Die besten Ärzte - Sammelband 42 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 42 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1807: Komm nach Hause, Mama!
Notärztin Andrea Bergen 1286: Bitte sag Ja!
Dr. Stefan Frank 2240: Maritas Versteck
Dr. Karsten Fabian 183: Wenn’s in der Heide Frühling wird ...
Der Notarzt 289: Dr. Kerstens schwerster Kampf

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 592

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Ulrike Larsen Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 42

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2014/2015/2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covermotiv: © Yuri Shevtsov / Shutterstock

ISBN 978-3-7517-2948-2

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 42

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1807

Komm nach Hause, Mama!

Die Notärztin 1286

Bitte sag Ja!

Dr. Stefan Frank 2240

Maritas Versteck

Dr. Karsten Fabian - Folge 183

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Wenn’s in der Heide Frühling wird …

Der Notarzt 289

Dr. Kerstens schwerster Kampf

Guide

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Contents

Komm nach Hause, Mama!

Packender Arztroman um eine dramatische Rettungsaktion

Von Katrin Kastell

Wenn das kein Grund zum Jubeln ist! Die alleinerziehende Ärztin Greta Riedel aus München, die sich an der Charité in Berlin um eine Assistenzarztstelle beworben hat, wird zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Bereits einen Tag vor dem Termin fliegt die junge Frau in die Hauptstadt und lässt ihre fünfjährige Tochter Sophie in der Obhut ihrer Mutter zurück.

Das Bewerbungsgespräch läuft wunderbar, und der Personalchef macht ihr Hoffnung auf eine Einstellung. Als Greta abends zu Hause anruft, erzählt ihr die kleine Sophie, es sei alles in Ordnung und die Oma würde schon ganz, ganz fest schlafen.

Im ersten Moment ist Greta beruhigt, doch dann kommt ihr ein furchtbarer Gedanke …

Nachdem Greta im Berliner KaDeWe eine Bluse und einen Pulli gekauft hatte, spazierte sie über den Kurfürstendamm und beschloss spontan, sich im Café Kranzler ganz glamourös ein Glas Sekt zu gönnen.

Sie fand einen freien Tisch, nahm Platz und gab ihre Bestellung auf. Während sie auf das Getränk wartete, telefonierte sie kurz mit ihrer Mutter in München. Um die anderen Gäste nicht zu stören, sprach sie leise.

„Ja, der Flug war gut, keine Verspätung.“

„Nein, sagen kann ich dir noch nichts. Der Termin ist ja erst morgen.“

„Hier ist es zum Glück trocken, kein Regen.“

Die Kellnerin stellte das gefüllte Glas auf den runden Bistrotisch.

„Ich sitze gerade im Café Kranzler. Ja, Berlin gefällt mir gut. Und bei euch alles okay?“

Die Antwort schien die Frau mit den smaragdgrünen Augen zu befriedigen.

„Das ist gut“, meinte sie erleichtert. „War sicher nur eine kleine Magenverstimmung.“

„Das Hotel? Es ist gut und liegt günstig. Nein, nicht allzu teuer. Bis zur Charité könnte ich sogar zu Fuß gehen, aber morgen werde ich mir zur Feier des Tages trotzdem ein Taxi nehmen.“

„Ja, drück mir die Daumen. Wenn es klappt, gehen wir alle drei nach Berlin. Ach, mach dir keine Sorgen, du wirst dich schon an die Stadt gewöhnen.“

Während Greta den Worten ihrer Mutter lauschte, lächelte sie nachsichtig.

„Ich weiß, Berlin ist anders als München, aber mein erster Eindruck ist wirklich sehr positiv.“

„Aber nein, Mama, du bist noch nicht zu alt für einen Tapetenwechsel. Wenn ich die Stelle kriege, werde ich gleich einen Makler beauftragen, nach einer Wohnung für uns zu suchen.“

„Klar, mindestens vier Zimmer. Ich melde mich morgen wieder. Leg dich schlafen. Morgen wird es dir noch besser gehen. Und gib Sophie einen Kuss von mir.“

Eine halbe Stunde später verließ Greta das Café wieder. Sie wollte jetzt noch irgendwo eine Kleinigkeit essen. Vorhin war sie an einem italienischen Restaurant vorbeigekommen, das von außen einen ganz guten Eindruck machte. Große Ansprüche hatte sie heute ohnehin nicht. Ein Teller Pasta mit Tomatensauce würde ihr schon reichen.

Sie ging nicht gern allein in ein Lokal zum Essen, aber ihr blieb nun mal nichts anderes übrig. Als Bernd noch lebte, waren sie oft ausgegangen, Theater, Konzert, Kino – sie ließen sich nichts entgehen. Mindestens einmal pro Woche hatte er sie zum Essen ausgeführt.

Niemals würde sie diese glücklichste Zeit ihres Lebens vergessen. Es war wundervoll, mit einem geliebten Menschen vertraut bei Kerzenschein am Tisch zu sitzen, sich über das gute Essen und den guten Wein zu freuen. Und auch auf die Stunden danach zu Hause, wenn sie sich endlich wieder in die Arme sinken und sich ihre tiefe Liebe zeigen konnten.

Noch immer empfand sie bei solchen Gedanken Wehmut und Trauer, aber diese Gefühle schmerzten nicht mehr so sehr wie damals. Was ja auch richtig war. Kein Mensch durfte ewig trauern. Und irgendwann nach einem solchen Schicksalsschlag stellte man erstaunt fest, dass sich die Welt trotz allem einfach weiterdrehte.

Greta hatte sich vorgenommen, nur noch an die schöne Zeit mit Bernd zu denken. Zwar konnte sie die tragischen Umstände seines Todes niemals vergessen, die Erinnerung daran aber wenigstens in den Hintergrund drängen.

Auf die Frage, warum ausgerechnet ihr Bernd so früh sein Leben verlieren musste, würde sie ohnehin nie eine Antwort finden. Bei einer Bergwanderung war einer seiner Schüler in eine brenzlige Situation geraten. Beim Versuch, ihm zu helfen, war Bernd in den Abgrund gestürzt. Beim Eintreffen der Bergrettung war er schon tot gewesen, der Junge hingegen konnte gerettet werden.

Das Schicksal war manchmal grausam, manchmal beglückend, Gerechtigkeit aber kannte es nicht.

Die Leuchtschrift des Lokals geriet in ihr Blickfeld. Dass ihr jemand in einem immer kürzer werdenden Abstand folgte, bemerkte die junge Frau nicht.

Dann geschah alles sehr schnell. Jemand riss ihr die Handtasche vom Arm. Ehe Greta begriff, was ihr da gerade widerfuhr, stieß jemand sie zur Seite und lief davon. Sie strauchelte, konnte sich aber noch fangen.

Im gleichen Moment bremste ein Fahrzeug neben ihr. Eine Person sprang heraus und rannte dem Dieb hinterher. In Greta machte sich Panik breit. Sie schrie.

Nach endlosen Sekunden sah sie einen der beiden zurückkommen. Es war der Mann aus dem Fahrzeug. Er hielt ihre Tasche in der Hand.

„Die gehört wohl Ihnen“, sagte er. „Haben Sie sich wehgetan?“

Greta zitterte am ganzen Körper.

„Nein. Ich glaube nicht.“

„Leider habe ich den Kerl nicht packen können. Er war schneller als ich. Die Tasche hat er fallen lassen. Schauen Sie gleich nach, ob was fehlt.“

Hektisch inspizierte sie den Inhalt ihrer Tasche und stellte schockiert fest, dass ihr Handy und das Portemonnaie mit hundertzwanzig Euro fehlten. Es hätte noch schlimmer kommen können, doch zum Glück befand sich ihre Brieftasche mit Kreditkarte, Personalausweis und Gesundheitskarte in der Innentasche ihres Mantels.

„Fehlt was?“, fragte der Mann teilnahmsvoll.

Greta schaute nochmals in die Tasche. Der Lippenstift war noch drin, der Kamm, der Schlüsselbund von zu Hause, ein Päckchen Taschentücher, ein kleiner Handspiegel.

„Geld und Handy“, erwiderte sie schließlich.

„Viel Geld?

„Über hundert Euro. Aber das ist nicht das Schlimmste. Mehr Sorgen macht mir das Handy.“

„Das sollten Sie sofort sperren lassen, damit der Dieb nicht auf Ihre Kosten telefonieren kann. Sonst könnte eine gewaltige Rechnung auf Sie zukommen. Wer ist Ihr Mobilfunkanbieter?“ Er zog sein eigenes Handy heraus.

Greta nannte ihm den Namen des Anbieters.

„Bei dem bin ich auch“, sagte der Mann und tippte ein paarmal auf seinem Handy herum. „So, hier ist die Nummer der Service-Hotline. Nehmen wir das doch gleich in Angriff. Soll ich das für Sie erledigen?“

Die bestohlene Frau brachte nur ein schwaches Nicken zustande. Sie nannte ihm ihre Mobilfunk-Nummer. Der Mann veranlasste alles Nötige.

„Die Sperrung ist erledigt“, sagte er. „Jetzt kann niemand mehr mit Ihrem Handy schlimme Dinge anstellen. Aber damit alles seine Ordnung hat, sollten wir jetzt noch zur Polizei gehen, um den Diebstahl anzuzeigen. Natürlich werde ich bezeugen, was Ihnen passiert ist.“

„Glauben Sie denn, dass man den Dieb noch stellen kann?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Eher nicht, aber man weiß ja nie.“

Er machte einen äußerst sympathischen Eindruck auf Greta. Allmählich beruhigte sie sich ein wenig. Aber sie stellte auch fest, dass ihr Berlin nach diesem unerfreulichen Erlebnis gar nicht mehr so sympathisch war.

