Die besten Ärzte - Sammelband 54 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 54 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1819: Dr. Scholzes Liebesdienst
Notärztin Andrea Bergen 1298: Eine Zukunft nur für dich und mich
Dr. Stefan Frank 2252: Mit Mut ins Mutterglück
Dr. Karsten Fabian 195: Im Paradies ist noch ein Plätzchen frei
Der Notarzt 301: Trügerische Sicherheit

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 589

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Sybille Nordmann Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 54

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2014/2016/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Tyler Olsen / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-4663-2

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 54

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1819

Dr. Scholzes Liebesdienst

Die Notärztin 1298

Eine Zukunft nur für dich und mich

Dr. Stefan Frank 2252

Mit Mut ins Mutterglück

Dr. Karsten Fabian - Folge 195

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Im Paradies ist noch ein Plätzchen frei

Der Notarzt 301

Trügerische Sicherheit

Guide

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Contents

Dr. Scholzes Liebesdienst

Ein Arzt und die unglaubliche Bitte einer Patientin

Von Katrin Kastell

Die erfolgreiche junge Anwältin Sandra Wagner wünscht sich sehnlichst ein Baby – doch keinen Mann! Denn seit einer schweren Enttäuschung scheut sie jede Art von fester Bindung.

Entschlossen, sich ihren Traum vom Mutterglück zu erfüllen, macht sie sich auf die Suche nach dem passenden Erzeuger. Doch kein Mann scheint ihr gut genug!

In ihrer Verzweiflung vertraut sie sich schließlich ihrem besten Freund Dr. Manuel Scholze an. Und dem Arzt geht ihre ungewöhnliche Bitte nicht mehr aus dem Sinn …

Bis jetzt hatten sich schon zehn Kandidaten gemeldet. Alle besaßen nur die besten männlichen Eigenschaften. Sie waren tolerant, einfühlsam, ehrlich, großzügig, gesund und erfolgreich.

Einige outeten sich als Lebenskünstler, die Sandra Wagner schon mal aussortierte, weil sie spätere Ansprüche befürchtete. Die meisten aber verfügten über eine gute finanzielle Basis und befanden sich kurz vor dem Höhepunkt ihrer Karriere. Das behaupteten sie jedenfalls.

Nach den Fotos im Anhang zu urteilen, waren sie durchweg passabel und ansehnlich. Es sollte schließlich ein schönes Kind werden. Dennoch schwankte Sandra zwischen den fünf Männern, die sie schon mal in die engere Wahl gezogen hatte. Immer wieder schaute sie die Fotos an, die natürlich auch manipuliert sein konnten. Jeder der Herren verfügte ganz bestimmt über ein Bildbearbeitungsprogramm.

Und die geschilderten Vorzüge ließen sich im Vorfeld auch nicht überprüfen. Selbst wenn der eine oder andere ihr beim Kennenlernen sofort sympathisch wäre, konnte sie doch nicht wissen, ob die hervorragenden Wesenszüge tatsächlich zutrafen oder eher übertrieben waren.

Sandra stöhnte laut auf. Niemand fragte sie nach dem Grund. Sie saß allein in ihrer Wohnung. Sie liebte ihr Singleleben und würde es niemals freiwillig aufgeben.

Aber jetzt, in diesem Moment, hätte sie sich gern mit jemandem über die engere Auswahl der Bewerber beraten. Freundin Ulrike kam nicht infrage. Sie befand sich seit einer Woche auf Gran Canaria, um noch ein wenig Sonne vor dem ständig näher rückenden Winter zu tanken. Vielleicht wäre in diesem Fall überhaupt ein Mann viel geeigneter, passende Ratschläge zu geben.

Prompt dachte sie an Dr. Manuel Scholze, einen korrekten und guten Bekannten mit unschlagbarem Sachverstand. Für ihn hatte sie seinerzeit einen Rechtsstreit gewonnen. Wie lange war das jetzt her? Sandra rechnete nach, kam aber nicht auf den exakten Zeitraum, aber plus minus zwei Jahre dürfte es schon her sein.

Je länger sie die Fotos der Männer betrachtete, desto unsicherer wurde sie. Schließlich griff sie nach dem Telefon und drückte Manuels Nummer.

„Hallo, Manuel“, sagte sie, als er sich meldete. „Ich bin’s, Sandra.“

„Grüß dich, Sandra. Schön, von dir zu hören. Ich wollte dich auch schon längst mal wieder anrufen.“

„Warst du schon im Bett?“

„Ich habe Nachtdienst. Und bis jetzt war ziemlich viel los in der Notaufnahme.“

„Oh, dann störe ich sicher. Ich melde mich später …“

„Ist schon okay, jetzt ist der Ansturm vorbei. Wir können also ein wenig plaudern.“

„Eigentlich wollte ich mich wieder mal mit dir treffen. Wichtige Kontakte soll man nicht einschlafen lassen. Und wir haben uns auch schon eine Weile nicht gesehen …“

„Gibt es ein Problem?“

Hellhörig war er auch, der liebe Manuel. Merkte sofort, dass sie etwas Ungewöhnliches auf dem Herzen hatte.

„Nein, nicht wirklich. Ich … ich wollte was mit dir besprechen, aber nicht am Telefon.“

„Na gut. Nach dem Dienst schlafe ich daheim ein paar Stunden, dann habe ich Zeit bis zum Abend.“

„Hast du Lust, am Mittag zu mir zu kommen? Ich mache uns einen Imbiss zurecht.“

Manuel lachte auf. „Hast du etwas Bestimmtes vor?“, erkundigte er sich.

„Es geht um Männer“, erklärte sie. „Um Männer und ihre Fotos.“

„Jetzt machst du mich aber neugierig.“

„Kommst du?“

„Ja, klar. Wenn du mich rufst, bin ich sofort zur Stelle.“

„Bis morgen also. Ich freu mich schon.“

Nach dem Gespräch schaltete sie Computer und Handy aus und ging zu Bett. Sie träumte von menschlichen Gestalten, die sich tanzend um sie herumbewegten. Und alle trugen Masken.

***

„Ein Herr Halberg möchte Sie sprechen.“ Moni Wolfram, langjährige Sekretärin des Chefarztes, blieb im Türrahmen stehen. „Er hat keinen Termin und ist noch unten am Empfang. Er sagt, er sei ein guter Freund von Ihnen und es wäre dringend. Ich habe selbst mit ihm gesprochen.“

„Halberg, Halberg?“, wiederholte Stefan Holl kopfschüttelnd. Er kam nicht darauf, wer das sein könnte, aber das würde sich ja bald herausstellen.

„Also gut, er soll raufkommen. Wenn das Gespräch zu lange dauert, drücke ich kurz die Sprechtaste, und Sie erinnern mich dann an einen wichtigen Termin.“

„Selbstverständlich, Doktor Holl.“ Moni Wolfram lächelte spitzbübisch.

Als der Mann zwei Minuten später sein Zimmer betrat, bekam Dr. Holl eine erste Ahnung, aber wirklich erinnern konnte er sich immer noch nicht.

„Ich sehe, wie es in deinem Hirn arbeitet“, sagte der Besucher, und der große Mund in seinem verlebten Gesicht zog sich lächelnd in die Breite. „Ich bin’s, Egon. Egon Halberg. Leopold-Franzens-Universität, Vorphysikum, Prüfung bei Professor Ellwein.“

Der Mann breitete die Arme aus und machte ein paar schnelle Schritte auf Stefan zu, der von dieser eindringlichen Begrüßung jedoch ziemlich überrascht war.

„Menschenskind, Stefan, ist das eine Freude, dich wiederzusehen!“

Bevor sich ihm der andere an die Brust warf, ergriff Dr. Holl schnell dessen Hand und schüttelte sie kräftig.

„Egon Halberg, richtig! Jetzt dämmert’s mir. Ist aber schon ein Weilchen her, seit wir uns das letzte Mal sahen. Zwanzig Jahre – oder mehr?“

„Ja, wir sind ein bisschen älter geworden“, stellte der Besucher mit deutlichem Bedauern fest. „Aber so ist nun mal das Leben. Eines Tages wacht man auf und ist alt.“

Dr. Holl wies auf einen der Sessel, die am Fenster standen.

„Setz dich doch. Möchtest du etwas trinken?“

Egon Halberg bat um ein Glas Wasser. „Erzähl mal, wie geht es dir? Hab schon recherchiert, dass du jetzt mit Erfolg die Berling-Klinik leitest. Meine Hochachtung.“

„Ich bin in diese Aufgabe reingewachsen. Und wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, wird mir einst mein Sohn nachfolgen.“

„Wie viele Kinder hast du denn?“

„Vier. Die Zwillinge, Daniela und Marc, sind mit ihren zwanzig Jahren die Ältesten. Dann kommt der mittlere Sohn Chris. Er ist fünfzehn. Und dann mit elf unsere Nachzüglerin Juju.“ Stefan goss Wasser in zwei Gläser. „Aber jetzt erzähl mir mal, was ich für dich tun kann.“

„Eine ganze Menge“, erwiderte Egon Halberg, trank einen Schluck und stellte das Glas auf den Tisch zurück. Dann schaute er sich angelegentlich in dem großen Raum um. „Wie du ja sicher noch weißt, habe ich mein Studium ein bisschen später als du beendet und danach ein paar Jahre als Badearzt praktiziert. Inzwischen kann ich das nicht mehr.“

„Warum?“ Dass Egon sehr geschickt um den heißen Brei herumredete, ließ Stefan einigermaßen unruhig werden.

