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Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!
Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!
Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Chefarzt Dr. Holl 1803: Jetzt kenne ich dein Geheimnis
Notärztin Andrea Bergen 1282: Lieben heißt verzeihen
Dr. Stefan Frank 2236: In ihrer dunkelsten Stunde...
Dr. Karsten Fabian 179: Ein bezaubernder Glücksbringer
Der Notarzt 285: Kämpfe um dein Leben, Silke!
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 703
Veröffentlichungsjahr: 2022
Katrin Kastell, Daniela Sandow, Stefan Frank, Sybille Nordmann, Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 38
Cover
Impressum
Jetzt kenne ich dein Geheimnis
Vorschau
Jetzt kenne ich dein Geheimnis
Eine verzweifelte Mutter sucht Rat und Hilfe bei Dr. Holl
Von Katrin Kastell
Nachdem die Ärztin Saskia Bauer herausgefunden hat, dass ihr Lebensgefährte Boris Zöllner sie schamlos betrogen hat, beendet sie kurzerhand die Beziehung und wirft ihn raus.
Nina, ihre vierzehnjährige Tochter, scheint allerdings regelrecht einen Narren an Boris gefressen zu haben, und so gibt sie ihrer Mutter die alleinige Schuld an der Trennung. Immer öfter kommt es deshalb zu einem hässlichen Streit zwischen ihnen. Saskia hat das Gefühl, dass ihre Tochter ihr vollkommen entgleitet, und sie fragt sich: Ist Ninas Begeisterung für Boris nur jugendliche Schwärmerei, oder steckt mehr dahinter?
Einer dunklen Ahnung folgend, öffnet sie Ninas Laptop und loggt sich heimlich in deren E-Mail-Account ein. Als sie liest, was ihr Ex-Lebensgefährte, dieser Mistkerl, und ihre vierzehnjährige Tochter einander geschrieben haben, erleidet sie einen Schock …
Mit raschen Schritten durchquerte Saskia den Eingangsbereich der Berling-Klinik. In einer Viertelstunde war sie mit ihrer Tochter am Marienplatz verabredet. Wenn sie pünktlich sein wollte, musste sie jetzt ein Taxi nehmen. Das Kind wartete nicht gern.
Sie hatte Nina eine ausgedehnte Shopping-Tour versprochen, zwischendurch wollten sie irgendwo etwas essen. Hoffentlich kam es nicht wieder beim Aussuchen und Anprobieren zu Streitereien, bei einer Tochter wie Nina konnte man da nie sicher sein. Vor allem Ninas Geschmack in Modedingen war zurzeit ziemlich gewöhnungsbedürftig.
Saskia unterdrückte einen Seufzer. Eigentlich hätte sie lieber zu Hause ein paar ruhige Stunden verbracht, aber ihr blieb keine Wahl. Jetzt einen Rückzieher zu machen, das würde Nina nur Anlass für neue Vorwürfe geben. Und vielleicht wurde es ja auch endlich wieder einmal ein schöner Nachmittag für Mutter und Tochter. Saskia wünschte sich sehr, dass sie sich wieder etwas näherkamen.
„Entschuldigung.“
Eine angenehme Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Jetzt erst sah sie, wen sie fast umgerannt hätte: einen Mann an zwei Krücken. Um den Zusammenprall zu verhindern, wollte sie mit einem schnellen Ausweichmanöver an ihm vorbei. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick auf sein Profil – und erkannte ihn. Doch das durchaus sympathische Gesicht vermochte sie auf die Schnelle nicht mit einem Namen zu verbinden.
„Einen schönen Tag, Frau Dr. Bauer“, sagte der Mann mit einem entwaffnenden Lächeln.
Es passte ihr zwar nicht, dass sie nun seinen Gruß erwidern musste, aber die Höflichkeit gebot es. Obwohl sie es so eilig hatte, machte sie einen Schritt zurück.
„Hallo, wie geht es Ihnen?“
Es folgte eine neugierige Musterung. Ja, er war Patient auf ihrer Station gewesen. Himmel, wie hieß er doch gleich? Namen hatte sie sich noch nie gut merken können.
Er schien zu ahnen, wonach sie gerade suchte.
„David Schumann“, half er ihrer Erinnerung nach. „Schon klar, Sie verarzten viele Menschen und können sich nicht von allen merken, wie sie heißen. Ich bin der Motorradfahrer mit dem komplizierten Unterschenkelbruch.“
„Herr Schumann, richtig! Ihr Name lag mir auf der Zunge“, flunkerte sie charmant. „Brauchen Sie Hilfe?“
„Ich habe einen Termin in der Ambulanz …“ Er brach kurz ab. „Wie ich sehe, wollten Sie gerade gehen.“
„Ja“, sagte sie. „Mein Dienst ist für heute zu Ende.“
„Den Schlüsselbeinbruch spüre ich kaum noch.“ Zur Demonstration bewegte er vorsichtig die Schultern nach oben. „Aber das Bein macht noch Probleme.“
„Haben Sie Geduld, Herr Schumann, ein komplizierter Bruch braucht nun mal seine Zeit bis zur Heilung. Das wird schon. Und bei meinen Kollegen sind Sie in den besten Händen.“
Wirklich schade, sagte sein Blick. Viel lieber ließe ich mich von Ihnen behandeln. Es entstand eine kurze Verlegenheitspause.
„Morgen schaue ich mir an, was der behandelnde Kollege über Ihren Bruch vermerkt hat“, fuhr sie dann aufmunternd fort und warf einen raschen Blick auf die Uhr. „Jetzt muss ich aber wirklich los. Bin ohnehin schon spät dran.“
Sie hat eine Verabredung, dachte er. Mit einem Mann natürlich. Der Glückliche!
Erleichtert setzte Saskia ihren Weg fort. Dass der Patient sich mit Hilfe seiner Krücken etwas mühsam umwandte, um ihr einen langen Blick nachzuwerfen, sah sie nicht mehr. Es hätte sie auch nicht sonderlich interessiert.
Männer sollten vorerst keine Rolle mehr in ihrem Leben spielen, das hatte sie sich fest vorgenommen.
Nun galt es, die verlorene Zeit aufzuholen. Nina hasste es zu warten. Saskia trat ins Freie, blieb kurz stehen und warf einen Blick nach oben. Ein frischer Frühlingswind spielte den Hütehund und trieb eine breite Wolkenschar vor sich her, sodass mehr und mehr vom Blau zum Vorschein kam.
Vor der Klinik warteten zwei Taxis. Mit nur wenig Verspätung erreichte sie dreizehn Minuten später ihr Ziel und sah Nina schon von Weitem. Saskia winkte, um auf sich aufmerksam zu machen, doch ihre Tochter schaute in die andere Richtung.
„Hallo, Kleines!“, rief sie ihr zu, als sie sie fast schon erreicht hatte.
Die Jugendliche verzog gequält das Gesicht.
„Bitte nenn mich nicht so“, raunzte sie. „Ich bin schon so groß wie du.“
„Na ja, fast“, meinte Saskia besänftigend und hängte sich bei Nina ein. „Sei nicht gleich wieder eingeschnappt. „Wir Mädels machen uns jetzt einen tollen Nachmittag.“
„Hm“, lautete Ninas dürrer Kommentar.
Saskia ging nicht darauf ein. Nina etwas recht zu machen, das war zurzeit ziemlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich.
„Was hast du dir denn so vorgestellt?“, fragte sie mit aufgesetzter Munterkeit. „Neue Jeans, einen flotten Rock? Oder lieber einen Blazer fürs Frühjahr?“
„Weiß noch nicht.“
Sie spazierten die Kaufinger Straße entlang.
„Dort drüben gehen wir mal rein!“ Saskia deutete auf das Kaufhaus.
Nicht gleich wieder die Geduld verlieren, ermahnte sie sich, obwohl Ninas Wortkargheit sie schon wieder ärgerte. Das Kind befand sich nun mal in einem schwierigen Alter, durch diese Zeit mussten alle Eltern durch. Sie als Mutter sollte einfach ein bisschen gelassener sein.
„Wie war’s denn heute in der Schule?“
„Geht so.“
„Habt ihr die Mathearbeit zurück?“
„Nein.“
„Hast du zu Hause noch was gegessen?“
„Oma hat mir ein Brot gemacht.“
„Nur ein Brot?“
„Ich wollte nichts anderes.“
Die Fahrt mit der Rolltreppe unterbrach das Frage- und Antwortspiel.
In der Abteilung für Damenmode angekommen, streifte das schlanke Mädchen durch die Reihen und begutachtete kritisch Hosen, Blusen, Pullis und Jacken.
Auf Anhieb schien Nina nichts zu gefallen. Hin und wieder machte Saskia das Mädchen auf ein Teil aufmerksam, das ihr für eine Vierzehnjährige passend erschien, doch Ninas Miene blieb desinteressiert. Wahrscheinlich wusste sie selbst nicht, was sie wollte.
Dabei war sie früher ein so fröhliches Kind gewesen, das sich ausgelassen über die kleinste Kleinigkeit freuen konnte. Ob sie noch oft an den Vater dachte, der vor sechs Jahren gestorben war? Saskia wusste es nicht. Und Nina fragte nie nach ihm.