„Kommen Sie, ich fahre Sie hin.“

Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, ob sie sich zu dem Fremden ins Auto setzen sollte, doch dann wischte sie ihre Bedenken beiseite. Er sah nicht aus wie jemand, der Böses im Schilde führte. Und sie war ja von Herzen froh, dass er ihr so selbstlos half.

Die Diebstahlsanzeige bei der Polizei war schnell erledigt. Sie ließ ihre Daten zurück. Für den Fall, dass man den Dieb fasste, würde man sie sofort benachrichtigen. Vor der Dienststelle reichte sie dem Fremden die Hand.

„Danke für Ihre Hilfe“, sagte sie. „Wie kann ich das nur wiedergutmachen?“

„Indem Sie mit mir essen gehen“, schlug er lächelnd vor. „Natürlich nur, wenn es Ihre Zeit erlaubt. Hier in der Nähe gibt’s einen guten Italiener. Aber zunächst möchte ich mich vorstellen. Mein Name ist Anton Halbach.“

Greta gab ihm die Hand.

„Vielen Dank für Ihren Beistand.“

„Wenn Sie noch jemanden aus der Familie anrufen wollen … bitte bedienen Sie sich.“

Greta überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. Warum sollte sie jetzt noch ihrer Mutter von dem Vorfall erzählen? Sie würde sich nur unnötig aufregen. Denn das, was passiert war, ließ sich nicht mehr ändern. Es reichte, wenn sie sich morgen vom Hotel aus meldete.

Sie fuhren ein paar Kilometer mit dem Auto. Anton Halbach parkte in einer Tiefgarage. Von dort mussten sie noch ein paar Schritte laufen.

Im Lokal war noch ein Tisch für zwei Personen frei. Herr Halbach war ein Kavalier und rückte ihr den Stuhl zurecht. Aufatmend nahm Greta Platz. Vielleicht endete der Abend doch noch gut.

***

Es war zwanzig Uhr dreißig, als der junge Mann in der Rettungsleitstelle den fünften Notruf in seiner Schicht entgegennahm. Einer davon hatte sich gleich durch das Gespräch erledigt. Bei den drei anderen organisierte er umgehend die Abfahrt der Rettungsmannschaften. Beim letzten blieb er sogar mit einem verzweifelten Mann in Verbindung und gab bis zum Eintreffen der Sanitäter telefonisch Erste-Hilfe-Anweisungen.

Doch jetzt drohte einiges schiefzulaufen. Die Anruferin in der Leitung konnte kaum sprechen. Es schien ihr große Mühe zu bereiten, ihre Worte verständlich zu formulieren. Was sie sagen wollte, kam ihr nicht deutlich genug über die Lippen. Ihm war sofort klar, dass hier ein dringender Notfall vorlag, vermutlich ein Schlaganfall. Die Nervosität des Diensthabenden wuchs.

„Versuchen Sie es noch einmal, bitte …“

„Hilfe …“

„Ja, selbstverständlich helfen wir Ihnen. Wir wollen keine Zeit verlieren. Aber ich muss wissen, wo Sie sind …“

„Kopfweh … fürchterlich …“ Lang gezogene Stöhn- und Schmerzlaute und heftiges Ringen nach Luft. „… kann nichts sehen … kommen … schnell …“

„Bleiben Sie ganz ruhig.“ Ohne wichtige Informationen konnte er keinen Wagen losschicken. Wohin auch? „Wie heißen Sie?“

„Kauf … Kaufmann …“

Immerhin. Er schrieb den Namen sofort auf.

„Und der Vorname?“

„Agnes …“

„Was ist geschehen, Frau Kaufmann?“

Die Frau gab ein herzzerreißendes Wimmern von sich.

„… Kopfweh … unerträglich.“ Jeder einzelne Buchstabe forderte offenbar eine enorme Kraftanstrengung von ihr.

„Wo sind Sie, Frau Kaufmann? Wo?“

„… Ludwigs …“

„Ludwigs – was? Sagen Sie Ihre Anschrift. Versuchen Sie es. Ludwigstraße?“

„Nein …“, krächzte die Stimme kurz vorm Ersterben.

„Ludwigsfelder Straße?“ Mehr an ähnlichen Straßennamen fiel ihm nicht ein.

„… Ludwigstaler …“

„Ludwigstaler Straße.“ Ihm fiel ein riesiger Stein vom Herzen. Hastig notierte er den Straßennamen. „Und weiter, die Nummer?“

„Zwölf …“

„Ludwigstaler Straße zwölf. Sind Sie allein? Wie viele Personen …“

Ihr Aufstöhnen unterbrach seine Frage. Ein dumpfer Schlag kam aus dem Telefon. Als wenn etwas zu Boden gefallen wäre. Ein Möbelstück? Die Anruferin?

Das Gespräch war weg. Sofort versuchte er, mit der auf dem Display angezeigten Nummer eine neue Verbindung herzustellen, ohne Erfolg. Er hörte nur noch das Besetztzeichen. Eilig leitete er alles Nötige in die Wege.

Wenige Minuten später fuhr ein Ambulanzfahrzeug mit Blaulicht und Sirene von der Berling-Klinik in Richtung Ludwigstaler Straße. Am Steuer saß Sanitäter Rolf, neben ihm Dr. Martin Bremer, der vor dem Einsatz mit dem Kollegen Jordan in der Ambulanz Bereitschaftsdienst gehabt hatte.

Bis jetzt war der Abend trotz der wolkenbruchartigen Regenfälle ruhig verlaufen. Jan Jordan würde für einige Zeit auch ohne ihn zurechtkommen.

Das, was die Notrufzentrale mitgeteilt hatte, klang nach einer hilflosen Person, die sich nicht mehr artikulieren konnte. Dafür kamen so viele Ursachen infrage, dass es eigentlich müßig war, jetzt schon gedanklich die Erkrankungsmöglichkeiten durchzugehen.

Obwohl – extremer Kopfschmerz und Sehstörungen waren eindeutige Zeichen einer neurologischen Störung. Der Stimme nach zu urteilen, sollte es sich um eine ältere Frau handeln, hatte die Leitstelle mitgeteilt. Aber ein solcher Eindruck konnte auch täuschen, vor allem dann, wenn körperliche Schmerzen die Tonlage verzerrt klingen ließen.

Rolf hielt das Lenkrad fest umklammert. Ein heftiger Sturm mit riesigen Wassermengen im Gepäck fegte über Bayern hinweg. Das Tief Fabian war ein echter Rabauke und ließ die Menschen spüren, was es draufhatte. Eimerweise klatschte der Regen gegen die Windschutzscheibe. In manchen Regionen Bayerns war schon vor Überschwemmungen gewarnt worden.

„Das kann ja heiter werden“, knurrte Rolf.

„Das kriegen wir schon hin“, beruhigte der Arzt den Mann am Steuer. „Hoffentlich kommen wir in die Wohnung. Der Anruf ist plötzlich abgebrochen. Wir wissen also nicht, was da passiert ist.“

Ziemlich schwungvoll bog der Fahrer in die Ludwigstaler Straße ein. Zu beiden Seiten des Wagens spritzten dichte Wasserkaskaden auf.

Dr. Bremer versuchte durch den dichten Regenvorhang etwas zu sehen.

„Da, die Nummer zwölf!“, rief er erleichtert.

Rolf bremste scharf, parkte in der zweiten Reihe und ließ das Blaulicht eingeschaltet. Der Arzt sprang aus dem Wagen. Auf den wenigen Metern bis zur Haustür wurde er nass bis auf die Haut. Er rettete sich unter das Vordach und studierte angestrengt die Klingelschilder – und fluchte. Der von der Leitstelle kommunizierte Name war nicht dabei.

Daher klingelte er einfach irgendwo. Sofort wurde geöffnet. Im Erdgeschoss erschien ein junger Mann im Türrahmen.

„Wir haben einen Notruf bekommen. Wohnt hier eine Frau namens Kaufmann?“

Der Angesprochene zog ratlos die Schultern hoch.

„Nicht, dass ich wüsste. Aber fragen Sie Frau Leitner. Sie wohnt im zweiten Stock und kann Ihnen bestimmt weiterhelfen.“

Sollte die Anschrift doch falsch sein? Dr. Bremer hechtete nach oben. Ihm blieb jetzt keine Zeit, um lange Überlegungen anzustellen. Entweder er fand die hilflose Person in diesem Haus, oder sie mussten unverrichteter Dinge wieder umkehren, was natürlich höchst unbefriedigend war.

Im zweiten Stock gab es zwei Wohnungstüren. An der linken stand der Name Leitner, an der rechten Riedel. Er klingelte an der ersten.

Eine Frau mittleren Alters öffnete ihm.

„Wir haben einen Anruf von Frau Kaufmann bekommen. Sie befindet sich offensichtlich in einer Notlage“, erklärte er kurz sein Anliegen.

„O mein Gott, was ist denn passiert?“ Die Frau starrte ihn erschrocken an. „Frau Kaufmann? Die finden Sie dort“, sagte sie und wies auf die Tür nebenan. „Sie ist die Mutter von Frau Riedel und hütet die Wohnung ihrer Tochter. Die ist zurzeit in Berlin.“

Martin bedankte sich für diese Auskunft und drückte anhaltend auf den Klingelknopf Riedel. Niemand kam, um zu öffnen. Er legte das Ohr an die Tür. Drinnen rührte sich nichts.

„Warten Sie, ich habe einen Schlüssel“, sagte die Nachbarin zögernd. „Glauben Sie wirklich, dass etwas passiert …“

„Holen Sie ihn schnell“, unterbrach sie der Arzt ungeduldig. „Sonst müssen wir die Tür einschlagen. Jede Minute zählt.“

Die Frau verschwand. Sekunden später kam sie zurück. Rolf hechtete soeben die Treppe hinauf. Er hatte den Arztkoffer und die Trage dabei.

