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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1802: Annika - für immer stumm?
Notärztin Andrea Bergen 1281: Das gestohlene Glück
Dr. Stefan Frank 2235: Das Lächeln der Maikönigin
Dr. Karsten Fabian 178: Um ihr Kind zu beschützen ...
Der Notarzt 284: Aus Verzweiflung ausgesetzt
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 598
Veröffentlichungsjahr: 2022
Katrin Kastell, Daniela Sandow, Stefan Frank, Ina Ritter, Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 37
Cover
Impressum
Annika – für immer stumm?
Vorschau
Annika – für immer stumm?
Ein kleines Mädchen spricht plötzlich nicht mehr
Von Katrin Kastell
Die fünfjährige Annika ist furchtbar enttäuscht. Zuerst bricht die Mama ihr Versprechen und holt sie nicht vom Kindergarten ab, und dann erzählt Oma Hedwig ihr, dass die Mama nun beim lieben Gott im Himmel ist. Was macht die Mama da oben? Annika braucht ihre Mama doch hier!
Als die Kleine dann Tage später neben ihrem Papa am offenen Grab steht und auf den dunklen Sarg schaut, bricht das Kinderherz entzwei – und Annika verstummt!
Doch Christian Baumann ist so sehr mit seiner eigenen Trauer beschäftigt, dass er blind ist für die Not seiner Tochter. Wird er rechtzeitig begreifen, wie sehr Annika jetzt seine Liebe braucht und dass die Kleine Gefahr läuft, ihre Sprache für immer zu verlieren?
„Ich will nicht in den Kindi! Mami, du hast gesagt, wir gehen heute in den Zirkus!“, empörte sich Annika Baumann und stemmte die Arme in die Seiten.
Für ihre fünf Jahre wusste die kleine Dame ganz genau, was richtig und was falsch war. An einem Zirkustag konnte man doch unmöglich in den Kindergarten gehen müssen! Unmöglich! Da gab es so viel Wichtigeres, was unbedingt getan werden musste.
„Trapezmädel, wir gehen in den Zirkus! Ich habe es dir versprochen“, beschwichtigte Daniela Baumann ihre Tochter und hatte ein schlechtes Gewissen. Es war ein Notfall, der sie zwang, ausgerechnet an diesem Vormittag zu arbeiten. Zirkustage waren Annika und ihr eigentlich heilig und folgten einem festen Ritual.
„Aber ich will vorher nicht in den Kindi! Ich will, dass wir uns hübsch machen und … und … und …“ Da war so viel, was Annika an den besonderen Tagen normalerweise mit ihrer Mami machte, und vom gemeinsamen Frühstück angefangen, machte einfach alles davon Spaß.
„Ich weiß, mein Schatz. Papi hat überraschend einen wichtigen Termin mit einem neuen Kunden, und ich muss heute Vormittag eine unserer Baustellen für ihn ansehen. Es geht leider nicht anders. Die Vorstellung fängt um vierzehn Uhr an. Ich hole dich spätestens um halb eins vom Kindergarten ab, dann reicht es noch, um uns schön zu machen und sogar um vor dem Zirkus noch fein essen zu gehen. Ist das ein guter Plan?“
Annika nickte zufrieden und strahlte wieder. Ihre Mami hielt immer, was sie versprach. Das Mädchen liebte den Zirkus über alles und wollte später unbedingt selbst in der Zirkuskuppel von Trapez zu Trapez fliegen und auf dem Hochseil tanzen.
Wann immer ein Zirkus in München gastierte, besuchte ihre Mami mindestens einmal eine der Kindervorstellungen mit ihr. Manchmal gingen sie sogar zwei- oder dreimal hin, wenn die Vorstellung Annika besonders gut gefiel. Selbst in die Abendvorstellung durfte Annika manchmal mit.
Mutter und Tochter machten sich kurz vor acht Uhr Hand in Hand und munter plaudernd auf den Weg zum Kindergarten. Er lag nur knappe zehn Minuten zu Fuß entfernt. Daniela Baumann und ihr Mann Christian waren Architekten und hatten das Haus, in dem sie lebten, ganz nach ihren Bedürfnissen entworfen und gebaut.
Erstes Kriterium für die Wahl des Bauplatzes in einem exklusiven Stadtrandviertel von München war die Nähe zu Kindergarten und Grundschule gewesen. Die kleine Familie fühlte sich sehr wohl in ihrem Zuhause, auch wenn das gemeinsame Architekturbüro in der Innenstadt lag. Zur Arbeit brauchte das Paar gute dreißig Minuten.
Daniela fuhr daher nicht mehr jeden Tag ins Büro. Sie hatte sich zu Hause ein Arbeitszimmer eingerichtet, in dem sie ihre Entwürfe und Berechnungen machte. Nur wenn sie sich mit Kunden traf, nahm sie den Arbeitsweg in Kauf, oder wenn ihr Mann sie für eine besondere Aufgabe im Büro benötigte.
Christian und sie hatten von Anfang an besprochen, dass Daniela beruflich zurücksteckte und mehr Zeit auf Annika und ein geborgenes Heim verwendete. Sie tat es gerne, wenn sie auch nicht ganz ohne ihren Beruf hätte sein können.
Da Christian und sie immer als Team gearbeitet hatten, bezog er sie ganz selbstverständlich weiterhin in alles ein. Es war ein guter Kompromiss, bei dem Annika ein kuscheliges Nest hatte, die Familie im Zentrum stand und ihre Mutter trotz allem berufstätig sein und am Ball bleiben konnte.
„Mami, um halb zwölf oder gaaaaaaaaanz viel früher!“, rief Annika ihrer Mutter nach, als sie sich vor der Tür zum Kindergarten verabschiedeten. Sie winkte ihr und warf ihr Kusshände zu. Wenn ihre Mami auf eine Baustelle musste, konnte es immer später werden, und das schätzte die kleine Dame ganz und gar nicht.
„Zirkustag! Natürlich komme ich pünktlich!“ Daniela warf die Kusshände lachend zurück. Sie hatte als Kind den Zirkus genauso geliebt und ähnliche Träume wie ihre Tochter gehabt. Es rührte sie, wie alles sich im Leben zu ändern schien und doch einiges sich immer wiederholte.
„Hier läuft gerade gar nichts, wie es soll!“, empfing ein sichtlich genervter und überforderter Bauleiter die Architektin zur anstehenden Baubesichtigung, auf die er gedrängt hatte, weil es Probleme gab.
„Hagner hat meine besten Leute abgezogen und mir dafür ungelernte Arbeiter geschickt, mit denen sich nicht viel anfangen lässt. Sehen Sie sich das an, Frau Baumann! Ich muss überall zugleich sein, damit alles richtig gemacht wird“, beschwerte er sich.
Rainhold Hagner war der Bauträger, der den Bürokomplex hochzog. Letztendlich waren auch Daniela und ihr Mann für ihn tätig, aber im Gegensatz zu dem Bauleiter, den er als Untergebenen betrachtete, behandelte er sie etwas mehr auf Augenhöhe.
„Warum haben Sie nicht Hagner hergebeten? Wenn er sieht, was hier los ist, wird er sicher ein paar besser ausgebildete Leute schicken“, riet Daniela.
„Hagner geht nicht ans Telefon, wenn ich anrufe, und lässt sich von seiner Sekretärin verleugnen. Sie kennen ihn doch! Hauptsache billig“, brummte der Bauleiter.
Daniela nickte wortlos. Sie konnte sich vorstellen, dass der Mann es nicht leicht hatte. Hagner war stur, geizig und nicht immer einsichtig. Die Verhandlungen mit ihm waren unangenehm und gefürchtet. Jedes Mal nahmen Christian und sie sich vor, nie wieder für ihn tätig zu werden, aber er war nun einmal einer der mächtigsten Bauträger der Gegend.
„Ich schaue mir das Ganze an!“, versprach sie vage und ging mit dem Bauleiter einige Stockwerke ab.
Auf der Baustelle herrschten chaotische Zustände. Keiner schien recht zu wissen, wo er hinlangen sollte. Die Hierarchien waren kaum geklärt, und jeder machte anscheinend, was ihm gefiel, ohne auf die anderen zu achten. Wie beim Turmbau zu Babel ging es drunter und drüber, und die Leute mussten sich erst zusammenraufen und einarbeiten.
„So können Sie die Termine unmöglich halten“, stellte sie sachlich fest.
