Die besten Ärzte - Sammelband 44 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 44 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1809: Was ist aus Barbara geworden?
Notärztin Andrea Bergen 1288: Weihnachtsengel Schwester Julia
Dr. Stefan Frank 2242: Hände weg von meinem Mann!
Dr. Karsten Fabian 185: Wer schenkt Annika ein bisschen Glück?
Der Notarzt 291: Atemstillstand im Park

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 606

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Ina Ritter Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 44

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2015/2017/2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covermotiv: © tsyhun / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-2950-5

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 44

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1809

Was ist aus Barbara geworden?

Die Notärztin 1288

Weihnachtsengel Schwester Julia

Dr. Stefan Frank 2630

Eintrag: Risikoschwangerschaft

Dr. Karsten Fabian - Folge 185

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Wer schenkt Annika ein bisschen Glück?

Der Notarzt 291

Atemstillstand im Park

Guide

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Contents

Was ist aus Barbara geworden?

Auf dem Klassentreffen kommt es zu einem erschütternden Wiedersehen

Von Katrin Kastell

Noch vor wenigen Jahren war Barbara Neuhaus ein gefragtes Model und eine lebensfrohe, selbstsichere junge Frau. Davon ist nichts mehr zu spüren. Jetzt ist sie gefangen in einer unglücklichen Ehe mit einem Mann, den sie nicht liebt und der sie ständig kritisiert, kontrolliert und bevormundet. Zudem ist ihr kleiner Sohn, der dreijährige David, oft krank und musste schon mehrmals mit Brechdurchfall und Krampfanfällen in die Berling-Klinik gebracht werden.

Die Sorge um ihren Sohn und die Schatten der Vergangenheit hindern Barbara daran, sich aus den Fesseln ihrer Ehe zu lösen. Da erhält sie eine Einladung zum Klassentreffen. Zuerst will sie nicht hingehen, doch dann beschließt sie, die Chance zu ergreifen …

Barbara kniff die Augen so fest zusammen, als könne sie damit alle unangenehmen Eindrücke auf Abstand halten. Sie saß weit zurückgelehnt in einem bequemen Gartenstuhl und genoss den zarten Hauch des Frühlings auf ihren nackten Armen.

Positiv denken!, ermahnte sie sich. Aber die herabsetzenden Bemerkungen ihres Mannes ließen sich nicht so einfach aus ihrem Gedächtnis verbannen.

Obwohl er abwesend war, hörte sie ihn in scharfem Ton sagen, dass sie eine grottenschlechte Mutter sei. Und wie es hier in der Villa ohne die Haushälterin wohl aussehen würde, könne er sich lebhaft ausmalen, natürlich unordentlich und schmutzig. Was für ein Glück, dass Frau Franken so tüchtig zupackte und auch noch täglich was Leckeres auf den Tisch brachte.

Und im Übrigen stünde es mit Barbaras eigenem Aussehen ebenfalls nicht zum Besten.

„Du lässt dich immer mehr gehen“, hatte er mit kaum verhohlener Verachtung konstatiert. „Ist dir das überhaupt bewusst? Schau dich mal im Spiegel an und sag mir, was du dann siehst. Kaum mehr vorstellbar, dass du mal ein gefragtes Model warst.“

Solche Vorwürfe, die er fast täglich äußerte, sickerten in ihre Seele wie ein unsichtbares Gift. Erik meint es nicht so, redete sie sich dann ein. Er ist ein Hitzkopf, ständig reizbar und aufbrausend … Das hängt wohl alles nur mit seinen Problemen in der Firma zusammen.

Tief in ihrem Herzen aber wusste sie, dass sie nur eine Entschuldigung für sein Verhalten suchte, um sich selbst zu schützen. Um ihre Ehe nicht zerbrechen zu lassen. Sie hatte sich vor langer Zeit doch mal mit ihm wohlgefühlt. Oder? Wohin waren diese Gefühle entschwunden?

Als Barbara ihn kennenlernte, hatte sie ihn für temperamentvoll gehalten, doch inzwischen ging sie ihm aus dem Weg, wenn er einen seiner jähzornigen Anfälle bekam. Seine Kälte, seine Unnahbarkeit – wieso hatte sie damals nichts davon bemerkt, sich auf einen Mann eingelassen, für den sie nicht unbedingt tiefe Zuneigung empfand?

Seine Persönlichkeit ist halt vielschichtig, pflegte sie ihre Freundin zu beschwichtigen, wenn die wissen wollte, wie es momentan in ihrer Beziehung zu Erik aussah. Petra Strobel, die sie seit ihrer Schulzeit kannte, regte sich furchtbar darüber auf, dass sich Barbara von „diesem Kerl“, wie sie ihn spöttisch nannte, so viel gefallen ließ.

Bei solchen Gesprächen unter vier Augen nahm Barbara ihn dann wieder in Schutz und wies auf seine positiven Eigenschaften hin, die allerdings auch für sie immer weniger sichtbar wurden.

„Hör endlich auf, ständig nach Entschuldigungen für sein unmögliches Benehmen zu suchen“, schimpfte Petra dann. „Babsi, du bist ein dummes Schaf. Trenn dich von ihm! Du hast es doch gar nicht nötig, dich von ihm so behandeln zu lassen. Soll er sich seine Traumfrau doch woanders suchen.“

Natürlich hatte Barbara schon an Scheidung gedacht, aber vor diesem Schritt schreckte sie immer noch zurück. Das hatte auch mit ihrem kleinen Jungen zu tun, der viel krank war und darum mehr denn je seine Mutter brauchte. Bis jetzt hatte noch kein Arzt herausgefunden, was ihm wirklich fehlte.

Bei einer Scheidung würde Erik darauf bestehen, dass David bei ihm aufwuchs, eine schreckliche Vorstellung für Barbara. Sobald sie mit einigem Unbehagen und einer großen Portion Scham an die unrühmlichen Phasen ihrer Vergangenheit dachte, schien es ihr durchaus möglich, dass er Recht bekam und ihr als Mutter das Sorgerecht entzogen wurde.

Erik hatte also alle Möglichkeiten, sie fertigzumachen. Barbara zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er diese Möglichkeiten auch nutzen würde. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als auszuharren.

Noch während Barbara im milden Sonnenlicht ihren dunklen Gedanken nachhing, läutete ihr Smartphone. Petra! Mit einem Seufzer der Erleichterung nahm sie das Gespräch entgegen.

„Ich habe gerade an dich gedacht“, sagte sie. „Wollte dich auch schon anrufen.“

„Hallo, Babsi, wie geht es dir?“

„Na ja, wie immer. Nicht schlecht, aber auch nicht besonders gut.“

„Was hat sich dieser Kerl denn jetzt schon wieder geleistet?“

„Rede nicht so von ihm!“, wies Barbara ihre Freundin zurecht. „Er ist mein Mann und der Vater meines Sohnes …“ Sie holte tief Luft. „Ich muss mit ihm klarkommen.“ Ob ich will oder nicht, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Das redest du dir ständig ein. Ich verstehe ja, dass es dir schwerfällt, aus deiner Situation auszubrechen. So was will immer gut überlegt sein. Aber irgendwann musst du dich entscheiden, welchen Weg du weitergehen willst. Mensch, Babsi, du bist doch nicht alt. Du kannst doch jederzeit was Neues anfangen. Und vielleicht lernst du noch mal jemanden kennen, der …“

„Bitte, lass uns von was anderem reden“, fiel Barbara der Freundin eine Spur zu heftig ins Wort. Natürlich wusste sie, dass Petra recht hatte, aber sie wollte darüber jetzt nicht diskutieren.

„Okay. Ich habe auch gar nicht angerufen, um über deinen Erik zu schimpfen. Das ist er doch gar nicht wert.“

Petra lachte beschwichtigend.

„Stell dir vor, Jenny hat ein Klassentreffen organisiert“, fuhr sie dann fort. „Ich habe ihr deine Anschrift gegeben. Du bekommst noch eine Einladung. Wollte dich nur schon mal im Voraus informieren.“

„Ein Klassentreffen?“, wiederholte Barbara gedehnt. „Wozu das denn?“

„Wird bestimmt sehr lustig, die anderen aus der Klasse wiederzusehen und zu hören, was aus ihnen geworden ist.“

„Hm, ich weiß nicht mal, ob ich das wirklich wissen will“, wandte Barbara ein. Die Vorstellung, die damaligen Schulfreunde wiederzusehen, gefiel ihr nicht sonderlich. „Du meine Güte, die Schule ist doch schon ewig lange her. Ob wir uns überhaupt noch was zu sagen haben?“

„Aber wir zwei reden doch auch ständig miteinander“, hielt Petra ihr entgegen. „Es kann doch ein ganz interessantes Treffen werden. Wenn nicht, verdrücken wir uns wieder. Du musst mitkommen!“

„Ich weiß noch nicht, ob ich weg kann. David ist krank …“ Barbara war froh, dass ihr diese Ausrede noch einfiel.

„Das tut mir leid. Ist es schlimm?“

„Er klagt über Schmerzen, kann aber nicht genau sagen, wo es ihm wehtut. Nora ist den ganzen Tag um ihn herum.“

„Hm.“ Petra schwieg einen Moment, bevor sie weitersprach. „Das hört sich an, als wenn du auf die Kinderfrau eifersüchtig wärst.“

„Na ja, vielleicht ein bisschen. Aber ich sollte froh sein, dass sie mir viele von den Sorgen abnimmt.“

„Hast du keine Angst, dass der Kleine den Kontakt zu dir verliert?“

„Nein“, sagte Barbara, aber es klang nicht ehrlich.

