes zu sein, weil es ihm gelang, nie selbst die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen?
Carmen fand sein Weltbild ziemlich sonderbar und fragte sich manchmal, ob die Drogen sein Gehirn zerstörten. Seit acht Jahren waren sie mit kürzeren und längeren Abständen ein Paar. Als Mirco um ihre Hand angehalten hatte, war Oskar nicht zum ersten Mal im Gefängnis gewesen, und Carmen hatte sich von ihm getrennt.
Sie hatte nicht damit gerechnet, Oskar wiederzusehen, und war auf Mircos Antrag eingegangen, weil sie es leid gewesen war, auf etwas zu warten, was nicht kommen wollte. Mirco war ein guter Mann, und er liebte sie seit der Schulzeit. Sie wusste das und was sicher, es bei ihm gut zu haben.
Carmen hatte keine großen Träume mehr. Sie hatte sich von ihrer Ehe keine Liebe und keine Romantik versprochen. Ihr Versprechen, treu zu ihrem Mann zu stehen, war durchaus ernst gemeint gewesen. Mit sechsundzwanzig hatte sie gerade ihr Studium in den Sand gesetzt und das Gefühl, nichts zu können und niemand zu sein.
Dank ihrer Schönheit wollte ein erfolgreicher, anständiger Mann sie heiraten, weil er nur ihr schönes Äußeres sah und nicht die Versagerin darunter. Ihr Jawort war Resignation gewesen. Sie hatte einen Mann damit glücklich gemacht und sich dabei selbst aufgegeben.
Nach einem knappen Jahr hatte Oskar plötzlich in dem Laden gestanden, den Mirco für sie finanzierte. Carmen hatte sich immun geglaubt und ihn hinauswerfen wollen, aber da hatte er sie einfach gepackt und geküsst, und alles war wie immer gewesen.
Dabei schenkte der Laden Carmen so etwas wie Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten. Durch den Erfolg des Ladens begann sie zu begreifen, dass sie nicht nur schön war, sondern etwas konnte. Das tat ihr gut, aber ihr war bewusst, dass sie ohne Mircos Unterstützung nie in der Lage gewesen wäre, ihren Traum zu realisieren.
Der Laden lag an einer günstigen Stelle mitten in der Fußgängerzone Münchens. Es gab hier nur Dinge, die aus Abfallprodukten hergestellt worden waren. Von Gläsern aus Altglas über Handtaschen aus Zementsäcken bekamen die Kunden so ziemlich alles, was sie sich vorstellen konnten.
Es gab Nippes und durchaus nützliche und alltägliche Gegenstände, die nur dadurch verbunden waren, dass sie ökologisch etwas dafür leisteten, weniger Müll zu hinterlassen in dieser Welt. Die Kunden waren vom Tag der Eröffnung an von der Idee fasziniert und strömten bereitwillig herein, wenn sie etwas Ausgefallenes brauchten, um sich selbst oder anderen eine Freude zu machen.
Da Carmen nur wirklich gut gearbeitete und ästhetisch ansprechende Waren anbot, hatte sie schon bald eine zufriedene Stammkundschaft. Mund-zu-Mund-Werbung sorgte für den Rest, und der Laden lief überraschend gut. Leider war die Monatsmiete aber derart horrend, dass er dennoch nur bescheidenen Gewinn abwarf.
Für Carmen hätte es zur Not gereicht, aber nicht auch noch für Oskars Kapriolen. Dass Carmen dieses Geschäft überhaupt eröffnen konnte, verdankte sie allein Mircos Großzügigkeit, aber nun gehörte er ihr ganz allein. Sie stand in gewisser Weise das erste Mal in ihrem Leben auf eigenen Beinen, und das war ein herrliches Gefühl.
Da es keinen Ehevertrag gab, hätte sie auch ohne den Laden selbst bei einer Scheidung ausgesorgt. Ihr war klar, dass Mirco nicht damit rechnete, dass sie bei ihm blieb. Er wollte sie versorgt wissen, auch wenn sie ihn verließ.
Carmen verstand diesen Mann nicht. Warum dachte er immer nur an sie und nie an seinen persönlichen Vorteil? War er ein Heiliger, oder hatte Oskar recht, und er war einfach ein Spinner? Sie wusste es nicht. Bisher hatte sie es nur mit völlig anderen Männern zu tun bekommen.
Oskar war bei Weitem nicht der schlimmste Mann, der ihr begegnet war. Gegen ihren Vater war Oskar ein guter Mensch und gegen den ein oder anderen seiner Vorgänger ein Waisenknabe. Carmen verstand nicht, warum sie nur die Üblen und Berechnenden anzog. Noch viel weniger aber verstand sie, warum Mirco etwas an ihr fand, der so überhaupt nicht in dieses Muster passte.
Müde ging sie mit Oskar zur Bank und hob achttausend Euro von dem Konto ab, das Mirco für sie eingerichtet hatte. Sie wusste, er würde nicht fragen, wofür sie all das Geld brauchte. Wann immer sie hohe Beträge abhob, war das Konto beim nächsten Mal wieder voll bestückt.
Carmen gab Oskar das Geld, der es ohne Dank nahm und davonging, ohne sich auch nur von ihr zu verabschieden. Sie sah ihm angewidert nach. Warum tat sie das immer wieder? Warum finanzierte sie mit dem Geld ihres Mannes die Sucht ihres Geliebten? Sie begriff sich selbst nicht.
Mircos Großzügigkeit hätte sie freuen müssen, aber sie machte Carmen eher wütend. Er tat alles dafür, damit sie ihn ausnutzte und enttäuschte. Wollte er das etwa? Brauchte er das? Nun, anscheinend hatte er sich genau die Person ausgesucht, die ihm den Gefallen gerne tat und auf seinen Gefühlen und seiner Würde herumtrampelte.
***
„Hallo, Herr Heinze!“ Dr. Stefan Holl schüttelte dem externen Sicherheitsexperten der Berling-Klinik für Computerfragen die Hand. Er schätzte den um etliche Jahre jüngeren Mann für sein außerordentliches Können.
