Die besten Ärzte - Sammelband 55 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 55 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1820: Die unbekannte Blutspenderin
Notärztin Andrea Bergen 1299: Auf einmal war es Liebe
Dr. Stefan Frank 2253: Baby Namenlos
Dr. Karsten Fabian 196: Gewitterwolken über der Ärztevilla
Der Notarzt 302: In Gedanken ganz woanders

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 556

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Katrin Kastell Daniela Sandow Stefan Frank Ulrike Larsen Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 55

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2014/2016/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © kurhan / Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-4664-9

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 55

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1820

Die unbekannte Blutspenderin

Die Notärztin 1299

Auf einmal war es Liebe

Dr. Stefan Frank 2253

Baby Namenlos

Dr. Karsten Fabian - Folge 196

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Gewitterwolken über der Ärztevilla

Der Notarzt 302

In Gedanken ganz woanders

Guide

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Contents

Die unbekannte Blutspenderin

Warum sie unbedingt anonym bleiben wollte

Von Katrin Kastell

Die Liebe zwischen Irina Seiler und Paul Lassner ist etwas ganz Besonderes, denn sie mussten hart um ihr Glück kämpfen. Nun sind sie beide fest entschlossen, ihr ganzes Leben zusammenzubleiben.

Doch dann schlägt das Schicksal erbarmungslos zu. Eines Abends sitzt Irina auf dem Weg zu ihren Eltern in Oberammergau allein im Auto, als starker Schneefall einsetzt und sich ein langer Stau bildet. Plötzlich gerät der Lkw vor ihr ins Rutschen, und Irinas Kleinwagen wird zwischen zwei Lastwagen eingequetscht. Nachdem die Rettungskräfte sie aus dem Wrack geschnitten haben, wird sie mit dem Hubschrauber in die Berling-Klinik geflogen. Irinas Zustand ist lebensbedrohlich. Die junge Frau hat sehr viel Blut verloren und braucht dringend eine Transfusion. Doch von ihrer seltenen Blutgruppe fehlen in dieser Nacht die passenden Konserven …

„Und als besonderen Gast haben wir heute Paul Lassner bei uns. Ein Name, der Ihnen wohl allen ein Begriff sein dürfte, auch wenn man das Gesicht dazu nur selten in den Medien sieht“, moderierte Irina Seiler ihren Studiogast an.

Sie reichte Paul Lassner die Hand und bat ihn, sich in den Sessel ihr gegenüber zu setzen.

„Ich möchte mich zuerst einmal bei Ihnen bedanken für Ihr Hiersein, Herr Lassner! Ihre Medienscheu ist legendär, und es freut mich daher ganz besonders, dass Sie sich doch noch bereit erklärt haben, in meine Sendung zu kommen.“

Er lächelte höflich und nickte ihr leicht zu, ohne etwas zu sagen. Mied er Gesprächsrunden, weil er zum wortkargen Typ gehörte und Schwierigkeiten hatte, vor Kameras zu sprechen? Den Eindruck machte er eigentlich nicht. Er wirkte äußerst souverän und selbstsicher, aber das konnte täuschen.

Irina wusste viel über die beruflichen Erfolge, aber so gut wie nichts über die Persönlichkeit ihres Gastes und ging sensibel an das Gespräch heran. Falls er Schwierigkeiten haben sollte, wollte sie ihm Sicherheit geben und Druck herausnehmen.

Es war ihr als Moderatorin wichtig, dass keiner ihrer Gäste die Sendung verließ und sich schlecht behandelt oder gar vorgeführt fühlte. Ihre Empathie und Fairness hatten ihr den Ruf eingetragen, selbst mit den schwierigsten Persönlichkeiten zurechtzukommen. Die Zuschauer honorierten das, denn ihre Einschaltquoten waren seit drei Jahren hoch, und die Tendenz war sogar noch steigend.

„Die ungewöhnliche Erfolgsgeschichte Ihres Unternehmens hat schon viele Journalisten und Wirtschaftsexperten spekulieren lassen, worin wohl Ihr besonderes Geheimnis liegen mag. Geben Sie uns da einen kleinen Tipp?“, fragte sie im leichten Plauderton, um für eine entspannte Grundstimmung zu sorgen.

„Es gibt kein Erfolgsrezept. Erfolg ist kein Kuchen, den man nach Anleitung backen könnte. Ich arbeite hart und diszipliniert wie viele andere auch. Was mir in meinem Leben geholfen hat, ist die Gabe zu erkennen, was in anderen Menschen steckt. Ich gebe ihnen die Möglichkeit, ihr Potenzial voll zu entfalten. Die Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, sind inspirierend und für die Firma eine Bereicherung.“

„Dann führen Sie Ihren Erfolg auf Ihre Mitarbeiter zurück?“, fragte Irina erstaunt. Lassner war anders, als sie erwartet hatte. Viele hielten ihn gerade wegen seiner fehlenden Bereitschaft, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, für arrogant und abgehoben. Nichts davon traf auf den Mann zu, der ihr da gegenübersaß, ganz im Gegenteil.

