Die besten Ärzte - Sammelband 40 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 40 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1805: Herz im Dornröschenschlaf
Notärztin Andrea Bergen 1284: Am Ziel ihrer Wünsche
Dr. Stefan Frank 2238: Meine Zukunft gehört dir!
Dr. Karsten Fabian 181: Unser Glück hat eine gute Fee
Der Notarzt 287: Inas verzweifelter Kampf

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
Jetzt herunterladen und sofort sparen und lesen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 602

Veröffentlichungsjahr: 2022

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BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2014/2015/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covermotiv: © Gyorgy Barna / Shutterstock

ISBN 978-3-7517-2946-8

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 40

Cover

Copyright

Contents

Chefarzt Dr. Holl 1805

Herz im Dornröschenschlaf

Die Notärztin 1284

Am Ziel all ihrer Wünsche

Dr. Stefan Frank 2238

Meine Zukunft gehört dir!

Dr. Karsten Fabian - Folge 181

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Unser Glück hat eine gute Fee

Der Notarzt 287

Inas verzweifelter Kampf

Guide

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Contents

Herz im Dornröschenschlaf

Eine der ergreifendsten Liebesgeschichten aus der Berling-Klinik

Von Katrin Kastell

Noch mal Glück im Unglück hat Valentina Wiesner, denn ihr Zusammenbruch passiert genau vor der Tür von Dr. Milan Benson. Der Arzt handelt schnell und lässt sie sofort in die Berling-Klinik einweisen. Die junge Frau leidet an einer Entzündung des Herzbeutels, für die wahrscheinlich ein verschleppter grippaler Infekt verantwortlich ist. Das hat Valentina gerade noch gefehlt! In ihrem Leben läuft es auch so schon nicht rund.

Vermutlich ist ihre schlechte psychische Verfassung auch der Grund, warum die Therapie nicht so anschlägt, wie Chefarzt Dr. Holl und seine Kollegen es sich erhoffen. Valentina blendet die Realität kurzerhand aus. Sie dämmert fast den ganzen Tag in einer Art Halbschlaf vor sich hin und versinkt immer tiefer in ihre Traumwelt …

Milan Benson legte das Handy neben sein Notebook. Soeben hatte er mit seiner Tochter telefoniert, die darauf gedrängt hatte, dass er sie endlich abholte.

„Bitte, Papa. Wie lange muss ich denn noch bei Opa und Oma bleiben?“

„Gefällt es dir nicht bei den beiden?“

„Doch“, hatte sie gewispert. „Aber viel lieber bin ich doch bei dir.“

Ihre Worte freuten ihn. Manchmal befürchtete er, dass zwischen ihm und seinem Kind eine Entfremdung eintreten könnte, wenn es den größten Teil der Woche bei den Großeltern blieb. Aber der wechselnde Dienst in der Berling-Klinik erlaubte ihm nicht, sich so um Leonie zu kümmern, wie es nötig gewesen wäre. Sie war erst sieben Jahre alt und konnte nicht allein im Haus bleiben.

Natürlich fühlte sich Leonie bei seinen Schwiegereltern vor allem deshalb so wohl, weil sie dort in hohem Maße verwöhnt wurde. Das gefiel seiner Tochter sehr gut, ihm hingegen weniger.

Er fand, dass Erich und Charlotte es mit ihren materiellen Zuwendungen an das Kind oft übertrieben. Leonie brauchte nur einen Wunsch zu äußern, schon wurde er ihr erfüllt.

Das war ihm nicht recht, aber er sah auch keinen Anlass, deswegen mit den beiden zu streiten. Auch wenn es manchmal diffuse Missstimmungen gab, so war er ihnen doch von Herzen dankbar, dass sie sich so hingebungsvoll um ihre einzige Enkelin kümmerten.

Und wenn sie dabei manchmal etwas übers Ziel hinausschießen, ist das eigentlich nichts Schlimmes, dachte er in einem Anflug von Gelassenheit.

Er klappte das Notebook zu, stand auf und warf einen Blick aus dem Fenster. Der Regen hatte zwar aufgehört, doch die wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch die Wolken kämpften, gaben bald wieder auf und beließen es bei dem trüben Tag.

Milan freute sich auf das vor ihm liegende Wochenende mit seinem Kind. Noch war nichts geplant, aber er hatte schon ein paar Vorschläge für Leonie. Und sie sollte sich auch etwas überlegen. Erst am Montag würde er sie wieder zu den Großeltern zurückbringen.

Seit dem Tod seiner Frau vor vier Jahren war er nun mit Unterstützung seiner Schwiegereltern alleinerziehender Vater. Als er noch mit Leonie in Kiel lebte, hatte er es mit mehreren Kinderfrauen versucht, aber fast alle scheiterten an der Widerspenstigkeit seiner Tochter und gaben schnell wieder auf.

Als er dann ein gutes Angebot von der Münchner Berling-Klinik bekam und auch gleich eine passende Wohnung in Schwabing-West, zögerte er nicht lange und wechselte nach München. Seine Schwiegereltern waren sofort einverstanden, Milan bei der Betreuung des Kindes zu unterstützen.

Nun ging die Siebenjährige bereits seit einem halben Jahr in München zur Schule. Sie lernte leicht und schnell. Und ebenso schnell bekam ihre Sprache eine bayrische Färbung.

Ganz im Gegensatz zu ihm fand sie schnell Anschluss in ihrer neuen Umgebung. Voller Enthusiasmus erzählte sie von ihren Freundinnen Chiara und Frieda, aber auch ein gewisser Philipp wurde öfter erwähnt.

Milan war beruhigt und zufrieden, dass es seiner Kleinen gut ging. Er selbst hingegen befand sich oft in einer Stimmung, die er bei sich als trüb definierte. Doch er wollte keine Gedanken an diesen Zustand verschwenden.

Zurzeit befand er sich in keiner angenehmen Lebensphase, aber er hatte sich daran gewöhnt. Seit Karinas Tod gab es für ihn nur noch den Beruf und seine Tochter, der Rest des Lebens fand für ihn einfach nicht statt.

Die Türklingel holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Er musste los. Leonie würde mit ihm schimpfen, wenn sie lange warten musste. Er nahm den Autoschlüssel vom Haken, warf sich eine Jacke über und öffnete die Tür.

Zu seiner Überraschung stand draußen vor der Tür eine ihm unbekannte Person, die mit sichtlicher Mühe ein Lächeln in ihr Gesicht zauberte.

„Grüß Gott, Herr Benson“, begann sie mit heiserer Stimme. „Meine Name ist Valentina Wiesner. Ich komme von der Firma München-Marketing. Mit unserer Umfrage möchten wir herausfinden, wie die Bürger zu der neuen Verkehrsstraße stehen, die von …“

„Tut mir leid, ich habe überhaupt keine Zeit.“ Dr. Milan Benson zog die Tür hinter sich zu. „Befragen Sie bitte die anderen Hausbewohner.“

„Sie sind der Erste, der mir öffnet …“

Ein deutliches Schwanken in ihrer Stimme veranlasste Milan, innezuhalten und die schmale Frau mit den zusammengebundenen Haaren genauer anzusehen. Ihre Kleidung erschien ihm tadellos. Vor ihm stand eine junge Frau, schlank, groß und sehr bleich, mit fiebrig glänzenden Augen. Sie machte alles andere als einen gesunden Eindruck. Die Hand mit den gepflegten Fingernägeln hielt ein Klemmbrett und einen Kugelschreiber.

„Ich kann Ihnen leider nicht helfen, weil ich in großer Eile bin. Haben Sie es schon in der Nachbarschaft versucht?“

Sein Kind wartete sehnsüchtig auf ihn. Leonie nicht zu enttäuschen war jetzt entschieden wichtiger, als sich bei einer Fremden als Samariter hervorzutun und sie zu befragen, was mit ihr nicht in Ordnung sei.

Ihre Augen blickten ihn nicht mehr an, sondern starr an ihm vorbei. Ein verwundertes Stöhnen drängte sich über ihre Lippen. Sie schwankte. Hilfe suchend griff ihre Hand nach dem Treppengeländer, verfehlte es aber.

Milan reagierte schnell und fing sie auf, bevor sie zusammenbrach. Für eine Weile hing sie schlaff in seinen Armen. Was sollte er tun? Wenn er seine Wohnungstür wieder aufschließen wollte, musste er sie auf dem Fußboden absetzen. Am besten ging das, indem er sie gegen die Wand lehnte.

Sie kam wieder zu sich und stemmte sich mit seiner Hilfe hoch. Milan tastete nach seinem Handy.

„Was ist los mit Ihnen?“

„Es geht schon“, sagte sie mit dünner Stimme.

Sollte er sie loslassen? Er lockerte seinen Griff. Sie machte immer noch einen unsicheren Eindruck. Oder war das Ganze überhaupt nur ein abgekartetes Spiel, um auf diesem Weg in seine Wohnung zu gelangen? Hatte er es vielleicht sogar mit einer Trickbetrügerin zu tun?

„Sie müssen in ärztliche Behandlung“, erklärte er, zückte sein Mobiltelefon und gab die Notrufnummer ein.

„Nein, bitte nicht, es ist nichts, es geht mir gut …“

Kaum hatte sie die letzten Worte gehaucht, sackte sie erneut in sich zusammen.

Er scherte sich nicht um ihre Weigerung und rief die Kollegen vom Notdienst, schilderte kurz den Vorfall und schloss dann seine Wohnungstür wieder auf.