Mirco Heinze war gerade einmal dreißig, aber er war auf seinem Gebiet der Beste, den es gab. Mit Hilfe seiner Sicherheitsmaßnahmen gelang es der Berling-Klinik seit Jahren, problemlos alle sensiblen Daten vor dem Zugriff Unbefugter zu schützen.
Krankenhäuser und Ärzte hatten keine andere Wahl und mussten ihre Abrechnungsdaten und geheime Patienteninformationen über den Computer speichern und übermitteln. Die Gefahr von Datendiebstahl und Datenmissbrauch war hoch.
Dr. Holl war als Klinikleiter der Hauptverantwortliche dafür, dass die sensiblen Krankheitsdaten aller Patienten, die Hilfe in der Berling-Klinik suchten, unter keinen Umständen in die falschen Hände kamen. Wie viele seiner Kollegen war er dankbar, Mirco Heinze an seiner Seite zu wissen.
Mirco hatte sich schon im Studium auf die Sicherheit des medizinischen Datentransfers und allgemein medizinischer Daten spezialisiert. Direkt danach hatte er sich selbständig gemacht und betreute Praxen und Krankenhäuser in ganz Bayern.
Seine Konzepte waren begehrt, weil er bisher alle Angriffe siegreich abgewehrt hatte. In nur fünf Jahren war es ihm gelungen, den Markt weitgehend zu übernehmen. Er machte Sicherheitsprüfungen, und gelang es ihm, ein System zu hacken, dann verriegelte er hinterher auch noch das kleinste Schlupfloch, durch das ihm ein Eindringen möglich gewesen war.
Als er seine Firma gründete, hatte er kaum mehr besessen, als sein fundiertes Wissen. Innerhalb kurzer Zeit war er zu einem wirklich reichen Mann geworden. Es freute ihn. Besonders freute es ihn, weil er ansonsten nie eine Chance gehabt hätte, Carmen für sich zu gewinnen.
Für Mirco selbst spielte Geld eine untergeordnete Rolle. Er kam aus einfachen Verhältnissen, und obwohl seine Eltern extrem hatten rechnen müssen, waren sie die liebevollsten und besten Eltern gewesen und hatten ihn, so gut es ging, immer gefördert und unterstützt. Geld entschied nicht über Glück und Zufriedenheit, aber es machte vieles einfacher, und das war schön.
„Wie geht es Ihnen?“, fragte der Klinikleiter herzlich und deutete auf einen Stuhl, als der junge Mann in sein Büro kam, um sich zu verabschieden. Mirco hatte den Tag mit dem Systemadministrator der Klinik verbracht.
„Bald wird es mir schon fast zu gut gehen“, erwiderte Mirco schmunzelnd und setzte sich. „Meine Frau und ich machen für einen Monat auf Hawaii Urlaub. Das war schon immer mein Traum, aber ich habe bisher immer vor der enormen Flugzeit von vierundzwanzig Stunden gekniffen.“
„Und Ihre Frau fliegt gerne solche Langstrecken? Für mich wäre das auch eine Quälerei. Ich weiß nie, wohin mit meinen Beinen, und nach fünf oder sechs Stunden ist meine Laune im Keller, weil ich nicht mehr sitzen kann. Vierundzwanzig Stunden kommen mir wie eine Ewigkeit vor“, meinte Dr. Holl.
„Carmen liebt Seeschildkröten, und dafür würde sie alles in Kauf nehmen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass sie dem Urlaub zustimmt und ihren Laden für so lange schließt, und ich bin selig. In drei Wochen geht es los. Wir haben noch nie richtig Urlaub zusammen gemacht. Es hat sich irgendwie nie ergeben. Sie hat ihren Laden aufgebaut, und ich habe immer einen vollen Kalender. Vier Wochen Zeit für uns!“ Mirco strahlte.
Es hatte ihm Mut gemacht, als Carmen dem Urlaub sofort zustimmte. Vielleicht ließ sich die Fremdheit, die sie trennte, doch überwinden. Lieben mochte sie ihn nie können, das wagte er nicht zu hoffen, aber allein ihre Freundschaft und ihre Zuneigung schienen ihm das reinste Glück.
Er konnte es kaum erwarten, mit ihr ins Flugzeug zu steigen. Zeit, um miteinander zu reden und sich etwas besser kennenzulernen – Hawaii war ein Geschenk. Er wollte jede Minute auskosten.
„Ich freue mich für Sie, Herr Heinze. Genießen Sie es!“, wünschte Dr. Holl. „Haben Sie unserem Administrator gesagt, an wen er sich wenden kann, falls es Probleme gibt?“, fragte er dann aber. Vier Wochen waren eine lange Zeit, und es beunruhigte ihn, Heinze für so lange weit weg zu wissen.
„Machen Sie sich keine Sorgen! Ich bin zwar am anderen Ende der Welt, aber selbst von dort kann ich mich jederzeit einwählen und Probleme beheben. Sollte es zu einem Angriff auf Ihr System kommen, werden Ihr Administrator und ich wie gewohnt zusammenarbeiten. Ich bin auch im Urlaub rund um die Uhr erreichbar im Notfall“, beruhigte ihn Mirco, der die Ängste seiner Kunden wohl kannte.
„Nach richtigem Urlaub klingt mir das nicht. Julia, meine Frau, mag es gar nicht, wenn wir im Urlaub in München bleiben. Zumindest wenn ich Urlaub habe, soll ich ganz für sie und unsere Kinder da sein. Abrufbar bin ich das ganze Jahr über, nur im Urlaub bin ich es für zwei oder drei Wochen nicht“, erzählte Dr. Holl.
Der Klinikleiter hatte vier Kinder. Seine Zwillinge Dani und Marc waren bereits zwanzig und studierten, wohnten aber noch zu Hause. Chris steckte mit fünfzehn in der Pubertät und wusste noch nicht so recht, wohin es ihn zog. Er konnte eine Nervensäge sein, aber das Herz hatte er am rechten Fleck. Juju, seine Jüngste, war elf und der Liebling der ganzen Familie, was sie natürlich weidlich auszunutzen verstand.
„Für einen Vater muss das auch so sein, finde ich. Carmen und ich haben keine Kinder, und die Beziehung zwischen uns ist …“
Mirco wusste nicht, wie er das ausdrücken sollte, ohne einen falschen Eindruck zu erwecken. Er liebte seine Frau innig und akzeptierte, dass sie ihn nicht liebte. So etwas ließ sich nicht aussprechen, ohne eine Leidensbotschaft mitschwingen zu lassen, die er vermeiden wollte.