„Selbstverständlich! Ich schaffe den Rahmen, aber die erstaunlichsten Innovationen und völlig neuartige Ideen entwickeln meine Mitarbeiter. Ich ebne die Wege für eine angemessene Umsetzung und Vermarktung. Der kreative Kopf bin nicht ich, und das ist richtig so. Kreativität sprudelt, wenn unterschiedlichste Menschen entspannt zusammensitzen und auf spielerische, leichte Weise schauen, was so passiert.“

„Eine interessante Sichtweise. Sie schaffen quasi einen entspannten, sicheren Rahmen, damit Kreativität fließen kann.“

Er nickte.

„Sollte mich mein Sender einmal hinauswerfen oder ich keine Moderatorin mehr sein wollen, melde ich mich bei Ihnen!“, scherzte sie.

„Tun Sie das!“, reagierte er vollkommen ernst und sah ihr dabei in die Augen. „Jemanden mit Ihrem Sprachtalent können wir brauchen. Sie müssen eine spezielle Gabe und Technik haben, um so viele Sprachen lernen zu können. Wie lange brauchen Sie für eine Sprache?“, fragte er interessiert und drehte unwillkürlich den Spieß um.

Völlig verblüfft sah sie ihn an. Er musste sich über sie informiert haben. Kaum jemand wusste, dass sie zwölf Sprachen fließend sprach und mehrere weitere verstand.

Es war ein seltsames Gefühl, dass offensichtlich nicht nur sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Es war noch keinem gelungen, sie in ihrer eigenen Sendung zum Erröten zu bringen, und sie war froh, dass man es unter der Maske nicht sah.

„Das hängt von der Sprache ab. Gehört sie zu einem Sprachkreis, den ich bereits gut kenne – zum Beispiel Romanisch – dann geht es natürlich schneller. Lasse ich mich auf etwas völlig Neues ein wie beim Chinesischen, dauert es länger“, antwortete sie, riss dann aber sofort das Ruder wieder an sich, wie es sich für eine erfahrene Moderatorin gehörte.

„Unser Gespräch heute Abend hat ein Engagement Ihres Unternehmens zum Thema, das kaum bekannt ist. Sie stellen Ihre Entwicklungen kostenlos zur Verfügung, um etwas gegen den Hunger und die hohe Kindersterblichkeit in Afrika zu tun. Ihre Firma unterhält einen Stab von Ärzten und Entwicklungshelfern, der mobil eingesetzt wird, wo die Lage am schlimmsten ist. Woher rührt Ihr besonderes Interesse an Afrika?“, lenkte sie zum eigentlichen Thema über.

„Mein besonderes Interesse gilt nicht Afrika. Die Erde ist ein reicher Planet, und wir Menschen wären in der Lage, den Hunger auszumerzen. Ich finde, jeder von uns sollte tun, was in seiner Macht liegt, um am Erreichen dieses Zieles mitzuarbeiten.“

Mit schlichten, sachlichen Worten sprach er über seine Überzeugungen und darüber, was er an Initiativen ins Leben gerufen hatte. Irina stellte Fragen, und während sie ihm zuhörte, wuchs ihr Respekt vor diesem Mann. Er war kein aalglatter Erfolgsmensch, und sein Einsatz war ohne Hintergedanken. Er bemühte sich tatsächlich, nach Kräften zu helfen, und ging dabei mit kulturellem Einfühlungsvermögen und großer Fantasie vor.

„Ich bedanke mich herzlich bei Ihnen für das Gespräch und kann nur hoffen, dass einige Zuschauer sich von dem, was Sie tun, inspirieren lassen und selbst aktiv werden!“, sagte sie, als die Sendezeit um war.

Noch nie war eine Sendung derart verflogen. Sie hätte zu gerne weitere Fragen gestellt. Ihm ging es da nicht anders.

„Ihr Sprachtalent fasziniert mich, und ich würde gerne mehr darüber erfahren, wie Sie sich einer neuen Sprache nähern. Darf ich Sie einmal einladen, etwas mit mir trinken zu gehen? Ich würde mich sehr freuen“, lud er sie ein, als die Kameras aus waren.

Normalerweise nahm Irina solche Einladungen nie an. Bei ihm sagte sie sofort Ja. Allerdings ging sie nicht davon aus, dass er sich wirklich bei ihr melden würde. Sie wusste, welches Arbeitspensum er am Tag bewältigte und dass ihm kaum Freizeit blieb.

„Falls Sie einmal Zeit haben, rufen Sie mich beim Sender an! Dann können wir etwas vereinbaren“, meinte sie lächelnd und fand schön, dass er überhaupt gefragt hatte.

„Dann bis bald!“ Er reichte ihr die Hand und ging.

Irina sah ihm erwartungsvoll nach. War ihm die Einladung ernst und interessierte er sich für sie, dann würde er sich noch einmal umdrehen. Sie hoffte es, aber er tat es nicht. Ein wenig enttäuscht packte sie ihre Sachen zusammen.