„Meine Gesundheit erlaubt es nicht, beziehungsweise meine Krankheit. Darum bin ich gekommen, um von dir, meinem alten Freund Stefan Holl, Rat und Beistand einzuholen.“

Der Chefarzt konnte sich nicht erinnern, dass die Freundschaft so eng gewesen war, wie Egon das jetzt darstellte.

„Was ist los mit dir?“

Egon seufzte mehrmals hintereinander, dann stand er auf und ging ein paar Schritte durch den Raum.

„Vor dir steht ein todkranker Mann. Ich brauche dringend eine neue Niere. Eine ist schon kaputt, und die andere macht es auch nicht mehr lange.“ Er breitete wieder die Arme aus. „Du bist der Einzige, der mir helfen kann. Ihr führt doch regelmäßig Transplantationen durch.“

„Bei wem bist du in Behandlung?“

„Ich komme aus Berlin. Mit den dortigen Ärzten habe ich mich überworfen. Die wollen mir ein X für ein U vormachen, aber nicht mit mir!“

„Jetzt mal der Reihe nach. Bitte, setz dich wieder. Du machst mich noch ganz nervös.“

Egon Halberg kam dieser Aufforderung nach. Die Arme auf die Lehnen gestützt, starrte er eine ganze Weile an die Decke.

„Ich leide unter chronischer Niereninsuffizienz und brauche dringend ein neues Organ. Die Dialyse halte ich nicht mehr aus. Aber zum Sterben bin ich noch lange nicht bereit.“

Jetzt stand Stefan auf, ging zu seinem Schreibtisch und holte sich einen Block und einen Kugelschreiber.

„Steht es wirklich so schlimm um dich?“

„Als Arzt kann ich mir nichts vormachen. Mein Kreatininwert liegt bei 11 mg.“

Stefan horchte auf und notierte die Zahl, die viel zu hoch war. Der Normalwert sollte zwischen 0,8 bis 1,2 mg pro Deziliter Serum liegen.

„Meine Niere erledigt also nur noch zu zehn Prozent ihre Arbeit. Eine schlechte Entgiftungsleistung, die mir bald den Tod bringt, wenn nichts geschieht.“

„Stehst du schon auf der Warteliste für ein Spenderorgan?“

„Ja, aber ganz weit unten. Bis die mir in Berlin ein neues Organ einpflanzen, sehe ich mir schon längst die Radieschen von unten an.“

Dr. Holl schaute auf. „Und was erwartest du jetzt von mir?“

„Dass du mir hilfst, und zwar schnell. Mein Gott, da lässt sich doch bestimmt etwas machen mit der Warteliste.“ Egon zwinkerte ihm zu.

„Ich fürchte, da muss ich dich enttäuschen. Bei uns geht alles mit rechten Dingen zu. Hier wird nichts manipuliert. Ich kann und werde keine Manipulation verantworten, für niemanden auf der Welt.“

Stefan Holl sah dem Patienten fest in die Augen.

„Wir werden dich erneut untersuchen und dich zur Dialyse überweisen. Wenn du dann auf der Warteliste oben angekommen bist, geht die nächste Niere an dich.“

Egon Halberg war enttäuscht. Seine Tränensäcke rutschen noch etwas tiefer.

„Und wenn ein nahestehender Mensch mir eine Niere spendet?“

„Das ist etwas anderes. In diesem Fall können wir gleich transplantieren. Aber es muss sichergestellt sein, dass die Person dir wirklich nahesteht. Also ein Angehöriger, Ehepartner oder auch ein enger Freund. Wir wollen wissen, ob dieser Mensch unter Druck gesetzt wurde.“

„Und das prüft ihr dann auch genau?“

„Dazu sind wir verpflichtet, Egon.“

„Mit anderen Worten: Auf der Liste müsste ich so lange warten, bis ich krank genug bin, um vielleicht noch gerettet zu werden. Aber wenn ein Angehöriger zur Spende bereit ist, kann die OP gleich erfolgen.“

„So ist es!“ Stefan erhob sich. „Wenn du möchtest, können wir dich zur umfassenden Untersuchung sofort stationär aufnehmen. Bring bitte auch alle bereits verfügbaren Unterlagen mit.“

„Ich muss mir das alles noch mal durch den Kopf gehen lassen“, sagte Egon. „Ich rufe dich dann an. Gib mir doch bitte deine Privatnummer.“

Dr. Holl holte eine Visitenkarte von seinem Schreibtisch und gab sie ihm.

„Danke.“ Da der Arzt stehen blieb, erhob sich nun auch Egon.

„Grüß Julia ganz herzlich von mir. Ich würde mich natürlich sehr freuen, in den nächsten Tagen mit euch zu essen.“

„Ich werde Julia von deinem Besuch erzählen“, erwiderte Dr. Holl.

„Danke einstweilen.“ Egon ergriff Stefans Rechte mit seinen beiden Händen und hielt sie sekundenlang fest. „Jetzt ist mir schon ein bisschen wohler zumute. Es ist doch was anderes, sich einem alten Freund anzuvertrauen, als sich von unbekannten Kollegen behandeln zu lassen. Und außerdem bin ich froh, wieder in München zu sein. Berlin ist mir zunehmend auf die Nerven gegangen.“

Stefan ging mit seinem Besucher zur Tür. Dort blieb Egon noch mal stehen. Er grinste breit und kniff das linke Auge zu.

„Noch mal liebe Grüße an Julia. Und dein Geheimnis von früher, das bleibt natürlich unter uns. Mach dir keine Sorgen.“

***

Dr. Manuel Scholze schlug die Augen auf, wandte den Kopf und schaute auf die digitale Uhr. Richtig, er war mit Sandra verabredet und wollte ihr ein, zwei Stunden widmen, bevor er seinen Nachtdienst begann. Er fühlte sich frisch und ausgeruht und schwang unternehmungslustig die Beine aus dem Bett, schon sehr gespannt darauf, was Sandra ihm zu erzählen hatte.

Er mochte die sympathische junge Anwältin, die in der Kanzlei von Dr. Axel Lassow arbeitete, dem Schwager seines Chefs Stefan Holl. Manchmal allerdings hatte sie verrückte Einfälle, die man ihr nach Kräften ausreden musste.

Manuel war gespannt, was ihr nun wieder durch den Kopf ging. Zum Glück blieb sie trotz ihrer gelegentlichen Spinnereien doch immer vernünftig.

Während er sich im Bad rasierte, läutete sein Mobiltelefon.

Seine Frau war dran. Das passte ihm gut. Er hatte ohnehin mit ihr reden wollen.

„Grüß dich, mein Lieber!“ Ihre Stimme klang kühl, aber auch vorwurfsvoll. „Du willst du dich also scheiden lassen. Meinst du das ernst?“

„Du tust ja gerade so, als wäre das vollkommen überraschend für dich. Hallo, Karin, ich grüße dich auch.“

Er betrachtete sich prüfend im Spiegel und wischte sich einen Rest Schaum vom Kinn.

„Ich habe mich schon gewundert, wieso du gar nicht auf meine Mail reagierst. Ja, wir sollten die Scheidung nun endlich angehen. Findest du nicht, dass es Zeit wird? Seit sechs Jahren leben wir getrennt.“ Er räusperte sich. „Und sind doch nicht frei.“

„Hast du eine Neue?“

„Mach dir keine Sorgen um mein Privatleben!“

„Tu ich aber doch. Ich bin immer noch deine Frau und will es wissen.“

„Ich lebe allein und fühle mich ausgesprochen wohl dabei. Zufrieden?“

„Das glaube ich nicht.“

„Das kannst du halten, wie du willst. Ist es dir recht, wenn ich die Scheidung einreiche, oder willst du das tun? Auf jeden Fall sollten wir uns vorher zusammensetzen und alles klären, damit die Angelegenheit so schnell wie möglich über die Bühne geht.“

In Wahrheit hatte er bis jetzt nichts unternommen, weil ihm der Gedanke an Formulare, Gerichtssäle und eine darin stattfindende öffentliche Auseinandersetzung von Herzen unangenehm war. Aber nach all den Jahren sollte er nun endlich den Kopf aus dem Sand herausziehen und den längst fälligen letzten Schritt tun.

Die Ehe mit Karin war kinderlos geblieben, jeder von ihnen hatte einen Beruf, der ihnen den Lebensunterhalt sicherte: Manuel als Arzt, Karin als Physiotherapeutin. Er wohnte in seinem Elternhaus, das er selbst nach dem Auszug der letzten Mieter bezogen hatte. Karin hatte sich nach der Trennung eine kleine Eigentumswohnung gekauft. Es dürfte also eigentlich keine Probleme geben.

„Ich bin meinen Job los“, hörte er sie schniefend sagen.

„Was? Seit wann denn das?“

„Seit drei Wochen“, erwiderte sie. „Du wirst mir Unterhalt zahlen müssen.“

„Das glaube ich kaum“, gab er zurück. „Du bist jung, hast eine gute Ausbildung und wirst schon was Neues finden. Unterhalt ist da nicht drin.“

„Wenn ich nun so krank bin, dass ich nicht arbeiten kann?“

„Ach, Karin, hör auf damit! Diese Szenarien langweilen mich. Lass uns lieber wie zwei vernünftige Leute miteinander reden.“

„Können wir uns heute noch treffen?“

„Heute geht es nicht.“

„Also doch eine Frau.“

Manuel seufzte. „Also gut, wenn du so willst …“

„Dann morgen?“

„Besser am Wochenende. Da habe ich drei Tage frei.“

„Wie wäre es mit Samstagabend? Du könntest mich zum Essen einladen.“

Manuel unterdrückte einen Seufzer. Dazu verspürte er zwar wenig Lust, aber wenn es denn dem Frieden diente, war er auch dazu bereit.