„Na gut“, meinte Petra mit einem hörbaren Seufzer. „Darüber reden wir noch. Aber jetzt bitte diesen Termin vormerken. Du musst endlich mal was anderes sehen als die Wände deines goldenen Käfigs …“

„Ich will sehen, was sich machen lässt“, versprach Barbara vage, ohne auf Petras Drängen zu reagieren. Vielleicht war ein Klassentreffen doch nicht so übel. Sie käme mal raus, hörte andere Meinungen, und vielleicht machte es ja wirklich Freude, sich wieder einmal auszutauschen.

Andererseits fürchtete sie sich vor dem Wiedersehen mit einem ganz bestimmten Schulfreund. Aber vielleicht kam der ja aus Zeitgründen nicht. Noch hielten sich Angst und Erwartung die Waage. Mal sehen, wie es in einer Woche aussah.

Nach dem Telefonat mit Petra wandte Barbara ihr Gesicht wieder der Sonne zu. Jetzt ging es ihr tatsächlich ein wenig besser. Petra war die einzige Freundin, die ihr während all der Jahre geblieben war. Sie auch noch zu verlieren würde bedeuten, dass sie keinen Menschen mehr hatte, dem sie noch vertrauen konnte.

Petra bot ihr immer wieder an, in der Buchhandlung auszuhelfen, auch stundenweise. Barbara hätte die Arbeit gern gemacht, doch Erik war dagegen. Dass sie als Frau eines Unternehmers einen solchen Job ausübte, kam für ihn nicht infrage.

Barbara war klar, dass er in Wahrheit einen Kontrollverlust fürchtete, wenn sie sich außerhalb des Hauses aufhielt.

***

Auf der Kinderstation der Berling-Klinik war man ratlos. Dr. Renate Sanders und ihr junger Kollege Samuel Wiegand brüteten über den Laborwerten des kleinen Jungen – und fanden nichts. Die Frau, die mit dem Jungen in die Kinderambulanz gekommen war, berichtete von einem Anfall und einer länger anhaltenden Übelkeit.

„Könnte es sich um Epilepsie handeln?“ Der Arzt legte die glatte Stirn in Falten, fuhr sich mit einer Hand durch das braune Haar und blickte die erfahrenere Kollegin ratlos an. Aber auch Renate Sanders konnte nichts Erhellendes beisteuern.

„Epilepsie?“, meinte sie gedehnt. „Gut möglich. Im frühen Kindesalter kommen generalisierte Epilepsien vor. Aber vielleicht war es nur ein harmloser Fieberkrampf. Frau Graupner berichtete ja, dass der Bub vor Kurzem einen Infekt hatte.“

Samuel spielte mit einem Kugelschreiber.

„Es könnte eine Fehldeutung sein. Viele anfallartige Erscheinungen sind epileptischen Anfällen sehr ähnlich. Wir müssten das Kind eine Zeit lang bei uns beobachten. Reflexe, Hirnnervenfunktion, Elektroenzephalografie, Magnetoenzephalografie, Computertomografie, all das würde uns dann schon auf die richtige Spur bringen.“

„Frau Graupner will den Jungen nicht hierlassen.“

„Ist sie die Mutter?“

Renate Sanders schaute auf die Daten.

„Nein, seine Kinderfrau. Das heißt, heute nennt man das wohl Erzieherin. Die Mutter des Jungen soll nicht ganz gesund sein. Der Vater betreibt eine Firma in der Nahrungsmittelbranche. Ich glaube, die stellt hauptsächlich Fertigprodukte her.“

„Vielleicht geben sie dem Kind zu viel davon zu essen“, meine Samuel in einem Anfall von grimmigem Humor.

„Na ja, ich glaube nicht, dass es sich bei David um ein Ernährungsproblem handelt. Gut, der Junge ist ein wenig untergewichtig, aber das kann auch mit dem Erbrechen der letzten Tage zu tun haben.“

„Ich werde noch mal mit ihr reden“, erbot sich der junge Arzt und ging in das Wartezimmer, das jetzt ziemlich leer war. „Frau Graupner?“

Eine dunkelhaarige Frau erhob sich und kam mit besorgter Miene auf ihn zu.

„Was haben Sie herausgefunden, Doktor?“

Da noch zwei weitere Personen in dem Raum saßen, bat er sie, mit ihm ein paar Schritte den Gang hinunterzugehen.

„Wir konnten erst mal nichts feststellen“, sagte er. „Wenn wir herausfinden wollen, was dem Jungen fehlt, müssen wir ihn ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten …“

„Oh, das würde sein Vater nicht erlauben“, wandte die Frau ein und bedachte den attraktiven jungen Arzt mit einem prüfenden Blick.

„Es könnte auch ein Elternteil Tag und Nacht bei ihm bleiben. Wir sind darauf eingestellt.“

„Davids Vater ist ein viel beschäftigter Mann. Er leitet ein bedeutendes Unternehmen …“

„Es könnte auch die Mutter sein“, unterbrach Samuel den Einwand der Frau. „Oder Sie. Hauptsache, der Junge hat eine Bezugsperson bei sich.“

„Gut, ich werde es zu Hause ausrichten. Aber wie gesagt, ich glaube nicht, dass der Vater David noch länger in der Klinik lassen wird. Er vermisst ihn jetzt schon.“

„Er soll mich anrufen“, schlug Samuel vor und fischte aus seiner Kitteltasche eine Karte mit seiner Telefonnummer heraus. „Dann erkläre ich ihm die Notwendigkeit einer umfangreichen Diagnose. Er will doch schließlich auch, dass es seinem Sohn wieder gut geht.“

Nora Graupner warf einen Blick auf die Karte.

„Dr. Samuel Wiegand“, las sie laut. Ein kleines Lächeln hob die leidenden Gesichtszüge auf. „Samuel, was für ein schöner Name …“

Hilfe, sie flirtet, dachte der Arzt.

Die Frau wirkte kurz verlegen, fing sich jedoch schnell wieder.

„Dann kann ich David jetzt mitnehmen“, fasste sie zusammen.

„Ja, natürlich.“ Dr. Wiegand holte tief Luft. „Aber wenn es zu einem erneuten Anfall kommt oder wenn die Übelkeit wieder eintritt, müssen Sie ihn sofort wieder herbringen, damit wir ihn zeitnah untersuchen können.“

„Sie können sich auf mich verlassen“, sagte Nora Graupner. „Wir wollen ja alle, dass es dem Kleinen wieder besser geht. Als seine Betreuerin bin ich den ganzen Tag mit ihm zusammen …“

Sie brach ab, weil ihr Telefon klingelte.

„Entschuldigen Sie, da muss ich rangehen.“ Und dann an den Anrufer gewandt: „Es ist alles in Ordnung. Wir sind gleich da.“

Sie beendete das Gespräch und steckte das Telefon weg.

„Davids Vater. Natürlich ist er besorgt“, erklärte sie Dr. Wiegand.

„Warum haben Sie mich nicht mit ihm sprechen lassen?“

„Er befand sich in einer wichtigen Konferenz und wollte nur schnell hören, wann wir zu Hause eintreffen. Ich werde ihm sagen, dass er sich wegen der Diagnose mit Ihnen in Verbindung setzen soll. Jetzt muss ich aber schnell zu David, sonst fühlt sich mein kleiner Schatz noch vernachlässigt.“

Samuel presste kurz die Lippen zusammen, ersparte sich jedoch einen weiteren Kommentar.

Wenig später kam Chefarzt Dr. Holl auf die Kinderstation, um mit den Kollegen die neuesten Zugänge zu besprechen.

Beim Fall des kleinen David Neuhaus horchte er auf.

„Möglicherweise Epilepsie? Das sollten wir im Auge behalten. Ich möchte mir den Jungen kurz anschauen.“

„Kann sein, dass er schon weggebracht wurde“, meinte Samuel. Gemeinsam gingen die Ärzte zu dem Zimmer, in dem der Kleine betreut worden war.

Schwester Sybille konnte jedoch nur das bestätigen, was Dr. Wiegand schon vermutet hatte.

„Das Kind hat zuletzt einen guten Eindruck gemacht“, berichtete sie. „Frau Graupner ist mit ihm nach Hause gefahren. Der Kleine war ganz fröhlich.“

„Na, dann ist ja alles in Ordnung“, stellte Stefan Holl fest und machte sich beruhigt auf den Heimweg.

***

Zu Hause angekommen, musste er sich erst einmal um seine weinende Jüngste kümmern. Juju, elf Jahre alt und der Sonnenschein der Familie, war kreuzunglücklich, weil sie eine schlechte Note in Englisch bekommen hatte.

„Für unseren Schatz ist heute mal kurz die Welt zusammengebrochen“, informierte Julia Holl ihren Mann im Flur. „Ich habe schon versucht, sie zu trösten, aber jetzt kannst nur noch du zu ihr durchdringen. Wir wollen in einer halben Stunde essen. Ich hoffe, dass du sie bis dahin wieder aufgerichtet hast.“

„Mal sehen, was sich machen lässt“, sagte Dr. Holl und verschwand kurz im Bad, um sich die Hände zu waschen.

Drei Minuten lauschte er an Jujus Zimmertür, doch von drinnen war nichts zu hören. Vielleicht war seine Tochter über ihrem Kummer eingeschlafen, was er für eine gute Selbsttherapie hielt. Schließlich klopfte er behutsam ans Holz.

„Wer ist da?“ Juju klang ziemlich wach.