„Das habe ich Hagner gesagt, aber er hört nicht zu, und seitdem redet er nicht mehr mit mir. Könnten Sie mit ihm reden und ihn zur Vernunft bringen?“, bat der Mann, mit dem Daniela und Christian schon bei anderen Großbaustellen zusammengearbeitet hatten. Er war gut in seinem Beruf und hatte einen bemerkenswerten Blick für das Ganze.
„Das mache ich“, versprach sie daher.
Nach einer gründlichen Baubegehung hatte Daniela von ihrer Seite her zwar nichts Ernstliches zu beanstanden, aber falls sich nichts änderte, würde der Bauträger mit einer stattlichen Konventionalstrafe rechnen müssen. Sie hoffte, dass ihn das zur Besinnung brachte. Manche Sparmaßnahmen konnten teuer sein.
Sie war im Prinzip fertig und hatte ihren Schutzhelm, den sie immer auf Baustellen trug, bereits zurückgegeben. Bevor sie ging, wollte sie sich nur noch ein paar Notizen machen und stand gut sichtbar ein paar Meter vor der Baustelle.
Was Daniela Baumann nicht sehen konnte, war ein Kran auf dem Dach, der von einem ungeübten Mann bedient wurde. Er schwenkte mit der schweren Ladung gefährlich hin und her, als ob er sich nicht entscheiden könne, wohin er den Stahlträger eigentlich befördern wollte. Sie konnte nicht sehen, wie die Stahlseile, die nicht korrekt eingehängt worden waren, aus ihren Halterungen rissen.
„Weg da!“, schrie es panisch von oben und hinter ihr.
Sie drehte sich um, ohne zu ahnen, dass sie gemeint sein könnte. Entsetzt machte sie einen Satz zurück, und so wurde sie nicht von dem Stahlträger erschlagen, der direkt hinter ihr auf den Boden prallte. Aber sie bekam einen enormen Stoß versetzt und flog mehrere Meter durch die Luft, bevor sie auf dem Boden aufschlug.
„Frau Baumann! Um Himmels willen!“, hörte sie den Bauleiter völlig hysterisch rufen und wollte ihm gerade sagen, dass alles noch einmal gut abgegangen war, als sie plötzlich nicht mehr atmen konnte. Es war, als ob ihre Lunge in Zement gegossen war, und vor ihren Augen wurde es schwarz.
Verbissen wehrte sie sich gegen die Bewusstlosigkeit, aber sie verlor den Kampf und wurde in die Schwärze des Abgrundes hinter ihren Augen hineingezogen. Ihr letzter Gedanke war bei Annika. Es war doch ein Zirkustag!
***
Daniela Baumann wurde mit Blaulicht und Sirene zur Notaufnahme der Berling-Klinik gebracht. Sie hatte schwere innere Verletzungen. Ihre Milz war gerissen, Leber und Nieren waren stark gequetscht. Das Rückenmark war betroffen, und sie wies vom Hals abwärts Lähmungserscheinungen auf.
Das CT zeigte, dass das Rückenmark an keiner Stelle durchtrennt worden war, aber dafür drückten Blutergüsse darauf. Ob die Lähmungen vorübergehend oder dauerhafter Natur waren, ließ sich erst nach einer Operation sagen, die sofort hätte durchgeführt werden müssen. Bei dem schlechten Allgemeinzustand der Patientin war sie aber trotz der schrecklichen Konsequenzen zweitrangig.
Für das Ärzteteam, das sich in der Notaufnahme um die Patientin bemühte, ging es im Moment allein darum, ihr Leben zu retten. Überall war Gefahr in Verzug, und am bedrohlichsten war eine Blutung im Gehirn, die unbedingt sofort gestoppt werden musste. Ansonsten drohte das Gehirn zu stark anzuschwellen, was Krämpfe und schließlich den Hirntod zur Folge haben konnte.
„Hätte sie nur ein paar Zentimeter weiter entfernt gestanden, dann wäre ihr nichts passiert – nur ein paar Zentimeter“, knurrte einer der Chirurgen frustriert. „Ein paar Zentimeter, die über Leben und Tod entscheiden.“
„Wir müssen die Blutungen in den Griff bekommen. Sie verliert mehr Blut, als wir ihr geben können“, sagte der Allgemeinchirurg. Er versuchte, die Patientin so weit zu stabilisieren, dass sie überhaupt operiert werden konnte.
Keiner der Ärzte ging davon aus, dass die Patientin es in den Operationssaal schaffte, aber Daniela Baumann hielt durch. Ihr Körper war zerbrochen, aber ihr Geist hielt am Leben fest. Es war Zirkustag. Die Mutter wollte bei ihrem Kind bleiben und es erwachsen werden sehen.
Es gelang den Ärzten, Daniela Baumanns Gehirnblutung zu stoppen. Ihre Milz konnte entfernt und die Blutungen im Bauchraum eingedämmt werden. Erst dann machte der Kreislauf der Patientin nicht mehr mit, und ihr Herz drohte zu versagen.
Den Chirurgen blieb keine Wahl. Sie mussten sie vorübergehend schließen, obwohl es noch viel zu tun gab und die Zeit drängte. Falls die Patientin den Tag und die Nacht überstand, musste sie erneut in den OP. Es war ein Balanceakt – operierten die Chirurgen jetzt weiter, starb die Patientin. Zögerten sie die anstehenden Operationen zu lange hinaus, starb sie auch.
„Die Frau hat eine eiserne Willenskraft, sonst wäre sie nicht mehr da“, bemerkte der Anästhesist anerkennend, als sie nach draußen gefahren wurde.
„Ja, es ist ein Wunder, dass sie noch lebt. Hoffen wir, dass ihr die Kraft erhalten bleibt, weiter Wunder zu wirken. Sie ist noch lange nicht über dem Berg“, antwortete der Neurochirurg, der mit Sorge beobachtete, dass die Lähmung sich ausdehnte.
Medizinisch standen Danielas Chancen schlecht. Es drohte ein allgemeines Organversagen. Solange ihre Nieren noch arbeiteten, bestand Hoffnung, so gering sie auch sein mochte. Nur die Zeit konnte zeigen, ob ihr Körper der enormen Belastung standhielt.
Christian Baumann war mitten in der Besprechung, als seine Sekretärin zu ihm trat. Er wollte sie ungeduldig hinauswinken. Im Moment konnte nichts so wichtig sein, um eine Störung zu rechtfertigen. Aber sie ließ sich nicht vertreiben, und ihm fiel auf, dass sie mit den Tränen kämpfte.
Mechthild Krug war Anfang sechzig, hatte zwei Scheidungen und den Verlust eines geliebten Sohnes hinter sich. Sie war eine Frau, der wenig erspart geblieben war und die dadurch eine Härte und Strenge gewonnen hatte, durch die kaum noch etwas drang. Sie war die perfekte Sekretärin, weil nichts sie erweichte oder aus der Ruhe brachte.
Der Ausdruck von Mitgefühl, Kummer und Leid in ihren Augen jagte Christian eine Gänsehaut über den Rücken. Ohne dass sie etwas sagte, war ihm klar, dass etwas Entsetzliches geschehen sein musste. Hatte Annika im Kindergarten einen Unfall gehabt? Mechthild liebte seine Tochter. Annika war immer viel zu wild und abenteuerlustig und kaum zu bändigen in ihrem Unternehmensdrang.
„Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick!“, bat er mühsam gefasst in die Runde und eilte mit Mechthild hinaus.
„Was ist passiert?“, fragte er, sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
„Herr Baumann, Ihre Frau hatte auf der Baustelle, die sie heute Morgen besichtigt hat, einen schweren Unfall. Der Bauleiter hat eben angerufen. Ein Stahlträger muss sich aus der Halterung am Kran gelöst haben und …“
Christian taumelte nach hinten und musste sich an die Wand lehnen. Ein Stahlträger? Die schlimmsten Szenarien liefen vor seinem inneren Auge ab. Er bekam keine Luft und konnte sich nicht rühren, aber dann fiel die Starre von ihm ab. Daniela lebte! Sie musste leben und wieder gesund werden! Alles andere war undenkbar.
„Was ist mit Daniela? Wo ist sie?“, schrie er fast.
„Sie wurde zur Berling-Klinik gebracht. Der Bauleiter konnte nicht mehr sagen und …“ Weiter kam Mechthild Krug nicht, denn Christian eilte bereits im Sturmschritt aus dem Büro, um zur Klinik zu fahren. Er überließ es der Sekretärin, die Kunden mit höflichen Worten um Entschuldigung zu bitten und zu verabschieden.