Die Bewusstlosigkeit der jungen Frau war echt und nicht vorgetäuscht. Er nahm sie auf seine Arme, registrierte verwundert, dass sie trotz ihrer Größe federleicht war, und trug sie hinein auf die Couch im Wohnzimmer.

Dort tastete er nach dem kaum spürbaren Puls und maß den Blutdruck, dessen Werte sich im Keller befanden.

Endlich schlug sie die Augen wieder auf.

„Was ist passiert?“, murmelte sie.

„Sie sind vor meiner Tür zusammengeklappt“, antwortete er. „Haben Sie Schmerzen oder Krämpfe? Magenprobleme?“

„Weiß nicht … mir war übel … was Falsches gegessen …“

„Das muss in der Klinik abgeklärt werden“, sagte er.

„Ich kann nicht in die Klinik, unmöglich. Ich …“

„Hören Sie mal, Sie haben einen Kreislaufschock. Damit können Sie keine drei Schritte laufen. Wollen Sie auf der Straße zusammenbrechen und von einem Auto überfahren werden? Also keine Widerrede.“

Sie seufzte bekümmert, schien nun aber einzusehen, dass sie sich seinen Anordnungen fügen musste.

„Wie alt sind Sie?“

„Fünfundzwanzig“, hauchte sie.

Milan betrachtete sie nachdenklich. Womöglich waren Durchblutungsstörungen die Ursache für ihren Zustand, vielleicht sogar ein Herzinfarkt? Aber bei einer so jungen Frau? Eher abwegig, dachte er. Das sollten die Internisten herausfinden. Er hatte jetzt zwei Tage frei und musste sich um seine Tochter kümmern.

Zehn Minuten später traf der Notarzt ein. Die Patientin wurde versorgt und transportfähig gemacht und in den Krankenwagen getragen.

„Sie werden in die Berling-Klinik gebracht. Weil ich selbst dort arbeite, weiß ich, dass Sie bei meinen Kollegen in den besten Händen sind.“

„Bitte kommen Sie mit!“ Fast flehentlich streckte sie eine Hand nach ihm aus und bekam zwei seiner Finger zu fassen, die sie nicht mehr losließ.

Auch wenn ihn ihr Vertrauen rührte, dachte er nicht daran, ihr diesen Wunsch zu erfüllen.

„Tut mir leid, das geht nicht. Sie müssen sich keine Sorgen machen. In der Berling-Klinik sind Sie in den besten Händen. Ich schaue später nach Ihnen“, versprach er, obwohl er wusste, dass er nicht vor Montag wieder dort sein würde. „Es wird alles gut.“

Sie widersprach nicht mehr, sondern fügte sich mit geschlossenen Augen in ihr Schicksal. Milan schaute dem davonfahrenden Wagen nach, dann machte er sich auf den Weg zu den Schwiegereltern.

***

Eigentlich hätte Chefarzt Dr. Holl jetzt gar nicht mehr hier sein sollen, aber da er noch einen Artikel über pränatale Eingriffe fertigstellen musste, schien ihm sein Büro an diesem frühen Samstagnachmittag der ideale Ort dafür zu sein.

Zu Hause waren nämlich alle damit beschäftigt, eine Party vorzubereiten. Und da er sich bei dem Gewusel kaum konzentrieren konnte, hatte er sich kurzerhand in die Klinik verabschiedet. Nicht ohne Jujus Ermahnung zu beherzigen, nur ja pünktlich zum Partybeginn wieder da zu sein.

Juju, seine jüngste Tochter, war auch die Gastgeberin. Sie hatte sich mit ihrer Klasse aktiv für ein Experiment eingesetzt, in dem die Schüler herausfinden wollten, welche Probleme alte Menschen im Alltag bewältigen mussten und wie man ihnen dabei helfen konnte.

Einige aus der Klasse hatten etliche Stunden im Altersheim verbracht. Viele der Heimbewohner waren sehr interessiert daran, von den Schülern den Umgang mit Smartphone und Computern zu lernen. Und die Jungen brachten es den Alten mit Feuereifer bei.

Gemeinsam mit ihrem Lehrer wurde ein Kurs entwickelt, ebenso ein Glossar für die technischen Begriffe. Dieser Einsatz fand ein großes Echo. Die Zeitungen und ein regionaler Fernsehsender berichteten darüber. Und zur freudigen Überraschung aller gab es für die Schule eine Auszeichnung, verbunden mit einer Geldprämie. Nun sollte diese Preisverleihung noch mal privat im Hause Holl gefeiert werden. Alle Kinder aus Jujus Gruppe und deren Eltern würden kommen.

Die elfjährige Juju war die Jüngste der Viererbande der Holl-Kinder. Die Zwillinge studierten bereits, Dani Biologie und Marc Medizin. Es galt als ausgemacht, dass er in die Fußstapfen von Vater Stefan und Großvater Walter Berling treten würde. Der mittlere Sohn Chris, fünfzehn Jahre alt, hatte ein Schultief überwunden und gab seinen Eltern jetzt wieder Grund zur Freude.

Dr. Holl warf einen Blick auf die Uhr. In einer Stunde musste er fertig sein, denn selbstverständlich erwartete Juju, dass ihr heiß geliebter Papa mitfeierte und von Anfang an dabei war.

Er schaute auf den fertigen Text und besserte ihn noch an drei Stellen aus, was wieder eine gewisse Zeit in Anspruch nahm. Doch nun konnte er endlich aufbrechen, schob ein paar Blätter in seine Aktenmappe und schaltete den Computer aus.

Doch bevor er die Tür erreichte, klopfte es kurz, und Dr. Donat steckte seinen Kopf herein.

„Gut, dass ich Sie noch erwische, Herr Chefarzt. Man sagte mir, dass Sie im Hause sind. Wir haben gerade eine junge Frau in der Notaufnahme. Bitte kommen Sie, um einen Blick auf sie zu werfen.“

Dr. Holl legte seine Mappe auf den Schreibtisch zurück.

„Was ist passiert?“

„Sie ist zusammengebrochen und hat kurz das Bewusstsein verloren.“

Dr. Peter Donat gab eine Zusammenfassung des bisherigen Befundes. Die Patientin hatte über eine starke Grippe berichtet, die angeblich ausgeheilt sei. Aber seit einiger Zeit verspürte sie einen scharfen Schmerz hinter dem Brustbein.

„Außerdem Atemnot und Schwindelgefühl. Heute dann das Kreislaufversagen. Der Kollege Benson hat die Einweisung veranlasst.“

Dr. Holl warf dem Assistenten einen fragenden Blick zu.

„Die genauen Zusammenhänge weiß ich nicht. Jedenfalls war es im Stiegenhaus vor seiner Wohnungstür, als sie zusammenklappte.“

„Schauen wir sie uns an“, sagte Stefan. Unterwegs zur Notaufnahme gab Dr. Donat dem Chefarzt weitere Informationen.

Dr. Holl stellte sich der Patientin vor und befragte sie eingehend nach ihrer bisherigen Krankengeschichte. Beim Abhorchen der Brust vernahm er das typische Geräusch einer Perikarditis, die im Herz von der Reibung der entzündlich veränderten Blätter des Herzbeutels verursacht wurde. Er ließ sich detailliert die Schmerzen schildern.

„Es war nur ein kleiner Schwächeanfall“, sagte die junge Frau. Dass ihr das Sprechen schwerfiel, konnte sie nicht verheimlichen. „Ich habe heute Morgen vergessen, zu frühstücken …“

Dr. Holl bedachte die Patientin mit einem freundlichen Blick. Natürlich erkannte er als erfahrener Arzt, dass sie sich selbst beruhigen wollte, doch Vermutungen halfen jetzt nicht weiter.

„Möglich, dass Sie dehydriert waren. Wir werden es herausfinden. Wie steht es mit Fieber und Schwitzen? Haben Sie in den letzten Tagen eine Leistungsabnahme festgestellt, die Sie sich nicht erklären konnten?“

Die junge Frau überlegte.

„Ja, kann schon sein. Aber ich fühle mich schon wieder ganz gut. Bitte, schreiben Sie mir nur ein wirksames Medikament auf“, bat sie leise. „Dann geht es schon wieder. Ich werde mich übers Wochenende schonen. Am Montag bin ich dann wieder auf den Beinen.“

„Es tut mir leid, Frau Wiesner, aber Sie müssen unbedingt hierbleiben“, sagte Dr. Holl und lächelte milde. „Schon die erste Untersuchung ergibt, dass mit Ihrem Herzen etwas nicht in Ordnung ist. Womöglich haben wir es mit einer Herzbeutelentzündung als Folge einer unbehandelten Lungenentzündung zu tun. Genau wissen wir das zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, aber die Symptome sprechen dafür. Mit diesem Krankheitsbild ist nicht zu spaßen. Sie können jetzt nicht gehen.“

Da womöglich eine Flüssigkeitszunahme im Herzbeutel die Herzfüllung gefährlich behindern konnte, wäre eine Entlastungspunktion nötig, aber diese Maßnahmen jetzt schon anzusprechen würde sie nur unnötig belasten. Erst einmal musste eine genaue Diagnose gestellt werden.

„Dieses Reibegeräusch am Herzen muss abgeklärt werden“, fuhr er fort, nachdem die junge Frau keine Einwände erhob. „Zunächst machen wir ein EKG und einen Herz-Ultraschall. Röntgenaufnahmen des Brustkorbes und je nach Ergebnis eine Computertomografie und eine Kardio-Magnetresonanz-Tomografie werden vermutlich folgen müssen.“

„Dann ist es also etwas Ernstes“, sagte sie mit piepsiger Stimme.