„Dein Papa. Ich möchte ein bisschen mit dir reden.“

„Es ist nicht abgeschlossen. Und du darfst immer rein.“

Stefan drückte die Tür auf. Juju saß an ihrem Schreibtisch, vor sich ein aufgeklapptes Heft.

„Hallo, mein Schatz.“ Stefan trat zu ihr und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. „Machst du noch Hausaufgaben?“

Juju schüttelte wild den Kopf und hielt ihm anklagend ihr Heft entgegen.

„Ich habe es komplett verbockt!“, rief sie aus.

„Aber das ist doch kein Beinbruch.“ Stefan zog seine Tochter hoch und nahm sie in die Arme. „Jetzt hocken wir uns nach Indianerart auf den Boden und beraten, was zu tun ist.“

„Ich dachte, ich hätte genug gelernt, aber das war ein riesiger Irrtum“, sagte Juju und betonte jede Silbe.

„Vielleicht hast du nur den falschen Stoff vorbereitet.“

Sie lächelte kleinlaut.

„Papa, du willst mich trösten. Ist ja richtig süß von dir, aber ich war einfach nur schlecht … hab mich nicht genug vorbereitet.“

„Weißt du, warum man Fehler macht?“

„Weil man es nicht besser kann“, erwiderte die Elfjährige mit einem kläglichen Lächeln.

„Falsch. Man macht Fehler, damit man daraus lernen kann. Fehler zu machen ist in unserem Handeln verankert. Kein Mensch ist fehlerfrei, auch wenn manche das von sich behaupten. Auch wenn es sich widersprüchlich anhört, aber Fehler bringen uns weiter.“

„Ob die Frau Obermüller das glaubt?“, überlegte Juju zweifelnd. „Sie hat gemeint, ich wäre zu faul gewesen.“

„Und? Stimmt das?“

„Nein, überhaupt nicht, aber ich hatte so viel zu tun. Wir proben doch immer noch für das Theaterstück, das wir bald aufführen …“

Stefan horchte auf.

„Mit anderen Worten, du hast dir zu viel aufgeladen“, stellte er fest.

„Kann schon sein.“ Juju seufzte. „Einen Tag vor der Klassenarbeit war dann einfach keine Zeit mehr.“

Stefan beschloss, später mit Julia darüber zu reden. Wenn Juju wegen zu viel Schulstress unter Leistungsdruck geriet, mussten sie daran etwas ändern. Er selbst erklärte Eltern, dass auch größere Schulkinder immer wieder Spielphasen brauchten – ja, und gelegentlich auch Langeweile.

„Langeweile ist gesund“, pflegte er besorgten Vätern und Müttern zu sagen. „Sie fördert die Kreativität.“

Juju rutschte näher zu ihm und schmiegte sich an seine Seite.

„Eigentlich habe ich gar keine Lust auf Schule“, maulte sie leise. „Alles läuft schief. Mit Chiara bin ich verkracht. Sie ist jetzt die beste Freundin von Marie. Bestimmt lästern die beiden ständig über mich.“

Stefan war weit davon entfernt, Jujus seelische Befindlichkeiten leichtfertig abzutun.

„Das kann sein. Es kann aber auch sein, dass du dir das einbildest.“ Er drückte seine Jüngste an die Brust und war sehr froh darüber, dass sie ihm ihre Geheimnisse anvertraute. „So was kommt vor, auch bei den Erwachsenen.“

„Aber du und Mama, ihr streitet euch nie“, stellte die Tochter fest. „Das heißt, ihr versteht euch immer gut.“

„Manchmal haben wir auch Meinungsverschiedenheiten“, korrigierte Stefan das Kind. „Wenn das so ist, diskutieren wir darüber und versuchen, dabei ruhig zu bleiben, ohne den anderen zu verletzen. Andererseits kann ein Ausbruch auch mal wie ein reinigendes Gewitter sein. Hör zu, mein Schatz, ich schlage Folgendes vor: Vor dem nächsten Englischtest lässt du dir ein wenig von Chris helfen. Der hat in dem Fach doch immer gute Noten. Wenn die nächste Arbeit besser ausfällt, hast du einen Ausgleich.“

„Die Versetzung ist nicht gefährdet“, beruhigte Juju ihren Papa. „Deswegen brauchst du dir keine Sorgen zu machen.“

„Und wenn, wäre es auch keine Katastrophe. So was kommt in den besten Familien vor.“

„Aber nicht in unserer“, meinte Juju trocken. „Chris ist gut in der Schule. Und Dani und Marc studieren fleißig.“ Das Mädchen machte eine Pause. „Sieht jedenfalls so aus.“

Stimmt, dachte Stefan. Und vor allem waren sich die Zwillinge immer noch sicher, das richtige Fach gewählt zu haben. Aus Daniela würde eine tüchtige Biologin werden. Und aus Marc ein guter Arzt, der hoffentlich dann, wenn sich Stefan eines Tages aus der Klinik zurückzog, in Vaters Fußstapfen trat.

„Hör mal, kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“, erkundigte sich Dr. Holl bei seiner Tochter.

„Aber klar, Papa, ich schweige wie eine Gruft.“

Eigentlich hieß es eher wie ein Grab, doch er verbesserte seine Tochter nicht.

„Ich hatte auch mal eine Serie von unterirdischen Noten. In Mathe. Sie waren so schlecht, dass meine Versetzung gefährdet war. Weil ich auch noch in einem anderen Fach ziemlich geschlampt hatte.“

„Echt jetzt?“ Juju betrachtete das Gesicht ihres heiß geliebten Papas prüfend. Sagte er auch die Wahrheit? „Davon hast du noch nie was erzählt.“

„Soll ja auch keiner wissen. Nur du kennst jetzt mein Geheimnis. Noch nicht einmal die Mama weiß genau, wie das damals war. Wir kannten uns ja auch noch nicht. Fast wäre ich sitzen geblieben und hätte eine Ehrenrunde drehen müssen. Aber in den Sommerferien habe ich den Stoff nachgeholt – und hab die Versetzung geschafft.“ Und nach einer kurzen Pause. „Na ja, so mit Ach und Krach.“

„Ist das wirklich wahr?“

Stefan nickte schmunzelnd.

„Danach habe ich es dann nicht mehr so weit kommen lassen. Also, mein Schatz, deine schlechte Note ist halb so wild. Vor allem hat sie den unschätzbaren Vorteil, dass es nur noch besser werden kann.“

Jujus temperamentvolle Antwort auf das Geständnis waren eine Reihe von Küssen auf Papas Wange. Wenn sogar er, der hoch geachtete Chefarzt der Berling-Klinik, mal ein Problem in der Schule gehabt hatte, brauchte sie sich um ihre eigenen Fähigkeiten nicht zu sorgen.

Stefan Holl schaute auf die Uhr.

„Gleich gibt’s Essen. Mal sehen, was Cäcilie für uns gezaubert hat. Komm, ich hab einen Bärenhunger.“

„Ich auch“, pflichtete Juju ihm bei. Sie fühlte sich leicht und wie von einer Last befreit. Ihre Augen glänzten. Papa sah ihr Versagen ganz locker. Dafür liebte sie ihn noch ein bisschen mehr. Und als sie Hand in Hand ins Esszimmer marschierten, war die verhauene Klassenarbeit längst kein Thema mehr.

***

Zum Glück war ihr Sohn nach dem kurzen Klinikaufenthalt wieder zu Hause. Und jetzt machte er nicht den Eindruck, dass ihm etwas fehlte.

Barbara ließ ihn nicht aus den Augen. Leider war der Bub nicht mit einer stabilen Gesundheit gesegnet. Aus Erfahrung wusste sie, dass sich bei ihm eine gute Phase schnell in eine schlechte verwandeln konnte. Warum sein Wohlbefinden immer wieder durch beängstigende Symptome gestört wurde, hatte bis jetzt keiner der konsultierten Kinderärzte herausfinden können. Barbara fühlte sich entsetzlich hilflos, wenn David weinte.

Schon als er geboren wurde, konnte sie sich nicht so liebevoll um das Baby kümmern, wie es notwendig gewesen wäre. Eine Wochenbett-Depression hatte ihr behandelnder Arzt damals zunächst diagnostiziert und gemeint, sie ginge von selbst vorbei.

Bei anderen vielleicht, aber bei ihr hatte dieses postpartale Stimmungstief, wie es Dr. Ellwein nannte, viele Monate gedauert. Und manchmal glaubte sie noch heute, kurz vor einer neuen Abwärtsspirale zu stehen.

In solchen Phasen fühlte Barbara sich unendlich traurig und besaß keinerlei Energie, um dieses Gefühl innerer Leere zu überbrücken. Stattdessen schlug sie sich mit Schuldgefühlen und Teilnahmslosigkeit herum, die eine lähmende Wirkung auf sie ausübten. Körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Herzbeschwerden, Zittern und Schlafstörungen kamen hinzu und quälten sie.

Sie versuchte herauszufinden, wann diese Zustände eingesetzt hatten. Beim frühen Tod ihres Vaters, der mit seinem Sportflugzeug tödlich verunglückt war? Da war sie gerade vierzehn gewesen. Ihn und seine warmherzige Art vermisste sie noch heute. Er hätte ihr sicher so manchen guten Ratschlag geben können.

Oder hatten sie die nach Vaters Tod einsetzenden Eskapaden ihrer Mutter so aus der Bahn geworfen? Mama ließ sich auf unzählige Männerbekanntschaften ein. Und manche von diesen Typen empfand die Tochter als so unangenehm, dass sie ihnen weiträumig aus dem Weg ging, um jeglichen Kontakt mit ihnen zu vermeiden. Mutter aber schien die neu gewonnene Freiheit zu genießen und ließ sich von ihrer Tochter keine Vorschriften machen.