„Bei unserem alten Italiener in Schwabing? Neunzehn Uhr?“

„Einverstanden“, sagte er. „Sollte mir was dazwischenkommen, melde ich mich noch mal.“

Er beendete seine Toilette, zog ein schmal geschnittenes Hemd über seine muskulöse Brust und machte sich auf den Weg zu Sandra, die er gleich mit der Scheidung beauftragen konnte. Wie gut, dass eine Anwältin zu seinem Bekanntenkreis zählte!

***

„Kannst du dich eigentlich an Egon Halberg erinnern?“, befragte Stefan Holl seine Frau eher beiläufig. „Wir haben zusammen studiert.“

„Der Name kommt mir bekannt vor.“

„Halberg ist auch Arzt geworden. Er kam heute überraschend zu mir. Es geht ihm schlecht. Er braucht eine neue Niere. Aber so was haben wir nun mal nicht auf Lager.“

Stefan versank in gedankenvolles Schweigen. Julia wollte schon zu einer Zeitschrift greifen.

„Ich weiß immer noch nicht so ganz, was er eigentlich von mir wollte“, fuhr Stefan fort. „Als Arzt weiß er ja wohl, dass ich ihm nicht einfach so eine Niere verschaffen kann. Vielleicht hat er gedacht, ich könne ihm einen Freundschaftsdienst erweisen. Doch das ist bei diesen sensiblen Dingen nicht möglich.“

„Er wird verzweifelt sein und braucht einen kompetenten Ansprechpartner. Lade ihn doch am Wochenende zum Tee ein.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn im Haus haben will“, widersprach Dr. Holl sanft. Sollte er jetzt Egons merkwürdigen Hinweis auf das „Geheimnis“ erwähnen? Doch da er selbst keine Ahnung hatte, was der Kommilitone von damals gemeint haben könnte, ließ er es.

„Er scheint dir nicht sympathisch gewesen zu sein“, drang jetzt wieder Julias Stimme in seine Gedanken.

„Mit dieser Einschätzung liegst du nicht ganz falsch, mein Schatz. Aber ich könnte gar nicht mal sagen, woran das lag. Egon Halberg sieht ziemlich schlecht aus – und das nicht nur wegen der Dialyse. Auf den ersten Blick könnte man ihn für mindestens zehn Jahre älter halten, als er wirklich ist. Sein Gesicht wirkt etwas aufgedunsen, ist aber trotzdem wild zerfurcht. Die Augen scheinen keinen Moment ruhig zu bleiben.“

Stefan rief sich seinen Besucher in Erinnerung. „Ich tippe auf Alkoholmissbrauch. Vielleicht braucht er außer einer Niere auch noch eine Leber.“

„Ist er schon auf der Liste?“

„Ja. Wir werden nächste Woche alles bei ihm durchtesten und feststellen, wie hoch die Dringlichkeit bei ihm ist. Und neben der Dringlichkeit müssen wir auch die Erfolgsaussicht in Betracht ziehen, zwei Kriterien, die sich widersprechen können. Er lässt dich übrigens grüßen.“

„Danke“, sagte Julia. „Grüße ihn zurück. Vielleicht können wir uns doch in den nächsten Tagen mal mit ihm treffen. Ich bin neugierig, ob ich mich dann an ihn erinnere.“

Doch Stefan wollte sich noch nicht festlegen. Selbstverständlich stand er dem Studienfreund von damals als Arzt zur Verfügung. Aber die Freundschaft wieder aufzufrischen – dazu sah er keine Veranlassung. Beim Gedanken daran entstand in ihm sogar ein starkes Gefühl von Ablehnung.

***

„Und mit denen willst du dich also treffen“, fasste Manuel skeptisch zusammen. „Bitte sehr, wenn sie dir gefallen … Allerdings verstehe ich nicht ganz, für was du meinen Ratschlag brauchst. Jeder der Kerle sieht auf seine Weise ganz gut aus. Ob es zwischen euch funkt, musst du schon selbst persönlich feststellen. Oder soll ich bei den Treffen dein Händchen halten?“

Sandra überging die Ironie in Manuels Worten. Sie stand in der Küche, goss die Nudeln ab und schmeckte ein letztes Mal die bereits fertige Hackfleischsauce ab.

„Koste du auch!“, bat sie, hielt ihm den Löffel vor den Mund und beobachtete prüfend seine Reaktion.

„Schmeckt wunderbar“, befand Manuel.

Sandra lächelte zufrieden. „Dann schnapp dir die Schale mit dem Reibkäse. Es kann losgehen.“ Sie trug den Topf zum Esstisch, der schon fertig gedeckt war. Die Rotweinkaraffe stand ebenfalls schon bereit. Sandra verteilte Nudeln auf den Teller.

„Die Sauce kann sich jeder selbst nehmen“, erklärte sie.

Manuel goss den Wein ein. Sie prosteten sich zu.

„Danke für deine Einladung“, sagte er, verteilte Sauce auf den Nudeln und begann zu essen.

„Das ist so ziemlich das einzige Gericht, das mir immer gelingt. Versuche in andere Richtungen sind leider meistens schiefgegangen. Also beschränke ich mich auf Nudeln mit Hackfleischsauce.“

„Dieses Gericht kannst du auch all deinen Kandidaten vorsetzen. Sie werden sich auf der Stelle in dich verlieben.“

„In mich verlieben?“, wiederholte Sandra abschätzig. „Gerade das sollte, um Himmels willen, auf keinen Fall passieren.“

„Wie bitte?“ Manuel legte seine Gabel auf den hohen Tellerrand und griff zum Rotweinglas. „Was willst du dann? Nur Sex?“

Sandra lächelte ein wenig verlegen. „Ein Kind. Da gehört der Sex nun mal dazu. Es geht mir nur um ein Kind.“

Fast hätte er sich verschluckt. Ungläubig schaute er sie an.

„Wie bitte?“

„Ich will einen Mann finden, der bereit ist, mir zu einem Kind zu verhelfen und sich dann umgehend wieder vom Acker zu machen. Erbeten wird gutes Aussehen, hohe Intelligenz, guter Körperbau. Gute Gene halt.“

Sandra nippte an ihrem Glas, während Manuel das Seinige immer noch fassungslos in die Luft hielt.

„Nicht erwünscht sind Anhänglichkeit, Vatergefühle, Liebesbeteuerungen und ähnliche Sentimentalitäten. Dafür gibt es von meiner Seite auch keinerlei Verpflichtungen.“

„Ist das ein Witz?“

Sandra schob sich Pasta mit Sauce in den Mund. Nachdem sie eine Weile darauf herumgekaut hatte, streute sie noch einen Löffel Käse über ihren Teller.

„Es ist mein völliger Ernst. Manuel, ich bin jetzt dreiunddreißig und hab nicht mehr ewig Zeit. Die biologische Uhr tickt.“

„Und was erwartest du wirklich von mir?“

„Du sollst dir die Männer ansehen und lesen, was sie geschrieben haben. Und wenn du zum gleichen Ergebnis kommst, was die Reihenfolge eins bis drei betrifft, dann bin ich mir bei meiner Wahl schon viel sicherer.“

Manuel leerte sein Glas. „Wie kommst du darauf, dass ich in Bezug auf Männer den gleichen Geschmack haben könnte wie du?“

„Vielleicht kannst du dir vorstellen, einen von ihnen zum Freund zu haben.“

„Aber ich kenne sie doch nicht. Von sich erzählen kann man viel, wenn der Tag lang ist.“

„Wie gesagt, geht es ja nur um eine kurze Zeit. Je eher es klappt, desto besser. Und in den wenigen Wochen, auf die es ankommt, kann man ohnehin keinen Menschen kennenlernen.“

Er betrachtete sie mit deutlicher Zurückhaltung. „Also gut, ich gebe mich geschlagen. Aber wenn der Favorit dann doch ein Missgriff ist, dann beklage dich hinterher nicht bei mir.“ Manuel zog die Brauen nach oben. „Ich wasche meine Hände in Unschuld.“

„Du wirst niemals von mir irgendwelche Vorwürfe hören, großes Ehrenwort.“

„Gut, dann wirst du mir auch einen Gefallen tun. Ich brauche dich nämlich.“

Für diese Worte erntete er einen erstaunten Blick. „Wozu?“

„Du bist meine Anwältin. Ich will endlich die Scheidung von meiner Frau. Und die Sache so schnell wie möglich erledigt haben.“

„Aber das mach ich doch gern!“, versprach Sandra. „Gut, wir gehen so vor: Nach dem Essen suchst du drei Männer von den Kandidaten aus. Und ich schreib mir schon mal die Stichpunkte für die Scheidung auf. Wann Eheschließung, seit wann getrennt lebend, Vermögensverhältnisse und so weiter. Und dann reichen wir die Sache bei Gericht ein. Soll es eine einvernehmliche Scheidung werden? Oder steht ein Rosenkrieg ins Haus?“

„Von mir aus einvernehmlich“, brummte Manuel. „Aber sie hat da was von Unterhaltszahlung gesagt. Das macht mich stutzig.“

„Unterhalt? Deine Frau macht sich falsche Vorstellungen. Sie wird arbeiten müssen.“

„Aber sie hat gerade ihren Job verloren.“

„Dann muss sie sich einen neuen suchen. So einfach ist das.“ Sandra nickte dem Freund aufmunternd zu. „Keine Sorge, das schaffen wir. Ich hab schon ganz andere Fälle gewonnen. Aber jetzt schau dir doch bitte mal diese Männer an und sag mir, was du von ihnen hältst! Aber bitte sei ganz, ganz ehrlich!“

Manuel konzentrierte sich auf die Porträts. Schließlich tippte er mit dem Finger auf einen Mann mit vollen braunen Haaren und wachen Augen.