Warum nur hatte er Daniela gebeten, für ihn zu der Baustelle zu fahren? Warum hatte er den Termin nicht einfach verschoben? Sie hätte jetzt mit Annika in der Stadt unterwegs sein und sich einen schönen Tag machen sollen. Sie hätte sicher und gesund sein müssen. Es war seine Schuld, wenn sie in der Klinik war – ganz allein seine Schuld.
„Herr Baumann, was machen Sie denn hier bei uns?“ Dr. Stefan Holl, der Klinikleiter der Berling-Klinik, kam Christian entgegen, als er vom Parkplatz her auf die Klinik zustrebte. Dr. Holl hatte sich mit seiner Frau Julia und einem befreundeten Paar in der Stadt zum Mittagessen verabredet und war eigentlich im Aufbruch.
Er kannte das Architektenpaar gut, weil Daniela und Christian Baumann schon Umbauten in der Klinik für ihn geplant und durchgeführt hatten. Stefan war immer sehr zufrieden mit ihrer Arbeit gewesen und hatte sich daran gefreut, wie liebevoll das Paar miteinander umging und wie harmonisch die Zusammenarbeit verlief. So etwas war selten und schön anzusehen.
Als Daniela Baumann dann schwanger geworden war, hatte sie ganz selbstverständlich ihn gewählt, um sie während der Schwangerschaft zu betreuen und ihr Kind gesund auf die Welt zu holen. Er hatte die kleine Annika ihrer Mutter im Kreissaal auf den Bauch gelegt und ihrem Vater die Schere gereicht, um die Nabelschnur zu durchtrennen.
„Daniela, meine Frau, sie wurde vorhin eingeliefert. Ich weiß nichts Genaues, nur dass es einen Unfall auf der Baustelle gab, die sie gerade besichtigt hat.“ Christian war kreidebleich, und der Arzt sah ihm an, wie verstört und verängstigt er war.
„Warten Sie einen Moment! Ich gebe nur kurz meiner Frau Bescheid, dass ich mich verspäte, dann begleite ich Sie in die Notaufnahme“, entschied Dr. Holl spontan.
Er betrat mit dem Ehemann die Notaufnahme, als Daniela Baumann gerade aus der Notfallkabine nach oben zum Operationssaal gefahren wurde. Überall war Blut. Dr. Holl erkannte auf einen Blick, wie ernst es um die junge Frau stehen musste, denn seine Kollegen rannten förmlich auf den offenen Fahrstuhl zu.
„Daniela! Liebling! Bitte, es tut mir so leid! Es tut mir so schrecklich leid!“, schluchzte Christian und rannte neben den Ärzten und dem Bett her. Normalerweise hätten die Ärzte kurz angehalten, um dem Mann zu ermöglichen, sich von seiner Frau zu verabschieden, falls sie es nicht schaffte, aber für die Patientin zählte jede Sekunde.
Benommen und im Schockzustand blieb Christian vor dem Fahrstuhl zurück. Daniela war nicht bei Besinnung gewesen. Blut, überall war Blut gewesen, und sie hatte so klein gewirkt und zerbrechlich. Das war nicht seine heitere, immer umtriebige Frau gewesen in dem Bett, nicht die Frau, mit der er am Morgen noch im Bett geschmust und gescherzt hatte.
„Was ist mit ihr? Sie wird doch wieder gesund?“, fragte er Dr. Holl und stand völlig verloren vor ihm.
„Sie sind Herr Baumann?“ Der Notarzt kam zu ihnen und lächelte Dr. Holl ernst zu, bevor er sich an Christian wandte. Mit knappen Worten fasste er den kritischen Zustand der Patientin zusammen, ohne etwas zu beschönigen, aber auch ohne Ängste zu schüren.
„Momentan ist es in erster Linie wichtig, die Blutungen im Bauchraum und im Gehirn zu stoppen. Wenn das gelungen ist, müssen wir weitersehen“, endete er.
Hilflos sah Christian von dem Notarzt zu Dr. Holl. Er hörte die Worte, aber er konnte sie nicht wirklich fassen.
„Wird meine Frau … ich meine, kann sie …“ Er konnte es nicht aussprechen. Es war unaussprechlich, weil all das ein Albtraum sein musste. Er wollte aufwachen und schwor sich, wenn er aus diesem Traum erwachte, alles zu tun, um seine Familie zu schützen, einfach alles!
„Der Zustand Ihrer Frau ist leider sehr ernst, Herr Baumann. Es tut mir so leid, aber Sie müssen sich auf das Schlimmste vorbereiten“, fasste Dr. Holl für ihn zusammen.
Er war seit vielen Jahren Arzt und wusste, dass es wichtig war, ehrlich zu Patienten und Angehörigen zu sein. Lügen halfen nur für einen flüchtigen Augenblick, aber dann machten sie alles nur noch schlimmer.
„Wenn sie die Operation übersteht und es den Chirurgen gelingt, die Blutungen in den Griff zu bekommen, dann hat sie eine erste Hürde genommen.“
„Ich hätte auf dieser Baustelle sein müssen und nicht Daniela. Ich sollte jetzt um mein Leben kämpfen und nicht sie. Das ist falsch! Das ist alles falsch!“, murmelte Christian.
Stefan Holl sorgte dafür, dass sie informiert wurden, sobald es etwas Neues gab, und führte den verstörten Mann in die Cafeteria der Klinik. Mechanisch und ohne zu begreifen, was er eigentlich tat, trank Christian den Tee, den ihm der Arzt bestellte, und nahm eine Beruhigungstablette, die er ihm reichte.
„Ich kann leider doch nicht zu euch stoßen, Julia. Entschuldige, aber erinnerst du dich an Daniela Baumann?“, informierte Stefan Holl seine Frau, als er das Medikament holte und kurz alleine unterwegs war.
„Die junge Architektin, die uns so sympathisch war?“
„Ja, sie hatte einen schweren Arbeitsunfall, und es sieht nicht gut aus. Ich möchte ihren Mann jetzt nicht alleine lassen.“
„Natürlich nicht! Hoffentlich schafft sie es, Stefan! Wir sitzen hier schon im Lokal. Alles in Ordnung. Bis heute Abend!“
„Ich liebe dich“, sagte er dankbar, weil sie ihn verstand und nicht enttäuscht oder verärgert war.
„Ich dich auch.“
***
Annika war normalerweise recht gerne im Kindergarten. Sie war ein geselliges, offenherziges Kind, das leicht in Kontakt mit anderen Kindern kam und immer jemanden zum Spielen und Unsinn machen fand. An einem Zirkustag machte das aber keinen Spaß, und Annika wartete ungeduldig auf ihre Mami.
Im Kindergarten gab es eine große, bunte Uhr, an der die Kinder üben konnten, die Uhrzeit abzulesen. Annika konnte das bereits recht gut. Bis 12:30 Uhr war sie gnädig und sah ihrer Mami nach, dass sie nicht früher kam. Nach 12:30 Uhr schaffte sie es nicht mehr, sich abzulenken und blieb einfach vor der Uhr stehen, auf die sie unverwandt starrte.
„Annika, wir essen gleich. Komm, ich richte dir einen Teller!“, schlug die Kindergärtnerin kurz vor eins vor.
Es kam immer einmal wieder vor, dass Mütter ihre Kinder eigentlich mittags holen wollten und dann doch nicht dazu kamen. In der Regel riefen die Mütter dann kurz an. Annikas Mutter hatte sich bisher immer an Absprachen gehalten, aber sicher war ihr etwas Wichtiges dazwischengekommen. So etwas konnte passieren.
„Nein, meine Mami holt mich gleich. Wir essen zusammen, und dann gehen wir in den Zirkus“, lehnte das Kind ab und blieb vor der Uhr stehen.
Die Kindergärtnerin versuchte einiges, um Annika abzulenken, aber es gelang ihr nicht. Um 13:30 Uhr hatte die Kleine Schuhe und Jacke an, damit sie es mit der Mami noch schaffen konnte, ins Zirkuszelt zu schlüpfen, bevor die Vorstellung begann.
Erst um fünfzehn Uhr war Annika dazu zu bewegen, die Schuhe wieder auszuziehen, aber sie spielte nicht mit den anderen, sondern saß stumm auf einer Bank im Ausgangsbereich und sah unentwegt zur Tür.