Viel wichtiger schien Boris für sie gewesen zu sein. Boris, der Ex-Lebensgefährte ihrer Mutter. Er hatte schnell Zugang zu Nina gefunden, vielleicht auch, weil er Lehrer war und gut mit Kindern umgehen konnte.
Doch vor sechs Monaten hatte Saskia ihn hinausgeworfen, als ihr seine Untreue zu Ohren gekommen war. Er hatte sie nicht einmal geleugnet, sondern mit einem Grinsen darauf bestanden, dass ihm als Mann in der Blüte seiner Jahre doch hin und wieder ein wenig Abwechslung zustand.
Nina trauerte ihm immer noch nach, und sicher hatte sie auf eine Versöhnung der Erwachsenen gehofft, doch das kam für Saskia nicht infrage. Sie war zu sehr verletzt. Dieses Kapitel würde sie nicht wieder aufschlagen. In ein paar Jahren, wenn Nina ihre eigenen Erfahrungen in der Liebe machte, würde sie ihre Mutter verstehen. Das hoffte Saskia.
Im Übrigen kam die Familie auch ohne Mann gut zurecht. Saskia verdiente den Lebensunterhalt für alle. Oma Else besorgte den Haushalt und betreute die Enkelin. Es fehlte ihnen an nichts. Außerdem verfügte Saskia noch über das Erbe ihres verstorbenen Mannes.
Wäre er nicht so früh gestorben, hätten sich viele Probleme mit Nina vielleicht gar nicht erst eingestellt.
„Wonach schauen wir überhaupt? Du hast noch gar nicht gesagt, was du möchtest.“
„Einen Minirock“, erklärte Nina.
„Wozu brauchst du denn den? In die Schule kannst du damit nicht gehen …“
„Die anderen tragen auch Miniröcke.“
Der Trotz in Ninas Stimme war unüberhörbar. Die genervte Mutter schluckte eine ärgerliche Bemerkung hinunter. Eine andere Kundin warf ihnen schon neugierige Blicke zu. Jetzt bloß keinen Streit in der Öffentlichkeit. Das war nicht der Ort, mit Nina ein ernstes Wörtchen zu reden. Sie riskierte dann nur, dass ihr das Mädchen einfach davonlief, wie es schon mal vorgekommen war.
Einmal tief Luft holen und ein kleines Lächeln.
„Vielleicht sollten wir erst mal was trinken? Ich brauche jetzt einen Kaffee. Und für dich ein Stück Kuchen? Was meinst du? Zwei Etagen höher ist das Restaurant …“
„Kuchen? Igitt.“ Nina schüttelte sich vor Entsetzen. „Nicht für mich. Davon wird man nur fett.“
„Na gut, dann einen Saft oder so was.“ Saskia musterte ihre Tochter.
Die starrte eine Weile zurück, bevor sie die Augen verdrehte.
Das kann ja heiter werden, dachte Saskia. Hatte sie wirklich an einen schönen Nachmittag mit ihrer Tochter geglaubt? Diese Vorstellung verblasste zusehends.
***
„Heben Sie das Bein an und beugen Sie das Knie“, forderte Dr. Holl den Patienten auf. „Tut das weh?“
„Ein wenig“, erwiderte David Schumann gepresst.
„Machen Sie täglich Ihre Übungen?“
„Ja“, sagte der Patient.
Der Chefarzt der Berling-Klinik betrachtete aufmerksam die letzten Röntgenaufnahmen. Es war eine knifflige Puzzle-Arbeit gewesen, den Trümmerbruch des Unterschenkels wieder zusammenzusetzen. Der Eingriff lag nun zwei Monate zurück. Eigentlich sollte der Mann keine Schmerzen mehr haben. Dass er dennoch darüber klagte, war für Stefan Holl ein Alarmzeichen. Aber noch behielt er seine Beunruhigung für sich.
„Das heißt, Sie können noch nicht wieder auf Verbrecherjagd gehen“, stellte er lächelnd fest.
„Das erledigen zurzeit die Kollegen“, erwiderte David Schumann. „Aber die Schreibtischarbeit muss ja auch getan werden. Gefällt mir zwar nicht besonders, aber ich gebe mein Bestes.“
„Ich würde Ihnen eine Kur empfehlen …“
David Schumann winkte ab.
„Vielen Dank, das ist nichts für mich. Dann denke ich viel zu viel über mich selbst nach.“
„Darf ich fragen, ob Sie in einer Beziehung leben?“
„Ich bin allein. Und das ist auch besser so“, erwiderte David trocken. „Meinen Beruf will ich keiner Frau zumuten.“
„In welchem Bereich arbeiten Sie?“
„Bis vor zwei Jahren war ich bei der Mordkommission, jetzt mache ich Wirtschaftskriminalität.“
„Das ist sicher weniger blutig“, meinte Stefan.
Während sie sich weiter über den Arbeitsbereich des Kriminalbeamten unterhielten, betrachtete Stefan Holl das operierte Bein. Im Wadenbereich gab es einen gewissen Muskelschwund. Die Haut fühlte sich in der Nähe der großen Narbe überwärmt an, während die Temperatur am Rest des Beines normal erschien.
„Hatten Sie in der Vergangenheit rheumatische Erkrankungen, Thrombosen oder sonstige Entzündungen?“
David fuhr sich über das leicht gewellte Haar, dachte kurz nach und schüttelte den Kopf.
„Nicht, dass ich wüsste.“
Dr. Holl bat den Patienten, von der Liege aufzustehen und die Hose wieder anzuziehen. Wenige Minuten später saßen sie sich gegenüber.
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher, habe aber eine Vermutung“, erklärte der Chefarzt. „Fassen wir zusammen: Die Beweglichkeit des gesamten Unterschenkels ist immer noch eingeschränkt, vor allem wird sie durch den Schmerz vermindert. Verspüren Sie ein unwillkürliches Muskelzittern oder eine Anspannung in diesem Bereich?“
„Ja, sogar ziemlich häufig in der letzten Zeit.“
„Die Haut ist nicht so durchblutet, wie es sein sollte“, sagte Dr. Holl. „Und sie ist heiß und gerötet.“
„Ist mir auch schon aufgefallen“, bestätigte David.
„Möglicherweise haben wir es mit einem Schmerzsyndrom zu tun, das regional auftritt. Bei Ihnen an Ihrem verletzten Bein. Wir nennen das Morbus Sudeck.“
Diese Diagnose schien bei dem Patienten keine größere Besorgnis auszulösen.
„Ist das schlimm?“, fragte er nur.
„Sagen wir so, die Behandlung ist komplex. Sie besteht aus einer medikamentösen Therapie, einer umfassenden Physiotherapie, und vielleicht könnte auch Psychotherapie helfen.“
„Psychotherapie?“, wiederholte David. In seiner Miene machte sich Skepsis breit. „Was soll das mit einem Knochenbruch zu tun haben?“
„Psychotherapie ist oftmals sinnvoll, um chronische Schmerzen zu behandeln, die zu Depressionen führen können.“
„Das wird nicht nötig sein. Ich halte schon was aus“, behauptete David.
„Sie könnten mit Hilfe der Psychotherapie konkrete Techniken zur Entspannung lernen“, meinte Dr. Holl. „Aber darüber können wir später immer noch sprechen. Vorerst müssen Sie Tabletten schlucken.“
Jetzt war David doch etwas verunsichert.
„Sagen Sie mir eins, Dr. Holl, werde ich die Schmerzen jemals wieder ganz loswerden?“
„Die Erkrankung hat zwar einen chronischen Verlauf, aber in der Hälfte aller Fälle verschwinden die Symptome, was aber eine Zeit lang dauern kann. Sie dürfen nicht ungeduldig werden. Ich schreibe Ihnen zwei Medikamente auf.“
Dr. Holl gab die Namen in den Computer ein und druckte das Rezept aus.
„Wenn dieses Schmerzmittel nicht ausreicht, wechseln wir zu einem stärkeren Medikament. Da bei Morbus Sudeck oft auch ein Knochenabbau beobachtet wird, kommt noch ein zweites Medikament zum Einsatz. Es handelt sich um ein Bisphosphonat, das diesen Vorgang verhindert und auf diese Weise auch die Schmerzen lindern kann.“
Dr. Holl schob das Blatt über den Tisch.
„Wir sehen uns in zwei bis drei Wochen wieder. Selbstverständlich können Sie sich auch von Ihrem Hausarzt behandeln lassen …“
„Ich komme lieber zu Ihnen in die Klinik“, sagte David schnell. „Hier bin ich operiert worden. Und hier fühle ich mich gut aufgehoben.“
Dr. Holl reichte dem Patienten die Hand.
„Alles Gute für Sie“, sagte er.
Eigentlich hätte David gern noch etwas über Frau Dr. Bauer erfahren, aber in diesem Fall wusste der gewiefte Kriminalkommissar nicht, wie er seine Neugier begründen sollte. Um sich nicht lächerlich zu machen, schwieg er lieber.