„Der hier macht einen relativ seriösen Eindruck.“

„Wirklich?“ Sandra kreischte begeistert auf, und schon hatte Manuel einen Kuss auf der Wange. „Das ist auch mein Favorit. Also werde ich mit ihm als erstes Kontakt aufnehmen.“

„Tu das. Ich bitte dich nur um eins, sei vorsichtig. Auch wenn der Kerl noch so gut aussieht, kann er ein Psychopath sein. Das sieht man nicht auf den ersten Blick.“

„Danke, Herr Doktor, dass du mich warnst! Ich werde ihn auf Herz und Nieren prüfen. Er heißt übrigens Clemens. Ganz nett, oder? Noch heute bekommt er eine Mail von mir. Ich werde mich mit ihm irgendwo treffen …“

Sandra hielt inne und betrachtete Manuel durchdringend. „Sag mal, könntest du nicht unauffällig im Hintergrund dabei sein?“

„Du bist wirklich verrückt.“ Manuel schüttelte den Kopf. „Vergiss es! Daraus wird nichts. Ich bin Arzt und kein Aufpasser für unvorsichtige Frauen auf Männersuche.“

„Das hättest du auch ruhig ein wenig netter sagen können“, maulte Sandra.

„Das, was du vorhast, ist ja auch nicht ganz ungefährlich. Wenn er dich nun mit einer gefährlichen Krankheit ansteckt?“

„Du denkst an Aids.“ Jetzt war Sandra doch nachdenklich geworden.

„Wenn es zur Sache gehen soll, musst du einen HIV-Test verlangen.“

„Dann haut der Auserwählte doch gleich wieder ab.“

Die junge Anwältin seufzte. Da kamen ja doch einige Probleme auf, an die sie noch gar nicht gedacht hatte.

„Warum wartest du nicht einfach darauf, bis der Richtige kommt?“

Sie winkte ab. „Dieses Aha-Erlebnis hatte ich schon öfter. Und dann war’s doch wieder nichts. Ich will keine neue Enttäuschung. Und den Richtigen – gibt es so etwas überhaupt?“

***

Als Egon Halbergs Befund vorlag, setzte sich Stefan mit seinem Team zusammen. Sie diskutierten die einzelnen Werte.

„Die verbliebene Niere ist dauerhaft geschädigt. Terminales Nierenversagen liegt vor. Der Patient geht bereits regelmäßig zur Dialyse. Das Herz- und Kreislaufsystem ist ebenso ausreichend getestet worden wie die Lungenfunktion. Es wurde eine Magenspiegelung durchgeführt, ebenfalls ein Kernspin des Bauchraums. Anzeichen einer Krebserkrankung gab es keine. Aus medizinischer Sicht wäre also festzustellen, dass er für eine Transplantation geeignet ist.“

„Psychiatrische und psychosomatische Erkrankungen?“, erkundigte sich Dr. Falk, Stefans Freund und Kollege.

Dr. Holl schüttelte den Kopf. „Nichts Auffälliges.“

„Dann sollten wir ihn auf die Warteliste setzen lassen, sofern er damit einverstanden ist“, schlug Daniel Falk vor.

„Er steht schon auf der Liste“, sagte Stefan. „Er hätte am liebsten schon morgen eine neue Niere.“

„Diesen Wunsch haben viele Menschen“, meinte Dr. Andrea Kellberg, die Anästhesistin. „Aber jetzt ist Geduld gefragt.“

„Der Patient kann auch etwas für sich tun“, ließ sich jetzt Ernährungsmedizinerin Beate Baumann vernehmen. „Da bei der Blutwäsche viel Eiweiß und Aminosäuren verloren gehen, muss er auf eine hohe Eiweißaufnahme achten. Die wiederum verursacht mehr Harnstoff und Phosphat im Körper, was negative Folgen für den Knochenstoffwechsel hat. Ich habe einen umfassenden Diätplan erstellt und schon mit dem Patienten besprochen. Er war davon nicht sehr angetan.“

„Und wird sich wohl kaum daran halten“, stellte Michael Wolfram, rechte Hand des Chefchirurgen Daniel Falk, in den Raum.

Dr. Holls Mundwinkel gingen nach unten. „Das befürchte ich auch“, pflichtete er Dr. Wolfram bei, dem Ehemann seiner Sekretärin Moni. „Nach einem längeren Gespräch mit ihm kam heraus, dass er von all diesen begleitenden Maßnahmen eher wenig hält, sondern lieber so schnell wie möglich eine neue Niere haben möchte.“

„Wünschen kann man viel“, meinte Dr. Jordan und tippte mit seinem Kugelschreiber auf die Tischplatte. „Aber da wird er sich wohl gedulden müssen, wie all die vielen tausend anderen Patienten auch, die auf ein neues Organ warten und während dieser Zeit mit der künstlichen Niere vorlieb nehmen müssen.“

„Herr Halberg brachte auch eine Lebendspende ins Spiel, mit der er natürlich die Wartezeit vermeiden könnte“, sagte Stefan Holl.

„Wir alle hier betrachten eine solche Spende von einem lebenden Menschen mit gemischten Gefühlen“, gab Daniel Falk zu bedenken, „da es sich nicht unbedingt um eine lebensrettende Maßnahme handelt. Ein Dialysepatient lebt so lange wie ein Transplantierter. Aber es ist richtig, die lästigen und auch zeitraubenden Sitzungen für die Blutwäsche fallen natürlich weg.“

„In diesem Fall werden wir in Ruhe über diese Möglichkeit sprechen“, pflichtete Stefan seinem Freund und Kollegen bei. „Wenn es sicher feststeht, dass eine solche Spende von einem nahestehenden Menschen aus freien Stücken erfolgt, werden wir auch nichts dagegen haben.“

Nach der Sitzung setzte sich Stefan mit Egon in Verbindung. „Du erwähntest die Möglichkeit einer Lebendspende“, sagte er. „Wer käme dafür infrage?“

„Meine Verlobte“, lautete die etwas knappe Antwort. „Sagte ich das nicht?“

„Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern. Also gut, dann sollten wir gemeinsam miteinander reden. So bald wie möglich.“

„Ich versichere dir, dass sie einverstanden ist.“

„Wir müssen es von ihr selbst hören, dass diese Spende freiwillig erfolgt.“

„Darauf kannst du dich verlassen, Stefan. Meine Verlobte liebt mich. Sie würde alles für mich tun.“

Dr. Holl ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Ich stelle jetzt zu Frau Wolfram durch, die dir dann einen Termin vorschlägt. Ein ausführliches Gespräch vor einer solchen Entscheidung ist wichtig. Dies gehört zu unseren ethischen Grundsätzen.“

„Na gut“, brummte Egon. „Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht.“

Eine Formulierung, die Stefan nachdenklich machte.

***

Nun hatte er sich tatsächlich breitschlagen lassen, wenigstens beim ersten Rendezvous im Hintergrund dabei zu sein und die ganze Geschichte zu beobachten. Dr. Manuel Scholze gefiel diese Rolle keineswegs, aber da Sandra so lange auf ihn eingeredet hatte, bis er schließlich nachgegeben hatte, musste er nun auch Wort halten.

Er saß an einem Zweiertisch im hinteren Teil des italienischen Restaurants. Etwa acht Meter von ihm entfernt wartete Kandidat Nummer eins, den er von den Fotos wiedererkannte. Sandra war noch nicht da.

„Haben Sie schon was gewählt?“, erkundigte sich der Kellner geduldig.

„Ich überlege noch“, erwiderte Manuel Scholze freundlich und ging die Speisekarte wieder von vorn durch. Als er sich endlich für einen Tomaten-Mozzarella-Salat entschieden hatte, erschien wie auf ein Stichwort hin Sandra.

Sie war toll zurechtgemacht. Einen Moment blieb sie stehen und ließ ihren Blick umherwandern. Er zwinkerte ihr zu, doch sie gab nicht mit dem kleinsten Anzeichen zu erkennen, dass sie ihn wahrnahm. Manuel bewunderte ihre Gelassenheit.

Nach kurzer Prüfung ging sie auf den zweiten einzelnen Herrn in diesem Raum zu, sagte etwas zu ihm und reichte ihm die Hand.

Der Mann stand noch nicht einmal zur Begrüßung auf. Kein Kavalier, notierte Manuel im Stillen. Zwischen Sandra und dem Mann, der Clemens hieß, kam eine Verlegenheit gar nicht erst auf. Schnell entwickelte sich eine lockere Unterhaltung, die ziemlich lustig sein musste, denn es wurde viel gelacht.

Der Kellner erschien wieder. Nun bestellte Manuel den Tomatensalat und eine kleine Pizza. Dazu ein alkoholfreies Bier.

Oh, die da drüben ließen es aber gleich mal feuchtfröhlich angehen! Eine Flasche Prosecco wurde im Eiskübel gebracht. Und bald prosteten die zwei sich fröhlich zu. Volltreffer!, dachte Manuel und beglückwünschte seine Anwältin.