„Sie sind bei uns in guten Händen“, versuchte Dr. Holl sie zu beruhigen.

„Ja, das habe ich heute schon mal gehört.“

„Schwester Marion nimmt Ihnen jetzt Blut ab, für die nötigen Laboruntersuchungen. Und dann sehen wir weiter.“

Dr. Holl tätschelte ihre freie Hand, auf der anderen befand sich bereits eine Verweilkanüle. Eigentlich wollte er noch hinzufügen, dass sie schon viel eher ärztliche Hilfe gebraucht hätte, aber Stefan unterließ diesen Hinweis. Es war wie es war, das Geschehene ließ sich nicht mehr ändern.

„Unser Kollege Benson hat genau das Richtige getan. Sind Sie mit ihm bekannt?“

Ganz leicht bewegte sie den Kopf hin und her.

„Nein. Es tut mir leid, dass ich ihm so viele Umstände gemacht habe.“

„Aber ich bitte Sie, wir sind als Ärzte doch dazu da, unseren Mitmenschen zu helfen. Wir beginnen jetzt mit den Untersuchungen. Und später besprechen wir dann das Ergebnis.“

Eine halbe Stunde später rief er den Kollegen an, um sich den Vorfall schildern zu lassen.

„Nein, ich kenne die Frau nicht“, berichtete Milan. „Sie stand bei mir vor der Tür und wollte mich wegen irgendwas befragen. Und dann sackte sie plötzlich weg. Haben Sie schon erste Befunde?“

„Ganz sicher eine Perikarditis, womöglich auch eine Herzbeuteltamponade. Die Diagnose ist angeworfen. Bald wissen wir mehr.“

***

„Wer war das, Papa?“, erkundigte sich seine Tochter nach dem Ende des Gesprächs.

„Das war Chefarzt Dr. Holl. Wir hatten etwas Fachliches zu besprechen.“

„Was ist ein Chefarzt?“ Immer wieder trat Leonie mit den Füßen gegen die Rücklehne des Beifahrersitzes. Sie langweilte sich auf der Rückbank. Viel lieber hätte sie neben ihrem Papa gesessen, aber weil sie angeblich noch zu klein war, erlaubte er das nicht.

„Das ist so etwas Ähnliches wie ein Indianerhäuptling. Der Chefarzt gibt die Richtung vor und leitet die Firma, die in unserem Fall ein Krankenhaus ist. Du warst doch schon mal dort und hast dir alles angeschaut.“

„Warum bist du kein Chefarzt?“

„Das kann ja noch kommen, mein Schatz. Solche Positionen muss man sich erarbeiten. Meistens ist der Chefarzt schon etwas älter.“

„Aber du bist doch vierunddreißig und auch schon alt“, fasste seine kluge Tochter zusammen.

Milan grinste in den Rückspiegel.

„Das kommt immer auf die Relation an.“

„Was ist eine Relation?“

„Ich bin ja gerade dabei, es dir zu erklären, also unterbrich mich nicht. In Relation zu dir bin ich alt, in Relation zum Opa bin ich noch jung.“

„Hm.“

„Hast du dir denn gemerkt, wie alt der Opa ist?“

„Fünfundsiebzig“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

„Stimmt genau.“

„Ist er nun sehr alt?“

„Kommt drauf an. Manche Menschen werden hundert. Wenn Oma und Opa ein solches Alter erreichen, dann sind sie jetzt noch relativ jung.“

Das Trampeln mit den Füßen wurde heftiger.

„Bitte hör auf damit, ich muss mich auf den Verkehr konzentrieren. Du machst mich ganz nervös mit der Trampelei.“

„Oma und Opa sterben dann mit hundert?“

„Oje, dieses Kind!“ Milan stöhnte auf, was seiner Tochter ein triumphierendes Kichern entlockte. „Das kann man so nicht sagen. Der Mensch stirbt dann, wenn seine Zeit gekommen ist.“

„Und die Mama?“

„Mama hatte einen Unfall. Daran ist sie gestorben. Nur wenige Menschen sterben in diesem Alter, aber manchmal passieren eben solche schlimmen Dinge im Leben.“

„Hätte sie auch alt werden können?“

„Kann gut sein, ich hätte es mir gewünscht, aber das werden wir nie mehr wissen.“

„Die Oma hat gesagt, du hättest besser auf sie aufpassen sollen, und der Opa hat deswegen mit ihr geschimpft.“

Milan holte tief Luft. Da er seiner Tochter kein schlechtes Beispiel geben wollte, riss er sich zusammen und unterdrückte einen Fluch. Aber bei nächster Gelegenheit musste er ein ernstes Wort mit seiner Schwiegermutter reden. Es ging einfach nicht, dass sie dem Kind solche Sachen sagte, zumal sie von den Details des Unfalls ja gar nichts wusste.

Die näheren Umstände kannte nur er. Und im Unfallbericht der Polizei waren sie aufgeführt. Doch er dachte gar nicht daran, seine Schwiegereltern darüber aufzuklären, was wirklich geschehen war. Er selbst hatte auch erst nach und nach die bittere Wahrheit erfahren müssen und sie tief in seinem Herzen verschlossen.

„Manchmal passieren Dinge im Leben, gegen die man machtlos ist“, sagte er nach einer längeren Pause. Seine Stimme klang gepresst, aber das schien Leonie nicht aufzufallen. „Jetzt erzähl doch mal, was ihr in den letzten Tagen so gemacht habt.“

Seine Hoffnung, damit Leonie von einem Thema abzulenken, das ihm heute noch gelegentlich Albträume bescherte, erfüllte sich. Seine Tochter griff seinen Vorschlag auf, erzählte von Einkäufen mit Oma im Supermarkt und einem Besuch mit den Großeltern im Zoo. Leider hatte es zu regnen begonnen, weshalb sie ins Restaurant gingen, wo Leonie ein Würstchen aß. Leider ohne Pommes frites, weil Oma sagte, die seien ungesund.

„Die Tiere laufen ja nicht weg“, meinte sie. „Die können wir beim nächsten Mal immer noch sehen.“

Milan schmunzelte in sich hinein. Typisch seine Tochter. Solche Dinge betrachtete sie mit einem ausgeprägten Sinn fürs Praktische.

Er bog in die Straße ein, in der sie wohnten, und fuhr die Einfahrt zur Tiefgarage hinunter. Zum Abendessen machte er für beide belegte Brote. Und weil Leonie morgen nicht zur Schule musste, schauten sie sich noch einen lustigen Trickfilm auf DVD an.

Später dann, als er sie ins Bett brachte und ihr süße Träume wünschte, legte sie die Hände um seinen Hals und gab ihm einen Kuss.

„Wenn du erst mal Chefarzt bist, muss ich dann nicht mehr so oft zu Opa und Oma und kann immer bei dir bleiben?“

„Gefällt es dir denn nicht bei den beiden?“

„Doch, aber warum können wir nicht alle zusammen wohnen? Dann brauchst du auch nicht mehr so viel hin- und herzufahren.“

Ein ähnliches Argument hatte er schon von den Schwiegereltern gehört. In deren Haus gab es zwei ungenutzte Räume, aber auch wenn es praktischer gewesen wäre, wollte er nicht mit ihnen unter einem Dach leben. Da seine Schwiegermutter zum Nörgeln neigte, würde es öfter als nötig Streit geben. Streit, der sich durch die nötige Distanz vermeiden ließ.

„Oma und Opa haben ihr eigenes Leben und wir unseres. Die Gewohnheiten sind verschieden, und darum passen sie nicht zusammen, verstehst du das?“

„Nein.“

„Oma und Opa müssen nicht mehr arbeiten. Sie leben von ihrer Rente und können den ganzen Tag das tun, was sie wollen. Ich aber muss zu unterschiedlichen Zeiten in die Klinik. Da die Menschen zu jeder Tageszeit krank werden, kann ich auch nicht immer pünktlich Schluss machen. Das ist der Grund, warum du so oft bei ihnen sein musst. Oder wir suchen wieder nach einer Kinderfrau …“

„Och nein“, murmelte Leonie. Die Lider über den blauen Kinderaugen schlossen sich.

„Schlaf gut, mein Liebling“, flüsterte er und verließ leise das Schlafzimmer seiner Tochter.

Milan freute sich auf den morgigen Tag mit ihr. Einen Plan, wie sie ihn verbringen wollten, hatte er noch nicht, aber er wusste ziemlich sicher, dass Leonie ihm gewiss viele Vorschläge präsentieren würde. Ihre Fantasie war grenzenlos.

Im Wohnzimmer nahm er ein Buch zur Hand und legte es wieder weg. Nach einem Blick auf die Uhr rief er in der Berling-Klinik an, um sich nach der jungen Frau zu erkundigen.

Er erwischte den Kollegen Donat gerade, als der das Haus verlassen wollte.

„Wahrscheinlich eine Herzbeutelentzündung“, meinte er. „Aber noch liegen nicht alle Befunde vor.“

„Sind die Angehörigen schon benachrichtigt worden?“

„Schwester Marion hat das erledigt, soviel ich weiß.“

„Danke, Herr Donat. Wir sehen uns am Montag. Bis dahin also.“

Eine Herzbeutelentzündung. Milan stand auf und ging ein paar Schritte hin und her. Eine Perikarditis konnte sowohl isoliert, aber auch im Rahmen verschiedenster Grunderkrankungen auftreten. Aber es war nicht einfach, eine Ursache zu finden, da etliche Möglichkeiten in Betracht kamen. Sowohl infektiöse Erkrankungen, hervorgerufen durch Viren oder auch Bakterien, konnten infrage kommen. Auch erkrankte Organe in der Nachbarschaft des Herzens konnten für die entzündliche Reaktion des Herzbeutels verantwortlich sein.