Die Nachbarin schloss auf. Zu zweit betraten die Männer die Wohnung, während die Frau sich im Hintergrund hielt. Sie schien sich einen möglicherweise unschönen Anblick ersparen zu wollen.

Das Licht, das den Raum nur spärlich erhellte, kam von der Stehlampe, die auf dem Parkettboden lag. Sie war trotz des Sturzes heil geblieben. Eine ältere Frau saß vor dem Sofa, ihr Kopf lag auf der Kante. Es sah aus, als hätte sie es nicht mehr rechtzeitig auf die Sitzfläche geschafft.

Dr. Bremer beugte sich über die Frau. Rolf öffnete den Arztkoffer. Der Arzt entnahm ihm einen Blutdruckmesser und ein mobiles EKG-Gerät und begann mit den ersten Untersuchungen.

Die Frau mochte ungefähr Mitte sechzig sein. Sie atmete, aber ihr Bewusstsein war getrübt. Auch auf Martin Bremers Zuruf reagierte sie nur mit ein paar gestammelten Lauten, die er nicht deuten konnte.

Für ihn ergaben die Symptome deutliche Hinweise auf einen Schlaganfall, womöglich auch auf eine transitorische ischämische Attacke, einen sogenannten Mini-Schlaganfall. Auf jeden Fall musste sie sofort zur Behandlung in die Klinik.

„Wir schaffen sie runter in den Wagen. Rufen Sie in der Ambulanz an“, trug der Arzt seinem Begleiter auf. „Sie sollen alles vorbereiten. Vermutlich Schlaganfall.“

Die Unterscheidung zwischen TIA und Schlaganfall war nicht einfach zu treffen, da zunächst die gleichen Symptome auftraten. Sollte es sich um einen kleinen Schlaganfall handeln, würden sich die Symptome bald wieder zurückbilden, waren aber trotzdem sehr ernst zu nehmen. Denn die eingetretene Durchblutungsstörung verursachte einen erheblichen Sauerstoffmangel im Gehirn, der späterhin dann oft schwere neurologische Ausfallerscheinungen zur Folge hatte. Wie stark sie waren, hing davon ab, welche Hirnregion betroffen war.

„Sie hat Lähmungserscheinungen sowie Sprachstörungen. Das Ausmaß der Schädigung können wir erst in der Klinik klären. Geben Sie das durch.“

Dr. Bremer spritzte der Kranken ein blutverdünnendes Medikament, um sie für die Fahrt in die Klinik zu stabilisieren. Arzt und Sanitäter betteten die Frau auf die Trage und schnallten sie fest.

„Die Tochter heißt also Riedel?“, wandte sich Martin an die Nachbarin.

„Ja, Greta Riedel.“

„Seit wann ist sie weg?“

„Seit vorgestern. Zusammen mit ihrer kleinen Tochter ist sie weggefahren.“

„Haben Sie die Handynummer von Frau Riedel?“

Cordula Leitner schüttelte den Kopf.

„Leider nicht. Wenn was ist, klopfen wir gegenseitig an unsere Tür. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen …“

„Schon gut“, fiel er ihr ins Wort. „Wenn die Patientin wieder zu sich kommt, wird sie uns sagen können, wie wir die Tochter erreichen.“

Frau Leitner wies auf die Tasche, die auf dem Schrank in der Diele lag.

„Ich glaube, die gehört Frau Kaufmann. Vielleicht nehmen Sie die besser mit – wegen der Daten und so.“

Dr. Bremer nahm die Tasche an sich. Im Fahrzeug legte er sie zu Füßen der Patientin. In der Klinik würde man ein Krankenblatt anlegen und Namen, Alter, Anschrift und Versicherungsnummer eintragen.

Zehn Minuten später fuhr der Wagen mit Blaulicht und Sirene Richtung Berling-Klinik, wo schon alles für die Aufnahme der neuen Patientin vorbereitet wurde. Es regnete immer noch so heftig, dass die Kanalisation vielerorts das Wasser von oben nicht mehr aufnehmen konnte.

***

Chefarzt Dr. Holl atmete erleichtert auf, als er den Wagen in die Garage seines Hauses lenkte. Bei einem solchen Unwetter zu fahren bedeutete auch für ihn Stress.

Seine Frau stürzte aufgeregt auf ihn zu.

„Ich habe versucht, dich erreichen. Wieso meldest du dich nicht?“

„Hab mein Handy in der Klinik liegen lassen. Was ist denn los, mein Schatz?“

„Gerade rief Chris an. Er ist mit dem Fahrrad gestürzt.“

Stefan erschrak.

„Um Himmels willen, was ist mit ihm? Wieso hat er nicht gleich in der Klinik angerufen?“

„Es ist nicht so schlimm, sagt er, aber das Rad ist beschädigt. Er kann damit nicht mehr fahren. Er hat sich unter eine Bushaltestelle gerettet.“

„Na, dann fahre ich gleich los und sammle ihn auf.“

„Ich komme mit. Cäcilie ist noch da. Sie bleibt bei Juju, bis wir zurück sind. Hab ich schon mit ihr besprochen.“

„Warum hat der Bub nicht aufgepasst? Und wieso ist er bei dem Wetter überhaupt mit dem Rad unterwegs?“ Stefan klang besorgt und liebevoll zugleich. „Ist sein Handy auf Empfang?“

Julia ging jetzt nicht auf Stefans Fragen ein.

„Ich habe ihm gesagt, er soll bleiben, wo er ist.“

Der ersehnte Feierabend musste also noch ein wenig warten. Stefan und Julia stiegen in den Wagen, und wieder ging es hinaus in die Wasserfälle.

Julia wählte die Nummer ihres Sohnes.

„Alles okay, Chris? Wir sind jetzt unterwegs und werden in ein paar Minuten bei dir sein. Rühr dich nicht von der Stelle.“

Der Fünfzehnjährige wartete durchnässt und bibbernd an der Bushaltestelle auf die Eltern. Mit dem Regen waren auch die Temperaturen drastisch gesunken.

„Was machst du denn für Sachen?“, fragte Julia ihren Sohn, als sie bei ihm ankamen und sie ihn überglücklich in die Arme schloss.

„Ein Wagen hat mich geschnitten, da bin ich gestürzt“, berichtete Chris zähneklappernd.

„So ein Mistkerl von einem Autofahrer“, schimpfte Stefan Holl. „Hast du dir die Autonummer gemerkt?“

Chris schüttelte den Kopf.

„Bei dem Wetter sieht man rein gar nichts.“

„Bist du verletzt?“, fragte Julia, die ihren Schirm über den Jungen hielt.

„Alles okay“, murmelte Chris und stieg in den elterlichen Wagen. „Nur ein bisschen Nasenbluten.“

Julia glitt hinter das Steuer, während Stefan noch schnell das Rad seines Sohnes in den Kofferraum hob und den Deckel schloss.

„Das Rad ist ja völlig verbeult“, sagte er, als er einstieg. „Fraglich, ob man das noch reparieren kann.“

Der größte Schock aber kam erst zu Hause. Chris’ Nase blutete zwar nicht mehr, aber rings um das linke Auge hatte er ein Hämatom. An den Händen befanden sich Schürfwunden.

„Da war ja ein ziemlich heftiger Sturz. Zieh dich aus“, befahl Julia ihrem Sohn.

„Aber Mama, es ist wirklich nichts …“

„Ausziehen!“ In solchen Dingen war die Mutter von vier Kindern unerbittlich.

„Deine Mama hat recht“, pflichtete Stefan seiner Frau bei.

Notgedrungen entledigte sich Chris seiner nassen Kleidung bis auf die Unterwäsche, wobei er ständig mit den Augen rollte.

„Bei zwei Ärzten als Eltern hat es ein Kind schwer“, seufzte er ergeben.

Julia drückte ihren Sohn auf einen Stuhl, um ihn zu begutachten.

„Aber dafür ist immer schnelle Hilfe zur Stelle“, erwiderte sie schlagfertig. „Ein aufgeschlagenes Knie, Hautabschürfungen an den Händen und ein schönes Veilchen. Als wenn dir jemand einen Fausthieb verpasst hätte.“

„Huch, wie siehst du denn aus?“, rief Juju, die soeben aus ihrem Zimmer kam.

„Du müsstest erst mein Rad sehen“, knurrte Chris. „Das hat’s noch viel schlimmer erwischt.“

Stefan brachte ein Desinfektionsmittel. Julia drückte auch ihrer Tochter Tupfer in die Hand. Gemeinsam machten sie sich daran, die Wunden des Verletzten zu säubern. Chris stöhnte dezent.

„Gleich zwei Frauen kümmern sich liebevoll um dich“, sagte sein Vater. „Das hat man als Mann nur selten.“ Er inspizierte den Schnitt über der Augenbraue, befand aber, dass Nähen unnötig war. Ein Pflaster genügte. Die Knie wurden verbunden.

Die schmutzigen Sachen kamen gleich in die Waschmaschine. Erstaunlicherweise war die Hose trotz der blutigen Knieabschürfungen heil geblieben.

„Jetzt habe ich einen Mordshunger – nach dem Schreck“, sagte Dr. Holl.

Juju bot ihrem Bruder an, ihn bis zum Tisch zu stützen, was der aber gekränkt zurückwies.

„Ich kann ganz gut allein gehen.“

„Sport fällt allerdings in den nächsten Tagen aus“, erklärte Julia ihrem Sohn schon mal vorsorglich. „Magst du auch was essen?“

Chris nickte und machte dabei ein leidendes Gesicht.