Hin und wieder hätte sie sich gewünscht, etwas mehr wie ihre Zwillingsschwester zu sein und dieselbe unwiderstehliche Anziehungskraft auf das andere Geschlecht auszuüben.

Eva-Maria und sie waren eineiige Zwillinge, und rein äußerlich ähnelten sie sich enorm, auch wenn man das inzwischen wegen der unterschiedlichen Frisuren und des vollkommen anderen Kleidungsstils nicht mehr so sah wie in ihrer Kindheit.

Charakterlich hatte aber Eva-Maria den ganzen Charme und das gewaltige Charisma mitbekommen. Sie war ein bunter Schmetterling, der in allen Farben schillerte und sich nirgendwo länger niederließ. Ihre Stimmungen wechselten wie die Wolken bei Sturm, und die Welt drehte sich ausschließlich um sie.

Mit Irina wollten Männer und Frauen befreundet sein. Sie war der vertrauenswürdige, loyale, gute Kumpel, bei dem man zur Not auch noch um Mitternacht anrief, wenn der Kummer groß war, und natürlich hörte sie notfalls für den Rest der Nacht zu – egal wie es ihr selbst ging.

In Eva-Maria aber verliebten sich die Männer und machten ihr romantische Anträge. Mit vierunddreißig Jahren war sie schon zweimal geschieden und hätte jeden Tag einen anderen Mann heiraten können. Irina hatte dagegen nur wenige Freunde gehabt, die am Ende dann leider meist doch bei ihrer Schwester gelandet waren, wenn Eva-Maria nur mit den Fingern schnippte.

Der enorme Charakterunterschied der Schwestern spiegelte sich in ihrer Berufswahl wieder. Beide waren sie erfolgreich – Irina als Moderatorin ihrer eigenen Talkshow und Eva-Maria als gefeierte Schauspielerin, die auf der Bühne und im Film Furore machte.

***

Zwei Wochen waren seit der Sendung verstrichen, und Irina hatte die Einladung von Paul Lassner längst vergessen, als morgens um zehn Uhr ihr Handy klingelte. Es war ihr freier Tag, und sie lümmelte entspannt in einem Sessel und las bei ihrer vierten Tasse Kaffee.

Kurz überlegte sie, ob sie den Anruf überhaupt annehmen sollte. Sie hatte frei, und nichts konnte so wichtig sein, um sie aus diesem herrlich entspannten Gefühl reißen zu dürfen. Die Nummer kannte sie nicht, aber da nur Freunde und ihre Eltern ihre private Telefonnummer kannten, rang sie sich nach dem zehnten Klingeln dazu durch, doch abzunehmen.

„Haben Sie heute etwas vor?“, fragte der Anrufer direkt, ohne sich die Mühe zu machen, seinen Namen zu nennen. Das musste er auch nicht. Sie erkannte ihn an der Stimme. Es war Paul Lassner.

„Nein …“, antwortete Irina zögernd. Ihr Pulsschlag hatte sich erhöht. Er brachte sie durcheinander. Sie freute sich über seinen Anruf, und das verwirrte sie. Eigentlich kannte sie diesen Mann doch überhaupt nicht.

„Wunderbar! Dann haben Sie jetzt etwas vor. Ich hole Sie in einer Stunde ab und …“

„Ich bin nicht am Sender und …“, begann sie etwas lahm.

„Ich weiß. Ich warte gegen elf Uhr unten an der Straße vor Ihrer Wohnung“, unterbrach er sie.

„Vor meiner Wohnung?“

„Das sagte ich.“ Er wirkte amüsiert, aber auch etwas ungeduldig. „Ich war die vergangenen zwei Wochen nicht in München und komme eben aus den Staaten zurück. Es wäre mir eine Freude, unser Gespräch in aller Ruhe fortzusetzen. Falls es Ihnen zu kurzfristig ist, dann …“

„Nein! Nein, das ist es nicht, aber woher wissen Sie, wo ich wohne?“

„Ich habe im Studio angerufen, und dort hat man mir Ihre Adresse und Ihre private Handynummer gegeben.“ Jetzt klang er eindeutig ungeduldig – ein viel beschäftigter Mann, der wenig mit Begriffsstutzigkeit anfangen konnte.

„Im Studio gilt die Anweisung, niemandem meine Telefonnummer oder gar meine Adresse zu geben“, rechtfertige sie sich und ärgerte sich über sich selbst. Schließlich rief er nach vierzehn Tagen aus heiterem Himmel an und ließ ihr eine Stunde, um sich zu richten! Was bildete er sich ein?

„Ich kann sehr überzeugend sein, wenn mir etwas wichtig ist. Aber leider bin ich manchmal zu spontan. Entschuldigen Sie! Ich habe selten die Möglichkeit, lange im Voraus zu planen, weil sich immerzu etwas ergibt, was mich zwingt, meine Pläne zu ändern. Daher habe ich mir angewöhnt, die Stunden zu nutzen, die sich finden“, erklärte er ihr.

Glaubte er eigentlich, sie hätte nur auf ihn gewartet?