***
„Es war mal wieder anstrengend mit ihr“, beklagte sich Saskia am Abend bei ihrer Mutter. Die beiden Frauen saßen im Wohnzimmer. Im Hintergrund lief leise der Fernseher.
Saskia hatte sich einen Tee aufgebrüht. Er war noch zu heiß, stellte sie fest, als sie vorsichtig an der Tasse nippte.
Else löste Kreuzworträtsel.
„Ach, Kind“, sagte sie. „Erinnere dich doch nur an deine eigene Jugend. Wir zwei hatten auch ständig Streit. Und einen Rat von mir hast du schon gar nicht angenommen.“
Saskia verdrehte die Augen. War ja klar, dass Mama ihr Enkelkind gleich wieder in Schutz nahm, doch von diesen ihr wohl bekannten Argumenten ließ sie sich nicht beeindrucken.
„Nina muss begreifen, dass sich nicht immer alles um sie dreht“, stellte sie in einem Anflug von Gereiztheit fest. „Ich habe einen anstrengenden Beruf. Und bin alleinerziehende Mutter.“
„Ich bin ja auch noch da“, sagte Else. „Vergiss das nicht. Wann immer ich kann, halte ich dir den Rücken frei.“
Na ja, so toll ist das nicht gerade, was Mama zum reibungslosen Gelingen des Alltags beitrug, dachte Saskia, aber sie verspürte wenig Lust auf eine längere Diskussion zu diesem Thema. Sie wollte nur noch ihre Ruhe.
Demonstrativ griff sie nach der Fernsehzeitschrift und blätterte sie auf. Vielleicht gab es irgendwo einen spannenden Film. Dann brauchte sie nicht mehr zu reden.
Doch Else wollte unbedingt noch etwas loswerden.
„Ich denke schon seit Tagen darüber nach.“ Während sie sprach, ließ sie ihre Tochter nicht aus den Augen. „Und ich frage mich, wann du Nina endlich die Wahrheit über ihren Vater sagen willst.“
Saskia ließ sich aufseufzend zurücksinken. Nicht schon wieder dieses Thema!
„Hör zu, Mama, sie erfährt es dann, wenn ich es für richtig halte.“
Selbst dieser scharfe Ton hielt Else nicht vom Weiterreden ab.
„Wir sind eine Familie“, entgegnete sie, um Verständigung bemüht. „Und in einer Familie darf jeder sagen, was er für richtig oder falsch hält. Nina wird bald vierzehn. Du solltest ihr die Wahrheit nicht länger vorenthalten.“
„Ich bin ihre Mutter. Und darum entscheide ich. Können wir das jetzt beenden?“
Else stand auf und verschwand in der Küche. An ihrer Körperhaltung sah Saskia, dass sich Mama wieder mal gekränkt fühlte. Ausgerechnet Else, die besser schweigen sollte. Denn sie hatte doch damals alles versucht, ihrer Tochter die Schwangerschaft auszureden.
Du bist erst siebzehn, dein ganzes Leben liegt noch vor dir. Verdirb es dir nicht mit einem Kind. Wer soll es betreuen? Du musst die Schule fertigmachen. Wolltest du nicht Medizin studieren? Das schaffst du nie mit einem Kind!
Mutters Unkenrufe waren an Saskia abgeprallt. Sie wollte dieses Kind und ging ihren Weg, felsenfest davon überzeugt, dass er der richtige war.
Und heute? Heute spielte sich Else als aufopfernde Oma auf und verbündete sich mit Nina hinter ihrem Rücken. Saskia wusste nicht, was sie dagegen tun sollte, denn andererseits war sie froh, dass sich Else um den Haushalt kümmerte.
In der Küche klapperte Else demonstrativ laut mit dem Geschirr. Offensichtlich bestückte sie die Spülmaschine. Irgendwann zerbrach etwas, es hatte also Scherben gegeben. Doch Saskia schaute nicht nach, was passiert war. Sollte Mama den Schaden selbst wegräumen.
Nach weiteren Minuten schaltete Saskia den Fernseher aus, schnappte sich den Roman, den sie gerade las, und beschloss, sich ins Bett zu legen. Auf dem Weg dorthin kam sie an Ninas Zimmer vorbei.
Sie blieb stehen und hob schon die Hand, um kurz anzuklopfen, doch vielleicht schlief Nina schon. Sie legte das Ohr an die Tür und hörte ihre Töchter leise reden. Zwischendurch war ein unterdrücktes Lachen zu hören. Sprach sie mit einer Freundin?
Schuldbewusst erkannte Saskia, dass sie herzlich wenig über ihre Tochter und deren Freundeskreis wusste. Es kam auch nie jemand zu Besuch. Wenn Nina Geburtstag hatte, lud sie ein paar Mädchen aus ihrer Klasse ein, aber nur unter der Bedingung, dass ihre Mutter sich weitgehend fernhielt.
„Warum willst du mich nicht dabeihaben?“, hatte Saskia mal gefragt und als Antwort nur ein Schweigen bekommen.
Sie ging weiter. Einmal knarrte kurz eine Diele, doch das Geräusch schien nicht bis zu Nina gedrungen zu sein. Für eine Weile verschwand Saskia im Bad, dann betrat sie ihr Schlafzimmer. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt, allein in diesem Raum zu sein. Als Manfred noch lebte, hatte sie sich immer in seine Arme gekuschelt. So konnte sie sich am besten von den Anstrengungen des Alltags erholen.
Die Erinnerung an ihren verstorbenen Mann löste augenblicklich Trauer in ihr aus, die zwar nicht mehr so groß war wie damals, aber es tat immer noch weh.
Eine tiefe Lebensfreundschaft hatte die junge Mutter damals mit dem Universitätsprofessor Manfred Bauer verbunden. Trotz des großen Altersunterschiedes von sechsundzwanzig Jahren heirateten sie und führten eine harmonische und von gegenseitiger Achtung geprägte Ehe.
Sie hatte ihn im zweiten Semester ihres Medizinstudiums in einem kleinen Lokal nahe der Uni kennengelernt. Manfred war Philosoph. Er war fasziniert von der bildschönen Studentin und wollte an ihrer Seite noch einmal eine zweite Jugend erleben.
Ihr zweijähriges Kind störte ihn nicht. Dass er eine junge Familie bekam, betrachtete er als Geschenk des Schicksals. Der Universitätsprofessor Manfred Bauer adoptierte das kleine Mädchen und wurde ihm ein liebevoller Papa.
Sein großes Haus beherbergte nun das neue Glück. Und das blieb es für die kommenden sechs Jahre.
An einem milden Sommerabend, als er im Garten saß und Saskia in der Küche einen Imbiss zubereitete, erlitt er einen Herzinfarkt, den er trotz ihrer sofortigen Erste-Hilfe-Maßnahmen nicht überlebte.
Es dauerte lange, bis sie diesen Schlag überwand. Auch die Tatsache, dass sie Alleinerbin seines ansehnlichen Vermögens wurde, linderte ihren Kummer nicht.
Aber Saskia ließ sich nicht unterkriegen und organisierte ihr Leben neu. Sie entließ die junge Erzieherin, die sich um Nina kümmerte, und holte dafür ihre Mutter Else ins Haus. Obwohl sie es nun nicht mehr nötig hatte, wollte Saskia weiterhin als Ärztin arbeiten. Sie liebte ihren Beruf. Als ihr eine gute Stelle in der Berling-Klinik angeboten wurde, nahm sie diese sofort an.
Dort fühlte sie sich wohl. Dr. Stefan Holl war nicht nur ein guter Chefarzt, sondern auch ein Vorgesetzter, der sich mit viel Herzenswärme um seine Mitarbeiter kümmerte.
Irgendwann kam dann Boris in ihr Leben, ein smarter Handball-Trainer, ein paar Jahre jünger als sie. Anfangs war sie sehr verliebt in ihn und davon überzeugt, doch noch einmal glücklich zu werden. Sie schmiedeten schon gemeinsame Zukunftspläne. Sogar von Heirat war die Rede. Er zog bei ihr ein.
Da er nur stundenweise in seinem Verein arbeitete, konnte er nicht viel zum gemeinsamen Lebensunterhalt beitragen. Aber Manfreds Erbe machte es Saskia leicht, ihrem Liebsten gegenüber großzügig zu sein.
Dann entdeckte sie Boris’ Untreue. Sie war so verletzt, dass sie ihn sofort hinauswarf und keine einzige seiner flehentlichen Entschuldigungen akzeptierte.
Und seitdem waren sie Feinde.
***
Julia und Stefan Holl saßen im Wohnzimmer ihres Hauses. Die Kinder hatten sich nach dem Abendessen in ihre Zimmer zurückgezogen. Stefan erzählte von ein paar besonders problematischen Fällen.
Julia lauschte den Ausführungen ihres Mannes. Besonders die jungen Patienten weckten ihr Interesse. Als Fachärztin für Kinderheilkunde hatte sie auch oft etwas zu den Krankheitsgeschichten beizusteuern. Gern würde sie wieder in der Klinik, die ihr Vater Walter Berling gegründet hatte, stundenweise mitarbeiten.