Warum mache ich mir eigentlich solche Gedanken um die Unbekannte, nur weil es vor meiner Wohnungstür passiert ist? Sollte sie aus gegebenem Anlass auf seinem OP-Tisch landen, würde er sie nach allen Regeln der Kunst operieren. Anderenfalls blieb es den Kollegen überlassen, die internistischen Probleme zu klären und zu behandeln. Er beschloss, sich nicht weiter um diese Patientin zu kümmern, die rein zufällig in sein Leben getreten war.

Kurz vor Mitternacht schaute er noch mal leise nach Leonie und lauschte einige Sekunden lang den gleichmäßigen Atemzügen seines Kindes. Dann ging er beruhigt zu Bett, aber bis er selbst in den Schlaf fand, verging fast noch eine ganze Stunde.

***

Schwester Marion beugte sich über die Patientin.

„Frau Wiesner, ich habe Ihren Freund benachrichtigt.“

„Danke“, erwiderte Valentina matt. Sie hätte es schon selbst getan, wenn sie nicht ihr Handy zu Hause vergessen hätte.

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“ Marion tastete nach dem Puls der jungen Frau. Er war in Ordnung.

Zurzeit bekam Valentina Wiesner Schmerz- und Sedierungsmedikamente. Ob die medikamentöse Therapie allein ausreichte, war nach Aussage von Dr. Donat fraglich.

„Am Nachmittag kommt Dr. Holl und wird Sie über die bisherigen Befunde informieren“, stellte Marion der Kranken in Aussicht.

Als Valentina wieder allein war, überlegte sie, ob sie einfach gehen sollte. Wenn sie sich vorsah, würde es niemand bemerken. Das zweite Bett im Zimmer war leer, die Gelegenheit also günstig. Sie wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass man hier gesundheitliche Defizite über sie herausfand, von denen sie eigentlich gar nichts wissen wollte. Krankenhäuser lösten in ihr einen diffusen Widerwillen aus, sie hätte aber nicht zu sagen gewusst, warum.

Schließlich entschied sie sich, vernünftig zu sein und das Gespräch mit Dr. Holl abzuwarten. Als er dann ihr Zimmer betrat und sie einen Blick aus seinen Augen auffing, empfand sie ihre Lage schon nicht mehr ganz so dramatisch. Dieser Mann strahlte Zuversicht aus, die sich auf sie übertrug, obwohl sie noch kein Wort gewechselt hatten.

„Wie geht es Ihnen?“ Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

„Ich habe schon daran gedacht, einfach zu gehen“, gestand sie.

„Das kann ich verstehen“, erwiderte Stefan. „Der Schreck sitzt Ihnen immer noch in den Knochen, nicht wahr? Sie sind scheinbar grundlos umgefallen. Und das macht Ihnen immer noch zu schaffen. Aber es ist gut, dass Sie keinen Fluchtversuch unternommen haben. Es ist wichtig, dass Sie sich behandeln lassen.“

„Was geschieht denn nun?“

„Erst einmal warten wir ab, was die Medikamente bewirken. Wenn sich Ihr Zustand nicht bessert, werden wir die Flüssigkeit in Ihrem Herzbeutel mit Hilfe einer Punktion entfernen.“

Valentina riss die Augen auf.

„O Gott, das ist ja furchtbar …“

„Es ist nicht so schlimm, wie es sich anhört.“

Der warme Klang seiner Stimme beruhigte sie ein wenig. Seine optimistische Miene flößte ihr neues Vertrauen ein.

„Eine solche Punktion ist nur ein kleiner Eingriff. In den meisten Fällen genügt eine lokale Betäubung. Wenn alles abgesaugt ist, können Sie ein paar Tage später nach Hause gehen. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich verspreche Ihnen, dass Sie bald wieder auf den Beinen sind.“

Stefan stand auf und reichte ihr die Hand.

„Alles Gute und bis bald.“

Ach, wenn er doch bliebe! Aber sie sah sehr schnell ein, dass dieser Wunsch kindisch war.

„Auf Wiedersehen, Dr. Holl“, murmelte sie.

„Und wenn etwas ist, wenn Sie sich nicht wohlfühlen oder sonst ein Problem haben, bitte klingeln Sie sofort. Versprechen Sie mir das?“

Sie nickte stumm. Erst als er draußen war, wischte sie sich ein paar Tränen von der Wange.

Eine Viertelstunde später kam Tim, missmutig wie immer. Seine Miene drückte aus, dass er es als Zumutung empfand, hier in dieser Klinik zu sein. Seine ganze Haltung trug dazu bei, dass sie sich an dem ganzen Ungemach schuldig fühlte. Und wieder kamen ihr die Tränen.

Er trat näher und schaute kritisch von oben auf sie herab.

„Was soll das? Warum sollte ich herkommen? Und warum bist du überhaupt hier?“

Er betrachtete sie prüfend, fand aber offensichtlich nichts an ihrem Aussehen, was einen Klinikaufenthalt rechtfertigte.

„Mach mir keine Vorwürfe.“ Ihr war bewusst, dass sie fast flehentlich klang. „Mit mir ist etwas nicht in Ordnung. Wahrscheinlich das Herz. Hier werde ich genau untersucht, aber noch steht der Befund nicht fest. Tim, ich bitte dich doch nur um einen kleinen Gefallen.“ Sie wollte nach seiner Hand greifen, doch bevor es zu einem Kontakt kam, zog er sie zurück.

„Helfen? Ich? Ich denke, das tun die Ärzte schon“, erwiderte er locker. „Das mit uns ist vorbei. Muss ich dich daran noch mal erinnern? Deine Mitleidstour zieht bei mir nicht.“

Valentina gab sich Mühe, seine Kälte zu ignorieren. Aber weh tat seine Haltung doch. Immerhin waren sie mal ein Liebespaar gewesen.

„Es geht nicht um unsere Beziehung. Ich brauche nur etwas aus meiner Wohnung. Und ich weiß nicht, wen ich sonst darum bitten könnte. Du kennst dich doch bei mir aus …“

„Schon gut.“ Dass sie nicht mehr von ihm wollte, entlockte ihm ein erleichtertes Grinsen. „Okay, aber denk jetzt bloß nicht, dass ich für dich ständig hin- und herfahren werde. Also gut, was soll ich dort holen?“

Sie nannte ihm die einzelnen Dinge und erklärte etwas umständlich, wo sie sich befanden.

„Vor allem das Handy und das Ladegerät dazu, die sind wichtig.“

„Wozu brauchst du dieses ganze Zeug?“, fragte er erstaunt. „Du machst doch keine Weltreise! Wie versprochen, das eine Mal erledige ich das. Aber heute wird das nichts mehr. Ich hab noch was vor.“

„Bitte tu es bald. Ich hatte ja nichts bei mir, als mir übel wurde.“

„War das denn überhaupt nötig, dich gleich ins Krankenhaus zu bringen?“

„Ich stand zufällig bei einem Arzt vor der Tür …“

„Klar, da hat der mal gleich eine Chance gewittert. Jeder Patient bringt ihm ordentlich Kohle.“ Er stand auf. „Also dann, ich ziehe mal Leine. Wenn ich was nicht finde, rufe ich dich an.“

„Danke, Tim“, sagte sie mutlos.

Auch wenn er sich noch so roh gab, so war er im Grunde seines Wesens doch ein hilfsbereiter Kerl, jedenfalls wollte sie ihn so sehen. Und da sie sich in dieser fremden Umgebung ziemlich verlassen vorkam, hätte sie gern noch länger von seiner Gesellschaft profitiert. Aber sie wollte ihm nicht lästig fallen.

„Ich bin dann mal weg. Mach’s gut.“ Er winkte ihr noch einmal zu und war schon draußen. Sie ahnte, dass ihm die Atmosphäre in der Klinik nicht bekam. Und irgendwie konnte sie ihn sogar verstehen. Sie wäre ja auch lieber zu Hause in ihrer kleinen Wohnung, einer gemütlichen Höhle, in der sie sich oft einigelte, wenn ihr die Welt da draußen zu anstrengend wurde.

***

Milan verbrachte einen harmonischen Tag mit seiner Tochter. Nachmittags fuhren sie auf ihren Rädern durch den Englischen Garten. Obwohl schon ein Hauch von Frühling in der Luft lag, litt er unter einer depressiven Stimmung.

Woher kam sie nur? Weil er vor zehn Jahren schon mal diesen Weg gefahren war, an seiner Seite die reizende junge Studentin, die er kurz zuvor kennengelernt hatte? Er war so verliebt gewesen. Und sie in ihn. Ach, Karina.

Sie erlebten eine große Liebe. Auch nach Leonies Geburt hielt er sich immer noch für den größten Glückspilz der Welt.

Aber dann passierte wie aus heiterem Himmel der schreckliche Unfall. Ihm war klar, dass die Betroffenen niemals vom Schicksal auf einen so schweren Verlust vorbereitet wurden. Trotzdem, hätte er nicht etwas ahnen können? Waren ihm die Zeichen für ein Erkalten ihrer Liebe einfach nur entgangen, weil er nicht mehr richtig hingeschaut hatte?

Damals geriet sein Leben völlig aus den Fugen, die Welt hörte auf, sich zu drehen. Er erfuhr, dass ein ihm unbekannter Mann am Steuer des Unglückswagens saß. Die Ehefrau dieses Mannes klärte ihn dann auf, dass die beiden Personen im Fahrzeug eine Affäre hatten. Eine Liebesaffäre, was sonst.