„Haben Sie denn in den kommenden Tagen einmal Zeit und Lust, mit mir essen zu gehen? Ich bin diese Woche voraussichtlich in München. Unter dieser Nummer erreichen Sie mich jederzeit, ohne dass mein persönlicher Drachen dazwischengeschaltet ist, mit dem Sie schon zu tun hatten.“ Er legte auf.

Der Drache war seine Chefsekretärin und äußerst höflich, aber eine Bastion, die kaum zu nehmen war. Irina sah verdutzt ihr Handy an – ein Mann von schnellen Entschlüssen.

Kurzerhand drückte sie die Wiederwahltaste. Das konnte sie auch.

„In sechzig Minuten vor meiner Tür. Bis gleich!“ Diesmal legte sie auf, bevor er reagieren konnte, und grinste. Er sollte ruhig merken, dass sie genau wie er gewohnt war, über die Zeit von anderen zu verfügen.

Irina duschte im Eiltempo, dann stand sie vor ihrem Kleiderschrank und verfluchte den Sekundenzähler der Uhr. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, und sie hatte keine Ahnung, was für so ein spontanes Treffen wohl angemessen war. Sie nahm an, dass er sie zum Mittagessen in ein Restaurant einladen wollte.

Aber was für ein Restaurant? Um was für eine Art Treffen handelte es sich da eigentlich? Es war Mittwoch, ein normaler Wochentag. Er kam von einer Geschäftsreise und schob sie rasch für ein Essen dazwischen. Warum?

Tat er es, weil er sie eingeladen und dann keine Zeit gefunden hatte, sich bei ihr zu melden? Das hatte er nicht nötig. Dann wollte er vermutlich einfach ein wenig nett mit ihr plaudern und sich nach einer anstrengenden Reise eine kleine Pause gönnen. Zu förmlich war für diesen Fall nicht angemessen.

Irina wählte eine Designerjeans und ein sportlich-elegantes Oberteil. So gekleidet fühlte sie sich relativ sicher. Der Stil passte zu einem formlosen, eher geschäftlichen, aber auch zu einem privaten Treffen. Man würde sie damit in fast jedes Restaurant der Stadt lassen, und mit Paul Lassner in ihrer Begleitung drohten da wohl ohnehin keine Schwierigkeiten.

Kritisch musterte sie sich im Spiegel, nachdem sie sich leicht geschminkt hatte. Lange blonde Haare, blaue Augen, ein schmales Gesicht – sie war keine Schönheit, obwohl ihre Schwester als gefeierte Schönheit galt. Eva-Maria bescheinigte man die zarte Zerbrechlichkeit einer Fee und etwas geradezu Überirdisches in der Klatschpresse.

Irina war sicher, dass bei ihr niemand auf solche Gedanken gekommen wäre. Sie war eher der wehrhafte, eigenständige Typ, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Das Innere eines Menschen, die Art, wie er sich selbst wahrnahm, bestimmte wohl auch darüber, wie er von anderen wahrgenommen wurde, überlegte sie.

Betrat Eva-Maria einen Raum, war sie immer sofort im Mittelpunkt des Interesses und füllte den Raum förmlich aus. Sie strahlte, überstrahlte alle anderen und wusste das für sich zu nutzen.

Irina hatte nicht einmal als Kind versucht, sich neben ihrer Schwester zu behaupten. Sie hatte ihr die allgemeine Aufmerksamkeit gerne überlassen und sich im Schatten gemütlich eingerichtet.

Vielleicht waren sie deshalb immer so gut miteinander ausgekommen, weil sie sich an diesem Punkt wunderbar ergänzten. Problematisch war es erst geworden, als Eva-Maria irgendwann den Boden überspannt hatte. Sie hatte Irina nicht mehr genug Raum zugestanden, um neben ihr existieren zu können.

Sie hatte Irina derart mit Beschlag belegt und von ihr erwartet, dass sie sich pausenlos um sie kümmerte, bis es nicht mehr ging. Da hatte Irina die Notbremse gezogen und war etwas auf Abstand gegangen. Sie hatte sich so weit aus dem Leben ihrer Schwester zurückgezogen, wie es notwendig war, um ein eigenes Leben führen zu können.

Drei- oder viermal in der Woche rief Eva-Maria trotz allem an, oft mitten in der Nacht nach einem gelungenen oder nicht ganz so gelungenen Auftritt. Dann ergoss sich ein Wasserfall an Worten über Irina, und sie erfuhr alles, was ihrer Schwester durch den Kopf ging. Fragen nach Irina stellte Eva-Maria keine. Sie legte erst auf, wenn sie alles erzählt hatte, was sie erzählen wollte. Es waren keine Gespräche, sondern Monologe, aber Irina beschwerte sich nicht.

Wie immer, wenn sie an Eva-Maria dachte, empfand sie Trauer und Unbehagen. Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen. Sie hatten gespürt, was die andere dachte, gefühlt, was die andere fühlte, auch wenn sie nicht im selben Raum gewesen waren.