Stefan hatte ihr angeboten, eine Art Praktikum in der Kinderabteilung zu machen. Er war der Meinung, dass Julia sich nach kurzer Einarbeitungszeit wieder in ihrem Beruf zurechtfinden würde.
Inzwischen waren die Söhne und Töchter des Paares selbstständig genug, um auch ohne ständige Mutterbetreuung auszukommen. Die zwanzigjährigen Zwillinge Daniela und Marc studierten bereits, der mittlere Sohn Chris und die elfjährige Juju gingen noch zur Schule, die beiden keine großen Probleme bereitete. Chris war ein sportlicher Junge, während Juju ihre Freizeit am liebsten mit ihrer Mädchenclique verbrachte.
Dr. Holl erhob sich und ging auf die Tür zu, hinter der sich sein häuslicher Arbeitsbereich befand.
„Ich muss unbedingt noch den Artikel für die Fachzeitschrift fertigstellen“, sagte er. „In der Klinik bin ich dazu nicht gekommen. Ein paar Sätze nur, dann bin ich wieder bei dir.“
Julia ließ ihn gehen, was hätte sie auch sonst tun sollen? Sie griff nach der obersten Zeitschrift auf dem Stapel und blätterte sie auf. Bevor sie jedoch zu lesen begann, betrat Chris den Raum.
„Na, mein Großer, willst du mir ein bisschen Gesellschaft leisten? Komm, setz dich zu mir.“
Chris ließ sich neben sie fallen und streckte die langen Beine von sich. Er war seiner Mutter schon längst über den Kopf gewachsen.
„Mama, ich habe Halsschmerzen.“ Seine Stimme klang etwas kehlig.
„Zeig mal.“
Chris öffnete den Mund.
Julia schaute in den Hals. Er war gerötet. Auch schien Chris leichtes Fieber zu haben. Eine anschließende Messung bestätigte ihre Vermutung.
„Mit Fieber gehst du morgen nicht in die Schule“, ordnete sie an. „Und jetzt solltest du ins Bett gehen. Nimm eine oder zwei von den Lutschtabletten. Die lindern die Schmerzen.“
„Morgen Nachmittag ist ein wichtiges Handballtraining. Wir müssen unser nächstes Spiel gewinnen.“
„Das mag schon sein, mein Schatz, aber deine Gesundheit ist noch viel wichtiger. Hör auf mich.“
„Das tu ich doch immer, Mama“, erwiderte Chris. „Bleibt mir ja auch nichts anderes übrig. Aber es wäre schon blöd, wenn wir verlieren, weil ich nicht dabei bin.“
Er machte eine kurze Pause, ehe er weitersprach.
„Auch die Mädchen vom Verein haben Probleme, weil sie gerade ihren Trainer losgeworden sind.“
„Ach wirklich? Warum?“ Julia legte ihrem Sohn die Medikamente für den heutigen Abend zurecht.
„Irgendwas war da wohl mit einer der Feldspielerinnen, aber ich weiß nicht genau, was. Ich glaube, der Trainer hat sie angemacht – oder umgekehrt. Sie ist nicht mal vierzehn. Jedenfalls wird das im Verein nicht gern gesehen.“
„Nicht gern gesehen?“, wiederholte Julia gedehnt. „Also, wenn der Mann wirklich was mit einem der Mädchen hatte, ist das eine Straftat.“
„Darum ist er ja auch nicht mehr da“, stellte Chris fest. „Ich geh jetzt schlafen.“
„Ich bring dich noch ins Bett“, sagte Julia und stand auf.
„Aber nein, das brauchst du nicht. Ich bin doch kein kleiner Bub mehr“, wehrte sich ihr Sohn.
„Ein bisschen schon“, sagte Julia mit weicher Stimme und strich ihm über die Wange. „Träum was Schönes. Und morgen früh sehen wir weiter.“
Natürlich würde sie ihn mit einer Angina zu Hause behalten, dachte Julia, bevor sie sich wieder ihrer Zeitschrift zuwandte. In solchen Situationen ließ sie sich nicht erweichen. Sie kannte die Folgen, die nach unbehandelten Infektionen auftreten konnten, ganz abgesehen davon, dass ein krankes Kind auch für die anderen in der Klasse eine Ansteckungsgefahr war.
***
Ein ständig wiederkehrendes Geräusch holte sie aus einem merkwürdigen Traum. Sie war mit Manfred zusammen auf einem leckgeschlagenen Boot. Gemeinsam schöpften sie das Wasser mit kleinen Tassen. Als sie sich dessen bewusst wurden, lachten sie. Das Boot sank. Panik wollte sie erfassen …
Saskia blinzelte. Auf ihrem Bauch lag das aufgeschlagene Buch, die Nachttischlampe brannte, und ihr Handy läutete und vibrierte. Es war kurz nach elf.
Als sie sah, wer so spät noch anrief, wollte sie ihn spontan wegdrücken. Doch obwohl sie jetzt keine Lust auf eine Auseinandersetzung hatte, nahm sie das Gespräch an. Wenn er unbedingt noch einmal hören wollte, wie gleichgültig er ihr war, so wollte sie ihm diesen Wunsch erfüllen.
„Hallo, Boris“, sagte sie und ließ ihre Stimme so neutral wie möglich klingen. „Du weißt schon, wie spät es ist.“
„Entschuldige“, erwiderte der Mann, mit dem sie einst glücklich gewesen war. „Natürlich weiß ich das. Aber ich weiß auch, dass du immer spät schlafen gehst, und da dachte ich …“
„Was gibt’s?“, unterbrach sie ihn.
„Warum bist du so aggressiv?“, fragte er seufzend. „Können wir nicht wie zwei vernünftige Menschen miteinander umgehen?“
„Warum stellst du mir diese Frage jetzt? Mitten in der Nacht?“
„Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, deine Stimme zu hören. Kannst du das verstehen?“
„Nicht so ganz.“
„Es ist aber so. Und weißt du auch, warum?“
Saskia gab keine Antwort.
„Weil ich dich immer noch liebe“, klang es gepresst aus dem Telefon. „Ich weiß, dass du nichts mehr von mir wissen willst. Und ich muss es akzeptieren. Meinen dummen Fehler bereue ich zutiefst, aber das interessiert dich ja nicht. Du bist unerbittlich und kannst nicht verzeihen …“
„Hör auf damit“, verlangte Saskia energisch. Klingelte er sie wirklich nachts aus dem Schlaf, um ihr solche Lügen aufzutischen? Nichts tat ihm leid. Er wollte sich nur wieder bei ihr einschmeicheln. „Warum rufst du an?“
„Also gut.“ Sein Ton wurde sachlich. „Ich habe eine Wohnung in Aussicht und muss dafür eine Kaution zahlen. Würdest du mir das Geld vorstrecken? Wir können es dann mit Ninas Nachhilfestunden verrechnen.“
Saskia schwieg. Sie musste sein Ansinnen erst mal auf sich wirken lassen. Es war ihr zwar nicht recht, dass Nina ausgerechnet mit Boris’ Hilfe ihre Englischkenntnisse aufbesserte, aber andererseits lernte sie wirklich etwas von ihm. Ihre Englisch-Noten wurden immer besser. Boris beherrschte die Sprache perfekt, weil er lange in London gelebt hatte.
Nina hing an ihm und machte ihre Mutter sogar ganz offen für den Bruch der Beziehung verantwortlich. Du hast ihn mit deiner ständigen Nörgelei vertrieben, hatte sie ihr erst kürzlich wieder an den Kopf geworfen.
Mit ihrem Versuch, die Situation aus ihrer Sicht darzustellen, drang Saskia bei ihrer Tochter offenbar nicht durch.
„Bist du noch da?“ Boris’ Stimme holte sie aus ihren Überlegungen zurück.