Wenn sie mit diesem Kerl Glück hatte, konnte sie sich die anderen Kandidaten ersparen. Der Arzt aß seine Pizza langsam. Er wollte nicht zu früh fertig und dann genötigt sein, noch mehr zu bestellen.

Am anderen Tisch wurde weiterhin lachend gezecht, man prostete einander zu, aber ein Gericht bestellten die beiden Turteltäubchen nicht. Plötzlich schaute der Mann auf die Uhr, sagte ein paar Worte, die von bedauernden Gesten begleitet wurden, dann verabschiedete er sich.

Sandra saß allein am Tisch. Sie wirkte ein wenig konsterniert und hatte wohl nicht damit gerechnet, dass dieses Treffen so schnell beendet sein würde. Sie sprach kurz mit dem Kellner, der den Eiskübel ergriff und ihn auf Manuels Tisch stellte.

„Darf ich mich zu dir setzen?“

Sandra hatte schon Platz genommen, bevor er überhaupt etwas sagen konnte.

„Was war denn das?“, wollte Manuel wissen. „Das ließ sich doch alles ganz gut an. Warum ist er plötzlich weg? Das war ja wie eine Flucht.“

„Ihm fiel angeblich ein, dass er noch eine Verabredung hatte.“ In Sandras Augen lag Enttäuschung. „Ich habe ihm wohl nicht gefallen.“

Manuel ließ noch mal die Karte bringen, aus der sich Sandra auch eine Pizza aussuchte.

„Nun erzähl endlich!“, drängte er sie.

Sandra winkte enttäuscht ab. „Ich dachte gleich, der ist es. Aber als ich dann vorsichtig die Kinderfrage anschnitt, wurde er ganz zappelig.“

„Du bist also mit der Tür ins Haus gefallen“, stellte Manuel fest.

„Aus unserem E-Mail-Verkehr ging hervor, dass er im Prinzip nichts dagegen hat.“

„Wogegen?“

„Mit mir ein Kind zu zeugen. Ich hatte sogar den Eindruck, dass ihn dieses Ansinnen stolz machte. Hab ich jedenfalls so aus den Mails herausgelesen.“

„Wirklich?“ Manuel grinste. Ein bisschen Schadenfreude konnte er sich in diesem Moment nicht verkneifen. „Aber dann hat er doch die Flucht ergriffen. Nimm’s nicht tragisch, Sandra! Ich fürchte, diese Erfahrung wirst du noch öfter machen. Und schließlich erfolglos bleiben. Aber vielleicht rückst du dann ja auch von deiner Idee ab. Im Grunde degradierst du einen Mann ja zum Samenspender. Das kommt bei keinem gut an.“

„Es gibt doch genug Männer, die anonym Samen spenden.“

„Das ist auch was anderes, als sich den kritischen Blicken einer Frau zu stellen.“

„Okay, das erste Mal war’s ein Reinfall, aber ich habe ja noch ein paar Kandidaten mehr.“

„Hör mal zu!“ Er wandte ihr sein Gesicht zu und blickte ihr streng in die blauen Augen. „Du bildest dir hoffentlich nicht ein, dass ich auch bei deinen nächsten Treffen dabei sein werde. Jetzt weißt du ja, wie es geht. Du musst allein klarkommen. Oder verlässt dich jetzt dein Mut?“

„Ach bitte, Manuel!“

„Nein!“ Es fiel ihm schwer, seinen ganzen Ärger hinunterzuschlucken.

Aber dafür gelang ihm ein überaus ironisches Lächeln. „Am Ende verlangst du dann noch von mir, dass ich mich im Schlafzimmer hinter den Vorhang stelle, wenn es so weit ist. Das ist in meinen Augen kein Freundschaftsdienst mehr, sondern eine Zumutung. Und jetzt will ich kein Wort mehr davon hören.“

Als sie sah, dass er es ernst meinte, versuchte sie nicht länger, ihn von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Auf keinen Fall wollte sie es sich mit ihm verderben.

„Lass uns wenigstens noch die Flasche austrinken. Er hat sie beim Hinausgehen bezahlt.“

Die Pizza wurde gebracht. Sandra verputzte sie in Rekordzeit. „Den ganzen Tag hab ich vor lauter Aufregung nichts gegessen. Ich bin hungrig wie ein Wolf.“

Jetzt gönnte sich Manuel auch ein Gläschen Prosecco. Er nippte an seinem Glas und betrachtete Sandras feines Profil. Diese Frau war vom Kinderwunsch besessen, und im Augenblick sah es nicht so aus, als könnte er sie davon überzeugen, dass eine Familiengründung der bessere Weg wäre – gerade auch für das Kind.

„Wie stellst du dir die Zukunft eigentlich vor?“, erkundigte er sich betont beiläufig. „Wenn du nun wirklich erfolgreich deinen Plan durchziehst, wie willst du als alleinerziehende Mutter in deinem Beruf klarkommen? Wie ich das so überblicke, hast du ja viel zu tun. Oder willst du deinen Job dann aufgeben?“

„Nein, natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf?“ Sie schaute ihn kopfschüttelnd an, schien sich sogar ein wenig über seine Frage zu ärgern. „Glaubst du vielleicht, ich verlasse die Kanzlei von Doktor Lassow freiwillig, nachdem er sich nach einem intensiven Auswahlverfahren für mich entschieden hat? Ich bin gern Anwältin und werde es auch bleiben.“

„Und das Kind? Was wird aus ihm?“

„Keine Sorge, ich werde ihm eine gute Mutter sein.“

„Ja, aber wo bleibt es, wenn du arbeiten musst? Ich nehme mal nicht an, dass du es zu deinen Prozessen mitnehmen willst.“

„Ich suche mir eine patente Tagesmutter. Nach Büroschluss hole ich mein Kind wieder ab. So geht das heute, Manuel.“

„Wie du meinst.“ Plötzlich verspürte er keine Lust mehr, sich mit Sandras Problemen zu befassen. Sollte sie doch selbst sehen, wie sie damit zurechtkam! Sie musste ihr Leben selbst meistern. Dabei konnte er ihr ohnehin nicht helfen.

„Schade, dass meine Mama so weit weg wohnt!“, meinte Sandra nachdenklich. „Sie würde sicher gern bei der Kinderbetreuung einspringen.“

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nur wenig von Sandras Familienleben wusste.

„Leben deine Eltern noch?“

Etwas Wehmut schlich sich in ihre Augen. „Mein Vater ist schon lange tot. Und die Mama lebt mit einem Künstler in Schweden. Aber einmal im Jahr sehen wir uns. Und du? Hast du noch Eltern?“

„Nein“, erwiderte er knapp und winkte dem Kellner. „Zahlen bitte. Alles zusammen.“

Die Rechnung war dann viel höher, als Manuel gedacht hatte. Er zahlte stillschweigend. Im Hinausgehen sagte er: „Also: In diesem Fall bin ich gern in die Bresche gesprungen, denn es hatte ja auch einen gewissen Unterhaltungswert. Aber nur dieses eine Mal. Ein zweites Mal wird es nicht geben.“

„Ich danke dir trotzdem.“ Und wieder bekam er einen ihrer zarten und leicht feuchten Küsse auf die Wange gedrückt.

***

Der Arzt Egon Halberg machte nicht unbedingt den Eindruck, als wäre er sehr interessiert an dem, was Stefan ihm zu sagen hatte. Zwischendurch nippte er immer wieder an einem Tee, den Moni gebracht hatte.

„Das, was du jetzt sehr ausführlich dargelegt hast, ist mir ja nicht neu“, meinte er in einem Anflug von Missmut. „Wenn ich mal zusammenfassen darf, dann gibt es nach wie vor nur die zwei Möglichkeiten: Warteliste bei Eurotransplant oder eine Lebendspende, wobei Letztere noch einer genauen Prüfung bedarf. Na ja, kein besonders positives Ergebnis.“

Stefan musterte den alten Freund. „Ich bin fest davon ausgegangen, dass du deine Verlobte mitbringst. Wir müssen sie kennenlernen. Verstehst du das nicht? Du kannst uns nicht einfach jemanden präsentieren und sagen, das ist der Spender, nun legt mal los.“

„Meine Verlobte ist sehr schüchtern. Und wenn viele Menschen um sie herum sind, bekommt sie sogar Angst.“

Stefan horchte auf. „Warum das? Hat sie psychische Probleme?“

„Ganz sicher nicht. Aber sie ist in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und noch nicht selbstsicher genug, um sich im Leben zurechtzufinden. Darum helfe ich ihr dabei. Sie ist noch jung.“

„Aber hoffentlich doch volljährig“, sagte Dr. Holl. „Wenn nicht, dann …“

„Selbstverständlich ist sie das!“ Egon lächelte. „Stefan, für wen hältst du mich?“

Darauf gab der Chefarzt lieber keine Antwort, da sie nicht besonders vorteilhaft für Halberg ausgefallen wäre.

„Also gut, dann bringe ich sie beim nächsten Mal mit.“

„Wie ist ihr Name?“

Egon wand sich eine Weile, bis er ihn preisgab. „Ribanna Samak“, sagte er schließlich. „Aber was tut das zur Sache?“

Stefan machte sich eine Notiz. „Das ist kein deutscher Name“, stellte er fest.

„Nein, sie ist eine Thai“, erwiderte Egon. „Diese Angaben sollten eigentlich genügen. Jetzt fang bloß nicht an, ihr ganzes Leben abzufragen.“

„Aber es ist dir schon klar, dass wir alles sauber und einwandfrei dokumentieren müssen, wenn es sich um eine Lebendspende handelt.“

Stefan schaute dem Mann in die Augen. Was er dort sah, gefiel ihm nicht.