Die Mami hatte versprochen, pünktlich zu sein, aber sie war nicht gekommen. Für Annika brach eine Welt zusammen. Sie war zu wütend und zu sauer, um zu weinen. Versprechen musste man halten. Wenn die Mami kam, wollte sie ihr ordentlich die Meinung sagen, aber sie kam nicht. Sie kam einfach nicht.
Um siebzehn Uhr wurden die meisten Kinder abgeholt. Annika blieb mit den wenigen zurück, deren Mütter erst gegen achtzehn Uhr kommen konnten. Und dann blieb Annika alleine übrig. Ihre Mami hatte sie komplett vergessen. Das tat schrecklich weh. Sie war noch nie vergessen und bitterlich enttäuscht worden. Es war ihr erstes Mal.
Eine Kindergärtnerin blieb wegen ihr extra länger, wollte aber auch nach Hause und rief Daniela Baumann auf ihrem Mobiltelefon an. Nur der Anrufbeantworter nahm ab. Sie hinterließ ihr eine Nachricht, aber es kam kein Rückruf.
„Annika, ich kann deine Mami nicht erreichen. Hast du die Telefonnummer von deinem Papa?“, fragte sie das Kind nach zehn Minuten und bemühte sich, der Kleinen nicht zu zeigen, dass sie allmählich ärgerlich wurde. Was glaubten manche Mütter eigentlich?!
Auf einem Zettel, der innen aufs Futter der Kindergartentasche geklebt war, standen alle wichtigen Nummern. So gelang es der Kindergärtnerin, Christian Baumann zu erreichen, der auf der Intensivstation der Berling-Klinik am Bett seiner Frau saß und seine Tochter völlig vergessen hatte.
„Natürlich! Entschuldigen Sie! Ich komme gleich!“, versprach er hilflos und von dem überfordert, was da über ihn hinwegrollte.
Es fiel ihm unendlich schwer, Daniela auch nur für ein paar Minuten alleine zu lassen. Ihm war klar, dass jeder Atemzug, auf den er sehnsüchtig lauschte, ihr letzter sein konnte. Noch atmete sie selbstständig und musste nicht intubiert werden, aber die Ärzte hatten ihm erklärt, dass es nur noch eine Frage der Zeit war.
Die Lähmungserscheinungen nahmen zu und dehnten sich langsam auf den Brustkorb aus. Daniela war zu schwach, um an diesem Tag noch einmal operiert zu werden, und das machte es wahrscheinlich, dass die Lähmungen bleiben würden. Es war nicht möglich, den Druck auf das Rückenmark zu mindern.
Falls sie zu sich kam, bevor sie intubiert werden musste, war das vielleicht die letzte Gelegenheit, mit ihr zu sprechen. Christian wollte ihr sagen, wie sehr er sie liebte, und er wollte ihre Stimme noch einmal hören. Es war entsetzlich für ihn, seinen Platz an ihrer Seite verlassen zu müssen.
Er wünschte sich nichts mehr, als dass Daniela überlebte. Er wollte sie um keinen Preis verlieren, aber ihm war klar, dass sie ein Leben als Pflegefall im Bett und ohne selbst atmen zu können, nie wollen würde. Sie hatten mehr als einmal darüber gesprochen. Sie hatte immer gesagt, dass für sie die Lebensqualität und nicht die Lebensquantität zählte.
Damals hatte er ihr zugestimmt, aber jetzt sah alles ganz anders aus. Dr. Holl hatte ihn darauf vorbereitet, dass es auf ihn zukommen konnte, eine Entscheidung zu treffen. Wie gerne hätte er Daniela noch einmal fragen können. Würde er es schaffen, die künstliche Beatmung abzuschalten und sie gehen zu lassen, wenn es dazu kam?
Christian wusste es nicht, und er hatte Angst – entsetzliche Angst. Daniela und er hatten sich zu Beginn ihres Studiums kennengelernt und waren von Anfang an unzertrennlich gewesen. Sie war alles für ihn. Ohne sie hätte er es nie geschafft, sein eigenes Architekturbüro zu eröffnen.
In ihrem Team war immer sie die treibende Kraft und der kreative Geist gewesen. Ihre Entwürfe waren eigenwilliger als seine, ihre Ideen frecher, mutiger. Nicht jeder Kunde konnte etwas mit ihrer Arbeit anfangen, aber wer das Besondere liebte, den zog es zu ihr.
Christian konnte sich ein Leben ohne seine Frau nicht vorstellen. Sie war es, die immer wusste, was man tun konnte und wie es am besten weiterging. Sie war die Träumerin, die den Mut hatte, auch als Erwachsene zu träumen. Sie war wundervoll und seine Frau, mit der er alt werden wollte.
„Bitte, Daniela, lass nicht los! Lass mich und Annika nicht alleine! Wir brauchen dich so sehr. Bitte!“, flehte er sie an, bevor er schweren Herzens ging.
Er war schon fast beim Kindergarten, als er auf einen freien Parkplatz fuhr. In seiner Verwirrtheit hatte er sich nicht gefragt, was er mit Annika machen sollte, wenn er sie erst abgeholt hatte. Er musste auf jeden Fall wieder in die Berling-Klinik und zu Daniela.
„Hallo, Mutter!“, sagte er, als seine Mutter abnahm.
„Oh, welch seltene Überraschung! Wenn du dich meldest, muss die Welt untergehen“, spottete seine Mutter kühl.
Christian hatte keine gute Beziehung zu ihr gehabt als kleiner Junge, und daran hatte sich auch nie etwas geändert. Er hatte nie erfahren, wer sein Vater war, und von seiner Mutter immer nur zu hören bekommen, dass er ihr die Jugend und das Leben zerstört habe. Irgendwann hatte er das nicht mehr hören wollen und den Kontakt weitgehend abgebrochen.
Bei Annikas Geburt hatten Daniela und er noch einmal versucht, eine Brücke zu ihr zu bauen. Es gab sonst leider keine Großeltern mehr, und sie war schließlich die Omi ihrer Tochter. Jedes Kind sollte zumindest eine Omi haben, fanden sie, aber es hatte nicht funktioniert. Hedwig Baumann konnte mit Kindern nichts anfangen, und eine Enkelin änderte daran so wenig wie früher ihr Sohn.
„Süß! Ich bin also Großmutter, und das ist etwas so Großartiges, dass ihr es mir unbedingt mitteilen müsst. Danke! Ich weiß auch ohne das, dass ich alt und grau bin.“ Das war ihr Kommentar gewesen.
„Sie hat uns nicht einmal Glück gewünscht. Nein, das war zu viel. Ich reiche deiner Mutter nicht mehr den kleinen Finger!“, hatte Daniela daraufhin resolut erklärt. Sie hatte immer versucht, Verständnis für die Mutter ihres Mannes aufzubringen, aber damit war es von da an vorbei.
Hedwig Baumann konnte es verschmerzen. Sie war kein Familienmensch. Trotz allem kam sie überraschend zu Annikas Taufe und erschien jedes Jahr zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten mit einem Geschenk. Ansonsten interessierte sie sich nicht für ihre Enkelin und wäre nie darauf gekommen, Zeit mit ihr zu verbringen und sie kennenlernen zu wollen.
„Daniela hatte einen Unfall und ist … Mutter, sie ist sehr schwer verletzt. Ich muss zurück zu ihr in die Klinik. Kannst du Annika für ein paar Tage aufnehmen? Wenn du willst, kannst du mit ihr bei uns im Haus wohnen, dann hast du keine größeren Umstände in deiner Wohnung und …“, bat Christian.
Es gab sonst niemanden, den er hätte anrufen können, und irgendwie stimmte ihn das traurig. Sie waren erfolgreich, wohlsituiert und auf ihre Weise glücklich, aber Zeit für Freunde oder auch nur engere Bekanntschaften hatten sie sich nie genommen. Sie hatten immer in ihrer eigenen kleinen Welt gelebt – in ihrem Paradies, wie Daniela es genannt hatte.
Adam, Eva und ihre Kinder – mehr hatte es noch nie zum Paradies gebraucht. Lief etwas aus dem Ruder und schlug das Schicksal unerwartet zu, konnte es in dieser Art von Paradies sehr einsam werden, erkannte Christian.
Seine Mutter war inzwischen siebzig Jahre alt, und soweit er wusste, hatte sie keine offiziellen beruflichen Verpflichtungen mehr. Als Steuerberaterin hatte sie allerdings immer auch noch von zu Hause aus Kunden betreut. Konnte sie sich einfach um Annika kümmern? Hatte sie die Zeit und vor allem, war sie bereit zu helfen? Er hoffte es.