Kurz vor ihrer Volljährigkeit zog Barbara von zu Hause aus und hoffte, damit ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Mama Hannelore legte ihr keine Steine in den Weg. Offensichtlich war sie froh, nun auch den letzten Rest von Verantwortung für die Tochter los zu sein.

Heute erkannte Barbara zumindest theoretisch, dass die Vergangenheit zu ihr gehörte und sich nicht einfach abspalten ließ. Am besten wäre es, sich mit dem, was geschehen war, zu versöhnen. Nur den Schlüssel dazu hatte sie noch nicht gefunden.

Selbst als sie schon als erfolgreiches Model die internationalen Laufstege eroberte, gelang es ihr nicht, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Sie hörte nicht auf ihre innere Stimme und ließ sogar ihre große Liebe im Stich. Mit dem vielen Geld, das sie verdiente, konnte sie sich ein Leben ganz nach ihren Wünschen einrichten, dachte sie.

Heute wusste sie, dass sie einen schwerwiegenden Verrat begangen hatte. An sich selbst – und an dem Menschen, den sie doch zu lieben glaubte.

Unter diesem Irrtum litt sie noch heute. Ganz sicher trug dieses Ereignis von damals zu den immer wiederkehrenden Depressionen bei, die sie bis heute befielen, wenn auch nicht mehr so oft.

Aber wenn ihre Stimmung mal wieder tief im Keller war, versagte sie auch als Mutter. Dann übernahm Nora Graupner die Betreuung. Erik hatte sie vor einigen Jahren eingestellt.

Von dieser Frau fühlte sich Barbara immer öfter bevormundet, doch gleichzeitig musste sie deren Fähigkeiten anerkennen. Sie war die geborene Kindererzieherin. David mochte sie.

Wenn er krank war, verbrachte sie ganze Nächte an Davids Bett, ohne sich jemals zu beklagen. Weinte er, war sie sofort zur Stelle und tröstete ihn liebevoll. Fiel er hin und holte sich eine Beule, verarztete sie ihn so geschickt, dass seine Tränen schnell trockneten. Sie schaute mit ihm immer wieder seine Lieblings-Bilderbücher an und ging jeden Tag mit ihm an die frische Luft.

Kurz, sie tat alles für David, ja, man konnte fast sagen, sie opferte sich für ihn auf. Wofür sie allerdings von Erik gut bezahlt wurde und zwei Zimmer in der großen Villa mietfrei bewohnte. Sie schien keinen großen Freundes- oder Bekanntenkreis zu haben. Und auch von naher Verwandtschaft war noch nie die Rede gewesen. So war es erklärlich, dass sie sich problemlos in die kleine Familie einfügte, um sich ganz der Erziehung des kleinen David zu widmen.

Wenn es Barbara gelang, sich häufiger und intensiver um ihren Sohn zu kümmern, spielte sie mit ihm im großen Garten hinter dem Haus, in dem für das Kind nach Eriks Plänen ein großer Spielplatz errichtet worden war, natürlich unter Berücksichtigung aller Sicherheitsmaßnahmen.

An diesem schönen Frühsommertag waren Mutter und Sohn draußen. Nora hatte einen freien Nachmittag und wollte etwas erledigen. Was genau, darüber ließ sie sich nicht aus.

Barbara wollte es auch gar nicht wissen. Sie war froh, auch mal mit ihrem Sohn allein zu sein, ohne dass sie ständig von Nora beobachtet wurde, die sich manchmal sogar erlaubte, korrigierend einzugreifen.

„Du darfst ihm nichts Süßes mehr geben, das schadet ihm.“ Oder: „Für diese Temperatur ist das nicht die richtige Kleidung. Er sollte nicht ohne Mütze ins Freie“, ermahnte sie die Mutter dann.

Um einer Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen, ging Barbara stets auf Noras Hinweise ein, auch wenn sie anderer Meinung war. Sie wollte vermeiden, dass die Erzieherin sich beim Hausherrn beschwerte, weil Barbara sich dann wieder bei Erik verteidigen musste.

Heute aber genoss Barbara den milden Tag. David grub voller Eifer mit einem prächtigen Schaufelbagger den Sandkasten um. Sie hockte sich daneben und machte ein paar Fotos, wobei sie schon überlegte, ob sie die ihren ehemaligen Klassenkameraden zeigen sollte.

Bei diesem Gedanken hielt sie kurz inne. Eigentlich wollte sie doch gar nicht hingehen? Und wenn sie sich doch zu diesem Treffen entschloss? Vielleicht wäre es ja wirklich ganz reizvoll, die Schulfreundinnen und -freunde von damals wiederzusehen, sich mit ihnen auszutauschen und vielleicht sogar neue Kontakte zu knüpfen.

„Ach, hier seid ihr!“

Eriks Stimme drang so unvermittelt in ihre Überlegungen, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte.

„Ich habe euch überall im Haus gesucht“, sagte ihr Mann vorwurfsvoll. „Ist es allmählich nicht zu kalt für David?“

„Aber nein, ich …“

„Er war gerade in der Klinik und braucht noch Schonung“, stellte Erik fest. „Es ist besser, wenn du jetzt mit ihm ins Haus zurückkehrst.“ Er kräuselte die Stirn. „Hast du ihn etwa fotografiert?“

Den scharfen Ton in seiner Frage konnte sie sich nicht erklären. Hatte sie schon wieder etwas falsch gemacht? Durfte sie als Mutter keine Fotos von ihrem Sohn machen? Drei Sekunden hielt Barbara seinem Blick noch stand, bevor sie irritiert die Schultern hob.

„Was stört dich daran?“

„Was hast du mit den Aufnahmen vor? Willst du sie vielleicht auf Facebook einstellen?“

„Nein, wie kommst du darauf?“

„Ich traue dir so einiges zu“, gab er kühl zurück. „Weil deine Gedankengänge nicht immer nachvollziehbar sind. Darum. Gib mir dein Handy.“

Wie unter Hypnose gehorchte sie ihm. Er schaute sich die gerade gemachten Bilder von David an und löschte sie.

„Ein Foto von ihm in der Öffentlichkeit kann schlimme Folgen haben.“

Wovon sprach er nur, um Himmels willen? Barbara presste die Lippen zusammen. Streit lag in der Luft. Gleich würde es zu einer unangenehmen Auseinandersetzung kommen. Es sei denn, sie ließ seine Bevormundung wie so oft über sich ergehen.

„Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass David entführt werden könnte? Es gibt genügend üble Gesellen in diesem Land. Die wissen, wo was durch Erpressung zu holen ist.“

Erik litt unter Verfolgungswahn, zumindest gelegentlich. Aber es war sinnlos, ihn jetzt darauf hinzuweisen. Also schwieg sie und reichte ihrem Kind die Hand.

„Komm, mein Schatz. Papa möchte, dass wir drinnen weiterspielen.“

In diesem Moment trat die Erzieherin aus dem Haus und winkte David zu.

„Wir wär’s mit einem Kakao?“

„Au ja!“ David sprang auf und lief auf seinen dünnen Beinchen schnell zu Nora. Die Aussicht auf ein süßes Getränk schien ihn zu beflügeln.

Barbaras Blick folgte den beiden. Ein Bild von perfekter Harmonie, als wären die beiden dort Mutter und Sohn. Eifersucht stahl sich in ihr Herz. David war doch ihr Kind und Nora nur eine Angestellte. Aber auf seltsame Weise schienen sich in diesem Haus die Verhältnisse ins Gegenteil zu verkehren.

„Mach nicht so ein Gesicht“, sagte Erik, nachdem Nora und David im Haus verschwunden waren. „Sei doch froh, dass wir eine Kinderfrau haben, die sich so patent um unseren Jungen kümmert. Damit ist doch auch dir geholfen.“

Immerhin unterließ er jetzt seine Ermahnungen, die er in solchen Situationen gern vom Stapel ließ. Sie solle sich endlich mal zusammenreißen und Verantwortung übernehmen. Spring einfach mal über deinen eigenen Schatten, riet er ihr oft. Doch wie sie diesen Sprung hinkriegen konnte, sagte er nicht.

Barbara streckte die Hand aus.

„Kann ich mein Handy wiederhaben?“

Widerwillig gab er es ihr zurück.

„Und denk daran, keine Fotos von David in den sozialen Medien.“

Jetzt verlor Barbara ihre mühsam aufrechterhaltene Beherrschung.

„So etwas würde ich niemals tun“, rief sie empört aus. „Was denkst du eigentlich von mir?“

„Das willst du doch gar nicht wissen“, gab Erik mit milden Spott zurück. Gleichzeitig zog er sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

„Lass mich“, fauchte sie und riss sich los. „Ständig hast du irgendwas an mir auszusetzen. Warum suchst du dir nicht eine andere Frau?“

„Okay, ich werde darüber nachdenken“, sagte er lachend. Ihr Ärger schien ihn zu amüsieren. „Aber ob dir das gefallen würde? In diesem Fall müsstest du dich von David trennen, weil er nämlich bei mir bliebe. Aber das wird dir wohl kaum was ausmachen, oder?“

Barbara ließ ihn stehen und lief ebenfalls ins Haus. Dort verschwand sie in ihrem Zimmer und ließ sich auch zum Essen nicht blicken. Der Appetit war ihr mal wieder gründlich vergangen.