„Ich weiß noch nicht, ob ich dir das Geld geben kann“, sagte sie. „Ich werde darüber nachdenken. Vielleicht kündige ich den Unterricht bei dir.“
„Das kannst du natürlich tun“, erwiderte er verschnupft. „Aber mit welcher Begründung? Seit Nina von mir Nachhilfestunden bekommt, hat sie eine Drei in Englisch. Und bei der nächsten Arbeit wird sie eine Zwei schreiben. Also, was gefällt dir daran nicht?“
„Dass du es bist“, sagte Saskia scharf. „Du setzt ihr doch nur Flausen in den Kopf. Darum will ich, dass du komplett aus unserem Leben verschwindest. Mir ist schon klar, dass du jetzt versuchst, dich unentbehrlich zu machen.“
„Nina wird es nicht recht sein, wenn du ihr die Nachhilfe verweigerst. Nina und ich, wir haben eine gute Beziehung. Sie braucht mich. Warum willst du das unbedingt zerstören? Bist du etwa eifersüchtig?“
„Eifersüchtig?“, wiederholte Saskia in einer aufwallenden Empörung, doch schnell fasste sie sich und ließ ein überlegenes Lachen hören. „Ich bestimme, mit wem meine Tochter Kontakt hat. Sie ist noch ein Kind.“
„Jetzt bist du aber ganz schön zickig“, stellte Boris fest. „Damit machst du dich bei Nina nur unbeliebt. Lass uns doch einfach noch mal in Ruhe reden …“
„Es ist alles gesagt“, fiel Saskia ihm ins Wort. „Wenn ich Ninas neuen Nachhilfeunterricht geregelt habe, gebe ich dir Bescheid.“
„Ist dir eigentlich bewusst, dass sie mich braucht? Sie sieht in mir so was wie einen großen Bruder. Du hast ja keine Ahnung, wie oft sie mich um Rat fragt.“
„Das bildest du dir ein“, beschied sie ihm abfällig. „Komm wieder runter von deinem hohen Ross. Auch wenn du es nicht glaubst, wir kommen ohne dich viel besser zurecht. Du bist ein jämmerlicher Betrüger …“
Saskia hielt inne. Warum regte sie sich so auf? Auch wenn man sich getrennt hatte, sollte es doch möglich sein, ruhig und gelassen miteinander umzugehen. Warum gelang ihr das nicht? Sie war doch längst fertig mit ihm. Oder war da immer noch eine Zuneigung in ihr, die sie nicht wahrhaben wollte?
„Ich muss jetzt schlafen“, sagte Saskia. Sie hörte ihn heftig atmen. Ein Geräusch, das sie nicht länger ertrug. Hastig drückte sie ihn endlich weg.
Hätte ich schon viel früher tun sollen, dachte sie. Sie ließ sich in das Kissen zurücksinken. Das Telefon rutschte ihr aus der Hand, aber es fiel weich auf die Bettdecke. Bestürzt bemerkte sie die Tränen, die ihr aus den Augen liefen. Warum weinte sie diesem Mann nach, der ihre Liebe nicht geschätzt hatte?
Noch lange war sie wach und spulte das Gespräch mit ihm immer wieder ab. Immer noch schaffte es Boris, sie runterzuziehen und ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, indem er ihr indirekt vorhielt, keine gute Mutter zu sein. Er, der große Bruder, war Ninas Ratgeber – nicht sie, die Mutter. Dieser Stachel saß tief in ihrem Herzen. Und er tat fürchterlich weh.
***
„Nur herein mit Ihnen“, sagte Stefan und winkte die Kollegin näher.
Saskia folgte seiner Aufforderung. Sie kam gerade aus dem OP, wo sie dem Chefchirurgen Falk bei einem Herzklappenersatz assistiert hatte. Ein Anruf von Moni Wolfram, der Chefsekretärin, hatte sie geradewegs zu Dr. Holl beordert.
„Schauen Sie sich diese Bilder an, und sagen Sie mir dann, was Sie davon halten.“
Er deutete auf den Bildschirm. Saskia trat neben ihn und betrachtete die Aufnahme. Mit ihrer Einschätzung ließ sie sich ein wenig Zeit.
„Fleckige Entkalkung des Knochens“, sagte sie schließlich und deutete auf den Unterschenkel. „Kann nach Entzündungen oder Traumen auftreten, meistens in der Umgebung des ursprünglichen Prozesses.“
Stefan nickte ihr anerkennend zu.
„Was schließen Sie daraus?“
„Zur Sicherheit würde ich noch eine MRT machen lassen. Es könnte sich um eine Atrophie handeln, womöglich Morbus Sudeck als Komplikation nach einer Fraktur.“
„Die Therapie?“
Saskia stutzte kurz. Wurde sie hier einer Prüfung durch den Chefarzt unterzogen? Aber geschickt überspielte sie den kurzen Moment der Unsicherheit.
„Sie ist abhängig von der Schwere des Krankheitsbildes.“ Sie räusperte sich. „So viel mir bekannt ist, gibt es keinen Therapieansatz, der allein gute Ergebnisse liefert. Das heißt, es müssen mehrere Maßnahmen gleichzeitig getroffen werden.“
„Das ist der Unterschenkel von Herrn Schumann“, sagte Dr. Holl. „Sie haben die Einzelteile seines Trümmerbruchs wieder zusammengeflickt.“
„Ja, das war schwere Arbeit“, bestätigte Saskia lächelnd. „Ich habe ihn neulich unten beim Eingang getroffen. Tut mir leid für ihn, dass er sich jetzt damit noch rumquälen muss.“
„Er glaubt, durch Joggen und Laufen bekommt er das Problem schneller wieder in den Griff. Übertriebenes Training halte ich aber für falsch, genau das sollte er jetzt nicht tun. Vielleicht reden Sie ihm mal ins Gewissen und überzeugen ihn von unseren Erkenntnissen.“
Saskia warf ihrem Vorgesetzten einen erstaunten Blick zu. Warum sie? Glaubte der Chef, dass Ratschläge einer Frau den Patienten mehr beeinflussten als die eines Mannes?
Als habe Dr. Holl ihre Gedanken erraten, fügte er noch etwas hinzu.
„Ich habe den Eindruck, Sie können die Dringlichkeit besser vermitteln.“
So viel Vertrauen ehrte sie.
„Also gut, ich werde ihn anrufen.“
„Nicht nötig. Er sitzt bereits vor der Ambulanz. Kommen Sie, wir gehen gemeinsam zu ihm. Und meinen Laptop nehmen wir mit.“
***
David sah die beiden Menschen in ihren Arztkitteln näher kommen. Sein Misstrauen verstärkte sich, doch es schwand sofort, als er in der kleineren Person Dr. Saskia Bauer erkannte. Er stand auf.
„Bleiben Sie sitzen, Herr Schumann“, bat Stefan den Patienten. „Meine Kollegin wird Ihnen noch einmal genau erklären, mit welcher Erkrankung wir es zu tun haben. Hören Sie auf ihren Rat. Versprechen Sie mir das. Es wäre das Beste für Sie.“ Dann reichte er dem Patienten die Hand und ging. Für heute stand noch ein Kaiserschnitt auf dem Terminkalender.
„Gehen wir in das Zimmer dort!“, schlug Saskia vor und deutete auf eine Tür schräg gegenüber. „Dort sind wir ungestört.“
Nachdem der Kripobeamte dort auf einem der Stühle umständlich Platz genommen hatte, klappte sie Dr. Holls Laptop auf und schaltete die Röntgenaufnahmen ein.
„Das ist das typische Bild von Morbus Sudeck“, begann sie ohne große Einleitung. „Es handelt sich hierbei um eine Bindegewebserkrankung, verursacht durch eine örtlich gestörte Durchblutung. Und wie Sie ja selbst schon erfahren mussten, kann sie unterschiedlich schmerzhaft sein. Ihre Entstehung ist nicht vollständig geklärt.“
„Mit anderen Worten, Sie wissen auch nicht alles.“
„Richtig, aber dass wir alles wissen, würden weder meine Kollegen noch ich jemals behaupten“, sagte Saskia lächelnd. „Auch wenn wir den größten Teil aller Krankheiten kennen und verstehen, so treten sie doch bei jedem Patienten in anderer Form und Intensität auf.“
„Hm, natürlich haben Sie recht“, meinte David. „Meine Worte waren eher scherzhaft gemeint.“ Er hatte nicht die Absicht, ausgerechnet die Frau zu verärgern, an die er so oft denken musste.
„Dr. Holl hat Ihnen ja schon Medikamente verordnet. Die müssen Sie weiterhin nehmen. Aber auch eine Ergotherapie könnte helfen. Hierbei wird durch gezielte Bewegungen die Muskulatur erhalten. Auch eine regelmäßige Lymphdrainage und eine Ödemreduktion wären sinnvoll.“
„Dann bin ich ja den ganzen Tag mit irgendwelchen Therapien beschäftigt“, stellte David fest. „Wann soll ich arbeiten? Ich habe auch noch einen Beruf.“
„Das dachte ich mir“, gab Saskia schlagfertig zurück. „Was machen Sie?“
„Ich bin bei der Kripo.“
„Oh, interessant.“ Saskia verkniff sich ein Lächeln. „Als Kind habe ich am liebsten Räuber und Gendarm gespielt. Wobei ich natürlich immer bei der Räuberbande war.“
„Manchmal müssen wir wirklich noch den schweren Jungs nachlaufen, wenn wir sie auf frischer Tat erwischen, aber das meiste ermitteln wir heutzutage ohne Nachlaufen im Hintergrund“, sagte David lachend.
„Bitte gehen Sie zu Ihrem Hausarzt und lassen Sie sich eine Ergotherapie verschreiben. Er wird Ihnen auch ein paar gute Therapeuten nennen können. „Schieben Sie das bitte nicht auf die lange Bank. Versprochen?“
Saskia schaute auf die Uhr. In vierzig Minuten musste sie noch einen Hallux valgus operieren. Die Korrektur der Fehlstellung im Großzehengelenk würde eine gute Stunde in Anspruch nehmen, vielleicht auch zwei.
„Ich werde darüber nachdenken“, sagte David und spürte in dieser Sekunde, dass er jetzt sofort seine Chance nutzen musste, sonst wäre sie für immer vorbei.