Kein Mensch würde ihr je wieder so nahe sein, das war ihr schmerzlich bewusst. Ihre Schwester fehlte ihr, und doch war sie nicht bereit, sich voll und ganz für sie aufzugeben. Reichte man Eva-Maria den kleinen Finger, verschlang sie den ganzen Menschen mit Haut und Haaren und ließ nichts von ihm übrig.

Selbst jetzt noch nach über fünf Jahren dieses innerlich distanzierten Umgangs konnte sie nachts aufwachen und musste sich beherrschen, um nicht zum Telefon zu greifen und bei Eva-Maria anzurufen. Der Draht zwischen ihnen bestand nach wie vor.

Irina konnte spüren, wenn etwas Besonderes im Leben ihrer Schwester geschah. Ob es bei Eva-Maria im umgekehrten Fall genauso war, wusste sie nicht, aber es hätte sie nicht gewundert.

Die Stunde war nahezu um. Irina atmete ein paarmal tief durch, lächelte der Frau im Spiegel ermutigend zu und ging hinunter. Sie war eine gestandene Frau und hatte schon Größen aus der Politik, dem Showgeschäft und der internationalen Wirtschaft in ihrem Studio begrüßt. Paul Lassner jagte ihr keine Angst ein!

***

„Eine pünktliche Frau! Es geschehen noch Zeichen und Wunder!“ Er stieg aus einem roten Sportwagen, der für den Großteil der Menschheit nur im Traum erschwinglich war, und öffnete ihr galant die Tür.

„Schönes Auto, so unauffällig und bescheiden …“, bemerkte sie ironisch.

„Nicht wahr? So reist man als Milliardär inkognito“, nahm er sich selbst auf die Schippe. „Ich muss zugeben, schnelle Autos sind eine meiner Leidenschaften.“

„Gibt es da sonst noch etwas, was ich wissen sollte?“, spöttelte sie.

Er hob nur belustigt eine Braue und schwieg.

„Wohin fahren wir denn?“, wollte Irina überrascht wissen, als er auf die Stadtautobahn fuhr. Sie war davon ausgegangen, dass sie in einem Restaurant in München aßen.

„Das ist eine Überraschung, und schauen Sie mich nicht so streng an! Große Jungen brauchen ihre Spielzeuge, mit denen sie ein wenig angeben können. Ich habe nie behauptet, perfekt zu sein. Ich möchte sie beeindrucken wie jeder normale Mann.“

Sie musste lachen und fragte nicht weiter. Auf der Autobahn herrschte dichter Verkehr, und sie kamen nur langsam voran.

„Dagegen hilft der flotteste Wagen nicht …“, konnte sie sich eine giftige Bemerkung nicht ganz verkneifen, als sie dann auch noch im Stau standen und kaum vorankamen.

„Sie wissen nicht, was Ihnen entgeht. Bei freier Fahrbahn ist es wie Fliegen“, schwärmte er und streichelte in gespielter Wehmut das Lenkrad.

„Wohl eher wie eine Proberunde auf dem Nürburgring. Fliegen ist für mich ein lautloses Gleiten durch die Luft, und der Motorenlärm ist schon sehr erdverbunden.“

„Das nennen Sie Lärm? Was für eine Barbarin! Für mich ist es das verheißungsvolle Schnurren einer ungebändigten Löwenkraft.“

„Männer und Frauen und wie sie die Welt wahrnehmen …“

Sie lachten. Nach einer guten Stunde verließen sie die Autobahn, und Irina erkannte, dass sie zum Starnberger See fuhren. Als Kind war sie oft mit ihren Eltern dort gewesen, und sie begann, sich immer mehr auf diesen Überraschungsausflug zu freuen.

„Da wären wir!“, meinte Lassner zufrieden, als er auf dem Parkplatz bei einem Yachthafen hielt. „Ich hoffe doch, Sie werden nicht seekrank?“

„Ich werde schon grün im Gesicht, wenn ich Schiffe ansehe“, antwortete sie und setzte eine Grabesmiene auf.

„Nein!“ Seine Enttäuschung war echt. „Daran habe ich überhaupt nicht gedacht und …“

„Das war nur ein Scherz“, beruhigte sie ihn rasch. „Ich bin für mein Leben gerne auf dem Wasser.“

„Gott sei Dank! Sonst hätte ich mich mit meiner Überraschung ganz schön unbeliebt gemacht“, seufzte er erleichtert. „Dann kommen Sie einmal mit! Hiermit heuere ich Sie als Matrosen an.“

Irina faszinierte dieser Mann immer mehr. Er hatte mit siebenunddreißig Jahren bereits ein Wirtschaftsimperium aufgebaut, jettete durch die halbe Welt und konnte sich doch noch freuen wie ein kleiner Junge. Voller Stolz führte er sie zu einer mittelgroßen Yacht, die neben den Yachten, die ansonsten im Hafen lagen, fast antik wirkte.