Der Fahrer starb noch am Unglücksort. Karina erlag nach wenigen Tagen ihren schweren Verletzungen. Leonie war erst drei Jahre alt. Nun trug er allein die Verantwortung für seine Tochter. Ob er wollte oder nicht, er musste sein Leben völlig neu organisieren, für sie da sein, ihr auch ohne Mutter eine sorgenfreie Kindheit ermöglichen.

„Papa, ich möchte ein Eis“, drang die helle Stimme des Mädchens an sein Ohr.

„Kein Problem“, erwiderte er so fröhlich wie möglich. „Halte Ausschau nach dem nächsten Eisverkäufer, dann schlagen wir gleich zu.“

Beim nächsten Café machten sie Pause. Leonie bekam einen Orangensaft und zwei große Eiskugeln. Milan begnügte sich mit einem Espresso. Er schaute seiner Kleinen lächelnd zu, wie sie genießerisch ihr Eis schleckte. Die dunklen Erinnerungen verblassten und kehrten an ihren Platz in der hintersten Seelenkammer zurück.

Leonie war gut aufgelegt. Mit sichtlichem Bedauern schob sie den leeren Eisbecher weg und schaute ihren Vater fragend an.

Der schüttelte ganz sanft den Kopf. Leonie verstand die Bedeutung dieser Geste und fing gar nicht erst an zu drängeln. Milan war stolz auf sein kluges Kind, das jetzt von den Ereignissen in der Klasse berichtete.

Leonie ging gern zur Schule. Das Lernen machte ihr Spaß. Hoffentlich blieb es so.

„Wenn du deinen Saft ausgetrunken hast, radeln wir nach Hause.“

„Ich freu mich schon darauf, wenn wir alle zusammen verreisen.“

Seinen erstaunten Blick quittierte sie mit einem verschmitzten Lächeln.

„Zu Ostern“, erklärte sie. „Oma, Opa, ich und du. Wir fliegen nach Griechenland.“

„Ach wirklich? Und wieso weiß ich davon nichts?“

„Die Oma wird es dir noch sagen. Ich soll dir nichts verraten, aber ich will, dass du dich jetzt schon freust.“

Von Freude konnte bei Milan nun keine Rede sein. Das war wieder eine der Aktionen seiner Schwiegermutter. Wie konnte sie Leonie so etwas in den Kopf setzen, ohne mit ihm Rücksprache zu nehmen? Laut Dienstplan konnte er über Ostern keinen Urlaub nehmen. Am Ostermontag musste er sogar arbeiten.

„Darüber müssen wir noch reden“, sagte er, ohne das Thema jetzt zu vertiefen. Er zahlte, dann fuhren sie los.

Erst später am Abend, als Leonie schon im Bett lag und schlief, rief er seine Schwiegermutter an und verlangte Aufklärung von ihr.

„Es ist Leonies Wunsch, dass wir endlich mal alle zusammen verreisen. Sie wünscht sich das so sehr. Was hast du also dagegen?“

„Im Prinzip nichts. Ich will nur in solche Planungen einbezogen werden. Wie du weißt, bin ich Arzt. Ärzte im Krankenhaus haben bekanntlich einen Dienstplan. Und damit der Betrieb aufrechterhalten wird, müssen sie diesen Dienstplan einhalten, sonst bricht der ganze Krankenhausbetrieb zusammen.“

„Aber es ist doch noch Zeit genug, um den Urlaub zu beantragen.“

„Schlag es dir aus dem Kopf, daraus wird nichts“, erwiderte er härter als beabsichtigt.

„Wir fliegen auf jeden Fall. Dann nehmen wir eben nur Leonie mit.“

„Darüber werde ich noch nachdenken …“

„Sie freut sich doch schon so. Nun gönne deinem Kind doch ein paar unbeschwerte Ferientage!“

Milan presste die Backenzähne fest zusammen. Jetzt tat Charlotte auch noch so, als wolle er seinem Kind den Spaß verderben.

„Hör mal zu, liebe Schwiegermutter, ich denke, wir werden in den nächsten Tagen einiges zu klären haben. Aber heute Abend bin ich zu müde.“

„Wie du meinst“, klang es spitz an sein Ohr. „Wann bringst du Leonie morgen?“

„Ich fahre sie von hier aus direkt zur Schule“, erwiderte Milan. „Du kannst sie mittags dann dort abholen. Ich muss jetzt Schluss machen, bin schon spät dran.“ Einen weiteren Kommentar von ihr wartete er gar nicht erst ab, sondern drückte das Gespräch weg.

***

„Entschuldigen Sie, einen Moment bitte!“

Milan wandte sich neugierig um und blieb stehen. Vor ihm stand ein Mann mit einer großen Reisetasche in der Hand.

„Würden Sie mir einen Gefallen tun?“

Der Arzt kam einen Schritt näher.

„Worum handelt es sich?“

„Diese Sachen hier sind für Valentina Wiesner. Die hab ich aus ihrer Wohnung geholt. Könnten Sie ihr die geben?“

„Warum tun Sie das nicht selbst?“, fragte Milan kopfschüttelnd. „Dort drüben ist ihr Zimmer …“

„Ich bin in Eile.“

Milan machte keine Anstalten, die ihm gereichte Tasche entgegenzunehmen. Um seine Ablehnung noch deutlicher zu machen, verschränkte er die Arme vor der Brust.

„Sind Sie ein Angehöriger, ein Freund?“

„Keins von beiden. Wir waren mal zusammen, ist aber vorbei. Wenn ich jetzt mit dem Zeug bei ihr aufkreuze, macht sie sich nur wieder falsche Hoffnungen. Das wäre mir unangenehm.“

„Verstehe.“ Dr. Benson behielt den Mann fest im Blick. Er mochte Mitte zwanzig oder etwas älter sein. Sein rotbraunes Haar lag wellenförmig um seinen kantigen Schädel. „Mit anderen Worten, Sie sind zu feige, um Ihrer Freundin in die Augen zu sehen.“

Der andere Mann blies empört die Backen auf, doch als er den Mund öffnete, äußerte er sich eher kleinlaut.

„Sie soll nicht denken, dass es doch noch was mit uns werden könnte“, beharrte er dann auf seiner Erklärung.

„Ich soll also für Sie einspringen, aber Sie haben mir noch nicht mal Ihren Namen gesagt.“

„Tim Kaiser“, quetschte der Rothaarige hervor. „Hören Sie, ich muss jetzt los. Erst vor Kurzem habe ich einen neuen Job angefangen. Wenn ich zu spät komme, wirft man mich gleich wieder raus.“

„Vorher sagen Sie mir aber noch, wie ich Sie erreichen kann. Vielleicht braucht Frau Wiesner noch etwas. Dann müssen Sie noch mal einspringen.“

Der junge Mann nannte ihm nur widerwillig seine Telefonnummer, die Milan gleich bei sich eingab.

„Ich will nicht, dass sie sich falsche Hoffnungen …“

„Jaja, schon gut, das sagten Sie bereits. Ich hab’s begriffen.“

Endlich ergriff Milan die Tasche und trug sie zum Zimmer der jungen Frau. Er klopfte kurz und trat gleich darauf ein.

Die Patientin reagierte nicht auf den Besucher. Sie hielt die Augen geschlossen und schien zu schlafen.

Milan setzte die Tasche leise ab und nutzte die Gelegenheit, sie ausgiebig zu mustern. Ihr Gesicht war blass. Um den vollen Mund lag ein kaum wahrnehmbares Lächeln. Träumte sie? Erinnerte sie sich gerade an etwas Angenehmes?

In hellen und dunklen Blondtönen lang das lange Haar auf dem weißen Kissen. Sie war schön, fasste er seine Betrachtung zusammen. Dann räusperte er sich.

Die seidigen Wimpern zitterten leicht, sie hob die Lider und schaute ihn verwundert an.

„Frau Wiesner, ich bringe Ihnen hier etwas“, sagte er schnell, um die kurze Verlegenheit zu überbrücken. „Ein Herr Kaiser hat das für Sie abgegeben.“

Valentina setzte sich auf. Eine feine Röte legte sich jetzt über die Blässe. In ihren blauen Augen blitzte Ärger auf.

„Hat er Sie damit beauftragt? Warum ist er nicht selbst reingekommen?“

„Er hatte es angeblich zu eilig“, erwiderte Milan lakonisch und hob die Tasche auf die Bettdecke, damit sie sie öffnen konnte.

Valentina fuhr kurz mit der Hand hinein. Sie zog ein Handy und das Ladegerät heraus, und das schien sie zufriedenzustellen. Dann tastete sie noch in die Innentasche und fand ihren Wohnungsschlüssel.

„Den hat er gleich mit abgeliefert, um jeder weiteren Bitte zuvorzukommen. Typisch Tim.“

„Wie geht es Ihnen?“

Die junge Frau kräuselte die Stirn.

„Wer sind Sie … ach, jetzt erkenne ich Sie. Sie sind der Mann, den ich interviewen wollte.“

„Zufällig bin ich auch noch Arzt und konnte gleich alles Notwendige veranlassen, als Sie in die Knie gingen.“

„Und dann musste es gleich eine Klinikeinweisung sein?“ Ihr Blick wurde kritisch.

Dass sie seine Entscheidung im Nachhinein kritisierte, ärgerte ihn.