„Carmen kann sich gut ohne mich beschäftigen und hat nichts dagegen, wenn ich auch im Urlaub arbeiten muss“, sagte er schließlich diplomatisch.
Dr. Holl äußerste sich nicht dazu. Er hatte das Paar auf einer Gartenparty bei sich zu Hause erlebt. Carmen Heinze war mit weitem Abstand die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und es war ihm schwergefallen, sie nicht bewundernd anzustarren.
Ganz war ihm das offensichtlich nicht gelungen, denn Julia hatte hinterher ordentlich gespottet und sich über ihn lustig gemacht. Sie war eine scharfe Beobachterin und sah in der Regel mehr als er. Ihr war nicht nur die Ausnahmeschönheit ins Auge gestochen, sondern auch die ungewöhnliche Ausstrahlung.
„So schön wie Schneewittchen im gläsernen Sarg und so unberührbar und kalt“, hatte sie unter anderem gesagt.
„Wie meinst du das?“, hatte Stefan verwundert gefragt.
„Ich weiß nicht. Mirco Heinze ist ein warmherziger und natürlicher junger Mann. Ich mag ihn. Einen wirklich glücklichen Eindruck haben er und seine Frau aber nicht auf mich gemacht. Ich habe sie kein einziges Mal zusammen lachen oder tanzen sehen. Er hat sich rührend um sie bemüht, und sie hat es höflich geschehen lassen. Sie hat auf seine Fragen kaum geantwortet und schien mir recht abwesend“, hatte Julia versucht, ihre Eindrücke zu beschreiben.
„Wir haben alle unsere guten und weniger guten Tage“, hatte Stefan optimistisch eingewandt.
„Dann war heute kein so guter Tag für die beiden, würde ich sagen.“ Julia hatte nicht darauf beharrt, dass sie eine Kälte und Gleichgültigkeit wahrgenommen hatte, die bei einem frisch verheirateten Paar kein gutes Zeichen war.
Im Grunde hatte sie das auch nicht müssen. Stefan hatte selbst bemerkt, wie fürsorglich und liebevoll Mirco sich um seine Frau bemüht hatte und dass sie kaum darauf eingegangen war. Glückliche Paare sahen anders aus.
An jenen Abend und an Julias Kommentare musste er jetzt denken. Die Party lag fast ein Jahr zurück. Es konnte viel geschehen sein in dieser Zeit. Er wünschte Mirco Heinze einen wunderschönen Urlaub mit seiner bezaubernden Frau.
„Herr Heinze, ich habe doch noch eine Kleinigkeit, um die ich Sie bitten möchte. Im Juni findet eine Konferenz für Gynäkologen in München statt. Ich gehöre zu den Ärzten, die darüber befinden, welche Themen zur Sprache kommen und wer einen Vortrag halten soll. Vor allem wird es dabei selbstverständlich um medizinische Neuerungen und wissenschaftliche Erkenntnisse gehen“, begann er.
Mirco Heinze wunderte sich, welch eine Bitte der Arzt in diesem Zusammenhang an ihn richten könnte.
„Ich fände es schön, wenn Sie zusätzlich dazu einen Vortrag über technische Sicherheitsfragen halten würden“, fuhr Dr. Holl da bereits fort und beantwortete somit Mircos Frage. „Das Interesse daran ist groß. In diesem Bereich gibt es derart viele Ängste unter meinen Kollegen, und keiner weiß die Gefahren richtig einzuschätzen.“
„Das mache ich sehr gerne!“, stimmte Mirco sofort zu.
***
Hawaii war ein Traum. Vom ersten Tag an hatte Mirco das Gefühl, dass Carmen und er nicht nur um die Welt geflogen waren, sondern mitten in eine andere Dimension hinein. Sie waren in einer neuen Dimension gelandet, in der alles möglich war, was zuvor unvorstellbar erschienen war.
Er hatte seine Frau noch nie so heiter und ungezwungen erlebt. Das starre Puppenhafte, das ihr oft anhaftete, schien in Deutschland zurückgeblieben zu sein. Sie lachte und scherzte und war voller Unternehmungslust.
„Was machen wir heute? Glaubst du, wir können einen Geländewagen mieten und raus zu den Vulkanfeldern fahren?“ An jedem Morgen überfiel sie ihn mit Ideen, was sie tun und was sie sich anschauen konnten. Es war herrlich, sie so zu erleben.
Mirco genoss es, die landschaftlichen Schönheiten der Inseln mit ihr zu erforschen. Er machte unzählige Bilder von ihr und den riesigen Seeschildkröten, die Carmen über Stunden hin völlig selbstvergessen bestaunte.
„Schau nur, wie schön das ist!“, rief sie immer wieder aus, wenn sie unterwegs waren, und deutete auf etwas, was ihr besonders gut gefiel. Sie wollte ihre Begeisterung und ihre Freude mit ihm teilen.
Mirco erlebte das Abenteuer Hawaii mit ihr, aber das Schönste für ihn inmitten all der Schönheit war trotz allem das glückliche Strahlen in Carmens Augen. Am liebsten wäre er für immer mit ihr auf den Inseln geblieben, zwischen denen sie mit Motorflugzeugen hin- und herflogen.
Zu Hause hatten Mirco und Carmen zwar ein gemeinsames Schlafzimmer, in dem sie öfter beide übernachteten, aber jeder von ihnen hatte auch noch ein eigenes Zimmer mit Schlafgelegenheit. Er wusste, dass es ihr lieber war, nicht immer mit ihm im Bett zu liegen, und so hatte er in den unterschiedlichen Hotels jeweils Einzelsuiten gebucht.
In den ersten beiden Wochen sagte Carmen zwar nichts dazu, aber er merkte, wie dankbar sie war, wenn sie sich abends an der Tür zu ihren Räumen mit einem freundschaftlichen Kuss voneinander verabschiedeten.