„Morgen früh sehen wir weiter. Vielleicht bleibst du ein paar Tage zu Hause.“

Juju verschwand kurz und kam mit ihrem Fotoapparat zurück, den ihr Opi Walter Berling zu Weihnachten geschenkt hatte. Bevor Chris widersprechen konnte, hatte sie schon einige Bilder geknipst.

„Zur Erinnerung“, meinte sie, als sie zufrieden die Fotos betrachtete. „Dein Gesicht sieht so schön bunt aus. Könntest du öfter machen, gefällt mir.“

„Ich verbiete dir ausdrücklich, die Bilder irgendjemandem zu zeigen oder sie gar hochzuladen.“

„Kannst du gar nicht“, kanzelte die jüngste Holl-Tochter ihren Bruder ab.

„Kann ich wohl. Hast du schon mal was vom Recht am eigenen Bild gehört? Wenn du mit den Fotos irgendwas tust, was ich nicht möchte, werde ich dich verklagen.“

„Ach Kinder, jetzt hört doch auf!“, verlangte Mutter Julia seufzend. „Wir haben heute schon genug Aufregung gehabt. Jetzt wünsche ich mir einen friedlichen Abend. Wäre das zu machen?“

Juju und Chris warfen sich einen einvernehmlichen Blick zu.

„Okay, Mama“, sagte Chris.

„Wir streiten nicht“, versprach Juju.

„Wo sind die Zwillinge?“, erkundigte sich Dr. Holl, als er schon am Tisch saß.

„Dani ist mit Freundinnen ins Kino gegangen. Marc wollte eigentlich schon da sein? Soll ich ihn mal kurz anrufen?“

„Nein, lass mal“, sagte Stefan leise zu seiner Frau. „Sonst fühlt er sich am Ende noch kontrolliert von uns.“

„Dani und Marc dürfen abends so lange ausbleiben, wie sie wollen“, maulte Juju. „Und ihr wisst nicht, wo sie gerade sind. Ich muss euch immer ganz genau sagen, wo ich hin will. Und früh wiederkommen muss sich auch.“

„Ach Schatz, dein Bruder Marc und deine Schwester Dani sind im Gegensatz zu dir erwachsen. Sie sind volljährig, dürfen wählen und Auto fahren. Und darum machen wir ihnen keine Vorschriften mehr, sondern geben nur noch Ratschläge, sofern die überhaupt gewünscht sind. Also vergiss deinen Kummer. In ein paar Jahren bist du auch so weit. Wir wollen dich doch nur beschützen. Und wenn du das selbst kannst, gibt’s auch für dich keine Einschränkungen mehr. Versprochen.“

Juju seufzte noch ein bisschen, aber im Grunde war sie mit den Erläuterungen des heiß geliebten Papas vollauf zufrieden.

„Außerdem habe ich nicht den Eindruck, dass es dir unangenehm wäre, mit dem Auto von irgendwo abgeholt zu werden“, warf Julia noch in die Debatte. „Zu diesem Zweck muss ich aber wissen, wo sich mein Kind befindet.“

„Du hast ja recht, Mama“, zirpte Juju. „Kann ich noch einen Löffel Nudeln haben?“

***

Am nächsten Morgen rief Greta vom Hoteltelefon aus zu Hause an, doch es meldete sich niemand. Vielleicht war ihre Mutter einkaufen gegangen, nachdem sie Sophie in die Kita gebracht hatte.

Agnes hasste es zwar, in der Öffentlichkeit zu telefonieren, aber Greta versuchte es trotzdem und rief Mama auf ihrem Mobiltelefon an. Doch es kam nur die Ansage, dass der Teilnehmer zurzeit nicht erreichbar war.

Möglicherweise war auch der Akku ihres Handys wieder mal leer. Da Agnes selten mit ihrem Handy telefonierte, versäumte sie es immer wieder, die Ladung des Handy-Akkus regelmäßig zu kontrollieren.

Schon oft hatte sich Greta deswegen mit ihrer Mutter gestritten, doch Agnes verweigerte sich weitgehend dem neumodischen Kram, wie sie die moderne Kommunikation nannte. Gretas Einwand, dass Handys doch sehr praktisch seien, um von unterwegs schnell etwas mitzuteilen, wies Agnes kurzerhand zurück.

Greta seufzte auf. Auch wenn ihre Mutter eine herzensgute Frau war, so erwies sich der Umgang mit ihr manchmal als schwierig. Andererseits empfand die junge Ärztin große Dankbarkeit, wenn ihre Mutter sofort einsprang, sobald sie gebraucht wurde. Und seit Bernds Tod wurde sie oft gebraucht. Greta hatte es oft schwer, Beruf und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen.

Sie überlegte kurz, ob sie ihren Retter von gestern Abend anrufen sollte. Er hatte ihr seine Karte gegeben und sie gebeten, ihn anzurufen, falls er ihr noch behilflich sein könne. Aber da sie nicht lästig erscheinen wollte, entschied sie sich dagegen.

Nach dem Frühstück machte sie sich in ihrem Zimmer für das Bewerbungsgespräch zurecht. Sie zog eine hochgeschlossene weiße Bluse an, drüber einen dunklen Blazer zu einem knielangen Rock.

Greta vertraute fest darauf, dass alles gut ging und sie den Job in der Charité bekam. Das wäre nach dem praktischen Jahr ihre erste Stelle als Assistenzärztin. Natürlich hätte sie sich auch in München nach einem guten Job umschauen können, aber sie glaubte, die Stadt verlassen zu müssen, in der sie so viel Leid erfahren hatte.

Mutters Worte kamen ihr in den Sinn.

Was soll denn in Berlin anders werden, Kind? Du kannst deinen Kummer nicht einfach irgendwo zurücklassen , hatte sie schon mehrfach gesagt.

Von der Rezeption kam ein Anruf, dass das Taxi da sei. Hastig verließ sie das Zimmer. Auf der Fahrt zum Personalchef der Klinik wurde Gretas Nervosität immer größer, doch als sie dem väterlich wirkenden Personalchef gegenübersaß, legte sich ihre Aufregung.

Nach einer Stunde versicherte ihr der Personalchef, dass sie in die engste Auswahl kam. Er wollte sie morgen kontaktieren. Sie gab ihm die Nummer vom Hotel und informierte ihn kurz über den Diebstahl ihres Handys.

Das gute Gespräch versöhnte sie wieder mit dem, was gestern geschehen war. Sie fasste neuen Mut. Alles wird gut, sagte sie sich. Ich werde in Berlin ein neues Leben beginnen – und die Vergangenheit hinter mir lassen.

Während sie noch überlegte, wie sie den heutigen Tag verbringen sollte, kam Anton Halbach lächelnd auf sie zu.

„Nanu, was machen Sie denn hier?“, fragte Greta erstaunt.

„Wie ist es gelaufen?“, antwortete er mit einer Gegenfrage und reichte ihr die Hand.

„Zu neunzig Prozent habe ich den Job. Sieht gut aus.“

„Herzlichen Glückwunsch. Sie haben mir ja gestern Ihren Bewerbungstermin verraten. Da habe ich es einfach mal auf gut Glück versucht. Und zu meiner großen Freude hat es geklappt. Haben Sie schon was vor?“

„Ich wollte mir ein wenig die Stadt anschauen.“

„Das ist eine gute Idee“, stimmte er ihr zu. „Hätten Sie was gegen meine Begleitung? Ich kenne mich hier aus.“

Lächelnd schüttelte sie den Kopf.

„Wenn Sie sonst nichts zu tun haben …“

Darauf ging er nicht ein, sondern wollte wissen, was ihr denn so vorschwebe.

„Die Museumsinsel? Der Fernsehturm? Die Hackeschen Höfe …“

„Sind Sie Berliner?“

„Sogar hier geboren“, sagte er.

„Dann überlasse ich die Entscheidung Ihnen.“

Das Erfolgserlebnis stimmte sie optimistisch. Und so ließ sie sich nur zu gern darauf ein, den Rest des Tages auf vergnügliche Weise zu verbringen.

Noch dazu legte das feuchtkalte Aprilwetter eine Verschnaufpause ein. Die Luft war noch frisch, aber die Sonne hatte vollkommen freie Bahn am Himmel und sorgte für ein Bilderbuch-Wetter.

Mit dem Bus unternahmen sie eine Stadtrundfahrt. Auf diese Weise sah Greta in zwei Stunden die wichtigsten Sehenswürdigkeiten.

Abends gingen sie wieder zusammen essen. Und ganz allmählich fühlte sich Greta zu Anton hingezogen. Zwar war sie weit davon entfernt, sich in ihn zu verlieben, aber die Nähe zu ihm tat ihr gut. Es war das erste Mal seit Bernds Tod, dass sie sich einem Mann ein wenig öffnen konnte.

„Darf ich Sie um Ihr Smartphone bitten? Für einen kurzen Anruf nach München?“

„Aber selbstverständlich.“ Er lächelte verschmitzt. „Aber nur, wenn wir das verstaubte Sie lassen und zum Du übergehen.“

„Kein Problem“, erwiderte Greta und gab ihre Festnetznummer von daheim ein.

Doch sie hörte wieder nur das Freizeichen. Wahrscheinlich brachte Mama die Kleine gerade zu Bett. Es konnte aber auch sein, dass sie nur deswegen nicht abnahm, weil das Display eine unbekannte Nummer anzeigte. Da ihrer Mutter schon mal auf telefonischem Weg ein Zeitschriften-Abo aufgeschwatzt worden war, verhielt sie sich in dieser Hinsicht äußerst vorsichtig und nahm einen solchen Anruf gar nicht erst an.

Weil Greta das wusste, machte sie sich keine Sorgen. Dann versuchte sie es auf Mutters Handy, doch auch dort war sie nicht erreichbar.