„Sie sind zusammengeklappt und waren bewusstlos“, hielt er ihr vor. „Das sind ernste Komplikationen. Hätte ich Sie liegen lassen und die Tür wieder schließen sollen? Dann wären Sie jetzt vermutlich tot.“

Valentina senkte den Blick.

„Entschuldigen Sie, so war das nicht gemeint. Dr. Holl hat mir schon gesagt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. In meinem Herzbeutel ist zu viel Blut. Das gehört da nicht hin.“

„Höre ich da aus Ihren Worten Einsicht heraus?“

„Was ist überhaupt ein Herzbeutel? Ich habe mich noch nie mit solchen Dingen beschäftigt. War ja auch nicht nötig.“

„Soll ich Ihnen das wirklich genau erklären?“

„Na ja, jedenfalls so, dass ich es verstehe“, meinte sie einschränkend.

„Dr. Holl hat Sie doch sicher auch schon informiert.“

„Aber ich hätte es gern von Ihnen gehört.“

Auch wenn die junge Dame jetzt geschwächt war, so schien sie immer noch genau zu wissen, was sie wollte.

„Der Herzbeutel ist ein Bindegewebe in Form eines Sackes, der das ganze Herz umgibt, bis auf die abgehenden Gefäße natürlich. Er enthält eine geringe Menge an Flüssigkeit, die als Gleitmittel dient, damit sich das Herz in dieser Umhüllung frei bewegen kann. Ich habe mir Ihre Befunde noch nicht angeschaut, aber zu viel Ansammlung dieser Flüssigkeit im Herzbeutel kann schon zu einer Behinderung führen. Die Ventrikel sind dann nicht richtig gefüllt, das Schlagvolumen kann sich vermindern und zu einer Funktionsstörung des Herzens führen.“

Valentina öffnete den Mund, sie wollte etwas sagen, doch die plötzlich entstehende Furcht schnürte ihr die Kehle zu.

„Und um all das zu verhindern, werden Sie hier behandelt“, fuhr Milan fort.

„Ich habe Angst“, flüsterte sie.

Jetzt setzte er sich zu ihr.

„Seien Sie ganz ruhig. Sie sind ständig unter Kontrolle. Ich werde mit dem Chefarzt reden. Wenn Sie auf die Medikamente nicht ansprechen, werden wir die Flüssigkeit von außen punktieren.“

„Werde ich wieder ganz gesund?“

„Aber ja …“

„Versprechen Sie mir das?“

Ihr eindringlicher Blick berührte ihn tief.

„Wir tun das Menschenmögliche“, sagte er und fand selbst, dass seine Worte übertrieben feierlich klangen.

Dabei hatte er es gar nicht so sehr mit großen Gefühlen. In seinem Beruf als Arzt gab er sein Bestes. Mehr konnte er für die Patienten nicht tun. Und schon gar nicht wollte er sich von dieser jungen Frau vereinnahmen lassen.

Bis auf seine Tochter spielten weibliche Wesen in seinem Leben keine Rolle mehr. Daran würde sich auch in Zukunft nichts ändern. Er räusperte sich kurz.

„Also dann, wir sehen uns später.“

„Bleiben Sie doch noch …“

„Muss ich Sie daran erinnern, dass Sie hier nicht die einzige Patientin sind?“, sagte Milan und verdrehte die Augen.

Als er diesen Worten nachlauschte, kamen sie ihm doch reichlich kühl vor, wenn nicht gar ziemlich kalt. Aber nun konnte er sie nicht mehr zurücknehmen. Vielleicht hätte er als Arzt doch etwas warmherziger reagieren sollen.

Die Frage war, woher er die Herzenswärme nehmen sollte, wenn er sie gar nicht empfand?

Sie ließ sich in ihr Kissen zurückfallen und schloss wieder die Augen. Er hob noch die Tasche herunter und stellte sie neben das Bett.

„Wiedersehen“, sagte er.

Von ihr kam keine Antwort mehr.

***

Valentina zuckte zusammen, als mitten in ihre Gedanken hinein das Handy klingelte. Sie angelte es vom Nachttisch.

Mutter war dran. Auch das noch. Was sollte sie ihr sagen? Wenn Mama erfuhr, was passiert war, würde sie sofort in lautes Jammern ausbrechen über die Sorgen, die sie auf ihren schmalen Schultern tragen musste.

Ganz ruhig, sagte sich Valentina und nahm den Anruf entgegen. Es war besser, das Gespräch gleich hinter sich zu bringen. Wenn sie sich jetzt nicht meldete, würde ihre Mutter in kurzen Abständen unzählige weitere Versuche starten.

„Hallo, mein Liebes, wie geht es dir? Ich habe schon eine ganze Woche lang nichts von dir gehört. Wieso meldest du dich nicht? Was ist los? Mindestens zehn Mal habe ich seit gestern versucht, dich zu erreichen. Ist alles in Ordnung?“

„Kein Grund zur Sorge, Mama. Ich habe nur ziemlich viel zu tun.“

An der Hochschule für Musik und Theater hatte sie vor zwei Monaten begonnen, Musik für das Lehramt zu studieren. Zurzeit ging sie allerdings nicht mehr hin, weil sie plötzlich Zweifel bekommen hatte, ob diese Ausbildung für sie die richtige war. Wollte sie wirklich Musiklehrerin werden?

Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich mit verschiedenen Jobs, die aber allesamt nicht sonderlich gut bezahlt wurden. Sie machte Interviews für eine Marketing-Agentur und arbeitete zum Mindestlohn als Regal-Einräumerin in einem nahe gelegenen Supermarkt.

„Kommst du nun zu Ostern? Du hast dich noch nicht geäußert.“

„Tut mir leid, Mama, ich weiß es noch nicht.“

„Du musst kommen. Rudolf hat seinen fünfzigsten. Wir planen eine große Feier und möchten dich unbedingt dabeihaben.“

„Bald sind Prüfungen, ich muss mich noch vorbereiten.“ Sie staunte selbst, wie leicht ihr diese Lügen über die Lippen kamen.

„Ein paar Tage wirst du dich schon loseisen können“, befand Beate Bergmann. „Ich bestehe darauf. Ein bisschen Zeit musst du für die Familie schon aufbringen. Und bei den Vorbereitungen brauche ich deine Hilfe.“

Valentina unterdrückte einen unwilligen Laut. Diesmal würde sie Mutters Aufforderung nicht nachkommen. Weder hatte sie Lust, ihr bei den stets chaotisch verlaufenden Vorbereitungen zu helfen, noch empfand sie ein großes Bedürfnis nach Nähe zur Familie ihrer Mutter. Seit sie in München lebte, blieb sie nach Möglichkeit solchen Feiern fern, auch wenn sie sich für ihre Absagen immer neue Ausreden ausdenken musste.

Mamas Mann war ihr von Herzen unsympathisch. Wenn er ein Glas zu viel getrunken hatte, konnte es durchaus vorkommen, dass er die weiblichen Gäste unangenehm belästigte. Sogar vor ihr, seiner Stieftochter, machte er dann nicht halt. Und Mama tat dann immer so, als hätte sie von seiner Grapscherei und Anmache rein gar nichts bemerkt.

Tinas Halbbruder Frederik war ein verzogener Bengel, der keine Gelegenheit zu einem Streit ausließ. Immer, wenn sie in Nürnberg gewesen war, fühlte sie sich schlecht und nahm sich jedes Mal vor, so schnell nicht wieder dorthin zu fahren.

„Bist du noch da? Was ist los mit dir? Warum sagst du nichts?“

Valentina zögerte immer noch, ihrer Mutter die Wahrheit zu sagen. Sie fürchtete, dass sie dann gleich herkommen und einen großen Wirbel in der Klinik veranstalten würde.

„Mama, ich muss noch ein wichtiges Referat schreiben. Ich rufe an, wenn ich damit fertig bin.“

„Ach, meine kluge Kleine. Vergiss über dem Studium nicht, gelegentlich mal auszugehen. Was sagt denn Tim dazu? Er soll natürlich auch zur Geburtstagsfeier mitkommen. Grüß ihn ganz herzlich von mir.“

„Mach ich, Mama.“

„Küsschen, mein Liebling. Ruf mich bald wieder an.“

Valentina fühlte sich erschöpft. Gleichzeitig rief dieses eigentlich doch so harmlose Gespräch viele unangenehme Erinnerungen in ihr wach. Kam sie denn nie darüber hinweg, dass Mama sie kurzerhand ins Internat gesteckt hatte, als sie ihren jetzigen Mann kennenlernte? Mit ihm wollte Mama damals ein neues Leben beginnen, eine richtige Familie gründen, aber ohne die eigene Tochter, die sie plötzlich nur mehr als lästig empfand.

Unbewusst wischte sie sich über die feuchten Augen. Ihren Vater kannte sie nicht. Mama zog sie bis zu ihrer Ehe mit Rudolf allein groß und behauptete stets, nichts über Valentinas „Erzeuger“ zu wissen. Angeblich war es in einer Nacht auf Mallorca passiert. Erst nach dem Urlaub, behauptete Beate, hätte sie ihre Schwangerschaft bemerkt.

Es tat immer noch weh. Diesen Schmerz des Ausgeschlossenseins würde sie wohl bis an ihr Lebensende mit sich herumschleppen, auch wenn sie manchmal glaubte, ihn überwunden zu haben.

Über all die Jahre kreisten Valentinas Gedanken immer wieder um diesen unbekannten Mann, der ihr Vater war. War er schon gestorben? Wenn nicht, wo lebte er? Wusste er wirklich nichts von seiner Tochter? Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn er darin eine Rolle gespielt hätte, vielleicht sogar eine wichtige?