„Natürlich!“, kam es knapp und sachlich. „Bei euch. Da hat die Kleine ihr vertrautes Umfeld. Holst du mich ab?“
„Ich bin in ungefähr zwanzig Minuten mit Annika bei dir. Danke, Mutter!“
Sie hatte schon aufgelegt und richtete ihre Sachen.
***
„Annika, Schatz, es tut mir so leid!“, begrüßte Christian seine Tochter und wollte sie tröstend auf den Arm nehmen. Ihm war noch nie so klar gewesen, wie ähnlich Annika ihrer Mutter sah. Es tat weh, sie anzusehen.
„Du hast mich vergessen. Mami hat mich vergessen.“ Annika wich ihm aus und funkelte ihn wütend an. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt.
Die Kindergärtnerin reichte dem Vater Annikas Sachen und lächelte säuerlich. Es war klar, dass sie es eilig hatte und in ihren wohl verdienten Feierabend wollte. Sie erwartete, dass Vater und Tochter gleich gingen.
„Morgen früh wird meine Mutter Annika vorbeibringen und sie später wieder abholen. Könnten Sie das noch rasch eintragen, damit es keine Probleme gibt?“, bat Christian.
„Das tue ich, Herr Baumann. Wir sind hier alle sehr entgegenkommend und wissen, dass es für viele Eltern schwierig ist, ihr Arbeitsleben um unsere Öffnungszeiten herum zu gestalten. Heute wäre ein Anruf von Ihnen oder Ihrer Frau angemessen gewesen. Annika …“
„Das ist ein Notfall. Entschuldigen Sie! Ich kann es Ihnen im Moment nicht erklären, aber so etwas kommt nie wieder vor!“, brachte er heraus und hätte sie am liebsten geohrfeigt. Wie konnte sie ihn maßregeln wie einen kleinen Jungen? Wie konnte sie das an einem Tag tun, an dem sein Leben in Stücke brach?
Er beherrschte sich. Die junge Frau konnte nicht wissen, wie es um Daniela stand und was er durchmachte. Sie konnte es nicht wissen, und doch machte es ihn wütend, dass sie eine Entschuldigung von ihm einklagte. Er war mit Wut geladen, mit einer blinden Wut der Verzweiflung, und es fühlte sich an, als ob nicht mehr viel kommen musste, damit er explodierte.
Christian versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Es war falsch, dass er in München herumfuhr, während Daniela um ihr Leben kämpfte. Es war falsch, dass er die letzte Gelegenheit, ein Wort mit ihr zu wechseln, unter Umständen verpasste, weil er seine Zeit für Unwichtiges vergeudete.
Er war ein guter Vater und liebte seine Tochter, aber das Zentrum seiner Welt war immer Daniela gewesen. In seinem Schock fiel es ihm schwer zu begreifen, dass er für Annika verantwortlich war und dass auch sie zu seiner Familie gehörte. Ihm war nicht wirklich klar, dass nicht nur er seine Partnerin verlor, sondern Annika auch ihre Mutter.
„Wo ist Mami?“, fragte Annika weinerlich, als er sie in den Kindersitz gesetzt hatte. Sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Der Papi war seltsam. Er machte ihr irgendwie Angst. Außerdem holte er sie nie vom Kindi ab.
„Annika, die Mami musste … musste dringend auf Geschäftsreise und … Die Mami ist für ein paar Tage fort, und solange kümmert sich deine Großmutter um dich“, erklärte Christian dem kleinen Mädchen. Er log, weil er selbst kaum begriff, was mit ihrem Leben und ihrer Familie gerade geschah. Wie hätte er es seiner fünfjährigen Tochter erklären sollen?
„Sie hat versprochen, dass wir in den Zirkus gehen! Sie hat es versprochen!“, schimpfte Annika.
„Glaub mir, Mami wollte ihr Versprechen halten, aber sie konnte nicht.“
„Pah! Blöde Geschäftsreise!“, brummte die Kleine.
„Mami ist ständig mit dir in irgendeinem Zirkus“, explodierte Christian. Seine Wut musste sich entladen. „Du bist schon ein großes Mädchen und musst begreifen, dass sich die Welt nicht immer nur um dich dreht. Mami musste fort und … und …“
Annika zuckte zusammen, dann weinte sie. Ihr Vater hatte sie noch so gut wie nie angeschrien. Wenn sie zu wild war, dann wies er sie in ihre Schranken, und seine Stimme wurde dann durchaus etwas lauter und streng, aber angeschrien, das hatte er sie noch nie.
„Es tut mir leid, Schatz! Das war ein schlimmer Tag“, entschuldigte sich Christian beschämt.
Sie weinte noch eine Weile, dann dämmerte ihr langsam, was der Papi gesagt hatte. Annika sah ihre Omi zweimal im Jahr für eine knappe Stunde. Sie kannte die alte Frau kaum und wusste nur, dass es ihre Omi war. Die anderen Kinder erzählten oft begeistert, wie schön es bei ihren Großeltern gewesen war, aber Annika fing nichts damit an. Sie kannte das nicht.
„Ich will aber nicht zur Omi! Da war ich noch nie“, begehrte sie auf.
„Es geht nicht anders. Die Omi kommt mit zu uns“, erklärte ihr Vater gereizt und erinnerte sich selbst immer wieder daran, dass er es mit einem Kind zu tun hatte.
„Warum kann nicht Sarah kommen? Ich will Sarah!“, bettelte die Kleine weinerlich.
Sarah war fünfzehn und die Babysitterin, die bei Annika war, wenn Daniela und Christian einmal zusammen ausgehen wollten. Da das junge Mädchen zur Schule musste und nicht über Nacht bleiben konnte, war es für diesen Notfall keine Hilfe.
„Das geht nicht!“
„Warum?“
„Weil es nicht geht!“
„Aber warum?“
„Kannst du nicht endlich still sein und mich in Ruhe lassen?“, schimpfte der Vater. Er konnte nicht mehr. In seinem Inneren tickte eine monströse Uhr und gemahnte ihn daran, dass er hätte bei Daniela sein müssen. Er vergeudete Zeit, kostbare Zeit.
Wieder zuckte Annika zusammen und verstand nicht, wie ihr geschah. Sie wollte ihre Mami! Sie wollte, dass alles war wie immer und dass die Mami sie abholte und auf dem Heimweg vom Kindergarten mit ihr sang und lachte.
„Ich will meine Mami!“, schluchzte sie. „Ich will aber meine Mami!“
Christian schaltete das Radio ein und stellte es laut.
Hedwig Baumann hatte sich einen Koffer für ein paar Tage gerichtet und erwartete Vater und Tochter bereits vor dem Haus.
„Danke, Mutter, dass du das machst!“
„Das ist selbstverständlich. Wie geht es Daniela?“, wollte sie wissen, während er ihr Gepäck in den Kofferraum packte.
„Es sieht nicht gut aus. Wenn sie die Nacht übersteht, dann … dann hat sie eine Chance, aber … Mutter, ich habe Annika gesagt, dass ihre Mami auf Geschäftsreise ist. Ich möchte nicht, dass sie erfährt, was los ist. Vielleicht wird doch noch alles gut und …“
„Das verstehe ich.“ Hedwig nickte nachdenklich. „Aber gib auch dem Kind eine Chance, sich von seiner Mutter zu verabschieden und sich auf den Abschied einzustellen!“
„Annika ist fünf.“
„Sie bekommt alles mit, Christian, und wenn du sie zu lange anlügst und ihr etwas vormachst, wird es schwerer für sie zu verstehen. Sie …“
„Was weißt du von Kindern? Hat es dich je gekümmert, was ich mitbekommen habe? Hat es dich je gekümmert, wie ich mich dabei gefühlt habe, wenn du mir wieder und wieder die Schuld an deinem unglücklichen Leben gegeben hast?“, griff er sie unvermittelt an.
Hedwig nickte erneut und sagte nichts dazu. Ihr Sohn hatte seine Sicht der Dinge. Sie wusste, dass sie ihm keine gute Mutter gewesen war, aber sie war es leid, sich dafür zu entschuldigen. Ihre Schwangerschaft war ungewollt gewesen, und sie hatte es nicht fertiggebracht, eine Abtreibung machen zu lassen.
Für sie persönlich war es ein Fehler gewesen, aber im Nachhinein war sie trotz allem froh, denn Christian war ein wunderbarer Mann geworden. Aber sie hatte nun einmal kein Kind gewollt und Kindern nie etwas abgewinnen können.