Manchmal fiel es ihm schwer, allein einzuschlafen. Nach den wunderschönen Tagen in ihrer Gesellschaft sehnte er sich danach, sie in den Arm zu nehmen und streicheln zu dürfen. Es tröstete ihn, dass es ihr gut damit ging, wie es war. Er hätte sich ihr nicht aufdrängen wollen.
Nach zwei Wochen voller anstrengender Unternehmungen auf dem Meer und an Land waren sie beide redlich erschöpft und brauchten eine Entspannungspause. Sie beschlossen, sich ein oder zwei Tage in einem Hotel verwöhnen zu lassen und außer einem ausgiebigen Wellnessprogramm nichts zu unternehmen.
Nach Sauna, Massage und einigem mehr trafen sie sich am Abend am Büffet. Es war der erste Tag in diesem Urlaub, den sie weitgehend getrennt voneinander verbracht hatten. Mirco hatte Carmen vermisst. Wesentlich erstaunlicher war, dass auch Carmen seine Gesellschaft vermisst hatte und sich spürbar freute, als sie sich am Tisch gegenübersaßen.
Mit Mirco war alles so leicht und heiter. Er erwartete nichts von ihr, nahm sich nichts, was sie nicht geben wollte, und freute sich an allem. Carmen hatte so etwas noch nie erlebt. Immer war sie von Männern gezwungen worden, deren Vorstellungen zu entsprechen. Man hatte sie auf ihr Aussehen reduziert und benutzt.
„Es ist schön hier“, sagte sie, als sie sich die Teller gefüllt und ihre Plätze am Tisch wieder eingenommen hatten. „Mirco, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“
„Ich danke dir!“, antwortete er, und all seine Liebe zu ihr lag in seinem Lächeln.
Carmen bekam feuchte Augen. In diesem Moment gelang es ihr, seine Liebe anzunehmen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Ihr wurde warm ums Herz. Oskar und ihr Leben in München waren unendlich weit entfernt. Hier war sie Mircos Frau, und er war ihr Mann. Sie waren Adam und Eva in ihrem Paradies.
Als er sich wie jeden Abend an der Tür von ihr verabschieden wollte, legte sie die Arme um seinen Hals und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Dann nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich in ihr Zimmer.
In den gut drei Jahren, die sie verheiratet waren, hatten sie immer einmal wieder miteinander geschlafen. Carmen hatte es geschehen lassen, ohne viel zu empfinden. Mirco war für sie der Mann gewesen, den ihre äußere Schönheit blendete wie die meisten und der nie sehen durfte, wer sie wirklich war.
In dieser Nacht gab sie sich ihm das erste Mal hemmungslos hin. Sie liebten sich mit verzehrender Leidenschaft und kamen erst in den frühen Morgenstunden erschöpft zur Ruhe. Eng miteinander verschlungen schliefen sie ein und wachten um die Mittagszeit wieder auf.
Mirco wollte sich vorsichtig aus ihren Armen lösen. Die Nacht war ein Traum gewesen, und er fürchtete, dass Carmen sich nun noch weiter von ihm zurückziehen würde. Als sie sich an ihn schmiegte und ihm einen Kuss gab, entspannte er sich. Sie bereute nicht, was zwischen ihnen geschehen war.
„Hunger?“, fragte er glücklich.
„Bärenhunger!“, stöhnte sie.
„Dann ab unter die Dusche! Das Mittagsbüffet müsste schon eröffnet sein.“ Er huschte über den Flur in sein Zimmer, und keine zwanzig Minuten danach trafen sie sich und gingen zusammen hinunter.
„Das mit dem Bärenhunger war dein Ernst“, kommentierte Mirco amüsiert, als er sah, welche Mengen Carmen auf ihren Teller lud.
„Das war erst die erste Ladung. Warte, bis ich mir später vom Nachtisch hole!“, scherzte sie.
Während des Mittagessens lachten und flirteten sie wie frisch Verliebte, und ganz langsam begriff Mirco, dass die vergangene Nacht vielleicht keine Ausnahme gewesen war. Vielleicht geschah das Wunder, und Carmen lernte ihn doch zu lieben.
Hoffnung, die er sich nie gestattet hatte, erwachte in ihm. Er hatte Angst vor dieser Hoffnung, weil sie ihn verwundbar machte, aber er ließ sie dennoch zu. Was immer auch aus alldem werden mochte, er sog das Glück des Augenblicks dankbar in sich ein.
„Warum hast du es ihnen nicht erzählt?“, fragte Carmen ihn am Abend unvermittelt, als sie einen langen Spaziergang in der Bucht machten. „Als ich wieder in die Schule musste, war ich sicher, sie würden über mich herfallen. Die meisten Mädchen waren nur auf der Suche nach etwas, um mich fertigmachen zu können. Du wärst ihr Star gewesen. Warum hast du damals geschwiegen?“
„Das ging niemanden etwas an. Ich hätte dir gerne gesagt, wie leid es mir tat, aber mir war klar, dass ich es auch dir gegenüber nie erwähnen durfte“, antwortete Mirco und wusste sofort, worum es ging.
In der elften Klasse war Carmen einmal sehr krank geworden und hatte für zwei Wochen den Unterricht verpasst. Weder für sie noch für Mirco war die Schulzeit einfach gewesen. Die Mädchen hatten Carmen um ihr Aussehen beneidet und sie gehasst. Die Gerüchteküche an der Schule hatte daher nie ein gutes Haar an ihr gelassen.
Auch die meisten Jungen hatten einen weiten Bogen um Carmen gemacht. Keiner hatte damit gerechnet, bei ihr eine Chance zu haben. Umso großspuriger hatten sie untereinander behauptet, mit ihr geschlafen zu haben. Ihr Ruf war eine Katastrophe gewesen, ohne dass sie je etwas dafür hätte tun müssen.
Mirco war ein unscheinbarer, aber hochbegabter Schüler gewesen. Er hatte das Abitur mit einer glatten Eins abgeschlossen und in seiner gesamten Schulzeit höchsten zwei- oder dreimal in einem Fach keine Eins bekommen.
Seine Mitschüler hatten das verständlicherweise ungnädig aufgenommen und ihn schikaniert, wo immer es ihnen möglich gewesen war. Jeden Morgen hatte er auf dem Weg zur Schule darum gebetet, den Tag zu überstehen, und mehr als einmal hatte er sich vor Angst und Anspannung am Morgen übergeben.