Schwester Marion kam und brachte ihr die Medikamente für den Tag.

„Nach der Visite werden die Ärzte mit Ihnen das weitere Vorgehen besprechen“, sagte sie.

„Wissen Sie schon was?“ Valentina heftete ihren Blick auf das rundliche Gesicht der Pflegerin.

„Bleiben Sie ruhig. Hier bei uns wird man alles dafür tun, dass Sie sich bald wieder besser fühlen. Das kann ich Ihnen versichern. Gleich bekommen Sie Ihr Frühstück. Und hier ist der Speiseplan für mittags. Sie müssen nur noch ankreuzen, was Sie gern hätten.“

„Danke, Schwester Marion.“

Wann hatte sie sich eigentlich jemals so umsorgt gefühlt? Valentina fand keine Antwort auf die Frage. Später telefonierte sie noch mit der Marketing-Agentur und informierte den für sie zuständigen Mitarbeiter, dass sie die Interviews nicht zu Ende führen könne, da sie plötzlich erkrankt sei. Er nahm ihre Entschuldigung zwar zur Kenntnis, doch seinen kühlen Worten entnahm sie, dass man sie für diesen Job nicht wieder engagieren würde.

***

„Das ist deine liebe Mama, da war sie so alt wie du.“ Charlotte Bruckner hatte den Arm um ihre Enkelin gelegt. Gemeinsam blätterten sie ein Fotoalbum durch. Leonie kannte es bereits, aber sie sah sich die Bilder immer wieder gern an. Jetzt konnte sie es kaum erwarten, die Hochzeitsfotos ihrer Eltern zu sehen, auf denen Mama ein so wunderbares Kleid trug.

„War sie in der Schule fleißig?“, wollte die Kleine von ihrer Großmutter wissen.

„Sie war fleißig und intelligent, oft war sie die Beste in der Klasse. Sie hat ein tolles Abitur gemacht und wie dein Vater Medizin studiert. An der Uni haben sie sich kennengelernt. Sie wollten zusammen eine Praxis aufmachen, aber dann kam doch alles ganz anders. Du weißt ja, was passiert ist.“

Charlotte hätte gern zum wiederholten Mal den Unfallhergang geschildert, so wie sie ihn kannte, doch Milan wollte das nicht. Leonie sollte sich in ihrer ausgeprägten Fantasie nicht vorstellen, wie ihre schwer verletzte Mutter ausgesehen haben könnte.

„Damals habt ihr noch in Hamburg gewohnt. Dein Vater arbeitete dort in der Universitätsklinik.“

„Warum wart ihr nicht auch dort, du und Opa?“

„Wir sind in München geblieben. Wir wollten ja nicht, dass deine Mama weggeht. Aber sie hat nicht auf uns gehört. Wenn die Kinder erwachsen sind, dann gehen sie ihre eigenen Wege. Man kann sie nicht zurückhalten, auch wenn man das gern tun würde.“

„Aber jetzt sind wir ja wieder hier bei euch, ich und der Papa.“

„Ja, jetzt schon.“ Die beiden hätten gar nicht weggehen sollen von München, fügte Charlotte in Gedanken hinzu, zupfte ein Taschentuch aus der Packung und tupfte sich über die Augen.

Nach wie vor war sie fest davon überzeugt, dass Karina noch leben würde, wäre sie mit ihrer Familie in München geblieben. Aber diese Überlegung behielt sie für sich. Weder bei ihrem Schwiegersohn noch bei ihrem Mann kam sie damit gut an.

„So etwas kann überall passieren“, pflegte Erich brummend zu äußern, wenn sie doch mal wieder wagte, darüber zu sprechen. „Lass es also endlich gut sein. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Und noch weniger können wir sagen, dass Karina heute noch am Leben wäre ohne den Unfall in Hamburg.“

Damit hatte er recht. Doch ihr einziges Kind Karina war seit vier Jahren tot, und noch immer konnte sie sich mit diesem Verlust nicht abfinden. Davon zeugten auch die vielen Fotos der Verstorbenen, die im ganzen Haus verteilt waren. Sie hingen an den Wänden, standen auf Tischen, in Regalen, auf Kommoden und Sideboards.

Karina war allgegenwärtig im ganzen Haus von unten bis oben. Lächelnd, ernst schauend, das Haar streng zurückgekämmt oder vom Wind zerzaust. Sie stand vor einer Meeresbrandung, einem Gipfelkreuz, saß an einem Caféhaustisch, auf einem Fahrrad.

„Das bin ich“, sagte Leonie und tippte auf ihre Mutter mit ihr als Baby im Arm.

„Jetzt bist du unser größter Schatz“, sagte Charlotte und drückte das Kind noch etwas fester an sich.

Doch lange ließ sich Leonie das nicht gefallen und entzog sich der großmütterlichen Umarmung.

„Wann kommt Papa?“

„Erst zum Wochenende, das weißt du doch. Er hat so viel zu tun, da kann er sich nicht auch noch um ein kleines Mädchen kümmern.“

Leonie schob schmollend die Lippen vor.

„Aber er hat mich doch lieb.“

„Natürlich hat er das. Aber ich habe dich auch sehr lieb. Ich bin ja fast so was wie deine Mama.“

Die Enkelin schob die Arme auf den Rücken und betrachtete Charlotte mit schief gelegtem Kopf.

„Aber für meine Mama bist du doch viel zu alt“, stellte sie sachlich fest. „Und vielleicht stirbst du ja auch bald.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Papa hat gesagt, dass man mit hundert stirbt.“

„Aber so alt bin ich noch lange nicht“, widersprach Charlotte und gab sich keine Mühe, den Ärger über ihren Schwiegersohn zu unterdrücken.

„Jetzt lass uns nicht mehr von solchen Dingen sprechen, mein Schatz. Geh, wasch dir die Hände. Wir essen gleich.“

Leonie hielt die Situation für günstig, einen schon lange gehegten Wunsch wieder mal vorzutragen.

„Oma, wann kriege ich endlich einen Hund?“

Charlotte klappte das Fotoalbum zu und legte es energisch auf die Seite.

„Du weißt, dass du von uns fast alles bekommst, was du haben möchtest. Aber einen Hund musst du dir aus dem Kopf schlagen. Ein Haustier kommt für uns überhaupt nicht infrage.“

„Bitte, Oma!“

„Nein.“ Ihre Stimme wurde durchdringender. „Wie oft habe ich dir schon erklärt, dass ein Hund kein Spielzeug ist. Man muss mehrmals täglich mit ihm rausgehen und dabei all die Haufen aufsammeln, die er hinterlässt.“

„Das mache ich, versprochen.“

„Ach mein Schatz, ein Kind in deinem Alter darf nicht unbeaufsichtigt allein mit einem Hund losziehen. Du hast gute Vorsätze, aber wenn das Tier erst einmal im Haus ist, bleibt doch alles an mir hängen.“

„Wirklich nicht, Oma?“ Leonie kämpfte zwar auf verlorenem Posten, aber sie wollte sich noch nicht geschlagen geben.

„Du räumst ja noch nicht mal dein Zimmer auf, auch dann nicht, wenn ich dich darum bitte. Für einen Hund muss man Verantwortung übernehmen, rund um die Uhr, Tag und Nacht, sieben Tage in der Woche. Dafür bist du noch viel zu klein. Außerdem bin ich gegen Tierhaare allergisch.“

„Dann frage ich meinen Papa“, erwiderte das Kind bockig.

„Das kannst du dir sparen, mein Schatz“, sagte Charlotte lachend. „Auch dein Papa ist gegen einen Hund. Wann soll er sich denn darum kümmern, wenn er nach einem strengen Dienstplan in der Klinik arbeitet?“

Als Leonie im Bett lag, rief Charlotte ihren Schwiegersohn an und schilderte ihm das Gespräch mit der Enkelin.

„Hast du ihr gesagt, dass wir bald sterben werden?“, empörte sie sich. „Wie kommst du dazu?“

„Reg dich nicht auf, Schwiegermama, Leonie verdreht die Dinge ein wenig. Du weißt doch selbst, dass sie eine blühende Fantasie hat. Natürlich habe ich nicht gesagt, dass du bald stirbst, sondern ihr nur zu erklären versucht, dass die Sterbewahrscheinlichkeit rein statistisch im Alter höher ist als in der Jugend.“

Er holte tief Luft und fuhr dann sogleich fort.

„Da wir gerade miteinander reden, ich werde in den Osterferien nicht mit nach Griechenland fliegen.“

„Dann nehmen wir aber Leonie mit. Sie braucht mal eine Luftveränderung. Bitte, Milan, mach uns die Freude. Das Kind ist bei uns gut aufgehoben. Und dir tun auch mal ein paar ruhige Tage gut, in denen du tun kannst, was du willst.“

Auch wenn er merkte, dass Charlotte ihn mit diesen Worten umgarnte, war das natürlich ein Argument, dem er sich nicht entziehen konnte. Wenn Leonie von den Großeltern beaufsichtigt wurde, dann könnte er mal wieder ausgehen, vielleicht in einer Bar eine Frau kennenlernen, die bereit war, ein paar lustvolle Stunden mit ihm zu verbringen. Und die wie er nur eine kurze Affäre wollte.