„Hast du denn alles in deinem Leben richtig gemacht?“ Egons Gegenfrage hatte etwas Lauerndes. „Ich erinnere dich nur an Irma Bender. Du hast sie damals verlassen. Darunter hat sie sehr gelitten. Und ihre Lage war prekär. Ich musste sie trösten, damit sie neuen Lebensmut fasste. Ein paar Jahre war ich dann mit ihr zusammen. Erst, als der Junge schon groß war, haben wir uns getrennt.“

„Welcher Junge?“, hakte Stefan nach.

Natürlich konnte er sich an Irma erinnern, doch Egons Worte blieben ihm ein Rätsel, das er aber jetzt auf der Stelle gelöst haben wollte.

„Sie war schwanger, als ich mich um sie kümmerte, Stefan. Nun tu nicht so, als wüsstest du das nicht!“

***

Für diesen Abend hatte Sandra gleich zwei Treffen geplant. Erst Lukas Klein, ein Informatiker, dann Bernd Lohse, ein „Löwenbändiger“ vom Tierpark Hellabrunn. So hatte sich der Mann selbst in seinen Mails bezeichnet.

Schon am Nachmittag, als sie in der Kanzlei einen Schriftsatz verfasste, stellten sich wieder diese diffusen Magenschmerzen ein, die sich auch hartnäckig bis zum ersten Rendezvous um siebzehn Uhr im „Café Zugspitze“ hielten.

Das konnte sie gerade jetzt doch am wenigsten gebrauchen!

Lukas Klein war ein fescher Mann von sechsundzwanzig Jahren, aber er schlug gleich vor, das nächste Wochenende gemeinsam zu verbringen.

„Am besten bei dir daheim“, meinte er. „Dann können wir uns besser kennenlernen.“

„Nun ja, für meine Zwecke reicht eine gewisse Sympathie vollkommen aus“, stellte Sandra klar. Diesmal ließ sie sich nicht auf ein Glas Prosecco ein, sondern trank nur Wasser. „Und damit von vornherein alles geklärt ist, habe ich hier ein entsprechendes Formular vorbereitet, dass dich im Falle des Falles von allen Pflichten entbindet.“

„Vielleicht will ich das ja gar nicht.“ Er lächelte überlegen. „Hör mal, Sandra, mir kannst du nichts vormachen. Ich finde, du bist ein nettes Mädchen, aber wie alle Frauen bist du auch auf der Suche nach einem Mann.“

Jetzt grinste er ein bisschen zu breit. „Er sitzt vor dir. Machen wir das Ganze doch anders herum. Wir verleben ein schönes Wochenende, schauen uns ein paar Filme an und erzählen uns gegenseitig, was wir so vom Leben erwarten. Ich jedenfalls bin dazu bereit, mich wieder auf was Neues einzulassen, nachdem meine letzte Beziehung so grandios gescheitert ist. Aber bei dir bin ich mir sicher, dass wir gut miteinander klarkommen können. Und über ein Kind kann man in ein, zwei Jahren dann immer noch reden.“

Sandra schnappte kurz nach Luft. Dieser Lukas schien ja überhaupt nichts begriffen zu haben.

„Ich will keine Beziehung“, sagte sie ziemlich ruppig. „Und ich dachte, ich hätte das klar formuliert. Scheint bei dir aber nicht so angekommen zu sein.“

„Frauen sagen doch immer Nein, wenn sie eigentlich Ja meinen. Und eine feste Beziehung wollen alle.“

Sandra hatte genug gehört. Weitere Erläuterungen waren nicht mehr nötig. Sie nahm das von ihr vorgefertigte Einverständnis wieder an sich und ließ es in ihrer Handtasche verschwinden. Dann legte sie drei Euro für das Getränk auf den Tisch und erhob sich.

„Tut mir leid, Lukas, aber wir wollen das Missverständnis nicht noch vertiefen. Einen schönen Abend noch.“

Sie verließ das Café und ging in eine nahe gelegene Bar. Dort war um diese Zeit noch nichts los. Sie saß allein am Tresen und trank nachdenklich einen Cocktail.

Die Sache ließ sich nicht gut an. Natürlich musste sie Lukas widerwillig recht geben. Im tiefsten Grund ihres Herzens sehnte auch sie sich nach einer Beziehung, aber bis jetzt waren ihre diesbezüglichen Wünsche nicht in Erfüllung gegangen.

Warum? Das wusste sie nicht. Das Schicksal schien gerade bei ihr besonders launisch zu sein. Die Männer, in die sie sich Hals über Kopf verliebt hatte, zeigten keine oder nur wenig Gegenliebe. Und wenn mal einer von ihr begeistert war, dann fand sie denjenigen entsetzlich langweilig.

Sie zahlte ihren Drink und machte sich auf den Weg ins französische Bistro zwei Straßen weiter, wo sie mit Bernd Lohse verabredet war. Zu allem Überfluss fing es jetzt auch noch an zu regnen, und ein heftiger Wind setzte ein.

Warum tue ich mir das alles nur an?, fragte sie sich in aufkeimendem Selbstmitleid. Genauso gut hätte sie jetzt gemütlich daheim auf dem Sofa sitzen können und bei einem Glas Wein darüber nachdenken, ob sie lieber fernsehen oder schmökern wollte.

Kaum hatte sie das Lokal erreicht, ging das Unwetter erst richtig los. Schnell verschwand sie auf der Toilette, um ihre vom Wind durcheinandergewirbelten Haare in eine einigermaßen ansehnliche Form zu bringen. Sie kämmte die noch feuchten Haare nach hinten und bändigte sie mit einem schwarzen Gummiband. So musste es gehen. Was anderes blieb ihr auch gar nicht übrig.

Bernd Lohse machte einen sanften Eindruck. Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstand und immer wieder nachfragen musste, was er gesagt hatte.

Außerdem hatte er ihr offensichtlich ein älteres Foto von sich geschickt. Der Mann, der vor ihr saß, war mindestens zwanzig Kilo schwerer und schwärmte davon, dass er sich mit den Tieren besser verstand als mit den Menschen.

Na, dann sollte es doch auch so bleiben, dachte Sandra und hakte auch dieses Treffen gedanklich ab. Manuels Vorwürfe dröhnten ihr in den Ohren. Und fast war sie geneigt, ihm recht zu geben. Aber noch erklärte sie ihr Vorhaben nicht als gescheitert.

Es gab ja noch weitere Kandidaten, die sie bis jetzt ausgeschlossen hatte. Was vielleicht falsch war, da man Menschen nicht nach ein paar Fotos und Mails beurteilen konnte. Also würde sie heute Abend daheim eine weitere Prüfung starten.

Mit ein paar freundlichen, aber deutlich ablehnenden Worten verabschiedete sie sich auch von diesem Kandidaten.

Um einigermaßen trocken nach Hause zu kommen, nahm sie ein Taxi. Als sie dann in ihrem behaglichen Wohnzimmer saß, klappte sie ihren Laptop auf und rief noch mal alle Mails und Fotos von den Männern auf, die sie bis jetzt außen vor gelassen hatte.

Eine Stunde später hatte sie drei von ihnen angeschrieben und eine Verabredung vorgeschlagen.

***

Dr. Manuel Scholze und Chefarzt Dr. Holl warteten bereits seit zehn Minuten auf den Patienten. Egon Halberg ließ aber seinerseits auf sich warten.

„Wir geben ihm noch fünf Minuten. Wenn er bis dahin mit seiner Verlobten nicht erschienen ist, muss er sich einen neuen Termin geben lassen.“

Schließlich kam Egon doch noch, im Schlepptau eine junge Frau, die sehr verängstigt wirkte, schüchtern lächelte und es kaum wagte, den beiden Ärzten in die Augen zu schauen.

Während Stefan und Egon sprachen, beschäftigte sich Manuel vorerst damit, das ungleiche Paar zu betrachten. Dass diese junge Frau mit der bronzefarbenen Haut und dem glänzend schwarzen Haar die Verlobte dieses Mannes sein sollte, dessen Gesicht von tiefen Ackerfurchen durchzogen war, wollte er nicht glauben. Aber die Liebe ging ja oft seltsame Wege, also wollte er keine voreiligen Schlüsse ziehen.

Stefan und Manuel erfuhren, dass die hübsche Thailänderin kein Englisch sprach, es aber angeblich verstand.

„Bei mir ist es umgekehrt, ich spreche kein Thai, verstehe es jedoch“, erklärte Egon Halberg. „Ihr könnt sie also auf Englisch fragen, und ich übersetze ihre Antworten.“

„Wir verstehen zwar kein Thai“, erwiderte Stefan. „Aber wir nehmen das Gespräch trotzdem auf.“ Er stellte ein kleines Gerät in die Mitte des Tisches.

„Aber das ist nun wirklich nicht nötig“, protestierte Egon, doch Dr. Holl ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Er fragte Egons Verlobte auf Englisch, wie lange sie ihn schon kannte.

Sie antwortete zögernd und leise auf Thai. Egon tauschte einen langen Blick mit ihr und übersetzte: „Wir sind seit drei Jahren zusammen. Ich liebe ihn sehr. Wir werden heiraten.“

„Ist Ihnen bewusst, dass Sie nicht gezwungen sind, einem anderen Menschen ein Organ zu spenden? Auch dann nicht, wenn er sie sehr darum bittet?“

„Wenn Egon gesund ist, können wir endlich wieder ein ganz normales Leben führen“, übersetzte Egon. „Darauf freue ich mich schon. Bitte, helfen Sie ihm!“

Manuel konnte es kaum glauben, was er da hörte.