„Wann fahren Sie nach Hause zurück?“ Anton schaute sie erwartungsvoll an.

„Morgen“, erwiderte Greta. „Wollten wir uns nicht duzen? Der Vorschlag kam von dir.“

Sein jungenhaftes Lachen machte ihn noch eine Spur sympathischer.

„Da du schon mal hier bist, wäre es nicht möglich, noch einen Tag dranzuhängen? Dann könnte ich dir morgen noch viel mehr von der aufregendsten Stadt der Welt zeigen.“

Greta zog bedauernd die Schultern hoch.

„Das wird leider nicht gehen. Ich muss zurück.“

„Wartet in München ein Mann auf dich?“

„Nein“, erwiderte sie und zwang sich, seinem Blick nicht auszuweichen. Es war besser, ihm gleich reinen Wein einzuschenken, damit er wusste, woran er war. „Sie heißt Sophie und kommt im Herbst in die Schule. Hast du Kinder?“

Anton schüttelte den Kopf.

„Nicht, dass ich wüsste.“ Er trank einen Schluck Wasser. „Und es gibt auch keine Frau in meinem Leben.“

Greta spürte, dass er von ihr auch eine entsprechende Erklärung erwartete, doch sie sagte nichts, und er hakte auch nicht nach.

Als sie das Lokal verließen, blieb er stehen und legte seine Hände um ihre Schultern.

„Es ist lange her, seit mich eine Frau so beeindruckt hat wie du. Ich möchte mit dir in Kontakt bleiben.“

Sein liebevoller Blick berührte sie tief.

„Wenn ich in Berlin bin, werden wir uns treffen“, versprach sie. „Aber das dauert noch ein Weilchen. Ich fange zum ersten September an. Wenn der Vertrag unter Dach und Fach ist, komme ich wieder zurück. Für so einen großen Umzug ist ja viel zu regeln. Ich muss eine Wohnung und die passende Schule für meine Tochter finden … das wird noch viel Stress geben.“

Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.

„Ich kann dir helfen“, erklärte er augenzwinkernd. „Zufälligerweise bist du nämlich an einen Immobilienmakler geraten.“

„Was? Du?“

„Genau. Sag mir, was du willst. Und ich sage dir, was ich dir bieten kann.“

Greta war sofort Feuer und Flamme. Sie nannte ihm die Wunschgröße der Wohnung.

„Und natürlich wäre es gut, wenn sie ziemlich nahe an meinem neuen Arbeitsplatz wäre.“

Anton gab alle Informationen in sein Handy ein.

„Ich werde dir eine Wohnung besorgen, die auf deine Bedürfnisse zugeschnitten ist. Versprochen. Du musst mir nur sagen, wie ich dich in München erreichen kann.“

Sie gab ihm ihre Festnetznummer.

„Ich werde mir gleich morgen ein neues Mobiltelefon besorgen und gebe dir die neue Nummer durch.“

Sie unterbrach sich kurz und musterte mit wachsender Begeisterung die Miene ihres neuen Bekannten.

„Was für ein Glück, dass ich dich getroffen habe“, sagte sie.

„Ich mag dich.“ Diesmal griff er nach ihrer Hand, um die schmalen Finger mit seinen Lippen zu berühren. „Dich hat mir der Himmel geschickt. Schon lange sehne ich mich nach einer Frau, mit der ich vieles teilen kann. Und ich glaube, ich habe sie gefunden.“

„Wir wollen nichts überstürzen“, wandte Greta ein und lehnt sich zurück. „Ich sollte jetzt ins Hotel zurück. Mein Flug geht um zehn“, fügte sie nach einem Blick auf die Uhr hinzu.

Er versuchte nicht, sie umzustimmen, sondern brachte sie mit dem Taxi zu ihrem Ziel. Dort stieg er mit ihr aus und bedeutete dem Fahrer, auf ihn zu warten.

„Ich hoffe, ich werde dich bald wiedersehen, hier oder in München. Du bist etwas ganz Besonderes.“ Er beugte sich zu ihr vor und drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund.

Greta ließ es geschehen. Der letzte Mann, der sie geküsst hatte, war Bernd gewesen. Aber sie zwang sich, jetzt nicht an ihren toten Mann zu denken.

Nach wenigen Sekunden löste sie sich von ihm.

„Noch mal ganz vielen Dank für deine Hilfe. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte. Ich rufe dich in den nächsten Tagen an.“

„Lass mich nicht zu lange warten.“

Ein trauriges Lächeln und ein unnachahmlicher Blick aus treuen Hundeaugen war das Letzte, was sie von ihm wahrnahm, bevor er sich abwandte und mit großen Schritten zum Taxi ging.

***

Obwohl es schon spät war, wählte Greta ihre Nummer von zu Hause. Und wieder meldete sich ihre Mutter nicht. Was war da los?

„Geh ran!“, murmelte sie mit wachsender Panik.

Endlich wurde abgehoben, doch ihre Mutter sagte nichts.

„Hallo, Mama, hier ist Greta. Warum sagst du denn nichts?“

Das zarte Stimmchen ihrer Tochter erlöste Greta aus ihren Ängsten.

„Mama …“

„Hallo, mein Schatz. Wie geht es dir? Warum bist du nicht im Bett? Hast du noch Fieber?“

„Wann kommst du nach Hause, Mama?“ Das Kind hustete.

Die Erkältung war also noch immer nicht abgeklungen.

„Morgen. Ich nehme gleich das erste Flugzeug. Und dann bin ich wieder bei euch. Ich bringe Hörnchen vom Bäcker mit. Dann frühstücken wir zusammen. Gib mir mal die Oma.“

„Komm jetzt gleich, Mama. Bitte …“

„Aber Liebes, du weißt doch, dass ich in Berlin bin, also ziemlich weit weg von München. Morgen bin ich wieder bei euch … sag mal, wieso bist du eigentlich noch auf? Hat die Oma das erlaubt?“

„Die Omi schläft.“

„Also gut, dann lassen wir sie schlafen. Aber wenn sie aufwacht, dann sag ihr, sie soll mich im Hotel anrufen. Kannst du dir das merken?“

„Ja.“

„Im Hotel, hörst du? Omi hat die Nummer. Sie muss irgendwo beim Telefon liegen. Sie soll mich gleich anrufen. Sagst du ihr das, mein Schatz?“

„Komm nach Hause, Mama!“

„Morgen bin ich wieder bei euch, mein Schatz. Was habt ihr denn zu Abend gegessen?“

„Kekse“, lautete die Antwort.

Greta seufzte. Zwar hatte sie ihrer Mutter eingeschärft, dem Kind nicht zu viel Süßes zu geben, aber leider hielt sie sich nicht daran. Und wenn Sophie bettelte, wurde die Großmutter schwach, und die Enkelin bekam alles, was sie sich wünschte.

„Weißt du was, am besten gehst du jetzt wieder ins Bett. Und die Omi soll mich anrufen. Küsschen, mein Schatz. Die Mama hat dich sehr lieb.“

„Ich hab dich auch sehr lieb.“

Warum klang das Kind so traurig? Nachdenklich legte Greta das Telefon zurück und wartete gespannt auf den Rückruf ihrer Mutter, der aber nicht kam. Nach einer Stunde war sie so nervös, dass sie erneut ihre Festnetznummer wählte.

Aber niemand hob ab.

Erneut versuchte sie es auf Mutters Handy. Und während sie dem Freizeichen lauschte, keimte Panik in ihr auf. Was war zu Hause los?

***

Die Ärzte Bremer und Holl standen am Bett der Patientin. Gemeinsam mit Schwester Marion hatte Dr. Bremer gestern in die Tasche der Frau geschaut. Darin befanden sich unter anderem ein Personalausweis und die Gesundheitskarte. Auf diese Weise wussten sie, dass sie es mit Agnes Kaufmann, sechsundsechzig Jahre alt, wohnhaft in Germering, zu tun hatten. In ihren Ausweispapieren befanden sich keine Hinweise auf chronische Krankheiten.

Bis jetzt waren ihr blutverdünnende Medikamente verabreicht worden, aber noch hatte sie ihre Sprache nicht wiedergefunden, und die neurologischen Ausfallerscheinungen hielten noch an, ebenso ihre Verwirrtheit.

„Es wird Zeit, dass sie ein paar Fortschritte macht“, meinte Dr. Holl. „Hat sich ihre Tochter inzwischen gemeldet?“

„Nein.“ Martin Bremer hob ratlos die Schultern. „Womöglich weiß sie noch gar nicht, dass ihre Mutter bei uns in der Klinik ist.“

„Können wir sie erreichen?“

„Frau Kaufmann hatte ein Handy in der Tasche, aber der Akku ist leer.“

„Ich würde sagen, wir laden ihn auf. Die Nummer der Tochter wird gespeichert sein, dann könnten wir uns mit ihr in Verbindung setzen. Wie war der Name?“

„Greta Riedel, das wissen wir von der Nachbarin.“

Dr. Bremer zog die Schublade des Nachttisches auf und nahm das Handy heraus.

„Das ist ja noch ein Modell aus der Steinzeit“, meinte er belustigt. „Kann sein, dass ich zu Hause noch ein altes Ladegerät habe.“

„Gut, dann nehmen Sie das Handy mit und setzen sich mit der Tochter in Verbindung. Ich fahre jetzt auch nach Hause. Es war ein langer Tag.“

Stefan bewegte den Kopf zur Seite und drückte die Schultern nach hinten.