„Ich sehe, Sie haben es eilig. Ich hätte aber gern noch ein paar Auskünfte von Ihnen. Könnten wir das an einem der nächsten Abende bei einem Essen besprechen? Ich würde Sie gern einladen. Es gibt ein kleines italienisches Restaurant in Haidhausen, wo es hervorragende Gerichte gibt.“
Sie warf ihm einen überraschten Blick zu.
„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber …“
„Schon gut, einverstanden“, fiel sie ihm ins Wort. Im Grunde hatte sie nichts dagegen, sich mit ihm außerhalb der Klinik zu treffen. Es wäre eine kleine Abwechslung von ihrem Alltag, der zurzeit nur aus Arbeit in der Klinik und Streit mit ihrer Tochter bestand. „An welchen Abend dachten Sie?“
„Freitag? Neunzehn Uhr dreißig? Passt Ihnen das?“
Saskia überlegte kurz.
„Ginge gut. Und wo ist das Lokal?“
Er nannte ihr die Adresse.
„Haben Sie was zum Schreiben?“
„Das kann ich mir merken“, erwiderte sie mit einem kleinen Lächeln. „Also bis Freitagabend. Und dann möchte ich von Ihnen hören, dass Sie schon alles wegen der Ergotherapie klären konnten.“
Zusammen verließen sie den kleinen Besprechungsraum. David humpelte mit seinen Krücken zum Aufzug. Hoffentlich schaut sie mir nicht nach, dachte er in einem Anflug von männlicher Eitelkeit. Wie gern wäre er aufrecht und sportlichen Schrittes zum Aufzug gegangen, aber dazu waren die Schmerzen zu groß.
So bot er leider nur den Anblick eines kranken Mannes, der keinen Schutz bot, sondern selbst welchen brauchte. Das wurde ihm sofort deutlich, als eine ältere Frau ihm den Vortritt in den Aufzug ließ und auch noch fragte, welches Stockwerk sie ihm drücken dürfte.
***
Else Kastner bedachte den Mann mit einem missbilligenden Blick.
„Spätestens um sechs müssen Sie wieder weg sein. Dann kommt meine Tochter nach Hause. Sie will Sie hier nicht sehen.“
„Ich weiß“, erwiderte Boris Zöllner, ein großer, schlanker Mann mit einem etwas aufdringlichen Charme.
Der Nachhilfeunterricht fand immer noch in Saskias Haus statt, weil sie es nicht erlaubte, dass ihre Tochter zu ihm ging. In seiner kleinen engen Wohnung war überdies auch wenig Platz.
Nina fiel Boris vor lauter Wiedersehensfreude um den Hals. Es hatte sie viel Überredungskunst gekostet, ihre Mutter von der Notwendigkeit der Nachhilfestunden zu überzeugen. Mama wollte jemand anderen dafür finden, aber Nina bestand darauf, mit Boris zu arbeiten.
„Ein anderer kommt für mich nicht infrage“, hatte sie ihr entgegengeschleudert. „Entweder er, oder ich falle in Englisch auf eine Fünf. Dann bleibe ich womöglich hängen. Er weiß am besten, wo meine Schwächen sind.“
Dass Mama schließlich klein beigab, verbuchte Nina als ihren ganz persönlichen Erfolg. Und was lernte man daraus? Man musste hart bleiben und durfte keinen Zentimeter nachgeben.
Sie zog ihn in ihr Zimmer. Dort hatte sie schon eine Flasche Saft und Gläser bereitgestellt.
„Du hast doch sicher Durst“, sagte Nina und goss so schwungvoll ein, dass gleich etwas überschwappte und ihr Englisch-Heft gelb färbte.
„So ein Mist!“, rief sie aus.
„Halb so schlimm, Schatz. Ist ja nur Papier. So, was machen wir heute? Erst mal frage ich die unregelmäßigen Verben ab …“
„Och nö, nicht schon wieder!“, rief Nina und griff nach ihrem Handy. „Ich mache jetzt ein Selfie von uns.“
„Wozu?“
„Damit ich es den anderen in der Klasse zeigen kann.“
Mit einem geschickten Griff nahm er ihr das Handy weg.
„Lass das“, verlangte er. „Ich will nicht, dass du mein Foto herumzeigst. Kleinen Mädchen wie dir geht manchmal die Fantasie durch.“
„Bitte, Boris.“
„Nein. Und jetzt wird gearbeitet.“
Nina war sichtlich enttäuscht. Nur zu gern hätte sie voller Stolz ein Bild von ihm herumgezeigt, um den anderen zu imponieren.
„Aber vielleicht lasse ich mich ja umstimmen.“
„Wirklich?“
Boris kräuselte die Stirn. Er sah aus wie jemand, der heftig nachdenken musste.
„Du könntest mir einen Gefallen tun. Du hast doch ein Sparbuch, auf das deine Mama immer was einzahlt. Ich bräuchte etwas Geld. Nur für kurze Zeit. Selbstverständlich bekommst du alles zurück, sobald ich meinen neuen Job angefangen habe.“
Nina strahlte ihn an. Wenn sie konnte, würde sie ihm nur zu gern diesen Gefallen tun.
„Wie viel brauchst du denn?“
„Dreihundert Euro. Ginge das?“
Dreihundert waren natürlich viel Geld, aber Nina zögerte nicht lange. Diesen Betrag konnte sie locker entbehren. Zweihundert befanden sich in ihrem Sparschwein, den Rest konnten sie bei der Sparkasse abheben. Das sagte sie ihm.
„Du bist ein Schatz!“, sagte Boris und strich ihr über die Wange. „Schade, dass deine Mutter mich nicht mehr will. Ich wär dir so gern ein Ersatzpapa gewesen.“
„Ich bin kein Kind mehr, das unbedingt einen Vater braucht.“
„Nicht?“ Er spielte den Überraschten so gut, dass sie ihm bedingungslos glaubte. „Was brauchst du denn?“
„Einen echten Freund“, sagte Nina mit gedämpfter Stimme. „Dem ich vertrauen kann. Der mir hilft, wenn die Mama wieder mal so ungerecht ist. Sie behandelt mich immer noch wie ein kleines, dummes Ding.“
Boris betrachtete sie prüfend.
„Da liegt die gute Saskia allerdings ziemlich falsch“, bestätigte er. „Du hast dein Leben noch vor dir, siehst aber schon ziemlich erwachsen aus, wie eine Sechzehn- oder Siebzehnjährige.“
„Wirklich?“ Nina erschauerte. So ein tolles Kompliment hatte ihr noch niemand gemacht.
„Sieht man doch“, sagte er. „Du hast ja schon richtig was unter dem Pulli.“
Nina schoss die Röte ins Gesicht. Für einen Augenblick empfand sie ein Gefühl der Scham, doch schnell gewann ihre Eitelkeit wieder die Oberhand. Boris hatte ja recht, wenn er in ihr kein Kind mehr, sondern eher eine junge Frau sah. Sie selbst fühlte sich auch so.
„Nun sei nicht gleich verlegen. Du hast doch sonst immer eine große Klappe. Komm, gib mir ein Küsschen.“
Um Missverständnissen vorzubeugen, tippte er sich auf die linke Wange. Nina folgte seiner Aufforderung. Sie heftete ihre Lippen mit einem gurrenden Laut auf seine Gesichtshaut – und beendete den Kontakt mit einem lauten Schmatz.
„Na, das war ja schon ein richtiger Kuss“, meinte er grinsend. „Sollten wir bei Gelegenheit mal wiederholen, aber jetzt an die Arbeit, marsch, marsch, sonst hält mir deine Mama wieder lange Vorträge. Bei der nächsten Klassenarbeit musst du mindestens eine Drei schreiben, eine Zwei wäre noch besser. Wenn du das schaffst, dann begreift auch deine Mutter, dass nur ich der richtige Nachhilfelehrer für dich bin.“
„Und was bekomme ich als Belohnung?“, fragte Nina kokett.
„Du darfst dir etwas aussuchen. Kino oder Café oder auch einen Besuch im Zoo.“
„Besuch im Zoo?“, wiederholte sie ungläubig. „Machst du Witze?“
„Na gut, streichen wir das“, sagte er mit einem breiten Grinsen. „Aber ob Kino oder Café wird erst entschieden, wenn ich die Zwei schwarz auf weiß in deinem Heft sehe.“
Nina gab sich seufzend geschlagen. Zwar hatte sie keine Lust zum Arbeiten, aber die Aussicht, dass er allein mit ihr ausging, beflügelte sie. Sie stellte sich vor, dass jemand aus der Klasse sie sah und später fragte, wer denn dieser tolle Mann an ihrer Seite gewesen sei. Die Antwort wusste sie jetzt schon.
„Mein Freund“, würde sie voller Stolz sagen.
Sie stand auf und holte noch eine Packung Saft aus der Küche. Und während sie die Gläser erneut füllte, gab Boris ihr einen zarten Klaps auf den Hintern.