Alle hatten ihr gesagt, bei ihrem eigenen Kind würde es anders sein, aber leider hatte sich das in ihrem Fall als Irrtum erwiesen. Sie konnte auch ihrem eigenen Kind nichts abgewinnen, und daran hatte sich nie etwas geändert.
So war es gewesen, und sie hatte unter diesen Bedingungen als Mutter das ihr Mögliche getan und ihr Bestes gegeben. Christians Zorn und seine Ablehnung nahm sie in Kauf, denn sie wusste, besser hatte sie es nicht gekonnt, ob er das nun verstand oder nicht.
„Entschuldige, Mutter! Ich bin sehr froh, dass du dich um Annika kümmerst, und wollte dich nicht angreifen!“, entschuldigte sich Christian, bevor sie einstiegen.
„Das ist in Ordnung! Wir sind doch fast alle wütend und unzufrieden. Willkommen im Club, Sohn!“, antwortete sie ironisch.
***
Als Christian das Zimmer seiner Frau auf der Intensivstation betrat, kamen ihm die Tränen. Er hatte zu viel Zeit verschwendet. Sie war intubiert und wurde künstlich beatmet. Vermutlich würde er nie wieder ihre geliebte Stimme hören, und sie konnten sich nicht einmal voneinander verabschieden.
Für einen flüchtigen Moment hasste Christian seine Tochter mit einer Intensität, die ihn zur Besinnung brachte. Annika konnte nichts dafür. Sie war auf der Welt und noch zu klein, um nach sich selbst zu sehen. Jemand hätte sie abholen müssen. Es war sein Fehler gewesen. Er hätte jemanden dafür delegieren und das Mädchen zu seiner Mutter bringen lassen müssen. Sein Fehler.
Danielas Augen waren geschlossen, und er dachte, sie würde noch schlafen, aber als er sich neben sie setzte, zuckten ihre Lider, und dann öffnete sie die Augen. Ihr Blick war wach und schmerzlich intensiv. Sie wusste offensichtlich genau, wie es um sie stand. Liebe stand in ihren Augen, Liebe, Bedauern und Abschied.
„Lass nicht los! Bleib bei mir!“, flehte Christian.
Sie blinzelte dreimal.
„Ich liebe dich“, sagte er und strich zart über ihre Wange. Noch hoffte er, dass es den Ärzten gelingen würde, Daniela rechtzeitig zu operieren, um eine bleibende Lähmung zu verhindern.
Daniela überstand die Nacht, und obwohl es ein Wagnis war, beschlossen die Ärzte, sie am Morgen noch einmal zu operieren. Dr. Holl kam zu Christian, um ihm alles zu erklären.
„Sie hat die Nacht geschafft“, sagte Christian trotzig. „Sie ist stark. Sie schafft auch diese Operation!“
Dr. Holl schwieg. Selbst wenn Daniela Baumann die Operation überstand, würde sie voraussichtlich vom Hals abwärts gelähmt bleiben. Ihr Mann ignorierte das, aber irgendwann würde er sich der Tatsache stellen müssen, dass sein Leben sich grundlegend verändert hatte. Es würde nie wieder sein, wie es gewesen war, selbst wenn seine Frau überlebte.
Daniela Baumann kämpfte und überstand die Operation, aber sie erlangte nicht mehr das Bewusstsein zurück. Vier Tage saß ihr Mann an ihrem Bett und fuhr nur zum Duschen nach Hause, und um sich umzuziehen. Er beschwor Gott, ihm ein Wunder zu schenken, und ließ seine Frau nicht gehen.
Alle in der Berling-Klinik nahmen Anteil am Schicksal des Paares. Dr. Holl sah jeden Tag nach Daniela und Christian Baumann. Er hoffte gegen alle medizinische Wahrscheinlichkeit. Wunder geschahen. Er hatte schon mehr als eines in seiner Klinik erlebt. In diesem Fall kam es leider anders.
Als Danielas Nieren versagten, wussten die Ärzte, dass sie nichts mehr tun konnten. Das Multiorganversagen hatte seinen Anfang genommen. Die Leber stellte ihre Arbeit ein, und nach und nach schaltete sich der Körper selbst ab. Irgendwann war klar, dass nur noch die Maschinen die Patientin am Leben hielten.
„Nein! Sie werden die Maschinen nicht abschalten! Meine Frau gibt nicht auf! Sie kommt zurück zu mir! Geben Sie ihr noch eine Chance! Bitte!“ Christian wollte nicht verstehen, dass Daniela im Grunde bereits tot war. Ihr Gehirn wies nur noch minimalste Aktivitäten auf.
Dr. Holl ließ ihm die Zeit, zu begreifen und sich innerlich zu lösen. Mit seiner Frau sprach er jeden Tag über den Fall. Beide machten sich Sorgen um die kleine Annika. Ihr Vater schien jedes Interesse an seinem Kind verloren zu haben.
„Annika geht es gut. Meine Mutter ist bei ihr“, antwortete der Vater, wenn Dr. Holl nach dem Kind fragte.
„Weiß Annika, dass ihre Mama so krank ist?“
„Dafür ist noch genug Zeit. Sie versteht das doch ohnehin noch nicht. Sie ist fünf.“
„Sie sollten unbedingt mit Ihrer Tochter reden und sie vorbereiten!“, riet der Arzt.
„Das ist jetzt unwichtig. Jetzt geht es um Daniela.“
Annika verstand sehr wohl, dass ihre Welt aus den Fugen geraten war. Die Mami war schon ein paar Mal auf Geschäftsreise gewesen, aber nie länger als über eine Nacht. Und sie hatte mehrmals am Tag angerufen und Annika abends am Telefon ein Schlaflied vorgesungen und ihre eine Gute-Nacht-Geschichte erzählt.
Noch nie war die Kleine so lange von ihrer Mutter getrennt gewesen, ohne auch nur ein Wort von ihr zu hören. Zuerst war Annika wütend und erschreckt. Sie hätte so gerne ihren Papi gefragt, was los war, aber er war so gut wie nie da.
Morgens schlich sie sich in das Schlafzimmer ihrer Eltern und hoffte, die beiden würden im Bett liegen. Wie gerne war sie immer zwischen sie geschlüpft und hatte mit ihnen zusammen noch eine halbe Stunde geschlafen. Aber das Bett war jeden Morgen leer.
Die Omi war ihr fremd, und sie war still und schüchtern in ihrer Gegenwart. Abends weinte sie sich in den Schlaf. Nach zwei Tagen hielt sie es nicht mehr aus und suchte die Nähe der Omi. Sie brauchte einen Menschen.
Als Annika sich an sie drückte, hielt Hedwig Baumann still und gab ihr Bestes. Sie wollte es so gerne bei ihrer Enkelin richtig machen, aber sie wusste nicht, wie. Sie spürte, wie schlecht es der Kleinen ging und welche Ängste sie ausstand, aber sie hatte keine Ahnung, wie man ein Kind tröstete und ihm Mut machte.
„Wo ist meine Mami? Kommt sie bald heim?“, fragte Annika scheu beim gemeinsamen Abendessen.
„Annika, ich weiß es nicht. Das müssen wir deinen Papi fragen“, antwortete Hedwig, weil Christian ihr verboten hatte, mit Annika über den Unfall und seine Folgen zu sprechen.
„Warum ruft Mami mich nicht an? Sagst du ihr, dass sie mich anrufen soll?“, bettelte Annika. Die Sehnsucht nach ihrer Mami war kaum noch zu ertragen.
„Deine Mami ist sehr beschäftigt und hat keine Zeit, Annika.“ Hedwig wollte, dass ihre Enkelin eine gute Erklärung hatte, damit sie weniger litt. Sie verstand zu wenig von der Verletzlichkeit einer Kinderseele. Die alte Frau ahnte nicht, wie weh es tat, dass der Mami anscheinend alles andere wichtiger war.
Am dritten Tag weigerte sich Annika am Morgen, sich in den Kindergarten bringen zu lassen. Sie weinte und tobte.
„Ich will meine Mami! Ich will meine Mami!“
„Heute Abend ruft sie dich an!“, versprach Hedwig, die sich nicht anders zu helfen wusste.
Annika war noch zu sehr Kind, um Erwachsenen zu misstrauen. Sie glaubte, was man ihr sagte. Brav ging sie in den Kindergarten und fieberte dem Abend entgegen. Längst war sie der Mami nicht mehr böse. Die Hauptsache war, dass sie bald nach Hause kam. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Stimme zu hören.