„Ich glaube, ich bin etwas verspannt.“

„Dann sollten Sie sich eine Heilmassage geben lassen. Wir haben hier ja eine tüchtige Physiotherapeutin …“

„Na, so schlimm ist es auch wieder nicht“, wehrte Dr. Holl ab. „Eine verspannte Schulter ist ja keine Krankheit.“

Die beiden Ärzte verabschiedeten sich mit einem kräftigen Händedruck. Als Dr. Martin Bremer in seinem Wagen saß, überlegte er, ob er noch zum Stammtisch seiner Freunde fahren sollte, fuhr dann aber doch lieber gleich nach Hause. Er war verdammt müde. Um morgen wieder einigermaßen fit zu sein, brauchte er wenigstens sechs Stunden Schlaf. Die Freundesrunde musste heute ohne ihn auskommen.

Er fuhr das Auto nicht in die Garage, sondern ließ es vor dem Haus stehen. Obwohl er heimkam, empfand er in seinen vier Wänden immer häufiger ein Gefühl von drückender Einsamkeit.

Bis vor zwei Jahren hatte er noch mit seinem Vater hier gelebt. Sein Tod war ziemlich überraschend gekommen. Während Martin für ein paar Tage in Tirol weilte, war Friedrich Bremer einem Herzinfarkt erlegen. Er hatte noch nicht einmal einen Notruf tätigen können. Der Sohn fand den Vater tot auf.

Martin machte sich Vorwürfe, dass er als Arzt seinen Vater nicht gerettet hatte, aber schließlich sah er ein, dass es Situationen im Leben gab, die sich jeglicher Kontrolle entzogen.

Seit einiger Zeit dachte er immer häufiger daran, sein Elternhaus zu verkaufen, doch er konnte sich nicht entscheiden. Einerseits war das Haus für einen einzigen Menschen zu groß. Andererseits träumte er heimlich immer noch von einer Familie, auch wenn er diese Träume bei sich selbst als naiv bezeichnete. Es erschien ihm ungeheuer schwierig, eine Frau zu finden, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte.

Bis jetzt hatte keine Beziehung zu einer Frau länger gehalten. Den meisten war sein Beruf lästig. Nicht die Arzttätigkeit als solche störte sie, sondern der Umstand, dass er zu viel Zeit damit verbrachte und immer wieder Verabredungen absagen musste, weil er für einen dringenden Notfall gebraucht wurde. Aus diesem Grund wandten sich die meisten Frauen bald wieder von ihm ab.

Mit Valentina, seiner letzten Freundin, hätte er sich eine Partnerschaft vorstellen können, aber dann hatte sie sich als so extrem eifersüchtig erwiesen, dass er seinerseits die Beziehung kurz und radikal beendete.

Leicht war ihm das nicht gefallen, aber ihre haltlosen Vorwürfe ertrug er auf die Dauer nicht. Danach kapselte er sich ab und übersah geflissentlich, wenn ihm eine Frau im Club oder an der Bar schöne Augen machte. Flirts interessierten ihn nicht mehr.

Während er den Akku auflud, machte er sich in der Küche ein schnelles Abendessen. Eine Scheibe Schinken in die Pfanne, darauf zwei Spiegeleier, eine Scheibe schon ziemlich trockenes Brot – das reichte.

Den gebrauchten Teller stellte er in die Spüle, ging ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein, um sich einige Nachrichten aus Politik und Sport anzusehen.

Ein ihm unbekannter Klingelton erklang. Was war das denn, gab es hier Geister? Doch schnell realisierte er, dass es das Handy der Patientin war. Es war noch an das Ladegerät angeschlossen.

Gespannt nahm er den Anruf entgegen. Greta meldete das Display. War das der Name der Tochter? Er holte einmal tief Luft.

„Hier spricht Martin Bremer“, sagte er.

„Wer sind Sie?“, kam es misstrauisch zurück. „Wie kommen Sie an das Handy meiner Mutter?“

Dr. Bremer räusperte sich und suchte nach klaren, aber auch beruhigenden Worten.

„Hören Sie, ich bin Arzt in der Münchener Berling-Klinik. Und Sie sind die Tochter von Frau Kaufmann, nicht wahr? Ich bin gerade dabei, das Handy Ihrer Mutter aufzuladen. Der Akku war vollkommen leer.“

„Was ist mit meiner Mutter?“ Jetzt klang die weibliche Stimme erschreckt und verwirrt.

„Leider habe ich keine so guten Nachrichten“, begann Martin etwas holprig. „Wir mussten Ihre Mutter mit Verdacht auf einen Schlaganfall in die Klinik bringen. Sie wird jetzt behandelt. Das Zentralnervensystem ist betroffen. Ihr Bewusstsein ist noch getrübt. Sie leidet außerdem an Sprachstörungen, aber wir erwarten, dass die bald behoben sein werden.“

„Meine Mutter im Krankenhaus? Um Himmels willen …“

Er hörte sie heftig atmen und sprach schnell weiter.

„Wie gesagt, in der Berling-Klinik. Sie wird rund um die Uhr betreut. Und es bestehen gute Chancen, dass sie diesen Anfall überwindet. Es handelt sich um eine transitorische ischämische Attacke, auch Mini-Schlaganfall genannt. Ihre Mutter hat es gerade noch geschafft, einen Notruf durchzugeben, bevor sie das Bewusstsein verlor. So fanden wir sie, als wir in die Wohnung kamen …“

Es drängte ihn, immer weiterzureden – in der Hoffnung, sie damit zu beruhigen. Doch sein Plan ging nicht auf. Ein entsetzter Schrei unterbrach seinen Bericht.

„Und wo ist mein Kind?“

Zunächst verschlug es ihm die Sprache.

„Ihr Kind? Ich denke, es ist bei Ihnen, sagte die Nachbarin, die uns in die Wohnung ließ …“

„Meine Tochter ist ganz allein in der Wohnung“, jappte Greta. „Sie ist noch keine sechs Jahre alt. Ich habe vorhin mit ihr gesprochen.“

„Aber wir haben kein Kind in der Wohnung gesehen. Die Nachbarin sagte, Sie hätten Ihre Tochter mitgenommen.“ Martin war wie elektrisiert. „Und Ihre Mutter konnte sich nicht artikulieren.“

„Wahrscheinlich lag Sophie in ihrem Bett und schlief. Sie hatte Hals- und Ohrenschmerzen. Um Himmels willen, Sie müssen sie sofort holen.“

„Ich mache mich auf den Weg. Geben Sie mir Ihre Handynummer, damit ich Sie von unterwegs anrufen kann.“

„Zurzeit bin ich mobil nicht zu erreichen. Mein Handy wurde mir gestohlen. Sie müssen mich im Hotel anrufen. Mein Gott, ich drehe durch. Wenn Sophie etwas passiert ist, mache ich Sie verantwortlich …“

Diese Drohung hielt Martin ihrer Angst zugute und ersparte sich eine Erwiderung darauf.

„Bitte beruhigen Sie sich. Das war ein tragischer Umstand. Ich werde mich sofort um Ihre Tochter kümmern. Frau Leitner, die Nachbarin, hat ja einen Schlüssel.“

„Beeilen Sie sich, ich vergehe vor Angst …“

„Verlieren Sie nicht die Nerven, Frau Riedel. Mit Panik kommen wir jetzt nicht weiter. Mein Name ist Martin Bremer, ich bin Stationsarzt in der Berling-Klinik.“

„Retten Sie mein Kind!“, schluchzte die Mutter.

„Ich werde alles tun, um Ihr Kind aus der Wohnung zu holen. Bleiben Sie in der Nähe des Telefons. Dann können Sie auch gleich mit Ihrer Tochter sprechen.“

„Glauben Sie wirklich, ich könnte in diesem Zustand irgendwo hingehen? Natürlich warte ich auf Ihre Nachricht.“

„Geben Sie mir Ihre Telefonnummer!“

Mit stockender Stimme nannte Greta die Zahlen, die Martin gleich bei sich eingab.

„Sie können gleich durchwählen“, sagte sie.

„Frau Riedel, ich mache mich jetzt auf den Weg. Sie hören von mir.“

„Ich flehe Sie an …“

„Wir sollten jetzt Schluss machen“, unterbrach er sie streng. „Bis später.“

Nach dem Gespräch mit der Mutter rief er den Chefarzt an und erklärte die Situation.

„Da müssen wir sofort etwas tun“, sagte Dr. Holl, ohne lange nachzufragen. „Holen Sie mich ab? Dann können Sie mir unterwegs alles erzählen. Oder sollen wir gleich die Feuerwehr alarmieren?“

„Ich denke, das kriegen wir so hin. Die Nachbarin hat ja einen Wohnungsschlüssel.“

„Am besten bringe ich meine Frau gleich mit. Sie ist Kinderärztin und kann sich das Mädchen anschauen.“

„Gute Idee“, sagte Martin Bremer, legte auf und raffte in der Garderobe seine Jacke vom Haken.

***

Julia war nicht gerade begeistert, bei diesem Wetter noch mal das Haus zu verlassen. Die Wetterfrösche hatten sich mit ihren positiven Prognosen wieder mal geirrt. Seit Stunden zog ein Tief nach dem anderen über Bayern, diesmal trug es den Namen Hubert. Aber wenn ein kleines Mädchen in Not war, kannte ihre Hilfsbereitschaft keine Grenzen.

Sie ging zu Daniela, die in ihrem Zimmer vor dem Laptop saß.

„Hör mal, Liebes, wir müssen noch mal weg. Juju schläft schon, bei Chris brennt noch Licht. Ihm geht es schon wieder ganz gut. Kümmere dich um ihn, falls es notwendig wird.“

„Mach dir keine Sorgen, Mama. Du kannst dich auf mich verlassen.“

„Danke, meine Große.“ Julia gab ihrer Tochter einen Kuss auf die Wange. Wenig später klingelte es. Stefans Kollege Bremer stand in der Tür.

„Na, dann mal los“, sagte Stefan, nachdem alle im Wagen saßen. Während der Fahrt berichtete Martin, was er von der Mutter wusste.