***

Samuel Wiegand schaute sich zum wiederholten Mal die Diagnose des kleinen David an. Der Junge war letzte Woche ziemlich entkräftet eingeliefert worden, hatte sich aber in der Klinik schnell wieder erholt. Was konnte für die Schwäche verantwortlich gewesen sein?

Jemand klopfte an die Tür seines kleinen Büros.

„Ja bitte!“, rief er, ohne den Blick zu heben. Erst als er ein freundliches „Hallo!“ hörte, schaute er auf. Das leicht verbitterte Gesicht mit dem streng zurückgekämmten Haar hatte er schon einmal gesehen, aber der Name fiel ihm nicht ein.

„Ich bin Nora Graupner“, half sie ihm auf die Sprünge. „Vor Kurzem war mein Schützling David hier bei Ihnen in Behandlung. Sie konnten nichts finden.“ In den letzten Worten klang ein Vorwurf mit.

„Ich erinnere mich“, sagte Samuel. „Wie geht es David?“, wollte er wissen und klappte seinen Laptop zu.

„Hier bei Ihnen hat er sich prächtig erholt. Bis jetzt sind keine weiteren Anfälle aufgetreten. Im Namen seines Vaters soll ich Ihnen für die gute Therapie danken.“

Da sich keine Anhaltspunkte für eine mögliche Epilepsie finden ließen, hatte es keine Behandlung gegeben. Dr. Wiegand erhob sich.

„Manchmal leiden Kinder unter Schmerzen, für die wir keine Ursache finden können. Und zum Glück regelt der Körper das oft von selbst. Sollten Sie allerdings wieder Anzeichen für einen Krampfanfall bemerken, kommen Sie sofort.“

„Wir sind alle sehr froh, dass David wieder gesund ist. Sein Vater möchte Ihnen diese kleine Anerkennung zukommen lassen.“

Mit diesen Worten legte sie ihm einen Umschlag hin.

„Was ist da drin?“ Zunächst dachte er an ein Dankschreiben.

„Schauen Sie nach“, ermunterte sie ihn mit einem Lächeln. „Ich bin überzeugt, dass es Sie freuen wird.“

Er nahm das nicht verschlossene Kuvert in die Hand. Es enthielt etliche grüne Banknoten, aber wie viele Hunderter es genau waren, wollte er gar nicht wissen.

Zunächst reagierte er mit Sprachlosigkeit auf die peinliche Überraschung.

„Wie gesagt, eine kleine Anerkennung. Ein junger Klinikarzt in Ihrem Alter wird es brauchen können, meinte Davids Vater. Erfüllen Sie sich einen Wunsch damit.“

Dr. Wiegand verzog das Gesicht, holte tief Luft und schob den Umschlag zurück. Dass die Besucherin wirklich davon ausging, er würde das Geld annehmen, regte ihn auf. Aber er versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen, und räusperte sich kurz.

„Wenn Sie etwas spenden wollen, zum Beispiel für krebskranke Kinder, dann fragen Sie bitte in der Verwaltung nach“, erwiderte er so sachlich wie möglich. „Dort wird man Ihnen die Anschriften verschiedener Hilfsorganisationen geben.“

Die Frau blickte ihn erstaunt an.

„Aber das soll für Sie persönlich sein. Sie haben es sich verdient.“

„Kein Wort mehr!“, verlangte er jetzt schon etwas energischer. „Ich bekomme ein monatliches Gehalt. Ich lasse mich nicht bestechen. Nehmen Sie den Umschlag wieder an sich. Und dann will ich so tun, als hätte ich ihn nie gesehen.“

„Wenn Sie das Geld nicht wollen, dann geben Sie es doch weiter“, forderte sie ihn in aggressivem Tonfall auf.

„Nein!“ Er hielt ihr das Kuvert so dicht unter die Nase, dass sie zwangsläufig danach greifen musste. In ihrem Gesicht machte sich Betroffenheit breit. Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass er die großzügige Gabe gar nicht wollte.

„Um Himmels willen, jetzt habe ich Sie verletzt. Tut mir echt leid, glauben Sie mir. Entschuldigen Sie bitte! Es sollte wirklich nur eine kleine Anerkennung für Ihre ärztlichen Bemühungen sein.“

Achtlos stopfte sie den Umschlag in ihre Schultertasche.

„Davids Vater hat es nur gut gemeint.“

„Gut gemeint ist nicht unbedingt gut gemacht. Richten Sie ihm einen schönen Gruß aus, wir hier in der Berling-Klinik nehmen keine Geldgeschenke entgegen.“

„Darf ich Sie denn wenigstens zu einem Kaffee einladen?“, fragte sie mit allen Zeichen eines Schuldbewusstseins. „Oder ist das auch nicht erlaubt?“

Da ihn interessierte, was diese Frau bewegte, nahm er ihren Vorschlag an.

„Ich habe eine halbe Stunde Zeit“, sagte er. „Wir können in die Cafeteria gehen. Aber meinen Kaffee zahle ich selbst.“

Samuel trank nur einen Espresso, Nora Graupner einen Tee. Eigentlich dachte er, sie wolle mit ihm noch über den kleinen Patienten reden, doch jetzt zeigte sie mehr Interesse an seiner Person.

Sie musterte ihn mit ihren kühlen blauen Augen, als überlege sie, wie sie weiter mit ihm umgehen sollte. Doch ihre Nähe löste nichts bei ihm aus. Wie immer blieb er bei solchen Begegnungen auf Abstand. Dass diese Einstellung besser war, wusste er aus Erfahrung.

„Arbeiten Sie schon lange in dieser Klinik?“

Warum wollte sie das wissen?

„Seit zwei Jahren. Vorher war ich in Boston“, erwiderte er knapp und wurde allmählich ungeduldig. Was wollte sie von ihm?

„Wie interessant!“, rief sie aus. „Davon müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen.“

Sein Pager signalisierte, dass er gesucht wurde. Samuel erhob sich und gab sich kaum Mühe, seine Erleichterung zu verbergen.

„Ich muss zurück auf die Station.“

„Schade“, sagte Nora bedauernd. „Wir müssen uns unbedingt wiedersehen. Darf ich Sie anrufen?“

Er zögerte einen winzigen Moment, doch entschied dann, ihr seine private Handy-Nummer nicht zu geben.

„Sie können mich jederzeit über die Klinikzentrale erreichen.“ Er reichte ihr die Hand. „Wiedersehen.“

Nora schaute ihm mit zusammengepressten Lippen nach. Ein recht kühler Abschied. Dieser Samuel Wiegand war ziemlich stur, doch davon ließ sie sich nicht abschrecken. Er gefiel ihr.

***

Barbara hielt es zu Hause nicht mehr aus. Sie setzte sich aufs Fahrrad und fuhr zu Petras Buchhandlung in Schwabing. Beim Eintreten nahm sie Blickkontakt zu ihrer Freundin auf, die gerade mit einer Kundin sprach.

Inzwischen begutachtete Barbara die Neuerscheinungen, griff nach dem obersten Band auf dem höchsten Stapel und las den Klappentext. Die Geschichte eines Serienmörders, nein, das war nichts für sie. Sie legte das Buch wieder zurück.

Ihr stand nicht der Sinn nach Mord und Totschlag, eher nach einem Liebesroman. Durchaus mit Dramatik, aber mit einem Happy End. Nachdem die Kundin endlich gegangen war, fanden die beiden Freundinnen Gelegenheit, sich zu umarmen.

„Du bist ja ganz erhitzt“, stellte Petra fest und strich Barbara eine dicke Haarsträhne hinters Ohr.

„Ich bin mit dem Rad gekommen“, erklärte Barbara.

„Hat dein besorgter Göttergatte das auch genehmigt?“

„Ach, mach du dich nur lustig über mich.“ Barbara lachte. Petra war die Einzige, der sie vollkommen vertraute, in deren Gesellschaft sie sich frei fühlte und ganz ungezwungen geben konnte. Diese Freundschaft war überaus wichtig für sie. „Aber um deine Frage zu beantworten, ich habe ihn gar nicht erst gefragt.“

„Du bist also auf dem besten Weg in die Selbstständigkeit“, fuhr Petra mit sanfter Ironie fort. „Dann wirst du dir ja auch erlauben können, am Klassentreffen teilzunehmen.“

Petra betrachtete ihre Besucherin prüfend. Auch wenn in Babsis Augen unverkennbar Angst und Trauer lagen, so war sie immer noch hinreißend schön. Aus dem hochgesteckten Haar waren während der Fahrt einige Strähnen herausgefallen und verliehen ihr ein verwegenes Aussehen. Dazu die geröteten Wangen und die makellosen Zahnreihen, wenn sie manchmal die Lippen zu einem Lächeln öffnete.

„Du siehst so unglaublich jung aus“, stellte Petra neidlos fest. „Als hättest du gerade erst die Schule hinter dir. Dabei bist du schon Mama eines strammen Buben.“

„Aber ich fühle mich oft uralt“, entgegnete Barbara.

„Red keinen Unsinn.“ Petra zog die Freundin nach hinten in das winzige Büro, in dem sie die geschäftlichen Dinge erledigte. „Jetzt machen wir uns einen guten Kaffee. Und dazu essen wir Nougat-Kipferl. Die hab ich am Vormittag bei meinem Lieblingsbäcker gekauft.“

Barbara fand es in der „Lesestube“, wie Petra ihren Laden nannte, sehr gemütlich. Sie war gern hier, wusste aber auch, dass die Freundin zunehmend Probleme hatte. Zwar verfügte sie noch über ein treues Stammpublikum, aber die Leute bestellten ihren Lesestoff mehr und mehr im Internet. Und auch die großen Buchhandelsketten machten ihr zu schaffen.