Stefan erklärte der möglichen Spenderin, dass es noch ein weiteres Gespräch in einem größeren Kreis geben werde.

„Ist das wirklich nötig?“, plusterte sich Egon auf. An seinem Hals trat deutlich die Schlagader hervor. „Ihr seht doch, wie schwer ihr diese Befragung fällt. Am Ende macht sie vor lauter Angst noch einen Rückzieher.“

Es gelang Stefan, den aufgebrachten Freund zu beruhigen. „Ich möchte gern ein paar Worte unter vier Augen mit dir sprechen. Frau Samak kann so lange bei Frau Wolfram im Vorzimmer warten.“ Er nickte Manuel zu. „Wir sprechen uns später noch. Nehmen Sie das Gerät inzwischen mit.“

„Warum so geheimnisvoll?“, fragte Egon, als er mit Stefan allein war.

„Das sollte ich besser dich fragen. Was war das für eine Bemerkung neulich, wieso ich nicht wüsste, dass Irma schwanger war? Warum sollte ich das überhaupt wissen?“

Ein Netz von tiefen Falten umgab die hellblauen Augen in dem verlebten Gesicht. Egon lächelte selbstgefällig. Plötzlich erinnerte sich Stefan, dass er dieses Grinsen schon damals nicht gemocht hatte.

„Willst du etwa damit andeuten, dass das Kind von mir war?“

Egon zog die Schultern nach oben und die Mundwinkel nach unten. „Irma hat mir selbst gesagt, dass sie von dir ein Kind erwartet.“

Stefan starrte sein Gegenüber überrascht an. „Und warum weiß ich davon nichts? Mit hätte sie es doch erzählen müssen. Aber sie hat sich nie bei mir gemeldet.“

„Vielleicht wollte sie dein junges Glück nicht zerstören“, meinte Egon und seufzte. „Sie war ja immer so sensibel, die Irma.“

Stefans Meinung nach musste zwischen dem Ende der Affäre mit Irma und dem wunderbaren Neuanfang mit Julia ein knappes Jahr liegen, aber so genau erinnerte er sich nicht mehr.

„Eigentlich kann es nicht sein“, meinte er, jetzt schon wieder sehr überzeugt. „Aber ich werde jetzt selbst die Initiative ergreifen und sie fragen. Es wird sich ja herausfinden lassen, wo sie heute lebt.“

„Gib dir keine Mühe, das bringt jetzt auch nichts mehr. Leider.“ Egons Miene wurde abfällig. „Es ist zu spät, viel zu spät. Irma ist tot. Sie starb vor acht Jahren. Allein, einsam und verarmt.“

„Und der Junge?“

Egon zog sein Schweigen unerträglich in die Länge.

„Ich weiß, wo er ist“, behauptete er dann. „Er heißt Jakob. Wenn es so weit ist, wird er hier auftauchen. Aber du kannst dir jetzt ja schon mal eine plausible Erklärung ausdenken – für deine Familie. Vielleicht freuen sich ja alle über den späten Sohn beziehungsweise Bruder.“

Am liebsten hätte Stefan dem anderen eine ordentliche Ohrfeige verpasst, aber er beherrschte sich rechtzeitig. Was fiel ihm denn ein, sich hier so aufzuspielen?

„Gib mir seine Adresse! Ich möchte mit dem jungen Mann reden.“

„Reg dich nicht auf, Stefan. In unserem Alter sind wir sehr anfällig für Herzattacken. Der Junge wird dir doch gar nicht zum Verhängnis. Und deine Familie braucht nie etwas davon zu wissen. Vorausgesetzt natürlich, ich spaziere hier bald mit einer frischen Niere raus.“

***

Diese Unterhaltung stürzte Dr. Holl vorübergehend in ein beachtliches Gefühlsdurcheinander. Hatte er wirklich einen Sohn, der älter war als die Zwillinge? Es fiel ihm immer noch schwer, das zu glauben.

Erst, als der Kollege Scholze eine Stunde später wieder auftauchte, konnte er den Gedanken an das unbekannte Kind wenigstens etwas zur Seite schieben.

„Nun, was halten Sie von der möglichen Spenderin?“, fragte Stefan.

Manuel angelte das Aufnahmegerät aus der rechten Tasche seines Kittels.

„Ich habe mir das Gespräch mehrmals angehört. Kein Wort von dem, was Herr Halberg übersetzte, hat sie gesagt. Was er wiedergab, war frei erfunden.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Stefan mit zusammengezogenen Brauen.

„Ich verstehe Thai und spreche sogar ein paar Brocken.“

„Und warum erfahre ich das jetzt erst?“

„Weil ich wissen wollte, wie weit er es treibt. Aber es besteht kein Zweifel. Egon Halberg sagt nicht die Wahrheit. Auch wenn er ein Freund von Ihnen ist, muss ich das so klar und deutlich sagen. Tut mir leid. Die Frau steht unter einem massiven Druck und hat Angst, nicht in Deutschland bleiben zu können. Ständig bat sie darum, die Klinik sofort wieder zu verlassen. Sie wollte in die Sache nicht hineingezogen werden.“

„Wieso verstehen Sie diese Sprache?“ Stefan musste sich setzen. Ein bisschen viel Aufregung auf einmal war das heute.

„Ich war mit ‚Ärzte ohne Grenzen‘ fünf Jahre in Thailand, und zwar in Samut. Dort haben wir Flüchtlinge aus Kambodscha behandelt. Bei der Gelegenheit habe ich mir die Sprache angeeignet. Wenn Sie wollen, hören wir uns jetzt das Gespräch noch mal an und ich sage Ihnen wortwörtlich, was sie wirklich antwortet.“

Stefan bat gleich seine Sekretärin dazu, die Dr. Scholzes Übersetzung mitschrieb und später in den Computer eingab.

„Ich habe mir schon fast gedacht, dass in diesem Fall einiges nicht stimmt, aber ohne Ihre Hilfe hätte ich das natürlich nicht herausgefunden. Lieber Kollege Scholze, ich danke Ihnen“, sagte Dr. Holl und drückte dem Chirurgen die Hand.

„Dann wird das also nichts mit der Lebendspende. Ich bin gespannt, wie Halberg reagiert, wenn wir ihn mit der Wahrheit konfrontieren. Sie müssen dann unbedingt wieder dabei sein.“

„Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Doktor Holl“, erwiderte Manuel.

„Und von Ihrer Zeit bei Ärzte ohne Grenzen müssen Sie mir bei Gelegenheit auch mehr erzählen“, sagte Stefan.

„Gern. Sprechen Sie mich einfach an, wenn Sie mal Zeit haben.“

***

Eine Woche später war Sandra mit ihrem Latein am Ende – und kurz davor, ihren Traum vom Mutterglück zu begraben.

Andererseits wollte sie nicht so schnell aufgeben. Also stürzte sie sich erst einmal noch tiefer in die Arbeit als sonst, machte Überstunden und beschäftigte sich nach Feierabend zu Hause noch mit den Akten, die während des Tages liegen geblieben waren. Auf diese Weise fiel ihr wenigstens nicht die Decke auf den Kopf. An diesem Freitag war es fast neun, als sie Manuel anrief. Vielleicht ist er ja gar nicht zu Hause, dachte sie, während sie die Freizeichen mitzählte. Beim fünften würde sie wieder auflegen.

Doch er meldete sich. „Sandra, guten Abend. Wie geht’s?“

„Ich rufe an wegen deiner Scheidung. Der Brief an deine Frau ist fertig. Tut mir leid, dass es doch länger gedauert hat. Wenn du in deine E-Mail schaust, findest du das Schreiben im Anhang. Lies es in aller Ruhe und sag mir dann, ob es so okay ist.“

„Danke, Sandra, das werde ich gleich erledigen. Kann ich dich dann noch zurückrufen – oder wirst du dann schon schlafen?“

„Aber nein, ich bin eine Nachteule und gehe selten vor Mitternacht ins Bett.“

„Und sonst?“

„Was meinst du?“

Er hörte gleich, dass ihr Ton eine Spur aggressiver wurde.

„Was machen deine Kandidaten?“, erkundigte er sich betont arglos. „Wie weit bist du?“

„Du wolltest doch nichts mehr von der ganzen Sache hören“, erinnerte sie ihn an seine eigenen Worte. „Nein, ich war noch mit keinem von ihnen im Bett.“

Manuel lachte leise. „Ich wollte nicht mehr als Assistent dabei sein, das ist richtig, aber ich würde schon ganz gern wissen, ob du weitergekommen bist.“

„Jeder Einzelne von ihnen war ein Reinfall“, klagte sie. „Keiner hat mir richtig zugesagt, obwohl einige ganz nett waren. Aber als möglicher Vater kam keiner infrage.“

„Vater? Wieso sprichst du auf einmal von einem Vater? Der Auserwählte soll doch nur der Erzeuger sein.“

Sandra stöhne auf. „Es ist alles nicht so einfach. Und das weißt du auch. Ja, vielleicht hattest du recht. Ich hätte auf dich hören sollen. Aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Ich werde meinen Plan wohl aufgeben.“

„Nun sei mal nicht so mutlos und komm auf andere Gedanken! Kann ich dich zu irgendwas überreden? Zum Beispiel zu einem Ausflug an den Starnberger See?“

„Bei dem Wetter?“

„Es soll morgen besser werden. Und übermorgen sogar richtig schön. Ich habe dort ein kleines Haus, in das ich mich manchmal zurückziehe. Wir nehmen uns was zu essen und zu trinken mit und unternehmen ein paar Spaziergänge. Danach ist der Kopf wieder klar, und die Energie kommt zurück.“

„Glaubst du?“ Sandra zögerte. „Klingt ja wirklich verlockend.“

„Ich hab’s für mich selber schon einige Male ausprobiert.“ Manuel hielt kurz inne und fragte sich, wieso er plötzlich so beseelt von der Idee war, Sandra von einem gemeinsamen Wochenende zu überzeugen.