„Das ist meine Anemone. Sie wurde 1914 zu Wasser gelassen und hat auf allen Meeren der Erde gezeigt, was sie kann. Ich bin in der Lage, sie alleine zu segeln, und in der Regel tue ich das auch. In Ihrem Fall mache ich einmal eine Ausnahme, und Sie dürfen mit hinaus.“

„Zu Befehl, Herr Kapitän!“ Irina salutierte. Unter seiner Anleitung half sie ihm, die Leinen zu lösen und die Yacht aus dem Hafen hinaus auf den See zu steuern. Es war ein herrlicher Sommertag Anfang August. Irina genoss es, auf dem Wasser zu sein.

„Sie stellen sich nicht übel an. Haben Sie Segelerfahrung?“

„Nicht wirklich. Nach dem Abitur habe ich einmal zusammen mit meiner Schwester für eine Woche auf der Nordsee an einem Segeltörn teilgenommen. Meine Eltern hatten uns den Törn zum bestandenen Abitur geschenkt. Es war unbeschreiblich schön.“

„Und Sie haben es nie wiederholt?“

„Damals war ich fest entschlossen, den Segelschein zu machen und regelmäßig segeln zu gehen, sobald ich es mir würde leisten können. Dann kamen das Studium und die Arbeit. Wie das Leben so spielt. Es ist nichts daraus geworden.“

„Es gibt viel zu viele Dinge, die man sich vornimmt, ohne sie je zu tun“, meinte er und streckte das Gesicht genüsslich in die Sonne. „Arbeit ist wichtig. Ich arbeite gerne, aber das darf nicht alles sein. Leben ist auch wichtig.“

Sie ankerten an einer besonders einladenden Stelle, ließen die wunderschöne Aussicht auf sich wirken und schwiegen eine geraume Weile entspannt und zufrieden. Es war eine harmonische Stille, und jeder war ganz bei sich.

„Haben Sie Hunger?“

Irina war erstaunt, als sie merkte, dass bei der Erwähnung des Wortes ihr Magen knurrte.

„Bärenhunger!“

„So ist das, wenn man auf dem Wasser ist“, meinte er zwinkernd. „Dann werde ich Sie jetzt zur Belohnung für Ihre vorbildlichen Matrosendienste ein wenig kulinarisch verwöhnen.“

Nachdem er Irina auf einen Liegestuhl verbannt und ihr verboten hatte, einen Finger zu rühren, verschwand Lassner in der Kajüte. Der Mann war ein Phänomen. Es war unglaublich, was er da alles herauszauberte und auf den Tisch stellte. Das war kein kleiner Happen zu Mittag, sondern ein delikates Essen mit von ihm frisch zubereitetem Salat.

„Gibt es auch etwas, was Sie nicht können?“, fragte sie, während sie ihm dabei zusah.

„Stricken“, kam es trocken zurück.

„Das kann ich auch nicht. Davon bekomme ich Kopfschmerzen.“

„Sehen Sie! Man muss nicht alles können! Darf ich Ihnen ein Glas Sekt einschenken? Ich trinke keinen Alkohol, wenn ich noch fahre.“

„Ich trinke so gut wie nie etwas. Es tut mir nicht gut“, lehnte Irina ab.

„Nicht gut?“

„Wenn Sie alles hören wollen, was ich niemals laut aussprechen würde und meiner festen Überzeugung nach auch nicht denke, wenn ich nüchtern bin, dann lassen Sie mich einen Schluck Wein oder Sekt zu viel trinken. Ich passe auf, dass es nicht passiert, denn es ist jedes Mal mehr als peinlich“, erzählte sie heiter.

„Das merke ich mir, falls ich einmal Ihre geheimsten Geheimnisse ergründen möchte“, neckte er sie.

„Tun Sie das bloß nicht! Meine Schwester fand es witzig, denn obwohl wir eineiige Zwillinge sind, verträgt sie einen ordentlichen Schluck. Sie hat mir in unserer Jugend öfter Alkohol untergemogelt und mich in die unmöglichsten Situationen gebracht.“

„Das war nicht nett“, kommentierte er.

„Ich war die Nette im Ei“, frotzelte sie.

„Hat Ihre Schwester dasselbe Sprachtalent wie Sie?“, wollte er nach dem Essen wissen, als er ihnen einen Espresso gemacht hatte und sie sich sonnten.

„Ja, aber sie nutzt es auf andere Weise. Ihr hilft es, sich die immer neuen Texte schnell und problemlos einzuverleiben.“

„Texte?“, fragte er irritiert.

„Sie wissen, dass Eva-Maria Seiler meine Schwester ist?“

Fragend sah er sie an.

„Sehen Sie kein Fernsehen oder gehen ins Kino oder Theater?“ Irina kannte niemanden, für den der Name ihrer Schwester kein Begriff war. Seit einigen Jahren war sie ein beliebtes Thema in der Klatschpresse und vor allem in München ein Star.

Er schüttelte bedauernd den Kopf.

„Dafür nehme ich mir nicht die Zeit. Ich höre gerne Musik, liebe Jazz, aber oft bin ich abends sehr müde und trinke nur noch zur Entspannung ein Glas Wein im Garten, bevor ich mich hinlege. Ich muss beichten, mein Leben ist relativ langweilig. Dann sind Ihre Schwester und Sie demnach in derselben Branche tätig?“

Irina war sprachlos. Schauspielerei und Journalismus konnte er doch unmöglich für dieselbe Branche halten!