Aber Petra gab nicht auf. Sie veranstaltete Lesungen mit Autoren. Wenn bei einem Bestseller damit zu rechnen war, dass mehr Leute kamen, als die Lesestube aufnehmen konnte, mietete sie einen kleinen Saal an und inserierte in der Lokalpresse.

Barbara mochte diese Autorenlesungen, auch wenn Erik die Schriftstellerei als „Geschreibsel“ abtat. Natürlich begleitete er seine Frau zu solchen Veranstaltungen nie. Er sah es zwar nicht gern, wenn Barbara allein dorthin ging, aber sie ließ sich diese kleinen Freiräume nicht nehmen.

„Dann gehen wir also gemeinsam zum Klassentreffen?“, stellte Petra betont lässig fest.

„Wie kommst du denn darauf?“

„Du hast mir gerade erzählt, dass du deinen Mann nicht um Erlaubnis gefragt hast, als du spontan losgeradelt bist. Also brauchst du es am kommenden Samstag doch auch nicht zu tun.“

„Ich weiß noch nicht …“

Barbara wollte noch keine Zusage machen, aber sie spürte, dass ihre Neugier wuchs. Ja, sie hätte schon ganz gern gewusst, wie es den anderen aus der Klasse ergangen war. Und da sie sich ziemlich sicher sein konnte, dass derjenige, den sie auf keinen Fall treffen wollte, nicht da sein würde, könnte sie es eigentlich riskieren. „Aber ich denke darüber nach.“

„Wir fahren gemeinsam nach Harlaching ins Restaurant Zum Hirschen . Und wenn wir ein Glas zu viel getrunken haben, können wir dort auch übernachten.“

Eine ganze Nacht lang wegbleiben? Barbara versuchte sich das vorzustellen, was ihr nicht gelang. Wenn sie sich das erlaubte, würde anschließend der Haussegen tage-, wenn nicht wochenlang schiefhängen. Aber tat er das nicht auch ohne Anlass?

„Übernachten kann ich dort natürlich nicht. Das würde Erik mir übel nehmen.“

„Gibt es eigentlich Dinge, die er dir nicht übel nimmt?“, erkundigte sich Petra mit schief gelegtem Kopf. „Eigentlich kaum was, oder?“

„Lass uns von was anderem reden“, bat Barbara inständig und seufzte. Sie wollte sich ihre gute Stimmung nicht gleich wieder von einem solchen Thema verderben lassen. „Wie sieht’s mit deinem Mietvertrag aus? Gab’s schon wieder eine Erhöhung?“

Petra hob abwehrend die Hände.

„Sogar eine ziemlich drastische. Hier in Schwabing gibt’s keine preiswerten Ladenlokale mehr. Wenn die monatlichen Fixkosten weiter so steigen, weiß ich nicht, wie lange ich den Betrieb noch am Leben halten soll.“

„Ich kann dir was leihen. Und auch in deinen Laden investieren.“ Schon oft hatte Barbara ihrer Freundin ein solches Angebot gemacht, das Petra jedoch nicht annehmen wollte. Bis jetzt jedenfalls nicht.

Als gefragtes Model hatte Babsi in kurzer Zeit sehr viel Geld verdient, das sie bis jetzt kaum angerührt hatte. Es wurde von Bernd Edlinger verwaltet, dem besten Freund ihres verstorbenen Vaters. Bernd war Anwalt für Steuerrecht und betrieb in Gröbenzell eine eigene Kanzlei. Alle drei Monate bekam sie von ihm genaue Abrechnungen über ihre Konten. Sie vertraute ihm restlos.

Erik wusste natürlich, dass sie vor seiner Zeit ihr eigenes Geld verdient hatte, das er ihr großzügig zugestand, weil er diese Einkünfte von damals als gering einstufte. Hätte er eine Ahnung gehabt, dass es ein hoher sechsstelliger Betrag war, wäre er vielleicht besorgter gewesen. Denn auch ihm musste klar sein, dass ein gewisses Vermögen eine Frau von ihrem Mann unabhängig machte.

Eriks Firma vergrößerte sich von Jahr zu Jahr. Er machte mehr und mehr Gewinn. Inzwischen gab es etliche Filialen in anderen Bundesländern. Im Augenblick war er dabei, ein Geschäft mit China einzufädeln.

Dass seine Frau auch noch eine renovierte Altbauwohnung am Englischen Garten besaß, wusste er hingegen nicht. Die möblierten Räumlichkeiten waren bestens vermietet an ein französisches Journalistenpaar. Die Mieteinnahmen legte Bernd ebenfalls gut an. Wenn er Neuigkeiten hatte, schickte er ihr eine Nachricht aufs Handy. Barbara rief dann den väterlichen Freund sofort an. Befand sich Erik noch im Haus, wartete sie damit, bis er weg war.

„Warten wir erst mal ab, wie sich die Dinge entwickeln“, sagte Petra nach einer längeren Denkpause und holte mit ihren Worten die Freundin in die Gegenwart zurück. „Ich möchte es gern aus eigener Kraft schaffen.“

Barbara biss in ihr Nougat-Kipferl.

„Hm, köstlich“, nuschelte sie mit vollem Mund. Die Ladenglocke ging. Petra musste sich um die Kundschaft kümmern, war jedoch schon bald wieder da.

„Da wollte nur jemand seine bestellten Bücher abholen. Aber jetzt erzähl mal, wie es dem Kleinen geht.“

Barbara berichtete und trank den letzten Rest Kaffee aus.

„In der Klinik haben sie nichts feststellen können.“

„Wann hat er den Anfall denn gehabt?“

„Vor einer Woche ungefähr. Ich war nicht dabei. Nora ist dann gleich mit ihm in die Klinik gefahren.“

„Und jetzt geht es ihm wieder gut?“

„Zum Glück ja.“ Barbara nickte. Sie drehte den leeren Kaffeebecher in der Hand. „Manchmal frage ich mich, ob ich wohl jemals eine gute Mutter sein kann. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin immer ganz froh, wenn Nora sich um David kümmert. Aber dann bin ich auch wieder ziemlich eifersüchtig. Neulich hat er sogar Mama zu ihr gesagt …“

Barbara brach ab. Ihre Stimme war ganz rau geworden.

„Und dass lässt sie zu?“, fragte Petra mit allen Zeichen der Empörung.

„Sie hat ihn gleich korrigiert und auf mich gezeigt. Das ist deine Mama, hat sie gesagt, aber ich glaube, es hat ihr trotzdem gefallen. Es war wie ein Triumph für sie.“

„Liebst du deinen Sohn?“

„Aber ja! Wie kannst du so was fragen“, fuhr Barbara auf. Sofort wurde die schreckliche Zeit mit den endlosen Depressionen in ihr wieder wach. Damals war sie zu nichts in der Lage gewesen, schon gar nicht konnte sie sich um ihr Kind kümmern.

Erik hielt ihr das noch heute vor. Und insgeheim fürchtete er natürlich, dass sie auch heute noch nicht fähig war, seinen Sohn nach seinen Wünschen zu erziehen.

„Überlass das Nora“, pflegte er dann zu sagen. „Sie hat das gelernt. Und sie tut David gut.“

„Fürchtest du denn nicht, dass die Entfremdung zwischen euch mit der Zeit immer größer wird?“ Petra musterte die Freundin nachdenklich.

„Doch“, erwiderte Barbara nach einer Weile kleinlaut. „Aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll. Und was immer ich mit David unternehme, wird sofort von Erik kritisiert. Er schreibt mir vor, wie ich mit meinem Sohn umzugehen habe … ach Petra, ich bin das so leid.“

„Hast du noch nie daran gedacht, dich scheiden zu lassen?“, wollte die Freundin wissen.

Mit einem harten Ruck stellte Barbara den leeren Kaffeebecher zurück.

„Natürlich habe ich schon daran gedacht, aber ich will nicht aufgeben. Ich will, dass David in einer Familie aufwächst und nicht zwischen seinen Eltern hin- und hergezerrt wird. Ich bin mit Erik verheiratet und werde es bleiben. Vielleicht ändert er sich ja noch mit der Zeit. Ich befinde mich ja auch in einer positiven Entwicklung, hoffe ich jedenfalls.“

Petra behielt ihre Skepsis für sich. Sie wusste, dass Barbara versuchte, die Dinge zum Guten zu wenden, und wollte ihr den Mut nicht nehmen. Aber sie und Erik passten einfach nicht zusammen. Er war ein Macho im eleganten Anzug, ein Mann, der seiner Frau nichts zutraute und sie oft wie ein kleines Kind behandelte.

„Und darum fahren wir beide am Samstag zum Klassentreffen. Versprich es mir.“

Barbara betrachtete ihre gepflegten Fingernägel. Die folgende Frage kostete sie sichtlich viel Überwindung.

„Glaubst du, dass er auch da sein wird?“

„Ganz bestimmt nicht“, sagte Petra energisch und schüttelte den Kopf. „Er hat einen tollen Job in den Staaten. Den wird er nicht aufgeben. Und schon gar nicht nur wegen eines Klassentreffens herüberfliegen. Mach dir deswegen keine Sorgen. Ist mein Vorschlag also angenommen?“

„Ja.“ Barbara nickte zustimmend. Sogar ein kleines Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel. Ein Anblick, der Petra schon viel besser gefiel.