„Ich denke noch darüber nach“, sagte er. „Bis später.“

***

„Für diesen Eingriff ist eine lokale Anästhesie vollkommen ausreichend.“ Dr. Andrea Kellberg machte sich Notizen auf ihrem Fragebogen. Allergien gegen bestimmte Narkosemittel waren nicht bekannt. „Sie werden keine Schmerzen haben.“

„Mir wäre es lieber, wenn ich von der Punktion gar nichts mitbekomme“, sagte Valentina. Morgen sollte die Flüssigkeit in ihrem Herzbeutel punktiert werden. Alles relativ harmlos, hatte Dr. Holl gesagt, aber sie machte sich trotzdem Sorgen. Wenn die Nadel nun nicht im gefüllten Herzbeutel, sondern ganz woanders landete? Las man nicht ständig in der Presse von Narkosezwischenfällen jeglicher Art?

Dr. Holl hatte ihr erklärt, dass man genau zwischen einer primären und einer sekundären Perikarditis unterscheiden müsse. Die primäre werde von Viren ausgelöst, die sekundäre hingegen von Bakterien, die für andere, nicht das Herz betreffende Erkrankungen verantwortlich gemacht wurden.

Okay, sie hatte sich in der letzten Zeit immer schwach und müde gefühlt und unter Kurzatmigkeit gelitten. Sogar Rhythmusstörungen, Gliederschmerzen und Herzrasen waren dazugekommen. Und immer wieder schubweise hohes Fieber.

Aber all diese Symptome hatte sie nur für eine verschleppte Grippe gehalten und gedacht, eine junge Frau wie sie müsste doch vital genug sein, um mit solchen Erregern fertig zu werden.

Jetzt erkannte sie, dass sie die Gefährlichkeit einer verschleppten Grippe unterschätzt hatte. Warum war sie hinsichtlich ihrer Gesundheit so leichtfertig gewesen? Längst hätte sie einen Arzt aufsuchen sollen.

Da trotz der Medikamententherapie bis jetzt keine Besserung eingetreten war, musste nun die Punktion durchgeführt werden.

„Auch bei einer Regionalanästhesie können wir Sie von allen Nebengeräuschen im OP abschirmen“, erklärte Dr. Kellberg. „Über die Infusionsleitung bekommen Sie ein zusätzliches Schlafmittel. Das können wir individuell anpassen. Dann kriegen Sie auch ohne Vollnarkose von dem Eingriff nichts mit.“

„Ja, dann machen Sie das bitte so. Und wer operiert?“

„Doktor Benson, so viel ich weiß. Er ist ein hervorragender Kardiologe und Chirurg. Wenn Sie am Abend nicht schlafen können, lassen Sie sich etwas geben. Dann sind Sie morgen früh ausgeruht.“

Valentina nickte.

Dr. Kellberg überflog noch einmal ihre Notizen, doch sie hatte alles abgefragt, was in solchen Fällen wichtig war.

„Dann bis morgen. Und haben Sie keine Angst.“

„Ist Doktor Benson im Haus? Oder Doktor Holl?“

„Ich werde mich erkundigen. Einer von beiden wird dann noch bei Ihnen vorbeischauen.“

Valentina wollte nicht aufdringlich erscheinen, aber sie musste noch mal mit jemandem reden. Und da sie sonst niemanden hatte, dem sie sich anvertrauen konnte, kam nur einer der Ärzte infrage. Das zweite Bett in ihrem Krankenzimmer war immer noch leer, sodass sie sich auch nicht mit einer anderen Patientin austauschen konnte.

Den ganzen Nachmittag erschien niemand. Erst als sie schon gar nicht mehr damit rechnete, kam Dr. Benson.

„Frau Doktor Kellberg sagte, Sie hätten ein Problem“, sagte er, ohne ihr einen Guten Tag zu wünschen.

„Na ja, was heißt Problem …“ Valentina biss sich auf die Unterlippe und kam sich vor wie ein Kind, das nicht zugeben wollte, im Dunkeln Angst zu haben.

Milan zog sich einen Stuhl herbei und nahm rittlings darauf Platz.

„Nun sagen Sie schon, was los ist.“

„Ich fürchte mich vor der Operation“, sagte sie mit schwankender Stimme.

„Das ist völlig unnötig. Ich habe Ihnen doch schon versprochen, dass es keinen Zwischenfall geben wird. Wir machen Ihren Herzbeutel auf dem Bildschirm sichtbar, dann komme ich mit einer langen Punktionsnadel und sauge die störende Flüssigkeit ab. Und danach wird es Ihnen bald wieder besser gehen.“ Beim Reden bewegte er die Hände, wippte mit einem Fuß und kippte den Stuhl nach vorn und wieder zurück. Das Gespräch war ihm lästig.

Aber Valentinas Blick verriet so viel Hilflosigkeit, dass er gar nicht umhin konnte, ihre Bedenken zu zerstreuen.

„Wir müssen jetzt etwas tun“, fuhr er fort. „Wenn die Flüssigkeitsansammlung nicht behandelt wird, kann sich das Herz nicht mehr ausdehnen. Dann kommt es zum kardiogenen Schock. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben.“

Valentina betrachtete sein Gesicht. Die etwas zu große Nase, der schön geschwungene Mund und das vorspringende Kinn verrieten einen energischen Charakter, wenn da nicht die sensiblen Augen wären, die schon viel Leid gesehen haben mussten. Sie hörte ihn gern reden, auch wenn das, was er sagte, ihr Angst machte.

„Ziehen Sie die Flüssigkeit mit der Nadel heraus?“

„Keine Sorge, Sie werden davon nichts spüren.“

„Und anschließend kann ich dann wieder nach Hause?“

Dr. Benson schenkte der jungen Frau ein beruhigendes Lächeln.

„Eins nach dem anderen“, schlug er vor. „Jetzt kümmern wir uns erst mal um den Herzbeutel. Und wenn die Infektion erfolgreich behandelt und ausgeheilt ist, werden wir über Ihre Entlassung reden.“

Valentina schwieg.

„Wollen Sie sonst noch etwas wissen?“

Die Patientin bewegte den Kopf hin und her, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schließlich aber rang sie sich zu einer Antwort durch.

„Ich habe tausend Fragen“, bekannte sie. „Und darum weiß ich gar nicht, womit ich anfangen soll.“

„Ich kann Ihnen sicher nicht alle tausend beantworten, aber fangen Sie doch einfach mal an.“

„Könnte meine Erkrankung auch seelische Ursachen haben?“

„Sie meinen, wegen der Trennung von Ihrem Freund?“

„Vielleicht“, sagte sie leise. Nur kurz senkte sie ihren Blick in seinen, dann schaute sie wieder weg.

„Wenn wir davon ausgehen, dass Körper und Seele zusammengehören, kann man die beiden ja schlecht voneinander trennen. Wenn das Immunsystem durch ein seelisches Trauma geschwächt ist, haben es Krankheitserreger leichter, den betreffenden Menschen zu attackieren. Das ist meine Meinung aufgrund meiner Erfahrung als Arzt. Aber die Erkenntnisse zu diesen Abläufen sind noch nicht grundlegend erforscht.“

Valentina lauschte seinen Worten nach.

„In Ihrem jetzigen Zustand rate ich Ihnen dazu, nicht darüber nachzugrübeln, was im Leben falsch gelaufen ist und was nicht. Das, was passiert ist, können Sie ohnehin nicht mehr verändern. Also schauen Sie einfach nach vorn …“

„Das ist leicht gesagt“, fiel sie ihm unerwartet ins Wort. „Leben Sie denn so?“

„Es geht hier ja gar nicht um mich“, versuchte er ihre Frage abzubiegen. „Sie sind hier die Patientin. Ich gehörte nur zu dem Ärzteteam, das sich um Ihre Wiederherstellung kümmert.“

„Haben Sie Familie?“

Milan betrachtete seine Hände. Er dachte gar nicht daran, mit dieser jungen Frau über sein Privatleben zu sprechen, aber vor den Kopf stoßen wollte er sie auch nicht. Bevor er eine Antwort fand, sprach sie schon weiter.

„Wenn Sie wie ich allein leben, dann wissen Sie vielleicht, wie das ist, wenn man in eine leere Wohnung kommt. Ich schalte dann sofort den Fernseher ein, damit ich jemanden sprechen höre. Eigentlich dachte ich immer, als Single hätte man es viel einfacher als andere, weil man dann tun und lassen kann, was man will. Aber die Einsamkeit zu ertragen ist oft schwer.“

„Was ist denn mit Ihrer Familie?“

Sie winkte ab.

„Eigentlich habe ich keine. Meine Mutter lebt in Nürnberg. Wir sehen uns nicht oft.“

„Nun ja, das ist ja nun nicht so weit von uns entfernt. Möchten Sie, dass ich sie anrufe?“

„Nein, um Himmels willen. Wir vertragen uns nicht besonders gut, wenn wir zusammen sind.“

Valentina dachte kurz nach.

„Meine Eltern sind geschieden“, sagte sie dann und fragte sich, warum sie es heute noch immer so schwer über die Lippen brachte, dass sie ihren Vater gar nicht kannte. „Meine Mutter hat eine neue Familie und ich noch zwei jüngere Halbgeschwister. Aber wie gesagt, es gibt nicht viele Kontakte.“

Milan legte eine Hand auf ihren Arm, aber damit kein falscher Eindruck entstand, zog er sie schnell wieder weg.

Sie betrachtete ihn nachdenklich.

„Warum erzähle ich Ihnen das überhaupt?“

„Vielleicht, weil es Sie entlastet?“

„Ja, möglich. Aber jetzt habe ich Sie lange genug aufgehalten. Danke für Ihre Zeit.“

Milan stand sofort auf.

„Dann bis morgen, Frau Wiesner. Es wird schon nichts schiefgehen.“

***