Obwohl sie beide zu Außenseitern gemacht wurden, hatten Mirco und Carmen sich nicht zusammengeschlossen. Er war zu verliebt in sie gewesen, um seine Scheu zu überwinden, und sie hatte ihn kaum bemerkt.
Als sie krank war, nahm er seinen Mut zusammen und rief bei ihr an. Sie war eine miserable Schülerin und drohte, nicht versetzt zu werden. Mirco bot ihr an, ihr die Unterrichtsmaterialen vorbeizubringen und sie in den wichtigsten Fächern auf den Stand zu bringen.
Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Carmen zuvor noch keinem Mitschüler erlaubt hatte, zu ihr nach Hause zu kommen. Niemand wusste etwas über ihre Familie und ihr Leben außerhalb der Schule. Auch ihn ließ sie nur ins Haus, weil sie wusste, dass es dabei um ihre Versetzung ging.
Einen Nachmittag hatten die damals Siebzehnjährigen zusammen verbracht, und es war die Hölle gewesen. Carmens Vater war betrunken nach Hause gekommen. Obwohl sie im ersten Stock gelernt hatten, war nicht zu überhören gewesen, wie er seine Frau beschimpfte und schlug.
Keinen Ton hatten die Jugendlichen darüber verloren, und Carmen hatte Mirco auch nicht darum gebeten, es nicht herumzuerzählen. Sie war sicher gewesen, dass er es ohnehin tun würde, aber er hatte es nicht getan. Trotzdem war sie ihm nach diesem Nachmittag bis zum Ende der Schulzeit aus dem Weg gegangen.
„War dein Vater immer so?“, fragte Mirco nach all den Jahren.
„Der Vater meiner Mutter hatte eine gut gehende Firma und war reich. Mein Vater hat meine Mutter wohl in erster Linie wegen des Geldes geheiratet. Auf jeden Fall hat er nach der Hochzeit keinen Finger mehr gerührt. Er hat sie gedemütigt und gequält, aber sie hat es nie geschafft, ihn zu verlassen.“
Carmen hatte noch nie mit jemandem über ihre Kindheit und Jugend gesprochen. Es war eigentümlich, es jetzt zu tun, aber es fühlte sich richtig an. Sie vertraute Mirco.
„Er war Alkoholiker und hat meine Mutter ständig betrogen. Ich weiß nicht, warum sie geblieben ist. Mit Liebe hatte es nichts zu tun. Sie hat ihn verabscheut. Vielleicht hat sie sich geschämt. Keine Ahnung. Er hat ihr ganzes Erbe durchgebracht, und dann ist er Gott sei Dank von alleine gegangen. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Es ist mir auch egal.“
„Und deine Mutter?“
„Sie hat nach drei Jahren wieder geheiratet, und ihr Mann ist wirklich nett. Es geht ihr gut. Sie lebt in Schweden mit ihm bei seiner Familie und ist voll integriert. Manchmal telefonieren wir, aber wir haben uns nicht viel zu sagen. Ich erinnere sie an schlimme Zeiten und verstehe, dass sie lieber wenig mit mir zu tun haben möchte.“
Mirco konnte nicht anders und nahm sie in den Arm. Zuerst versteifte sich Carmen. Mitgefühl und Anteilnahme hatte sie kaum kennengelernt. Dann schmiegte sie sich an ihn und merkte, wie es leichter in ihr wurde.
„Du bist ein guter Mensch, Mirco“, sagte sie leise und empfand tiefe Zuneigung und mehr für diesen Mann, der sie annahm, wie sie war.
„Ich liebe dich“, antwortete er in Gedanken.
***
Die letzten zwei Wochen auf Hawaii waren Mircos und Carmens Flitterwochen. Sie hatten eine rundum schöne Zeit, und als sie wieder in München auf dem Flughafen landeten, waren sie entschlossen, von nun an eine richtige Ehe zu führen.
„Magst du Kinder?“, hatte Mirco sie am Abend vor dem Rückflug ein wenig unsicher gefragt.
„Sie sind großartig. Ich habe es immer bedauert, ein Einzelkind zu sein“, antwortete sie spontan, dann ging ihr auf, was die Frage bedeuten könnte. „Hättest du denn gerne Kinder?“ Auch sie fühlte sich plötzlich unsicher.
Über eine Familie hatte sie bisher nicht nachgedacht. Sie hatten doch eben erst angefangen, sich besser kennenzulernen. War es für mehr nicht viel zu früh? Carmen hatte Mirco sehr gerne und war gerne mit ihm zusammen. Sie ahnte, dass sie ihn irgendwann würde lieben können, aber reichte das für Kinder?
War sie nach allem, was sie erlebt hatte, nicht ohnehin viel zu verkorkst, um einem Kind eine liebevolle Mutter sein zu können? Irgendwie traute sie sich das nicht zu. Hatte sie erst einmal ein Kind, dann musste dieses Kind mit ihr als Mutter leben, ob sie ihre Sache nun gut machte oder nicht.
Carmen zweifelte an sich, und zugleich spürte sie, wie gerne sie einmal Mutter sein wollte. Noch war es dafür zu früh, aber mit Mirco an ihrer Seite konnte sie es schaffen. Sie war selbst überrascht, wie tief ihr Vertrauen in ihn gewachsen war.
„Nur wenn du das auch möchtest, aber ich fände es schön, eine Familie zu gründen“, gestand er.
Carmen lag es auf der Zunge, ihm von Oskar zu erzählen und ihm alles zu beichten. Im Grunde fing ihre Ehe doch nun erst wirklich an, und auf einer Lüge konnte ihre Beziehung nicht gedeihen. Wie sollte sie ein Kind mit ihm haben, wenn er nicht ahnte, was sie getan hatte? Das wäre unfair gewesen.
„Es ist alles noch so neu. Lass uns abwarten, ob es uns gelingt, Hawaii nach München zu tragen! Ich mag Kinder sehr, und mit dir könnte ich mir vorstellen, irgendwann Mutter zu sein, aber wir dürfen nichts überstürzen!“, bat sie ihn um Geduld, weil ihr noch der Mut zur Ehrlichkeit fehlte.