„Oh, so spät schon!“, stellte Barbara überrascht fest. „Ich will zu Hause sein, bevor Erik kommt. Sonst muss ich ihm wieder erklären, wo ich war.“

„Ein Kontrollfreak, sage ich doch.“ Petra brachte die Freundin zur Tür. Noch schnell eine Umarmung und ein aufmunternder Klaps auf die Schulter, dann radelte sie los.

„Es war schön, wieder mal mit dir unter vier Augen zu reden“, sagte Davids Mutter. „Ich komme am Samstag mit dem Taxi zu dir. Du steigst zu, wir fahren zusammen weiter.“

***

Dr. Holl wollte am diesem Freitag die Arbeitswoche früher als sonst beenden. Die Kinder wünschten sich mal wieder ein Wochenende mit der Familie in Rottach. Ihnen lag daran, mit Mama und Papa ein paar unbeschwerte Tage zu verbringen, fernab von Klinik, Uni und Schule. Die Eltern, die sich ein wenig geschmeichelt fühlten, gingen sofort auf solche Vorschläge ihrer Kinder ein, wann immer es ihnen möglich war.

Zwar war in dem Haus am See alles vorhanden, was man so brauchte, einschließlich eines Vorrats an haltbaren Lebensmitteln, aber dennoch hatte Julia gleich nach dem Frühstück damit begonnen, ein paar Sachen einzupacken. Es gab immer noch genügend Dinge, die die Kinder unbedingt mitnehmen wollten.

Das Ferienhaus am Tegernsee befand sich schon ewig im Besitz des Berling-Clans und wurde reihum gern von allen genutzt.

„Keinen Laptop und nach Möglichkeit auch kein Handy.“ Diese Devise war von den Zwillingen ausgegeben worden.

Nach kurzer Diskussion hatte man sich darauf geeinigt, dass der Klinikchef sein Handy empfangsbereit halten durfte und die anderen sich verpflichteten, ihre Smartphones auszuschalten. Ob sich dann auch alle daran hielten, musste sich erst noch zeigen.

Das lockere Programm sah vor, am See zu wandern, im Garten zu grillen und abends bei Kerzenschein endlich die Spielesammlung zu aktivieren, die schon beim letzten Weihnachtsfest unterm Baum gelegen hatte, aber bis jetzt noch nicht ausprobiert worden war.

Stefan wollte gerade noch kurz mit Julia Kontakt aufnehmen, als er auf die Kinderstation gerufen wurde. Die Kollegen Sanders und Wiegand brauchten seinen Rat. Der kleine Patient mit dem Verdacht auf Epilepsie war wieder eingeliefert worden.

Jetzt musste der Junge ständig erbrechen. Nicht mal einen Schluck Wasser behielt er bei sich. Er war völlig geschwächt und dehydriert.

„Frau Graupner ist sofort mit ihm in die Klinik gekommen. Sie wusste nicht mehr, was sie tun sollte“, sagte Renate Sanders. Seit die Kinderärztin Mann und Kind verloren hatte, widmete sie ihre ganze Kraft den kleinen Patienten in der Berling-Klinik. Die Zusammenarbeit mit Stationsarzt Dr. Samuel Wiegand klappte hervorragend. Die beiden mochten und schätzten sich. Privat gab es allerdings keinerlei Kontakt zwischen ihnen.

Stefan schaute sich den Jungen an, der ziemlich apathisch auf der Behandlungsliege lag und keine Reaktion zeigte, als der Arzt ihn sanft berührte.

„Es könnte eine Nahrungsmittelvergiftung vorliegen“, sagte Samuel zum Chefarzt. „Auch eine Infektion mit Viren oder Bakterien käme infrage. Nach einer Stuhluntersuchung wissen wir es. Frau Graupner ist sich sicher, dass er nichts Falsches gegessen hat. Sie achtet sehr sorgfältig darauf, was er zu sich nimmt, und kann sich das nicht erklären.“

Dr. Holl untersuchte den Jungen, schaute in den Hals, in die Augen, horchte die Lungen ab und die Darmgeräusche, aber einen wirklichen Hinweis fand er nicht.

„Grundsätzlich ist das Erbrechen ein Schutzmechanismus, so viel ist klar. Der Kleine könnte ja unbeobachtet etwas zu sich genommen haben. Zunächst werden wir ihn stabilisieren. Was haben Sie verordnet?“

„Bis jetzt nur krampflösende Medikamente.“

„Gut. Ich denke, die Übelkeit wird sich mehr oder weniger von selbst regeln. Wenn der schädliche Mageninhalt heraus ist, wird es ihm besser gehen. Wie lange hat er das schon?“

„Seit gestern“, sagte die Ärztin.

„Fieber?“

„Nein.“ Die Kinderärztin schüttelte den Kopf. „Der Urin ist dunkel gefärbt. Der Kleine weint viel. Er hat Bauchschmerzen. Frau Graupner besteht auf einer Magenspiegelung.“

„Also, das entscheiden ja immer noch wir“, ließ sich Dr. Holl etwas unwillig vernehmen. „Ich rede mit ihr.“

Nora Graupner saß vor dem Behandlungszimmer. Als Stefan herauskam, sprang sie auf, eilte mit ausgestreckter Hand auf ihn zu und schilderte ihm noch einmal in allen Einzelheiten die schlimmen Symptome, die sie so sehr ängstigten.

„David ist für mich wie ein eigener Sohn“, sagte sie. „Ich bin fest davon überzeugt, dass es sich um eine schwere Krankheit handelt. Sie müssen etwas tun, Doktor.“ Sie brach ab und rang verzweifelt die Hände. „Oder wollen Sie an seinem Tod schuld sein?“

Stefan, der bis jetzt mit nachsichtiger Miene zugehört hatte, ohne sie zu unterbrechen, gebot ihrem Redefluss nun mit einer Handbewegung Einhalt.

„Warum dramatisieren Sie die Sache so? Brechdurchfall bei Kindern kommt häufig vor. Möglicherweise liegt auch eine Virusinfektion vor. Aber von einer drohenden Lebensgefahr kann keine Rede sein. Wie haben Sie ihn behandelt?“

„Mit Kamillentee und Grießbrei. Nichts kann er bei sich behalten. Das ist doch nicht normal.“

„Nein, das ist es nicht“, stimmte Dr. Holl ihr zu. „Lassen Sie ihn hier, damit wir beobachten können, wie sich die Infektion entwickelt. Wir lassen den Stuhl testen und ersetzen den Flüssigkeitsverlust. Außerdem bekommt er symptomlindernde Medikamente. Aktivkohle und Probiotika.“

„Und die Magenspiegelung?“

„Die ist zurzeit nicht notwendig“, sagte Stefan. „Außerdem würde sie ihn nur zusätzlich schwer belasten.“

Während er sprach, warf er einen verstohlenen Blick auf seine Uhr. Die Familie wartete schon auf ihn. Dr. Holl fühlte sich immer leicht genervt, wenn Patienten oder deren Angehörige ihm ihre eigenen Therapievorschläge unterbreiteten.

„Gut, einverstanden. Dann bleibt David ein paar Tage hier, aber ich kann doch jederzeit bei ihm sein, oder?“

„Selbstverständlich können Sie das. Allerdings darf David auch nach Abklingen der Symptome noch eine Weile nicht in die Kita. Gab es dort auch solche Krankheitsfälle?“

„David geht nicht in die Kita. Andere Kinder sind oft so aggressiv. Das mag er nicht. Er ist ein scheuer Bub. Daheim fühlt er sich am wohlsten.“

„Sind die Eltern des Kindes im Bilde?“, wollte er wissen.

„Ja, selbstverständlich. Sein Vater wird noch heute in die Klinik kommen. Und seine Mutter …“ Nora brach ab.

„Was ist mit ihr?“

„Nun ja, sie hat keine besonders gute Beziehung zu ihrem Sohn“, sagte Nora schließlich, wobei sie aussah, als falle es ihr unendlich schwer, diese Tatsache preiszugeben. „Um genau zu sein, sie hat ihn schon gleich nach seiner Geburt vernachlässigt. Aber jetzt bin ich ja da. Ich sorge dafür, dass David trotz fehlender Mutterliebe eine glückliche Kindheit hat.“

„Er wird bald wieder auf den Beinen sein“, versicherte Stefan Holl der Frau. „Solche Infektionen bei Kindern heilen problemlos aus. Wir werden ihn hier mit allem versorgen, was er in seinem geschwächten Zustand braucht. Und wenn sich den Laborbefunden zufolge neue Hinweise ergeben, werden wir sofort alles Erforderliche tun. Das können Sie auch den Eltern ausrichten. Seien Sie also unbesorgt.“

„Danke, Doktor.“

Dr. Holl fiel noch etwas ein.

„Wie sieht es sonst mit seiner Gesundheit aus? Hatte er andere Probleme, von denen wir hier noch nichts wissen?“

Nora schüttelte den Kopf.

„Bisher ist alles gut gegangen. Und ich hoffe, dass es auch so bleibt. David soll ja nicht zum Sorgenkind werden.“

Dr. Holl verabschiedete sich und schickte sich an, die Klinik zu verlassen. Es wurde höchste Zeit, mit seiner Familie ins Wochenende zu starten. Bevor er in seinen Wagen stieg, rief er noch rasch die Kollegin Sanders an und bat sie, ihm die Laborwerte von David durchzugeben – für den Fall, dass sie besorgniserregend ausfielen.

***

Samuel hätte Davids Betreuerin fast nicht wiedererkannt. Während sie beruhigend auf das Kind einsprach, ihm immer wieder über Wangen und Haar strich, betrachtete der Arzt die besorgte Frau und versuchte herauszufinden, was sich an ihrem Aussehen verändert hatte.