„Voraussetzung ist allerdings, dass du mir nicht ständig was über deine verpassten Chancen vorjammerst!“, fügte er noch im Stil eines Oberlehrers hinzu.

Es blieb still. Dann sagte sie: „Ja, ich muss mal raus, eine andere Luft atmen. Das würde mir guttun. Und zwei Tage lang mal keine Gesetzestexte lesen, sondern einen richtig schönen Roman.“

„Wir könnten auch unsere Handys abschalten“, schlug er vor. „Einfach nicht erreichbar sein. Was hältst du davon?“

„Hört sich gut an, aber ob wir das wirklich schaffen?“

„Wir versuchen es. Und jetzt lass uns darüber reden, wann wir losfahren, welchen Wagen wir nehmen und wo wir unterwegs noch einkaufen.“

Nach weiteren zehn Minuten war alles geklärt. Erleichtert warf er sein Mobiltelefon auf den Tisch, las Sandras Mail plus Anhang durch, schickte ihr noch ein Okay zurück und begann dann, für die zwei Tage ein paar Sachen einzupacken. Um acht Uhr morgens wollten sie schon losfahren, um noch so viel wie möglich vom Wochenende zu haben.

Er freute sich. Zwar wusste er nicht, warum, aber es war auf jeden Fall ein angenehmes Gefühl.

***

Als Stefan am Freitagabend mit der ganzen Familie am Tisch saß, sah er all seine Lieben mit anderen Augen.

Was, wenn jetzt noch jemand dazukäme? Wie würden sie reagieren? Die fleißigen Zwillinge, der sportliche Chris und die temperamentvolle Juju?

Würde Julia ihm Vorwürfe machen? Würde sie gekränkt sein oder gar wegen der alten Geschichte in Tränen ausbrechen? Diese Vorstellung schmerzte ihn schon jetzt, obwohl seine Frau doch eher dazu neigte, Probleme pragmatisch zu lösen. Er hatte sich ja auch nichts zuschulden kommen lassen.

Eigentlich war er überzeugt, dass Egon log und eine bloße Vermutung dazu benutzte, ihn unter Druck zu setzen. Während der Besprechung mit der jungen Thailänderin hatte er auch nicht die Wahrheit gesagt. Ein ziemlich zwielichtiger Kerl, dieser Egon Halberg!

„Hallo, Papa!“ Juju tippte auf seinen Arm. „Du hörst ja gar nicht zu.“

„Entschuldige, Liebes, ich war mit meinen Gedanken nur mal kurz weg. Was hast du gerade gesagt?“

„Dass ich mir zu Weihnachten ein neues Rad wünsche.“

„Zu Weihnachten?“, wiederholte Stefan erstaunt. „Ja, du lieber Himmel, das ist doch noch ewig lange hin!“

„Sooo lang nun auch wieder nicht“, ergriff Julia die Partei ihrer Tochter. „In wenigen Wochen sind wir schon wieder so weit. Du solltest mal einen Gang durch die Geschäfte machen. Da bimmeln schon die Glöckchen.“

Jetzt war Stefan wieder ganz bei den Seinen. „Ein Fahrrad also. Tut’s das alte denn nicht mehr?“

„Es ist ein Kinderrad“, gab Juju zurück und reckte die niedliche Nase ein paar Zentimeter höher in die Luft. „Und ich bin kein Kind mehr, sagst du ja selbst. Jetzt brauche ich ein Damenrad.“

Stefan musterte seine jüngste Tochter so prüfend, bis Juju irgendwann zu kichern begann. „Na ja, ich würde sagen, du bist noch eine sehr junge Dame.“

„Aber eine mit langen Beinen“, ergriff Julia nun das Wort. „Unglaublich, wie schnell die Kinder uns über den Kopf wachsen.“

„Mach dir nichts draus, Mama“, versuchte Dani, eine aparte junge Frau mit wachem Blick und feinen Gesichtszügen, ihre Mutter von den Gedanken ans Älterwerden abzubringen. „Uns wird es später sicher genauso gehen.“

„Ich werde nie heiraten“, ließ sich jetzt Chris vernehmen. „Frauen sind viel zu anspruchsvoll.“ Eine Bemerkung, die ihm sofort den heftigen Protest der drei weiblichen Wesen am Tisch eintrug.

„Ach, ist das gut, dass es bei uns immer drei zu drei steht!“, griff Stefan schlichtend ein. „Aber lass dir schon jetzt gesagt sein, mein Sohn, ein Leben ohne Frauen wäre entsetzlich langweilig. Ich kann mir jedenfalls ein Dasein ohne eure Mutter nicht vorstellen.“ Bei diesen Worten schaute er seine Frau liebevoll an. „Und ohne sie gäbe es euch alle nicht. Das wäre doch furchtbar.“

„Chris ist ja nur sauer, weil die Jenny nichts mehr von ihm wissen will“, teilte Juju dem Vater mit.

„Ach, sei doch still! Was verstehst du denn schon von Beziehungen?“, fuhr Chris auf.

Julia legte ihm eine Hand auf die Schulter, doch diesen Zuspruch wollte er nicht.

„Eine ganze Menge versteh ich davon“, verteidigte Juju sich. „Dazu gehören Küsse, Liebe und Kinderkriegen.“

„Genau die richtige Reihenfolge.“ Zwilling Marc konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen.

Die Debatte ging noch eine Weile um das, was Chris „zwischenmenschliche Beziehungen“ genannt hatte, dann löste sich die Tischrunde auf. Die Zwillinge übernahmen das Abräumen, Chris verschwand wortlos in seinem Zimmer, und Stefan versuchte, seiner Tochter klarzumachen, dass sie Chris verstehen müsse.

„Er hat Liebeskummer. So was tut ziemlich weh. Darum muss man jetzt ganz besonders nett zu ihm sein.“

Diesen Rat nahm sich Juju sehr zu Herzen.

Als Chris am nächsten Morgen zum Frühstück kam, erlebte er eine Überraschung.

„Hi, Chris. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Schau, dein Frühstück ist schon fertig. Müsli mit Banane und Orange und zwei Semmelhälften mit Frischkäse und Erdbeerkonfitüre. Guten Appetit. Und viel Spaß heute.“

Erst reagierte Chris verblüfft, dann lachte er. „Was ist denn mit dir los, Kleines?“

„Ich heiße nicht Kleines, das habe ich dir schon oft genug gesagt. Aber ich nehme es dir nicht übel und bin trotzdem nett zu dir. Und jetzt muss ich los zu meiner Freundin. Papa wartet schon. Er setzt mich bei Hannah ab.“

Chris’ ratloser Blick folgte ihr.

***

Kurz vor dem Ziel verlangsamte Manuel die Fahrt und lenkte den Wagen auf den Parkplatz eines Supermarktes. „Hier können wir uns mit Lebensmitteln eindecken.“

„Hast du das Haus schon lange?“, erkundigte sich Sandra und griff nach ihrer Tasche. „Du hast noch nie davon erzählt.“

„Früher war ich öfter dort. Es war immer eine Art Zuflucht für mich, besonders, wenn ich mal wieder großen Stress mit Karin hatte. Wenn ich dann wiederkam, ging die Streiterei weiter, aber ich hatte wenigstens zwischendurch eine Erholungspause.“

„War sie nie dort?“

„Nein.“ Manuel schüttelte den Kopf und zog den Autoschlüssel ab.

„Das war ihr alles zu schäbig. Ich sagte dir ja, es ist ein kleines Haus ohne jeglichen Komfort. Es gibt nur ein winziges Bad mit einem Warmwasserboiler. Wenn der leer ist, muss man eine Weile warten, bis das Wasser wieder warm ist. In der Küche steht ein Holzofen. Aber der heizt das ganze Haus schnell auf, weil es so klein ist.“

„Wie viele Zimmer hat es denn?“, erkundigte sich Sandra vorsichtig.

Sie stiegen aus, und Manuel schloss das Auto ab.

„Eine Wohnküche und zwei Schlafzimmer. Eins für dich und eins für mich. Na, bist du jetzt erleichtert?“

Sandra sagte nichts, fiel aber in sein Lachen ein. Gleichzeitig formierte sich in ihrer hintersten Gehirnregion eine wunderliche Idee, die ihr immer absurder vorkam, je länger sie darüber nachdachte.

Schluss jetzt!, rief sie sich zur Ordnung. Lass endlich die Torschlusspanik hinter dir und freu dich deines Lebens! Du bist mit einem lieben Menschen zusammen, bei dem du dich vollkommen sicher fühlen kannst. Und er sieht auch noch gut aus. Vor dir liegt ein Wochenende ohne Verpflichtungen. Nutze die Zeit und entspanne dich. Du hast es nötig.

Inzwischen standen sie schon in der Gemüseabteilung des Supermarkts. Manuel schaute sich prüfend um. Dann wog er Zwiebeln, Möhren und Lauchstangen ab.