Ihn gleich wieder zu verlieren war unerträglich, nachdem sie sich eben erst gefunden hatten. Sie war es nicht gewohnt, glücklich zu sein. Etwas in ihr war in Bewegung gekommen und begann, ihr Denken und Fühlen zu verändern, aber noch vertraute sie sich selbst nicht.
Ganz bewusst hatte sie ihr Handy nicht mit in den Urlaub genommen, damit Oskar sie nicht erreichen konnte. Sie hatte ihm nicht gesagt, wo und wie lange sie Urlaub machten. In den Wochen vor Hawaii hatte er den Bogen derart überspannt, dass sie sich von dieser verhängnisvollen Leidenschaft für ihn befreien wollte.
Im Nachhinein bedauerte sie, nicht in aller Form mit ihm gebrochen zu haben. Dann hätte sie es bereits hinter sich gehabt. Bevor sie nicht ganz sicher war, dass Oskar endgültig aus ihrem Leben verschwunden war, wollte sie Mirco keine falschen Versprechungen machen.
„Wir warten ab und schauen, was passiert! Wenn wir so weit sind, dann werden wir Kinder haben und nicht vorher“, stimmte Mirco ihr zu. Für ihn gab es keinen Grund, etwas zu überstürzen. Hawaii war ein Wunder. Er durfte träumen. Carmen hatte ihm ihre Zuneigung und ihr Vertrauen eindeutig gezeigt. Er durfte träumen, und das war viel. Es machte ihn froh.
Heimkommen war nicht einfach, denn auf jeden von ihnen wartete ein Berg an Arbeit. Mirco wurde von einigen Kunden dringend erwartet. Es war zwar zu keinen schweren Notfällen gekommen, aber die Kleinigkeiten hatten sich summiert. Carmen wollte den Laden gleich wieder aufmachen, damit sich ihre Kundschaft nicht völlig verlief.
„Der Alltag hat uns wieder, aber was auch immer kommen mag, Carmen, die letzten vier Wochen waren die schönsten meines Lebens. Danke!“, sagte Mirco, als er sie am Montagmorgen zum Abschied küsste, bevor er zur Arbeit ging.
„Es waren auch die schönsten Tage meines Lebens“, antwortete sie und ließ ihn lange nicht aus ihrer Umarmung.
Der Briefkasten im Laden war voll. Hauptsächlich waren es unterschiedlichste Schmierzettel mit Nachrichten von Oskar.
Wo steckst du? Rufe mich an! Ich stecke in Schwierigkeiten. Rufe endlich an! Carmen las einige davon, die meisten warf sie ungelesen in den Papiermüll. Sie hoffte, dass er aufgegeben hatte und nicht mehr vorbeikam, aber das war ein frommer Wunsch, wie sie wohl wusste.
„Wo warst du, verdammt noch mal? Du hast mich hängen lassen, aber das wirst du büßen!“, tobte er gleich am Montagmorgen, als er wutschnaubend in den Laden stürmte.
„Entschuldigen Sie!“, sagte Carmen zu einer Kundin, die erschrocken vor dem wütenden Mann zurückwich.
„Hauen Sie ab! Raus hier!“, brüllte Oskar. Er warf die verdatterte Frau einfach vor die Tür und schloss den Laden. Dann ging er zu Carmen, packte sie an den Schultern und schob sie in den hinteren Raum.
„Wie kannst du es wagen!“, rief sie empört und versuchte sich gegen ihn zu wehren, aber er war stärker als sie. „Du hast hier nichts mehr verloren. Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben. Geh!“
„Das würde dir so gefallen, meine Liebe! Mich schupst kein Weib herum. Ich bestimme, wann ich gehe, und bis dahin ist es noch lange hin. Du gehörst mir! Hast du gehört? Du gehörst mir!“, schrie er und versuchte, sie zu küssen.
Carmen drehte das Gesicht weg, was ihr nicht gegen seine gierigen Hände half, die ihr die Kleider vom Leib reißen wollten. Diesmal weckte seine Grobheit nicht ihr Verlangen, sondern erschreckte sie.
„Aufhören! Lass mich los!“ Sie hatte Panik und schlug wild um sich.
Oskar stieß sie von sich, sodass sie mit halb zerrissener Bluse auf dem Sofa landete. Er blieb vor ihr stehen und atmete schwer.
„Was ist mit dir?“ Er konnte nicht verstehen, warum sie so anders reagierte als sonst.
„Hau ab und komm nie wieder! Ich weiß nicht, was ich je an dir gefunden habe, aber es ist vorbei! Ich werde dich nicht mehr retten. Zahle die Zeche selbst, die du dir eingebrockt hast! Du bist doch der Starke, der niemanden braucht. Toll! Sei stark, und lass mich und meinen Mann in Ruhe!“, schrie sie außer sich.
Er wollte sich wieder auf sie stürzen und ihr beweisen, dass er nichts von seiner animalischen Anziehungskraft verloren hatte. Da klopfte es energisch an der Ladentür. Oskars Auftritt hatte der Kundin solche Angst eingejagt, dass sie die Polizei gerufen hatte. Sie fürchtete um Carmens Sicherheit.
„Öffnen Sie die Tür!“, befahlen zwei uniformierte Beamte.
„Wehe, du sagst denen etwas! Dann wird dein Mann alles erfahren, und ich habe mehr als eine gute Geschichte, Süße. Ich habe Bilder von dir. Heiße Bilder!“, zischte Oskar.
Er war nur auf Bewährung frei. Ins Gefängnis wollte er unter keinen Umständen zurück. Bisher hatte Carmen jedes Mal gefallen, was er mit ihr gemacht hatte. Was immer sie auch gerade ritt, ins Gefängnis durfte sie ihn nicht bringen!
Benommen ging Carmen zu den Beamten und öffnete ihnen die Tür. Was sollte sie nur tun? Oskar war ein Monster, und doch verbanden sie acht Jahre. Sie wollte sich von ihm lösen, aber schaden wollte sie ihm trotz allem nicht. Würde Mirco ihr verzeihen? Warum hatte sie es ihm nicht erzählt, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte? Nun war es zu spät für eine Beichte. Sie hatte ihre Chance gehabt.
„Ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ Die Beamten warfen einen prüfenden Blick in den Laden und griffen an ihre Waffengürtel. Carmens kaputte Bluse machte sie vorsichtig und Oskar, der im Hintergrund stand und sich um ein souveränes Auftreten bemühte, wirkte alles andere als überzeugend.
„Ja. Es tut mir leid, wenn Sie unnötig gerufen wurden! Mein Bekannter hat eine etwas raue Art, und wir haben uns lange nicht gesehen. Das kann man leicht falsch verstehen, aber es ist alles in bester Ordnung!“, log Carmen.
„Sind Sie sicher? Wir können Ihnen helfen, falls Sie bedroht werden!“
„Ich werde nicht bedroht. Es ist alles gut.“
Widerstrebend gingen die Polizisten. Carmen ließ die Ladentür weit offen und blieb in ihr stehen.
„Verschwinde, und komm nicht wieder!“ Sie deutete hinaus.
Oskar wusste, dass sie nur schreien musste, und er war wieder im Gefängnis. Hasserfüllt sah er sie an, als er an ihr vorbei nach draußen ging.
„Scheinheiliges Miststück!“, stieß er wütend hervor.
„Du wirst kein Geld mehr von mir bekommen!“, rief sie ihm nach und verfluchte sich für das Zittern in ihrer Stimme.
Er ging davon, ohne sich noch einmal nach ihr umzudrehen. War es damit überstanden? Sie hoffte es, aber ganz glauben konnte sie es nicht.
***
Der Vorfall im Laden änderte für Carmen alles. Hawaii war nicht die Realität gewesen. Im Urlaub mochte man sich einbilden, man könne sich ändern und quasi über Nacht zu einem anderen Menschen werden, aber spätestens wenn man heimkam, erkannte man den Irrtum.
Menschen änderten sich nicht wirklich. Sie nahmen ihre eigene Hässlichkeit immer mit, sosehr sie sich auch bemühen mochten, sich selbst zu entfliehen. Irgendwann würde Mirco sie ansehen und erkennen, dass sie nicht der Mensch war, für den er sie hielt. Irgendwann würde sie ihn enttäuschen, und er würde auf Abstand gehen.
Carmen sehnte sich danach, ihm zu vertrauen und ein neues Leben mit ihm zu beginnen, aber sie konnte es nicht. Am Ende würde sie scheitern. Sie würde ihm wehtun, und er würde sie verachten. War es da nicht besser, gleich den Anfängen zu wehren? Sie bewahrte sich und ihn vor Schlimmerem, wenn sie rechtzeitig die Notbremse zog.
Als sie Oskar aus dem Laden warf, hatte sie Mirco noch gleich am selben Abend von ihrem Betrug erzählen wollen, um nicht mehr erpressbar zu sein. Sie hatte ihn um Verzeihung bitten wollen und darauf gehofft, dass er in der Lage war, ihr trotz alldem noch zu vertrauen. Dann erkannte sie, dass sie gar nicht wollte, dass er ihr vergab.
Sie verdiente seine Vergebung nicht. Aus eigener Kraft würde sie es nie schaffen, Mirco zu verlassen. Dafür hatte sie es zu gut bei ihm, und sie wollte nicht zurück in die Ungewissheit ihres früheren Lebens. Sie war zu schwach, um fair zu sein und ihm seine Freiheit zu schenken.
Sollte Oskar ruhig kommen und Mirco alles erzählen! Sollte er ihm die entsetzlichen Bilder zeigen! Selbst ein herzensguter Mann wie Mirco konnte dann nicht mehr anders und musste sie hinauswerfen, wie sie es verdiente.
Carmen konnte es kaum erwarten, bis Oskar kommen und ihr Leben zerstören würde. Sie hasste sich. Wie hatte sie nur auf den Gedanken kommen können, aus ihr würde eine gute Ehefrau und Mutter werden? Wie hatte sie an das Glück glauben können? Sie konnte sich kaum noch daran erinnern.
Als Mirco am Abend nach Hause kam, hatte er einen herrlichen Rosenstrauß für seine Frau dabei. Dann sah er ihre Miene und ließ die Blumen traurig sinken. Da war es wieder, das Puppenhafte. Jedes Gefühl war aus ihrer Miene gewichen, und sie lächelte starr und kühl.
„Guten Abend, Carmen!“, wünschte er ihr mit belegter Stimme.
Sie lächelte ohne Wärme, nahm die Blumen, bedankte sich höflich und stellte sie ins Wasser. Wo war die Frau, mit der er noch vor drei Tagen auf Hawaii gelacht und über Kinder gesprochen hatte? Irgendwo tief hinter der Maske gab es sie, da war Mirco sich sicher.
Es tat weh. Hoffnung war etwas Entsetzliches, wenn man sich ihr erst einmal geöffnet hatte. Bisher war Mirco damit zufrieden gewesen, dass Carmen ihn nicht liebte und ihn auf Distanz hielt. Er hatte es nicht anders gekannt und für sich akzeptiert.
Nun wusste er, wie es war, wenn sie sich öffnete. Er wusste, wie sich Glück anfühlte. Würde er sie je wieder von Herzen lachen sehen? Was hatte er falsch gemacht? Warum hatte sie sich wieder zurückgezogen? Hatte sie ihm auf Hawaii nur etwas vorgespielt, oder verstellte sie sich jetzt?
„Warum?“ Er hatte ihr die Frage nicht stellen wollen, aber sie ließ sich nicht zurückhalten.
„Was meinst du, mein Lieber?“, fragte sie zurück, und ihr Lächeln war wie eine eiskalte Dusche.
„Nichts! Verzeih! Ich habe noch zu arbeiten. Es wird sehr spät werden. Hab eine gute Nacht, Carmen, und schlafe gut!“
„Danke!“
Er ging hinunter in sein Arbeitszimmer, das im Keller der Villa lag. Eigentlich hatte er den Abend mit Carmen verbringen wollen, aber Arbeit war bei ihm nie Mangel. Erst fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, aber die Konzentration auf etwas völlig anderes half, den Schmerz unter Kontrolle zu bringen.