Am auffälligsten war die neue Frisur. Statt der zurückgekämmten und eng am Hinterkopf zusammengebundenen Haare trug sie jetzt kinnlange Locken mit blonden Strähnen. Die Augen waren mit dunklem Kajal zart umrandet. Der modische Lippenstift war etwas zu grell, stand ihr aber gut.

Irgendwas musste sie veranlasst haben, sich einen neuen Look zuzulegen. Eine Weile überlegte er, ob er ihr ein Kompliment machen sollte. Dann aber kehrte die Erinnerung an das Bestechungsgeld zurück, und er unterließ jegliche Bemerkung.

„Er schläft jetzt.“ Nora richtete sich auf. „Das ist gut. Ich habe noch einiges zu erledigen. Sollte sich irgendwas an seinem Zustand verändern, rufen Sie mich bitte an. Dann komme ich sofort.“

„Es wird sicher nichts passieren“, versicherte er ihr. „Wir werden ihn beobachten und gegebenenfalls Maßnahmen ergreifen. Machen Sie sich keine Sorgen. Er ist bei uns in guten Händen.“

Sie schaute ihn unschlüssig an, schien zu überlegen, ob jetzt der passende Moment war, noch etwas loszuwerden. Dann wagte sie es.

„Die Sache neulich mit dem Geld … ich möchte Sie deswegen noch mal um Verzeihung bitten. Es war Davids Vater, der mich damit beauftragt hat. Aber ich selbst mache mir natürlich auch den Vorwurf, nicht nachgedacht zu haben. Es muss Ihnen unangenehm gewesen sein. Und mir tut es wirklich leid.“

„Schon gut, es ist ja nichts passiert.“ Das Thema war für ihn erledigt.

„Darf ich Sie vielleicht zum Essen einladen? Sozusagen als Wiedergutmachung? Ihre Zustimmung würde mir zeigen, dass Sie mir nichts mehr nachtragen.“

Samuel zögerte. Schon ewig war er nicht mehr zum Essen ausgegangen, erst recht nicht in weiblicher Begleitung. Ja, warum sollte er ihrem Vorschlag eigentlich nicht zustimmen?

„David wird ja noch ein paar Tage hierbleiben. Wie wäre es mit Samstag?“

„Samstag geht leider nicht, da habe ich schon was vor“, sagte Samuel. Zunächst hatte er beschlossen, dem Klassentreffen fernzubleiben. Doch inzwischen wuchs seine Neugier auf die ehemaligen Klassenkameraden stündlich. Und jetzt wollte er sie alle wiedersehen, von ihnen erfahren, was sie all die Jahre so getrieben hatten.

Sogar die Möglichkeit, dass auch Babsi da sein könnte, schreckte ihn nicht mehr. Die Affäre von damals war vorbei, seine Gefühle längst gestorben. Endgültig und für immer.

„Wie wäre es mit Sonntag?“

„Würde mir auch passen.“

„Aber wir telefonieren noch. Ich rufe Sie an“, versprach er.

„Vergessen Sie es nicht“, ermahnte sie ihn lächelnd. Helle Fünkchen tanzten in ihren Augen.

Auch wenn sie ihm heute doch um einiges besser gefiel als bei ihrem letzten Zusammentreffen, musste er vorsichtig bleiben. Eine Beziehung kam für ihn nicht infrage, jetzt nicht und in Zukunft auch nicht.

Wahrscheinlich würde es auch nie so weit kommen. Mit Davids Betreuung war Nora Graupner vierundzwanzig Stunden am Tag beschäftigt. Da blieb keine Zeit für eine amouröse Verbindung. Und auch er machte viele Überstunden in der Klinik. Warum auch nicht. Zu Hause wartete ja niemand auf ihn. Wann und ob sich dieser Zustand jemals ändern könnte, stand in den Sternen.

***

Bevor Nora nach Hause fuhr, ging sie noch in die Glocken-Apotheke unweit der Berling-Klinik. Zu Hause fehlte einiges. Sie verlangte Abführmittel, Schlaftabletten, Beruhigungspillen und eine Packung Pflaster in verschiedenen Größen.

Die Apothekerin, ein junges hübsches Ding, wollte ihr zu jedem Medikament ein paar Ratschläge geben, die sie jedoch zurückwies.

„Danke, ich kenne mich aus.“

Sie zahlte die Rechnung in bar und ließ sich für die Schachteln eine Plastiktüte geben. Den Kassenzettel warf sie draußen gleich in den nächsten Abfallbehälter. Dann fuhr sie zufrieden mit einem Taxi nach Hause.

Im großzügigen Eingangsbereich der Villa traf sie auf Davids Mutter.

„Wie geht es ihm?“, fragte Barbara. Die Anspannung war ihr deutlich anzumerken. „Wieso bist du mit ihm einfach in die Klinik gefahren, ohne mir was zu sagen? Deine Eigenmächtigkeit nehme ich nicht länger hin …“

„David ging es schlecht, und du warst nicht greifbar. Also musste ich allein eine Entscheidung treffen.“

„Was soll das heißen, nicht greifbar?“

„Du warst weder im Haus noch im Garten. Und telefonisch konnte ich dich nicht erreichen.“

„Du hast es ja gar nicht versucht“, hielt Barbara der Erzieherin vor und zückte ihr Handy. „Es ist kein versäumter Anruf verzeichnet. Und auf der Sprachbox ist auch keine Nachricht.“

„Meine Güte, warum regst du dich so auf? David weinte vor Schmerzen. Du hast dich ja nicht um ihn gekümmert …“

„Was redest du da?“ Aufgebracht machte Barbara einen Schritt vor. Nora wich zurück wie vor einem spitzen Messer. „Du setzt doch alles daran, mir den Jungen zu entfremden. Aber ich bin immer noch seine Mutter.“

„Ach, wirklich?“ Nora verzog spöttisch den Mund. „Was tust du denn für dein Kind? Ich sorge dafür, dass er ordentlich isst, ich sitze an seinem Bett, bis er einschläft, und ich nehme ihn in den Arm, wenn er weint.“

„Ja klar.“ Auch Barbaras Stimme schwoll an. „Du bist immer schon da, immer die Erste. Und von diesem Platz lässt du dich auch nur ungern vertreiben. Das geht so nicht weiter. Du hast kein Recht, dich als Davids Mutter aufzuspielen. Seine Mama bin immer noch ich.“

Der Spott aus Noras Miene verschwand. Mitleid zog ein.

„Warum streiten wir uns eigentlich? Wir beide wollen das Beste für David. Ja, du bist seine Mama. Und ich springe ein, wenn es dir nicht gut geht. Das ist doch eine gute Lösung.“

„Nein, ist es nicht“, widersprach Barbara. „Ich werde mit Erik reden. Die Situation ist verfahren. Wir müssen einen Ausweg finden.“

***

Die Eingangstür ging auf. Als hätte er nur auf sein Stichwort gewartet, betrat Erik das Haus.

„Was ist los? Warum streitet ihr euch? Wo ist David?“

„In der Klinik“, sagte Nora besänftigend. „Reg dich nicht auf. Er bleibt dort für ein paar Tage zur Beobachtung.“

Sie nahm ihm seine Aktenmappe und den Wettermantel ab, den er über dem Arm trug.

„Die Ärzte sagen, es besteht kein Grund zur Sorge. Brechdurchfall bei Kindern kommt häufiger vor.“

„Aber David ist im letzten Jahr schon so oft krank gewesen.“ Erik schüttelte den Kopf. „Das kann doch nicht normal sein. Dafür muss es doch Ursachen geben. Wieso finden die Ärzte nichts?“

Nora hüllte sich in Schweigen. Sie war damit beschäftigt, den Mantel sorgfältig über einen Bügel zu hängen.

Barbara verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihren Mann herausfordernd an.

„Ich muss mit dir reden“, sagte sie.

„Was ist das für eine Begrüßung? Bekomme ich keinen Kuss?“

Pflichtschuldig holte Barbara das Versäumnis nach. Anschließend gingen sie ins Wohnzimmer. Nora folgte ihnen, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt.

„Soll ich euch einen Kaffee machen? Oder lieber Tee?“

„Du sollst jetzt verdammt noch mal verschwinden!“, rief Barbara wütend. „Musst du denn ständig dabei sein?“ Kaum hatte sie ihre Worte herausgeschleudert, schämte sie sich für ihre Unbeherrschtheit.

„Dann eben nicht.“ Nora gelang es, die Kränkung, wenn sie eine solche überhaupt empfand, gut zu verbergen. „Wenn ihr mich braucht, ich bin in meinem Zimmer.“

Erik ließ sich mit einem dicken Seufzer in einen der schweren Polstersessel fallen.

„War das nun unbedingt nötig?“, fragte er kopfschüttelnd.

„Ich denke schon. Nora spielt sich so auf, als wäre sie die Hausherrin.“

„Das bildest du dir nur ein“, versuchte Erik seine Frau zu besänftigen.

„Ich weiß, was ich sehe. Schon viel zu lange habe ich ihr Verhalten geduldet“, fuhr Barbara fort zu schimpfen.

Sie wunderte sich selbst, wie groß der Groll war, den sie empfand und der jetzt einfach mal aus ihr raus wollte.

„Erik, das kann nicht so bleiben. Ich wusste ja nicht einmal, dass sie David wieder in die Klinik gebracht hat.“

„Mein armes Kind …“, sagte er.

Barbara stöhnte auf. Wenn er so begann, wies er sie meistens zurecht.