„Dann ist die Kleine ja schon seit Tagen allein in der Wohnung“, stieß Julia hervor und vermied es, sich auszumalen, was in dieser Zeit alles passiert sein konnte.

Zehn Minuten später erreichten sie das Wohnhaus. Martin Bremer klingelte Sturm bei Frau Leitner, doch sie öffnete nicht.

„Sie hat den Schlüssel“, presste er hervor und schaute an der Fassade hoch.

Schließlich versuchte er es wieder bei dem jungen Mann im Erdgeschoss, der ihn sofort wiedererkannte.

„Wir müssen in die Wohnung von Frau Riedel“, sagte Dr. Bremer. „Aber die Nachbarin öffnet nicht. Wer wohnt in der Wohnung darüber?“

„Die Gärtners“, sagte der Hausbewohner. „Ich habe sie gegen Abend nach Hause kommen sehen.“

„Danke.“ Martin stürmte die Treppe hinauf. Stefan und Julia folgten ihm. Trotz der vorgerückten Stunde klingelte er bei den Gärtners und klopfte auch noch gegen die Tür.

Endlich wurde geöffnet.

„Was ist denn hier los?“, erkundigte sich der Mann mit grimmiger Miene. „Wissen Sie, wie spät es ist?“

„Hören Sie“, sagte Martin und berichtete in kurzen Worten, weswegen Sie hier waren.

Mit Lockenwicklern im Haar erschien die Frau des aufgebrachten Mannes.

„Was, die Kleine ist allein?“, rief sie aus und rollte die Augen. „Das ist ja schrecklich.“

„Darum müssen wir versuchen, von Ihrem Balkon auf den darunterliegenden Balkon zu kommen“, fasste Dr. Bremer nervös zusammen.

„Sind Sie verrückt? Das ist lebensgefährlich“, sagte der Mann. „Ein falscher Tritt und Sie fallen in die Tiefe.“

„Keine Sorge, ich bin ein geübter Kletterer“, erwiderte Martin und lief schon die Stiege hinunter, um aus dem Wagen das Kletterseil und eine Stirnlampe zu holen. Damit müsste er genügend Licht für seinen nicht alpinen Klettergang haben.

Zehn Minuten später hing das Seil zwar sicher verschlungen vom Balkongeländer der Gärtners bis zum Balkon der darunterliegenden Wohnung, aber Regen und Sturmböen ließen es kräftig hin- und herpendeln.

„So ganz ungefährlich ist das nicht“, rief Dr. Holl in den Wind. „Sollen wir nicht doch die Feuerwehr …“

„Das schaffe ich schon“, gab Dr. Bremer zurück, verstaute das Handy sicher in der Brusttasche seiner Wetterjacke, band sich die Stirnlampe um und begann den Abstieg. „In wenigen Augenblicken bin ich unten.“

Währenddessen versuchte Julia Holl das ältere Ehepaar zu beruhigen. Es passierte ihnen gewiss nicht oft, dass zu nachtschlafender Zeit fremde Leute bei ihnen eindrangen, um sich vom Balkon ihrer Wohnung in das untere Stockwerk abzuseilen.

Martin konzentrierte sich auf sein Vorhaben. Er warf einen Blick nach unten. Das Licht der Straßenlaternen spiegelte sich im nassen Asphalt. Die Fallhöhe von hier aus erschien ihm beträchtlich. Falls er stürzte, war ein Überleben nach menschlichem Ermessen ziemlich ausgeschlossen. Aber jetzt durfte er nicht an das schlimmste Szenario denken.

Mutig ans Werk, motivierte er sich selbst. Es würde schon alles gut gehen. Ein kleines Mädchen brauchte seine Hilfe! Er hatte schon viel schwierigere Kletterpartien in den Bergen gewagt. Dagegen war das hier so etwas wie eine Anfängerübung. Aber war es das wirklich?

Mit beiden Händen umfasste er das Seil, stieß sich leicht vom Geländer ab und hangelte sich in die Tiefe. Auf halbem Weg zwischen der dritten und zweiten Etage hing er in der Luft, seine Füße fanden noch nicht den rettenden Halt des unteren Geländers. Der Regen bereitete ihm zusätzliche Schwierigkeiten, das Seil festzuhalten.

Zum Glück ließen ihn seine muskulösen Arme nicht im Stich. Und endlich streifte er mit den Füßen die Balkonbrüstung der unteren Wohnung. Er stieß sich leicht nach innen und landete nach einer kurzen Drehung auf dem festen Boden der Loggia.

Gewonnen war damit noch nichts. Natürlich war die Glastür verschlossen, hinter den Scheiben blieb es dunkel. Und leider war das Fenster neben dem Balkon auch nicht gekippt, was die Sache wesentlich erleichtert hätte.

Jetzt galt es, das womöglich schlafende Kind auf sich aufmerksam zu machen. Dabei wusste Dr. Bremer noch nicht einmal, wo Sophies Zimmer lag. Und dann stellte sich noch die Frage, ob sie ihn trotz des trommelnden Regens und des heulenden Sturms hörte. Kinder haben bekanntlich einen sehr, sehr festen Schlaf.

Wenn nicht, musste er sich wieder hochziehen und gemeinsam mit Dr. Holl einen neuen Rettungsplan entwerfen. Dann bliebe ihnen nur noch die gewaltsame Öffnung der Tür oder die Zerstörung einer Fensterscheibe.

Nach der Kraftanstrengung verschnaufte er eine Weile.

„Alles in Ordnung?“, tönte es von oben.

„Bin gut gelandet“, rief Martin hinauf und klopfte gegen die Scheibe. „Sophie, hörst du mich? Wach auf.“

Es kam keine Reaktion. Der Wind trieb ihm einen Schwall Wasser in den Nacken. Er klopfte heftiger.

„Sophie!“

Nach fünf Minuten rief Stefan seinem jungen Kollegen zu, er solle sich doch besser wieder hochziehen, doch davon wollte Martin noch nichts wissen.

„Ich mache noch einen Versuch!“, teilte er lautstark mit.

Inzwischen waren in etlichen Wohnungen die Lichter angegangen.

„Sophie!“ Martin wollte nicht aufgeben. Die Stirnlampe leuchtete ins Innere der Wohnung. Die Vorhänge waren nicht zugezogen. Auf einer breiten Ablage direkt hinter dem Fenster standen ein paar Topfpflanzen.

„Sophie!“ Er brüllte jetzt aus Leibeskräften und schlug so heftig mit der Faust gegen die Scheibe, dass er fürchtete, sie zu zertrümmern.

Und dann ging drinnen das Licht an. Martin atmete auf. Nach ein paar Sekunden erschien der blonde Schopf eines Kindes. Das Mädchen kletterte auf ein Möbelstück, offensichtlich ein Sofa, das unter dem Fenster stand, stützte sich mit beiden Armen auf die breite Fensterbank und schaute ihn neugierig an.

Gott sei Dank, dachte er und presste seinen Mund fast gegen die Scheibe.

„Hallo, Sophie, deine Mama schickt mich. Ich heiße Martin. Du musst die Balkontür öffnen, damit ich zu dir hinein kann.“

Konnte sie ihn hören? Und hatte sie seine Anweisung verstanden?

Mit großen Augen schaute sie ihn an. Und dann schüttelte sie langsam den Kopf. Ein deutliches Nein. Sein Herz zog sich zusammen. Klar, sie misstraute ihm. Was aus ihrer Sicht ja auch vernünftig war in dieser Situation. Wahrscheinlich war ihr eingeschärft worden, bei fremden Männern grundsätzlich argwöhnisch zu sein. Erst recht bei solchen, die nachts an ihr Fenster klopften.

Wie konnte er ihr glaubhaft erklären, dass er doch nur helfen wollte?

Kurz entschlossen rief er Sophies Mutter in ihrem Berliner Hotel an.

„Frau Riedel, ich stehe jetzt auf Ihrem Balkon. Ich habe mich von oben abgeseilt. Leider war Ihre Nachbarin nicht zu Hause, also können wir nicht mit dem Schlüssel in die Wohnung. Soll ich das Fenster einschlagen?“

Dann würde es in dem Wohnraum kalt und ungemütlich werden, aber das Kind war gerettet.

„Natürlich, wenn es sein muss.“

„Vielleicht kann ich sie dazu bringen, das Fenster zu kippen. Dann könnten Sie mit ihr sprechen und ihr Mut machen.“

„Versuchen Sie es, bitte!“ Die Stimme der Mutter klang rau vor Sorge.

„Sophie, öffnete das Fenster einen Spalt“, schrie er. „Dann gebe ich dir das Telefon. Deine Mama will dich sprechen.“

Das Kind dachte nach. Tränen rannen in kleinen Bächen über sein Gesicht.

Nach einer kleinen Ewigkeit richtete Sophie sich auf. Mit ihren kleinen Händen umfasste sie den Griff, um so das Fenster in Kippstellung zu bringen. Doch die Schließvorrichtung schien zu klemmen. Sophie schaffte es nicht.

***

Schwester Marion prüfte den Blutdruck bei der Patientin, die nun einen sehr erregten Eindruck machte. Die Pflegerin besprach sich mit Dr. Jordan, der ein zusätzliches Medikament verordnete, um Frau Kaufmanns Unruhe zu mindern. Ständig versuchte sie zu sprechen, aber aus ihrem Mund kam nur Wortsalat.

„Sie will etwas sagen, bringt es aber nicht heraus“, sagte Marion und strich der Patientin mitfühlend über den Arm. „Das wird schon wieder, Frau Kaufmann, machen Sie sich keine Sorgen.“

Jan Jordan nahm die Pflegerin beiseite.