„Ich bin Journalistin!“ In ihrer Stimme schwang Empörung.

„Natürlich! Ich meinte nur, dass Sie beide in der Öffentlichkeit stehen“, korrigierte er sich umgehend, aber es zuckte belustigt um seine Lippen. „Es ist sicher nicht immer leicht, einen Zwilling zu haben“, hakte er diplomatisch nach.

„Nein, das ist es nicht. Und doch kann ich mich an keinen Moment in meiner Kindheit erinnern, an dem ich mich einsam oder verloren gefühlt hätte. Eva-Maria war immer da. Wir weinten zusammen, lachten zusammen und versteckten uns immer in denselben Verstecken. Das war sehr schön.“

„Und wann wurde es anders?“

„Wenn man erwachsen ist, bieten die meisten guten Verstecke nur noch Platz für eine Person.“ Sie zuckte die Achseln. „Das Leben ist Veränderung, und heute weiß ich natürlich sehr wohl, wie es sich anfühlt, alleine zu stehen, aber ich denke gerne an meine Kindheit zu zweit.“

Er nickte und respektierte, dass sie nicht darüber sprechen wollte, was zwischen ihr und ihrer Schwester vorgefallen war. Stattdessen kam er wieder auf das Thema, das ihn an ihr besonders fesselte.

„Wie nähern Sie sich einer neuen Sprache an?“, wollte er wissen.

„Es gibt Theorien, nach denen sich in der Sprache eines Kulturkreises das Denken und Fühlen der Menschen verfestigt. Über die Sprache lernt man die Menschen in ihrer Besonderheit kennen und schätzen. Ich lerne nicht verbissen eine Sprache, sondern stimme mich auf eine neue Art ein, das Leben wahrzunehmen. Jede Sprache setzt andere Prioritäten, betont andere Nuancen des Lebens. Das ist es, was mich anzieht und wonach ich suche. Der Rest geht dann irgendwie von allein“, erklärte sie.

„Oh Sie Glückliche!“, stöhnte er. „Ich pauke Grammatik und Vokabeln und Aussprache und trotzdem hört jeder, dass meine Muttersprache Deutsch ist. Um dieses Talent beneide ich Sie wirklich.“

Sie unterhielten sich, bis mit dem frühen Abend eine kühle Brise einsetzte. Dann lichteten sie den Anker und segelten zum Hafen zurück. Das gute Essen, Espresso und Eis, die es als Nachtisch gegeben hatte, hielten vor, und keiner von ihnen hatte Hunger.

„Ich hoffe, der Tag hat Sie nicht abgeschreckt und ich darf Sie einmal wieder anrufen“, sagte er, als sie sich vor Irinas Tür verabschiedeten. „Wie wäre es, wenn wir das Abendessen bald einmal nachholen?“

„Sehr gern!“, sagte sie mit Wärme und bedankte sich für den schönen Tag. Als sie wieder allein war und über den Segeltörn nachdachte, lächelte sie. Sie konnte sich nicht erinnern, sich in der Gesellschaft eines Mannes jemals so wohlgefühlt zu haben.

***

In den kommenden Monaten meldete sich Lassner immer wieder bei Irina. Sie gingen essen, segelten noch einmal zusammen und tauschten sich über vieles aus. Ihr Umgang wurde vertrauter, wobei sie sich noch immer siezten. Im Grunde verbrachte Irina inzwischen ihre gesamte Freizeit mehr oder weniger mit ihm, und ihre Eltern hatten sich schon beschwert, dass sie sich kaum noch bei ihnen in Oberammergau sehen ließ.

Für Irina waren die Begegnungen mit Paul Höhepunkte, auf die sie sich jedes Mal freute. Sie schätzte ihn, und langsam erwuchs daraus eine tiefe Zuneigung. Sie betrachtete ihn als guten Freund. Es war angenehm, dass er nicht immerzu über sich selbst sprach, sondern zuhören konnte. Sie mochte die aufmerksame, sensible Weise, mit der er Fragen stellte.

Seit sie sich von Eva-Maria entfremdet hatte, war ihr kein Mensch mehr so nahegekommen wie er. Dennoch kam sie nicht auf den Gedanken, sie könne in ihn verliebt sein. Liebe war etwas, was sie weitestgehend Eva-Maria überließ. Für sich selbst hatte sie alles, was damit zu tun hatte, weit in den Hintergrund geschoben. Außerdem belegte die Arbeit sie voll mit Beschlag und machte es ihr schwer, auf ihre innersten Gefühle zu achten.

Der Sender hatte ihr eine zweite Sendung angeboten. Samstagabends moderierte sie nun zusätzlich eine Diskussionsrunde. Da ihre Einschaltquoten förmlich in die Höhe schossen, kamen ständig Einladungen in andere Shows und Gesprächsrunden dazu, die sie aus vertraglichen Gründen annehmen musste.