Dann war es Abend und Zeit, ins Bett zu gehen. Annika wartete und schlich ständig um das Telefon herum. Gleich musste es doch klingeln. Gleich! Es klingelte nicht.
Stattdessen sah sie ihren Vater das erste Mal, seit er sie vom Kindergarten abgeholt hatte. Er bemerkte sie kaum, rannte an ihr vorbei und verschwand im Badezimmer. Annika bewachte die Tür.
„Ich muss gleich wieder los. Tut mir leid, Schatz!“, sagte er, als er herauskam, und wollte an ihr vorbei.
„Wann kommt die Mami heim?“ Sie ließ sich nicht abwimmeln.
„Bald, Schatz! Bald!“ Schon war er wieder fort.
Annika versuchte zu begreifen, aber es war zu viel. Das Einzige, was sie zu verstehen glaubte, war, dass die Mami und der Papi sie nicht mehr lieb hatten. Sie war allein.
„Deine Mami lässt dich ganz lieb grüßen, Annika. Sie hat zu viel zu tun, um anzurufen, aber ich soll dich von ihr einmal ganz fest in den Arm nehmen“, sagte Hedwig, als Annika schließlich fragte.
Sie rechnete mit Tränen und Empörung, aber das kleine Mädchen sah sie nur unendlich traurig an und schwieg. Es ließ sich anstandslos ins Bett bringen und stellte keine Fragen mehr. Morgens ging es in den Kindergarten, aber als Hedwig Annika abholte, bat eine der Kindergärtnerinnen sie zu einem Gespräch.
„Wir machen uns Sorgen um Annika. Sie spielt nicht mehr mit den anderen Kindern und ist sehr still und zurückhaltend geworden. Eigentlich ist sie ein Wirbelwind, aber jetzt sitzt sie passiv herum und antwortet kaum, wenn man sie etwas fragt. Ist zu Hause alles in Ordnung?“, wollte die Kindergärtnerin wissen.
„Annikas Mutter hatte einen schweren Unfall und liegt im Sterben. Mein Sohn möchte nicht, dass ich es Annika sage, aber ich fürchte, das ist ein großer Fehler. Mir gehen die Ausreden aus, warum meine Schwiegertochter sich nicht meldet.“
„Um Himmels willen!“ Die Kindergärtnerin war tief betroffen. „Das tut mir so leid!“
„Tja, da sind Sie nicht die Einzige. Ich wünschte, mein Sohn würde endlich mit seiner Tochter reden und sie vielleicht sogar einmal mit in die Klinik nehmen, aber auf dem Ohr ist er taub. Wie denken Sie darüber?“, wollte Hedwig sich Rat holen.
„Das ist eine schwierige Entscheidung, die nur Ihr Sohn treffen kann. Da möchte ich mich nicht einmischen“, antwortete die Kindergärtnerin diplomatisch.
Hedwig zuckte die Achseln, holte ihre Enkelin und ging. Niemand wollte in etwas hineingezogen werden und sich Schwierigkeiten bereiten. Das war normal. Auch sie redete nicht gegen den Willen ihres Sohnes mit ihrer Enkelin, obwohl sie sah, wie falsch das war.
Annika weinte sich jeden Abend in den Schlaf, aber irgendwann schluchzte sie nicht mehr laut. Sie stellte keine Fragen mehr, und sie schlich sich auch nicht mehr ins Schlafzimmer ihrer Eltern.
***
Sechs Tage nach dem Unfall erlaubte Christian Baumann, dass die Maschinen abgestellt wurden, die den Körper seiner Frau künstlich am Leben hielten. Er saß bei seiner Frau, streichelte ihre Hand und ihr Gesicht. Bis zum Schluss hoffte er, dass sie selbstständig atmen würde, aber sie tat es nicht.
Als ihr Herz aufhörte zu schlagen, stand er auf und ging, ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen. Sie war gegangen und hatte ihn verlassen. Sie hatte ihn alleine gelassen. Er war so wütend auf sie, dass er den Schmerz über ihren Verlust noch nicht spüren konnte.
Aber er war nicht nur wütend auf sie. Eine tiefe und unversöhnliche Wut galt ihm selbst. Er hatte sein Glück gedankenlos weggeworfen. Wie hatte er Daniela bitten können, zu der Baustelle zu fahren? Er hatte genau gewusst, dass sie andere Pläne für den Tag gehabt hatte.
Pläne mit Annika waren ihm nicht wichtig erschienen. Sie waren ihm nicht wichtig erschienen, weil er neidisch gewesen war auf all die Zeit, die Annika mit ihrer Mutter verbringen durfte. Es war seltsam, aber im Moment des Abschiedes erkannte Christian, dass er nie bereit gewesen war, Daniela mit seiner Tochter zu teilen.
Er hatte seine Frau im Büro vermisst. Die frühere enge Zusammenarbeit hatte ihm gefehlt, und es hatte ihn befremdet, dass in ihrer Welt plötzlich Annika bedeutsamer war als die Arbeit. Wenn sie abends endlos von den wunderbaren Entwicklungsschritten der Kleinen geschwärmt hatte, war er oft eingeschlafen.
Und nun blieb ihm nur Annika. Ihm blieb das Kind, das ihm in den letzten fünf Jahren so viel von Danielas Zeit und Aufmerksamkeit genommen hatte. Ein Kind, dass Daniela wie aus dem Gesicht geschnitten war und nie aufhören würde, ihn an seinen Verlust zu erinnern.
Christian wusste, dass es ein Tabubruch war, für den es keine Rechtfertigung geben konnte, aber die größte Wut hatte er auf seine Tochter. Er hatte keine Ahnung, wie es ihm gelingen sollte, dem Kind ein guter Vater zu sein und es mit Liebe großzuziehen.
Genau das war Danielas Vermächtnis. Er wusste das. Sie hatte Annika über alles geliebt und wollte von ihm, dass er für die Kleine da war und ihr einen guten und stabilen Start ins Leben schenkte. Wie sollte er das tun? Wie?
„Herr Baumann, ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen auch im Namen meiner Frau!“, sprach Dr. Holl ihn an, der vor dem Zimmer gewartet hatte.
„Danke!“, murmelte Christian und ging weiter. Es war ihm nicht möglich, dem Klinikleiter in die Augen zu sehen. Annika hatte der Arzt gesund auf die Welt geholt, aber ihre Mutter hatte er sterben lassen.
Christian floh aus der Berling-Klinik, aber als er in seinem Wagen saß, begriff er, dass es keinen Ort mehr gab, an den er fliehen konnte. Daniela war seine Zuflucht gewesen.
Anstatt nach Hause zu seinem Kind zu fahren, fuhr er aus München hinaus und suchte sich eine Pension am Chiemsee, wo er sich sofort auf sein Zimmer zurückzog, sich auf das Bett legte und blicklos die Decke anstarrte.
Es dauerte, bis er es schaffte, seine Mutter anzurufen und ihr Danielas Tod mitzuteilen. All das schien ihm so belanglos. Die Beerdigung musste organisiert werden, aber auch das war ihm egal.
„Wann kommst du heim? Es gibt jetzt viel zu tun und zu entscheiden, Christian. Vor allem solltest du bei Annika sein. Sie braucht dich. Deine Tochter braucht dich!“
„Ich komme morgen Mittag. Bring Sie morgens bitte in den Kindergarten wie immer, Mutter. Kannst du noch ein paar Tage bleiben, bis nach der Beerdigung? Dann suche ich jemanden, der sich um Annika kümmert, aber vorher schaffe ich das nicht.“
„Du solltest dich jetzt um sie kümmern. Sie wird nicht verstehen, was das bedeutet, dass ihre Mami tot ist. Hilf ihr, Christian! Sie ist dein Kind.“
„Ich kann nicht. Annika ist noch klein, sie wird kaum merken, dass sich etwas ändert, aber ich muss ohne Daniela leben und …“
„Annika hat ihre Mutter verloren, ihre Mami. Was ist los mit dir? Begreifst du denn nicht, dass ihr beide …“
Christian legte auf.
Hedwig ging in die Küche und machte sich eine Tasse Kaffee. Sie hatte ihre Schwiegertochter nicht wirklich gekannt, aber selbst ihr war aufgefallen, was für eine liebevolle und heitere Mutter sie gewesen war.