„Eigentlich hätte sie ihre Aphasie längst überwinden sollen“, meinte er leise. „Aber jeder Patient reagiert anders. Bei ihr dauert es besonders lang. Bleiben Sie noch ein Weilchen bei ihr, bis sie ruhiger geworden ist.“

Marion befolgte den Rat des Arztes. Nach einer Weile ließ die Anspannung der Patientin nach. Agnes lag jetzt da mit geschlossenen Augen. Sie schien eingeschlafen zu sein.

Leise verließ die Pflegerin den Raum und kehrte ins Stationszimmer zurück, wo Kollegin Jasmin vor dem Bildschirm saß und ein paar Eintragungen vornahm.

„Es ist noch frischer Kaffee da“, sagte sie und deutete auf die Thermoskanne. „Greif zu, bevor es andere tun.“

„Danke.“ Marion goss sich den Becher voll und gab etwas Milch hinein. Um Kalorien zu sparen, ließ sie den Zucker weg.

„Frau Kaufmann hat noch ein Beruhigungsmittel bekommen“, berichtete sie.

„Welches? Ich trage es gleich ein.“

Marion nannte den Namen des Medikaments.

„Soll sie es weiterhin einnehmen?“

„Da musst du Doktor Jordan fragen, der kommt gleich und wird die Dosis festlegen.“

„Hallo!“, rief Jasmin und stand auf. „Frau Kaufmann hat ein Sedativum bekommen?“, rief sie aus. „Wieso läuft sie dann so flink zur Treppe?“

„Was?“ Marion stellte den Kaffeebecher so heftig ab, dass eine Pfütze auf der Unterlage entstand. „Das gibt’s doch nicht … Frau Kaufmann, halt! Wo wollen Sie denn hin?“ Und schon spurtete sie los, der Patientin hinterher.

Doch auch Agnes schien von neuer Energie beflügelt zu sein. Als sie ihren Namen rufen hörte, beschleunigte sie ihre Schritte, stürzte aber nach wenigen Metern auf die Seite, bevor Marion sie erreichte.

„Frau Kaufmann, was machen Sie denn da!“

„Meine Enkelin“, keuchte Agnes. „… das arme Kind …“

„Sie spricht wieder“, stellte Jasmin fest. Eine gewisse Genugtuung schwang in diesen Worten mit.

„Jetzt müssen wir sie erst mal wieder hochkriegen. Hilf mir.“

Zu zweit versuchten die beiden Pflegerinnen, die Kranke auf die Füße zu stellen, was ihnen aber nicht gelang.

„Ruf den Doktor, schnell“, verlangte Marion.

Jasmin schlug Alarm. Wenig später beugte sich Dr. Jordan über die Frau und konstatierte nach einer kurzen Untersuchung die Verdrehung des rechten Beins. Aufstehen oder gehen war so nicht mehr möglich.

„Das sieht sehr nach einer Oberschenkelhalsfraktur aus“, stellte er kopfschüttelnd fest. „Wie konnte das passieren?“

Ärgerlich schaute er von Marion zu Jasmin und wieder zurück.

„Als ich sie verließ, schlief sie. Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie gleich aufsteht und davonläuft“, rechtfertigte sich Marion. „Das Medikament, das Sie ihr verordnet haben, wirkt offensichtlich nicht.“

„Schon gut“, winkte Jan Jordan ab. „Wir wollen jetzt nicht diskutieren. Holen Sie endlich eine Trage. Das Bein muss sofort geröntgt werden. Sind Vorerkrankungen bekannt? Osteoporose?“

Marion verschwand und kam wenig später mit zwei kräftigen Pflegern zurück. Die Patientin stöhnte auf, als sie auf die Trage gebettet wurde. Umgehend brachte man sie in die Röntgenabteilung.

Wenig später stand die Diagnose fest: mediale Schenkelhalsfraktur, der häufigste Bruch des Halses vom Oberschenkelknochen.

„Nun wird sie noch länger bei uns bleiben“, sagte Marion später zu ihrer Kollegin. „Sie hat da was von ihrer Enkelin gesagt. Was meinte sie wohl damit?“

„Sie war noch verwirrt“, erwiderte Jasmin. Sie gingen ins Stationszimmer zurück. Marions Kaffee war inzwischen nur noch lauwarm.

***

„Du musst es noch mal versuchen“, rief Martin. Und zu Greta am Telefon: „Es scheint zu schwer für sie zu sein.“

„Sie muss den Griff von unten nach oben drehen“, erklärte die Mutter aufgeregt.

Martin gab die Anweisung weiter. Sophie strengte sich an. Die Aussicht, mit ihrer Mama zu reden, schien ihr neue Kräfte zu verleihen. Und schließlich brachte sie das Fenster in Kippstellung.

„Sprich mit deiner Mama.“ Martin reichte ihr sein Telefon. Er sah das Kind noch glücklich lächeln, als es die Stimme seiner Mutter hörte. Dann wandte Sophie das Gesicht weg.

Das Gespräch zwischen Mutter und Tochter kam Martin endlos vor. Der Wind trieb den Regen jetzt fast waagerecht auf den Balkon und gegen die Glasfront. Er begann zu frieren. Hoffentlich endete diese Rettung bald – und vor allem gut.

Jetzt kam Bewegung in Sophie. Sie legte das Telefon auf die Fensterbank und ging zur Balkontür. Zwei Sekunden später ging sie auf, und er war drin.

Als Erstes schloss er die Tür und das gekippte Fenster, dann öffnete er rasch die Wohnungstür, rief durch das Stiegenhaus zum Ehepaar Holl hinauf und griff nach dem Telefon.

„Es hat geklappt“, sagte er zu der Mutter des Kindes. „Die Balkontür ging ganz leicht auf. Hören Sie, Frau Riedel, zu unserem Team gehört auch eine Kinderärztin. Ich schlage vor, dass wir Sophie mit in die Klinik nehmen. Wir werden sie kurz untersuchen und sie dann bei uns behalten, bis Sie kommen.“

„Ich nehme morgen um zehn den Flieger und komme dann sofort in die Klinik. Vielen, vielen Dank für die Rettung meines Kindes, Doktor …“

„Bremer“, ergänzte er. Er war ihr nicht böse, dass sie in der Aufregung seinen Namen vergessen hatte.

„Doktor Bremer“, wiederholte sie. „Wer weiß, was noch alles hätte passieren können.“

Martin lächelte vor sich hin. Von ihren Dankesworten fühlte er sich geradezu gestreichelt. Und auch die Tonlage ihrer samtigen Stimme mochte er. Wie mochte sie wohl aussehen?

„Was sollen wir von Sophies Sachen mitnehmen?“, fragte die inzwischen eingetroffene Julia Holl. Martin gab ihr das Telefon.

Greta beschrieb ihr genau, wo sie was fand. Unten im Schrank stand eine große Tasche. Daneben ein Paar Schuhe, die das Kind gleich anziehen konnte. Während Julia alles Nötige einpackte, sprach Sophie wieder mit ihrer Mama. Anschließend reichte sie Martin das Telefon.

„Meine Mama will dich sprechen.“

„Ich habe ihr erklärt, dass sie mit Ihnen gehen muss und dass wir uns morgen wiedersehen. Bitte rufen Sie mich sofort an, wenn sie unruhig wird. Und jetzt will ich natürlich noch wissen, wie es meiner Mutter geht.“

„Erfahrungsgemäß wird sie ihre Sprachstörung überwinden“, erklärte ihr der Arzt. „Vielleicht ist es in der Zwischenzeit schon geschehen. Ich werde Ihnen morgen einen detaillierten Bericht geben“, versprach er. „Jetzt versuchen Sie mal zu schlafen. Ihre Tochter ist gerettet.“

„Ich bin so froh, Doktor Bremer.“

„Ich auch“, sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung. „Es hat sich ein bisschen schwierig gestaltet, aber nun ist es geschafft. Machen Sie sich keine Sorgen mehr. Ihre Tochter macht einen guten Eindruck. Ich glaube nicht, dass sie noch Fieber hat. Also bis morgen, Frau Riedel.“

„Warten Sie, noch etwas. Neben der Tür im Kasten hängt ein Ersatzschlüssel von der Wohnung. Nehmen Sie ihn für alle Fälle mit, falls Sie noch etwas holen müssen. Und vergessen Sie ihren Teddy nicht. Ohne den schläft sie nicht.“

„Das werde ich tun. Augenblick, ich gebe Ihnen noch mal Sophie, damit Sie hören, dass alles okay ist.“

Die Mutter schien ihrer Tochter etwas besonders Liebes zu sagen, denn die Kleine strahlte über das ganze Gesicht. Nachdem Martin noch mal versichert hatte, jederzeit erreichbar zu sein, beendete er das Gespräch.

Sie gingen in Sophies Zimmer, um das Plüschtier zu holen.

Neben dem Kinderbett stand ein Foto im Bilderrahmen. Sophie mit ihrer Mama. Er nahm es in die Hand, betrachtete es und hielt den Atem an. Ein Windstoß war in das Haar der Mutter gefahren. Sie und ihr Kind lachten fröhlich in die Kamera. Hinter ihnen schimmerte das Meer.

Obwohl er die Aufnahme nur wenige Sekunden betrachtete, empfand er diesen Anblick als ganz großes Erlebnis. Dass ein Bild einer unbekannten Frau eine solche Faszination bei ihm auslöste, war eine Premiere in seinem Leben.

„Sollen wir das auch mitnehmen?“, wandte er sich an das Kind. „Damit du deine Mama immer bei dir hast?“

Sophie nickte heftig.

„Und der Benni muss auch mit.“ Sie hielt ihm ihren Teddy hin. „Gefällt er dir?“

„Er ist der schönste kleine Kerl, den ich je gesehen habe“, lobte Martin.