„Du bist ein braves Mädchen“, sagte er augenzwinkernd. „Und jetzt legen wir los.“
Obwohl sie sich Mühe gab, war Boris eine Stunde später noch nicht zufrieden.
„Du bist unkonzentriert“, mäkelte er.
Nina schenkte ihm ein verliebtes Lächeln, konnte aber nicht beurteilen, ob er es auch zur Kenntnis nahm. Lernen erschien ihr nicht wichtig.
Als die Zeit um war, packte er hastig seine Sachen zusammen. Auf keinen Fall wollte er mit Saskia zusammentreffen.
„Wir treffen uns morgen bei der Sparkasse“, raunte er seiner Schülerin beim Abschied zu. „Ich schicke dir noch eine Mail, wann genau.“
„Und wann darf ich das Selfie von uns machen?“
„Morgen vor der Sparkasse“, sagte er. „Ich freu mich schon.“
„Ich mich auch“, hauchte Saskias Tochter. Kaum war sie allein, überließ sie sich schwärmerischen Mädchenträumen.
Sie stand ganz nah vor einer romantischen Rosenpforte, die ihr den Zutritt zu einem paradiesischen Garten gewährte. Ein Zauberland, nur für Verliebte reserviert. Bis zur Erfüllung ihrer Sehnsucht brauchte sie nur noch wenige Schritte zu gehen – dann würde sie in seinen Armen landen.
***
Saskia entschied sich für Risotto mit Garnelen, David nahm das gleiche Gericht. Der Kellner brachte ihnen zwei Gläser Barolo.
„Auf Ihre Gesundheit“, sagte sie und genoss den ersten Schluck.
Während sie auf das Essen warteten, erkundigte sich die Ärztin nach seinen Schmerzen.
„Ach, wissen Sie, eigentlich habe ich gar keine Lust, daran erinnert zu werden. Ihre Gesellschaft ist so angenehm. Ich rede gern mit Ihnen.“
Sie bedachte ihn mit einem verwunderten Blick.
„Ich dachte, dass wir extra deswegen verabredet sind, um über Ihre Krankheit zu reden.“
„Es ist wirklich nicht nötig, jedenfalls nicht heute Abend. In der Zwischenzeit habe ich mich natürlich auch schon ein bisschen im Internet schlau gemacht.“
„Dann wissen Sie ja auch, dass Sie das betroffene Bein nur vorsichtig belasten dürfen. Haben Sie inzwischen Kontakt zu einem Physiotherapeuten aufgenommen?“
„Ja“, erwiderte David und verstärkte seine Lüge noch mit einem kräftigen Nicken. „Nächste Woche geht es los.“
Saskia zog ein Blatt aus ihrer Handtasche.
„Ich habe Ihnen den Behandlungsplan noch mal ausgedruckt. In den meisten Fällen heilt diese Krankheit aus. Wenn Sie sich daran halten, können Sie in drei bis vier Monaten vollkommen wiederhergestellt sein. Sie müssen nur ein wenig Geduld haben.“
„Das ist doch eine ganz wunderbare Nachricht. Danke dafür.“ Er hob sein Glas und schaute ihr tief in die Augen. „Auf Ihr Wohl, Frau Doktor.“
Saskia spürte, wie ein vertrautes Gefühl in ihr erwachte, und erschrak. Nein, das wollte sie nicht. Soeben erst hatte sie sich aus einer unglücklichen Beziehung befreit, jetzt sollte sie sich nicht gleich wieder in etwas hineinstürzen, von dem sie nicht wusste, wie und wann es endete.
„Wo wohnen Sie?“, wollte Saskia wissen. „Ich meine, in welchem Stockwerk?“
„Im dritten, aber mit Aufzug.“
„Das ist gut. Denn das Treppensteigen dürfte Ihnen noch schwerfallen.“
„Auch im Präsidium gibt’s zum Glück Aufzüge“, erwiderte er. „Aber auch das ewige Sitzen am Schreibtisch tut meinem Bein nicht gut.“
„Warum arbeiten Sie schon wieder? Ihr Hausarzt kann Sie immer noch krank schreiben.“
David nahm noch einen Schluck Wein, bevor er ihr antwortete.
„Zu Hause fällt mir nur die Decke auf den Kopf. Arbeiten tut mir gut.“
Saskia bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. War das jetzt nur eine andere Formulierung für depressive Stimmungen? Sollte sie ihn danach fragen? Oder war das zu direkt?
Zwar war sie die Ärztin und er der Patient, aber eigentlich empfand sie das Beisammensein wie ein privates Treffen. Und jetzt kam es ihr so vor, als sei dieses Treffen ein Fehler gewesen. David Schumann könnte es womöglich als Zustimmung werten, einander näherzukommen.
Um ihm diese Hoffnung gleich einmal zu nehmen, schaute sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr.
„Dauert das hier immer so lange?“
„Haben Sie noch etwas vor?“ Sein Gesicht drückte leise Enttäuschung aus.
„Nein, aber zu Hause wartet meine Tochter auf mich.“
Es entstand ein Schweigen. David wusste nicht, was er sagen sollte. Offensichtlich hatte sie Familie. Wieso war er davon ausgegangen, dass diese attraktive Frau allein lebte?
Saskia ergriff die Gelegenheit für ein paar Erklärungen.
„Sie ist vierzehn. Ein ziemlich schwieriges Alter. Mein Mann ist vor sechs Jahren gestorben.“
„Das tut mir leid.“
„Es geschah ganz unerwartet. Das Herz. Ja, manchmal hat das Leben ziemlich schockierende Überraschungen bereit.“
„Dann sind Sie eine alleinerziehende Mutter“, sagte David und versuchte insgeheim ihr Alter einzuschätzen.
Sie wirkte so unglaublich jung, aber wenn ihr Kind schon vierzehn war, dann war sie vielleicht doch älter, als er dachte.
„Ihre Tochter kann sich glücklich schätzen, eine so patente Mama zu haben.“
„Ich bin sehr jung Mutter geworden. Mit achtzehn.“
Eine gewisse Aggressivität lag in ihrem Blick.
„Es war nicht leicht für mich, aber ich habe trotzdem ein gutes Abitur geschafft, mit dem ich sogar Medizin studieren konnte.“
Hoffentlich glaubte sie jetzt nicht, dass er sie ausfragen wollte. Dennoch nahm er ihre Auskünfte zufrieden zur Kenntnis.
„Wenn Sie so reden, spürt man immer was von Ihrem Kampfgeist.“
Aus seiner Bewunderung machte er keinen Hehl. Und er registrierte mit Genugtuung, dass sein Kompliment gut bei ihr ankam, auch wenn sie nicht darauf einging.
„Meine Mutter lebt bei uns und kümmert sich um meine Tochter. Aber wie Großmütter so sind, sie lassen den Enkelkindern viel zu viel durchgehen.“
Saskia seufzte bekümmert. Weiter konnte sie sich nicht über die häusliche Situation auslassen, denn gerade wurden die Teller gebracht, denen wundervoll aromatische Düfte entströmten. Sie wünschten sich einen guten Appetit.
Saskia griff nach dem Besteck. Was hatte sie dazu bewegt, diesem Mann, der ihr doch fremd war, so viel von sich zu erzählen? Das war doch sonst nicht ihre Art.
„Hm, sehr gut“, sagte Saskia nach dem ersten Bissen. „Das Lokal werde ich mir merken.“
David freute sich, dass sie von seiner Einladung nicht enttäuscht war. Anschließend tranken sie noch einen Espresso.
„Und Sie?“, nahm Saskia den Faden wieder auf. Sie genoss die innere friedliche Stimmung, die das gute Essen bewirkte. „Wie leben Sie? Haben Sie Familie?“
„Ich bin allein, und das ist gut so“, erwiderte er, wobei er sich den Anschein eines Optimisten gab. „Das ist für mich die einzige und die beste Lebensform.“
„Ach, wirklich?“ Dieses Bekenntnis wunderte sie.
„Mein Beruf, wissen Sie …“
Sie schaute ihn fragend an.
„Dann sind Sie also der Meinung, dass Kriminalkommissare nicht in Beziehungen leben dürfen?“
Jetzt musste er schmunzeln.
„Doch, natürlich. Aber bei uns hat der Beruf immer Vorrang. Darunter leidet viel zu oft das Familienleben. Ich weiß es von den Kollegen. Fast alle haben Schwierigkeiten in der Ehe. Mit ihren Frauen oder Männern, mit den Kindern …“
„Ach ja?“ Saskia lachte leise. „Das hört sich ja an wie bei den Fernseh-Kommissaren.“
„Als Single zu leben, das passt zu mir“, bekräftigte er seine Ansicht. „Ich muss niemanden fragen, ob ich dies oder jenes jetzt tun darf um halb drei Uhr früh, kann mit meinem Bike lange Touren unternehmen, ohne etwas erklären zu müssen …“
Saskia bedachte ihn mit einem zweifelnden Blick.
„Aber zu Hause wartet auch niemand auf Sie. Niemand nimmt Anteil an Ihren Sorgen. Und niemand steht Ihnen zur Seite, wenn Sie mit Ihrem Motorrad verunglücken.“
Für einen kurzen Augenblick sah er betroffen aus.