Mirco wischte sich immer wieder die Tränen aus den Augen, während er an einem neuen Sicherheitsprogramm schrieb. Carmen hatte sich ihm einmal geöffnet. Sie konnte es wieder tun. Irgendwann.
Er legte sich in seinem Bett im Arbeitszimmer hin, als er müde wurde. Der Urlaub war vorbei, und das Leben ging wie gewohnt weiter. Er schwor sich, damit zurechtzukommen und niemals aufzugeben. Was immer auch in Carmen vorgehen mochte, er wusste, dass sie es wert war, auf sie zu warten.
So spielte sich der gewohnte Alltag wieder zwischen dem Paar ein, und nach einer Woche lag Hawaii ein Leben zurück. Carmen war angespannt und wartete auf das Unheil, das kommen musste. Warum brauchte Oskar so lange? Warum machte er seine Drohung nicht wahr?
Er ließ sich nicht im Laden sehen und wendete sich offensichtlich auch nicht an Mirco. Der trügerische Frieden war nervenaufreibend. Wann immer die Ladenglocke ging, rechnete Carmen mit ihrem Geliebten, aber er kam nicht.
Zwei Wochen verstrichen, bis sie ihn wiedersah. Plötzlich stand er im Laden und sah schrecklich aus. Man hatte ihn grün und blau geschlagen, und er humpelte stark. Sie musste nicht fragen, was mit ihm passiert war.
Sechs Wochen waren eine lange Zeit, und so lange war er an kein Geld mehr herangekommen. Die Geldeintreiber mussten ihm im Nacken sitzen, und diesmal hatten sie nicht nur gedroht, sondern ihm gezeigt, was ihm blühte, wenn er nicht bald bezahlte.
„Wie viel brauchst du?“, fragte sie direkt.
„Einundzwanzigtausend Euro. Die bringen mich sonst um, Carmen. Die wissen, dass ich bei dir bin und dass du meine letzte Chance bist, an Geld zu kommen. Wenn du mir nichts gibst, dann bringen die mich um. Bitte!“
Wie verzweifelt musste Oskar sein! Sie hatte ihn noch nie um etwas bitten hören.
„Das ist das letzte Mal, Oskar. Du musst mit dem Spielen aufhören! Ich kann das nicht weiterhin tun. Mirco ist großzügig, aber solche Summen kann auch er nicht Monat für Monat erarbeiten. Geh in eine Klinik und mache einen Entzug! Tu etwas, damit du aus diesem Fahrwasser rauskommst! Ich kann dir nur noch dieses eine Mal helfen.“
Wie oft hatte sie ihn darum schon gebeten, ohne etwas zu erreichen. Sein Ego ließ nicht zu, sich Hilfe zu suchen und sich der Drogensucht und der Spielsucht zu stellen. Sobald es ihm wieder besser ging, würde er sich stark fühlen und überzeugt sein, allen anderen überlegen zu sein. Sie wussten es beide.
„Wenn du mir das Geld gibst, siehst du mich nicht wieder!“, versprach er.
Carmen ging mit ihm zur Bank, hob die Summe ab und gab sie ihm. Acht Jahre hatte sie ihm dabei zugesehen, wie er immer mehr abrutschte und jeden Boden unter den Füßen verlor. Von dem Mann, in den sie sich einmal verliebt hatte, war schon lange nichts mehr da. Er tat ihr leid.
„Alles Gute!“, wünschte sie ihm.
„Prinzessin, du wirst mich vermissen. Du brauchst einen Kerl wie mich, damit du überhaupt etwas empfinden kannst. Ohne mich wirst du vereisen und kannst dich als menschlichen Eiszapfen ausstellen lassen“, prophezeite er ihr boshaft, dann humpelte er davon, ohne auch nur Danke zu sagen.
Nachdenklich sah sie ihm nach. Hatte er recht? War sie auf ihn hereingefallen, weil sie die Demütigungen und Verletzungen suchte, die er austeilte? Sie wusste es nicht, aber sie war weder erleichtert noch traurig, als er verschwand. Sie war einfach nur unendlich müde, und ihr war kalt – eiskalt.
***
Zwei Monate vergingen, in denen Oskar sich tatsächlich nicht mehr bei Carmen blicken ließ. Allmählich begann sie zu glauben, dass er für immer aus ihrem Leben verschwunden war. Ob sie ihn vermisste, vermochte sie nicht zu sagen.
Sein Fortgang änderte nichts, das war es, was sie überraschte und traurig machte. Sie fühlte sich nicht besser ohne ihn im Nacken, und es gelang ihr nicht, die Distanz Mirco gegenüber wieder abzubauen. Im Gegenteil, ihr Mann wurde ihr mit jedem Tag fremder.
Genau wie über die früheren Beträge sprach Mirco sie auch nicht auf die einundzwanzigtausend Euro an. Er ließ es ihr kommentarlos durchgehen, dass sie ihn ausplünderte. Für was für einen minderwertigen, üblen Menschen musste er sich halten, wenn er sich nicht einmal darüber aufregte, derart von ihr missbraucht zu werden?
Carmen schämte sich in Grund und Boden. Sie konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen und schlief nur noch in ihrem Rückzugsraum. Abends, wenn Mirco kam, war sie meist schon oben, nur um ihm nicht zu begegnen.
Natürlich wusste Mirco von den hohen Summen, die Carmen fast jeden Monat abhob. Sein Banker informierte ihn darüber und warnte ihn. Auf Dauer konnte er sich das trotz seines hohen Gewinnes nicht leisten. Durch Carmen gab er mehr aus, als hereinkam. Das war nicht schlimm, weil es Rücklagen gab, aber den Banker stimmte es bedenklich.
„Meine Frau kann so viel Geld verbrauchen, wie sie möchte. Solange die Beträge gedeckt sind, sollte Ihnen das kein Kopfzerbrechen bereiten, aber wir können gerne die Bank wechseln, wenn Ihnen das lieber ist“, wurde Mirco sogar unhöflich, was sonst nicht seine Art war.
Als er die Bank verließ, tat es ihm schon leid. Der Banker hatte nur seine Arbeit gemacht. Mirco fragte sich in der Tat nicht, wozu Carmen das Geld brauchte. Sie brauchte es, und er war froh, es ihr zur Verfügung stellen zu können.