Ein wenig hatte sie die junge Frau darum beneidet, über all diese Mütterlichkeit zu verfügen. Die Wärme und Zärtlichkeit ihres Wesens hatte ihr nur einmal mehr vor Augen geführt, woran es ihr leider mangelte. Nun kam ihr das kleinlich vor.
„Daniela, es tut mir so leid, was dir widerfahren ist!“, sagte sie leise und zündete eine Kerze an für die Tote. „Dein Kind bleibt alleine zurück, und ausgerechnet ich bin übrig. Ich wünschte, wir könnten tauschen – du und ich. Ich wünschte, so etwas ginge, aber leider geht es nicht! Hilf mir, Annika zu trösten! Hilf Christian! Er ist mir ähnlicher, als ich wusste, und dafür bitte ich dich um Verzeihung!“
Hedwig weinte lange, dann stand sie auf, richtete sich und ging los, um Annika vom Kindergarten abzuholen. Sie wusste, dass sie nicht länger lügen durfte. Aus Respekt vor der Toten musste sie dem Kind sagen, dass die Mami nicht hatte kommen können und dass sie nie wieder kommen würde.
Annika war nicht mehr dasselbe Kind wir vor sechs Tagen. Ruhig und still ging sie an der Hand ihrer Großmutter nach Hause. Sie setzte sich an den Tisch und aß ihr Mittagessen, ohne etwas zu erzählen oder in irgendeiner Form Kontakt zu Hedwig zu suchen.
Erwachsene hielten nicht, was sie versprachen. Sie hörten einfach auf, einen lieb zu haben, und verschwanden. Es gab niemanden, dem man vertrauen konnte, und niemanden, der blieb. In Annikas Herz war es dunkel und kalt.
„Annika, ich muss dir etwas sehr Trauriges sagen“, begann Hedwig und zog das kleine Mädchen hilflos auf ihren Schoß.
Annika ließ es geschehen, aber sie saß steif und aufrecht und lehnte sich nicht an.
„Deine Mami hat dich nicht vergessen, Schatz. Sie wollte so gerne mit dir in den Zirkus gehen, aber sie hatte einen Unfall. Auf der Baustelle, die sie besichtigt hat, ist ihr etwas sehr Schlimmes passiert und sie wurde ins Krankenhaus gebracht.“
Annika machte sich von Hedwig frei und rannte aus dem Zimmer. Sie wollte nicht hören, was ihre Großmutter zu sagen hatte. Alles war Lüge gewesen. Sie sagten nicht die Wahrheit und logen. Man konnte ihnen nicht vertrauen. In ihrem Zimmer warf sie sich aufs Bett und verkroch sich tief unter der Decke wie in einer sicheren Höhle.
Hedwig folgte ihr und setzte sich an ihr Bett, ohne zu versuchen, sie aufzudecken.
„Deine Mami war sehr schlimm verletzt, und ganz viele Ärzte haben versucht, ihr zu helfen und sie wieder gesund zu machen. Dein Papa war die ganze Zeit bei ihr und hat auf sie aufgepasst. Deshalb war er nicht hier bei dir“, begann sie zu erklären.
Der Großmutter rannen Tränen über die Wangen, und sie stockte einen kurzen Moment, ehe sie fortfuhr.
„Schatz, deine Mami ist nicht gesund geworden. Sie war zu krank, und da hat der liebe Gott sie zu sich genommen, damit ihr nie wieder etwas wehtut. Er hat sie mit zu sich in den Himmel genommen, und von dort passt sie auf dich auf, Annika. Sie wird dich immer lieb haben und bei dir sein.“
Lange blieb es still unter der Decke und nur am Zucken konnte Hedwig erkennen, dass Annika weinte. Irgendwann kroch Annika aus ihrer Deckenhöhle. Sie hatte Fragen, die sie stellen musste, und wünschte sich so sehr, dass die Omi diesmal nicht log.
„Schickt der liebe Gott meine Mami wieder heim zu mir, wenn es ihr gut geht?“, wollte sie wissen.
„Nein, das kann er leider nicht.“
„Aber der liebe Gott kann doch alles, oder?“
„Er kann sehr viel, aber nicht alles. Das kann er nicht. Wenn jemand einmal bei ihm ist, dann behütet er uns vom Himmel aus und passt auf uns auf, aber er kommt nicht zu uns zurück.“
„Kann ich zu der Mami in den Himmel gehen?“, fragte Annika weiter.
„Wenn du einmal alt und grau sein wirst wie ich und ein erfülltes und schönes Leben hinter dir liegt, dann wird der liebe Gott auch dich zu sich holen“, antwortete Hedwig. „Aber bis dahin vergeht noch sehr viel Zeit, und das ist auch gut so. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir.“
„Mama ist aber nicht alt und grau wie du, und sie darf auch bei ihm sein. Warum darf ich dann nicht?“, begehrte das Kind gegen die Ungerechtigkeit auf und vermutete betroffen, dass selbst Gott nicht vertrauenswürdig war. „Darf ich, wenn ich ganz doll brav bin?“
Hedwig schluckte die Tränen weg. Sie wollte das Kind an sich ziehen, aber Annika lehnte ihre Berührung ab.
„Annika, dein Papi braucht dich doch noch hier. Du musst bei ihm bleiben und auf ihn aufpassen.“
„Papa ist groß. Ich will zu meiner Mami, und den lieben Gott kann ich nicht ausstehen!“, schluchzte Annika, die allmählich verstand, dass Gott keine Ausnahmen machte und keine Ausnahme war.
Sie kroch wieder unter die Decke und zog sich in ihre Schutzhöhle zurück. Dort fand sie ihre Mami, die sie liebevoll anlächelte. Annika kuschelte sich in ihre Arme und schlief ein.
***
Christian kümmerte sich um die Beerdigung, aber er überließ es seiner Mutter, sich um Annika zu kümmern. Er ging nicht zu seiner Tochter und nahm sie nicht in den Arm und sprach nicht mit ihr darüber, dass ihre Mami fortgegangen war. Annika kam auch nicht zu ihm. Sie vertraute ihm nicht mehr. Immer tiefer zog das kleine Mädchen sich in sich selbst zurück und sprach kaum noch ein Wort.
Hedwig bemühte sich, etwas dagegen zu tun. Sie kochte Pudding für Annika, las ihr Geschichten vor und tat alles, was ihr einfiel, um sie zu erreichen. Es half nicht. Annika ließ sie nicht an sich heran.
Die Omi hatte gelogen. Sie hatte gesagt, dass die Mami bald kommen würde. Auch der Omi vertraute Annika nicht. Selbst die Kindergärtnerinnen hatten ihr nicht die Wahrheit gesagt und ihr Vertrauen verloren. Es war niemand mehr übrig, bei dem Annika sich sicher fühlen konnte.
„Christian, das erste Mal bedauere ich, dass ich nicht mit Kindern umgehen kann. Deine Tochter ist verstört und einsam. Sie ist noch zu klein, um mit dem Verlust ihrer Mama ganz alleine klarzukommen. Geh zu ihr! Rede gefälligst mit ihr! Sie ist dein Kind“, forderte Hedwig am Tag vor der Beerdigung verärgert, weil sie es nicht mehr mit ansehen konnte.
„Du machst deine Sache erstaunlich gut“, bekam sie zur Antwort. „Für mich hast du nie Pudding gekocht, wenn ich traurig war. Hut ab! Du hast etwas dazugelernt, Mutter“, höhnte er.
„Du bist einundvierzig Jahre alt und kein Kind mehr. Sei wütend auf mich bis ans Ende deiner Tage! Ich kann das aushalten. Kein Problem. Aber mach nicht dieselben Fehler wie ich! Bisher dachte ich, dass du ein guter Vater bist, aber gerade lässt du dein Kind im Stich, und ich kann das nicht auffangen.“
„Annika war Danielas Sache. Sie hat sich gekümmert und es genossen, Mutter zu sein. Ohne Daniela kann ich nichts mit einem Kind anfangen und …“
„Toll! Dann gibst du die Kleine am besten zurück. Briefmarke auf die Stirn und zurück an den Absender“, spottete Hedwig bitter.
„Wenn ich wüsste, wem ich sie geben kann, würde ich genau das tun. Ich tue ihr im Augenblick nicht gut. Wenn ich sie ansehe, möchte ich losheulen. Sie erinnert mich an Daniela, aber sie wird mir Daniela nie ersetzen können und …“
„Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Sie ist deine Tochter. Hörst du dir eigentlich selbst zu? Christian, ich weiß, wie tief dein Kummer reicht, aber …“