„Das stimmt“, musste er ihr beipflichten. „Im Gegenzug mache ich aber auch niemanden unglücklich, wenn ich am Geburtstag erst lange nach Mitternacht todmüde heimkomme.“
Ein seltsames Argument, fand Saskia, doch stand es ausgerechnet ihr zu, ihn wegen seiner Meinung zu kritisieren?
Sie hatte sich ebenfalls dafür entschieden, sich keinem Mann mehr anzuvertrauen. Manfred war nicht der Erste, den sie durch den Tod verloren hatte. Und die schlechte Erfahrung mit Boris steckte ihr immer noch in den Knochen. Tatsächlich ging es ihr nach der Trennung von ihm besser.
„Gehen wir noch irgendwo ein Glas trinken?“ David wäre noch gern ein Weilchen mit ihr zusammengeblieben, doch Saskia schüttelte energisch den Kopf.
„Ich muss jetzt wirklich gehen. Danke für das Essen, Herr Schumann …“
„Warum sagen Sie nicht einfach David zu mir?“
Sie schaute ihn überrascht an.
„Sie sind der erste Mensch seit Langem, mit dem ich mich gut unterhalten habe“, fuhr er fort. „Ihr realistischer Blick auf die Dinge gefällt mir. Ich … ich würde Sie gern wiedersehen.“
„Wie schon gesagt, ich habe viel zu tun. Beruf, Tochter, Mutter, Hausarbeit – da reichen oft die vierundzwanzig Stunden nicht, um all das zu erledigen, was ich mir vornehme.“
„Okay“, sagte er und versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. „Ich habe verstanden und will Sie nicht weiter drängen. Aber für alle Fälle gebe ich Ihnen meine Karte. Wir können ja mal telefonieren.“
Wortlos steckte Saskia die Karte ein. Als sie sich an der Rechnung beteiligen wollte, protestierte er energisch.
„Nichts da, ich habe Sie eingeladen. Aber wenn Sie sich irgendwann revanchieren möchten, würde es mir eine Freude sein.“
Sie verließen gemeinsam das Lokal. Saskia hatte schon ein Taxi bestellt. David, der nicht weit entfernt wohnte, machte sich zu Fuß auf den Heimweg.
„Gehen Sie langsam!“, rief sie ihm nach. „Übrigens, ich heiße Saskia.“
Er blieb stehen und wandte sich um.
„Weiß ich doch!“, sagte er und winkte ihr zu. In diesem Moment hielt der Wagen neben ihr. Sie stieg ein.
David schaute den roten Rücklichtern so lange nach, bis sie außer Sicht waren.
***
„Gibt es Neuigkeiten im Verein?“, fragte Julia ihren Sohn.
Chris hatte seine Angina überwunden und nahm inzwischen wieder am Training teil. Er wusste nicht sofort, worauf seine Mutter hinauswollte.
„Was meinst du?“
„Na, wegen dieser Sache mit dem Trainer und dem minderjährigen Mädchen.“
„Ach, du meinst den Boris Zöllner. Das soll geklärt sein. Die Melanie hat ihre Anschuldigung zurückgenommen. Seinen Job ist er trotzdem los. Er war ein guter Trainer, sagen die Mädchen. Ich denke, er wird schon bald was anderes finden.“
„Es gibt leider Menschen, die ihre Positionen ausnutzen und sexuelle Handlungen an Minderjährigen vornehmen, besonders auch dann, wenn die von ihnen abhängig sind. Aber auch umgekehrt passiert es, dass es zu falschen Anschuldigungen kommt, aus welchem Grund auch immer“, meinte Julia nachdenklich. „Dann muss ein Gericht versuchen, die Wahrheit herauszufinden. Was für alle Beteiligten nicht angenehm ist. Auch wenn sich herausstellt, dass die Vorwürfe erfunden sind, wird der oder die Betroffene sie oft nicht mehr los.“
„Vielleicht wollte sich Melanie rächen, weil sie nur noch auf der Reservebank saß“, meinte Chris und zog die Schultern hoch. Eigentlich interessierte ihn dieses Thema nicht besonders. „Sie hat viel zu viele Trainingsstunden geschwänzt. Klar, dass der Trainer sie dann bei wichtigen Spielen nicht eingesetzt hat.“
Mutter und Sohn standen in der Diele des Hauses. Chris hatte sein Sporttasche schon gepackt.
„Ich mache mich jetzt auf den Weg, bis später.“
„Einen Moment noch!“ Julias Hand legte sich auf die Schulter ihres Sohnes, der im letzten Jahr noch ordentlich gewachsen war. „Wenn dir mal so etwas passieren sollte, dann wirst du uns sofort informieren. Versprichst du mir das?“
„Aber ja, Mama, mach dir um mich keine Sorgen. Ich kann sehr gut zwischen echter Freundschaft und Zudringlichkeit unterscheiden.“
„Dann bin ich zufrieden.“ Julia musterte ihn liebevoll. Zarter Flaum wuchs schon auf seiner Oberlippe. „Bist du zum Abendbrot zurück?“
„Ich denke schon, aber wenn es später wird, wartet nicht auf mich, ich mach mir dann ein Brot.“
„Du kannst ja noch anrufen“, schlug Julia vor und drückte ihrem Jungen einen Kuss aufs Kinn. „Und wenn ihr euer großes Spiel habt, dann kommt die ganze Familie zum Anfeuern.“
Chris trat hinaus ins Freie. Den ganzen Tag war es trocken, aber kalt gewesen. Geschmeidig schwang er sich aufs Rad.
„Fahr vorsichtig!“, rief seine Mutter ihm nach, bevor sie ins Haus zurückging.
Drinnen herrschte Stille. Julia ging in die Küche. Ihr stand der Sinn nach einer Tasse Tee. Sie setzte Wasser auf und schaute während des Wartens durchs Küchenfenster auf die Straße.
Die Nachbarin ging mit ihrem frechen kleinen Hund vorbei, gegenüber hielt ein Paketauto, ansonsten war auch draußen nichts los. Die Holls lebten in einer ruhigen Gegend.
Warum fiel ihr ausgerechnet heute so deutlich auf, wie es sich anfühlte, wenn alle ausgeflogen waren? Juju spielte in einer Theatergruppe ihrer Schule mit. Sie hatte heute Probe. Die Zwillinge saßen in irgendwelchen Vorlesungen oder Seminaren. Stefan hatte noch bis zum frühen Abend in der Klinik zu tun, vielleicht sogar länger. Und Cäcilie besuchte heute an ihrem freien Tag eine Nichte in Gröbenzell.
Mit der Tasse in der Hand ging Julia ins Wohnzimmer. Wie würde es sein, wenn die Kinder nicht mehr zu Hause wohnten und sie und Stefan eines Tages allein hier lebten?
In der Küche klingelte das Telefon. Julia stellte die Tasse ab und stand auf. Das Handy lag auf der Arbeitsplatte. Es war Stefan. Sie meldete sich.
„Was gibt’s?“
„Eigentlich nichts Besonderes“, sagte ihr Mann. „Ich wollte nur mal hören, wie es dir geht.“
Eine warme Welle der Zuneigung durchflutete sie. Auch nach langen Ehejahren waren sie einander eng verbunden, vielleicht sogar noch inniger.
„Dein Anruf kommt gerade richtig“, sagte sie. „Ich habe gerade darüber nachgedacht, ob wir das Haus verkaufen, wenn die Kinder nicht mehr bei uns sind. Vielleicht sollten wir uns ein hochseetüchtiges Boot kaufen und damit ein paar Jahre lang über die Meere schippern. Was meinst du?“
Am anderen Ende blieb es verdächtig still.
„Schatz, hast du was getrunken?“, erkundigte sich der Chefarzt vorsichtig.
„Ja, einen Tee“, meinte Julia lachend. „Nur Tee, ohne alkoholische Aufbesserung. Dabei befielen mich ein paar wehmütige Gedanken. Und da ich ganz allein bin, kam mir das Haus viel größer vor als sonst …“
„Ich rufe an, weil ich eigentlich für heute meinen Dienst beenden und fragen wollte, ob wir uns irgendwo in der Stadt treffen könnten. Wir gehen in unser Lieblingscafé. Oder auch ins Kino, wenn es was gibt, was uns gefällt.“
„Eine grandiose Idee!“, rief Julia begeistert aus. „Wir treffen uns am Marienplatz.“
Das Ehepaar Holl erlebte ein paar unbeschwerte Stunden in der Münchener City. Extra für die beiden schob die Märzsonne die letzten Wolken beiseite und tauchte die Stadt in ein freundliches Licht. Am Arm ihres Mannes vergaß Julia ihre trüben Überlegungen, sie fühle sich unbeschwert – und geliebt.
Als sie kurz nach zwanzig Uhr wieder ihr Zuhause erreichten, wurden sie von ihren erstaunten Kindern mit ganz unterschiedlichen Bemerkungen empfangen.
„Ich habe Hunger“, sagte Chris.