Irina arbeitete teilweise rund um die Uhr. Genau wie Paul Lassner hatte sie wenig Freizeit. Umso schöner war es, sie gemeinsam mit ihm zu verbringen. Was ihr dabei entging, war sein geduldiges Warten darauf, dass sie sich ihren Gefühlen öffnete.

Er war sich seit dem Tag des Interviews darüber im Klaren, dass er mehr von ihr wollte als nur Freundschaft. Allerdings hatte er es nicht eilig und respektierte, dass sie noch nicht bereit für mehr war.

„Schwesterherz! Schwesterherz! Was höre ich da von dir? Du steigst in den Olymp der Moderatorenwelt auf und verführst noch dazu die am heißesten begehrten Junggesellen Münchens! Meine Hochachtung!“, flötete Eva-Maria eines Nachts in den Hörer.

Irina hatte tief geschlafen, war aber wenige Minuten vor dem Anruf hochgeschreckt. Es war zwei Uhr, und ihr Herz pochte wie wild gegen ihre Rippen. Das war nicht ihre eigene Aufregung. Etwas musste Eva-Maria aus der Fassung gebracht haben.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Irina besorgt.

„Kann ich nicht einfach einmal so bei meiner geliebten Zwillingsschwester anrufen? Muss immer etwas schrecklich Schreckliches passiert sein?“ Eva-Marias Zunge ging schwer. Sie hatte getrunken.

„Du kannst jederzeit bei mir anrufen, Eva-Maria, aber das tust du nicht. Was ist los? Ich kann spüren, dass etwas nicht stimmt. Wie war die Vorstellung heute?“

„Ich stand heute nicht auf der Bühne. Gerade drehe ich einen Fernsehfilm. Das habe ich dir letzte Woche mindestens dreimal erzählt. Hörst du mir überhaupt zu? Du hast keine Ahnung, was in meinem Leben passiert“, kam es vorwurfsvoll.

„Das tut mir leid!“ Irina hasste es, wenn ihre Schwester betrunken anrief, aber sie sagte nichts. War Eva-Maria in diesem Zustand konnte ihre Stimmung leicht kippen, und dann wurde es unangenehm.

„Jasper hat mich wegen einer anderen verlassen“, jammerte sie, und das tiefe Unverständnis, wie ihr so etwas hatte passieren können, sprach aus jedem Wort. „In drei Monaten werden wir fünfunddreißig. Wir gehen auf die vierzig zu, und unsere besten Jahre sind vorbei.“

Die Beziehungen ihrer Schwester wechselten so häufig, dass Irina sich kaum noch die Mühe machte, sich die Namen des aktuellen Kandidaten zu merken. Sie hätte wetten können, dass Eva-Maria vor Kurzem noch von einem Leo geschwärmt hatte, aber da konnte sie auch falsch liegen.

„Er hat mich verlassen! Er hat MICH verlassen!“, wiederholte Eva-Maria mehrmals und steigerte sich hinein.

Bisher war immer sie es gewesen, die eine Beziehung beendet hatte. Das Gefühl, verlassen zu werden, war ihr neu.

„Und die andere ist nicht einmal jünger oder hübscher als ich. Sie ist Krankenschwester. Ha, er verlässt mich für eine Krankenschwester! Und er sagt, sie sei liebevoll und warmherzig und täte ihm ach so gut. Toll! Er sagt, sie würde ihn verstehen“, höhnte sie.

Eva-Marias Redefluss war nicht mehr zu stoppen. Irina kannte das nur allzu gut.

„Als ob es da viel zu verstehen gäbe! Er ist ein drittklassiger Schauspieler, der nie über kleinere Bühnen oder Provinzbühnen hinauskommen wird. Wenn sie ihm etwas anderes sagt, dann lügt sie“, schimpfte sie böse.

„Aber dann habt ihr doch ohnehin nicht zusammengepasst. Du bist eine gefeierte Charakterdarstellerin und kannst keinen Mann brauchen, der in deinem Schatten mitschwimmt, oder?“, eröffnete Irina ihr eine Möglichkeit, das Ganze positiv zu sehen.

„Netter Versuch!“ Eva-Maria lachte bitter. „Wäre ich ein Mann, ja, dann wäre meine Zukunft gesichert. Männer dürfen auf der Bühne und im Film alt werden. Bei uns Frauen schaffen das sehr, sehr wenige, und ich werde kaum dazugehören. Sie haben mich auf die jugendliche Schöne festgelegt. Ich komme aus dieser Rolle nicht los und … und jetzt hat mich der erste Mann verlassen. Das ist der Anfang, von nun an geht es bergab!“, prophezeite sie düster.

Irina musste lachen. Eva-Maria war Schauspielerin mit Leib und Seele und konnte ein Drama perfekt inszenieren. Bei allem heulenden Elend, das war einfach zu dick aufgetragen, um noch ernst zu bleiben.

„Sogar du lachst mich aus, wo du doch für jeden und alles Verständnis hast!“, schimpfte ihre Schwester.

„Schwesterlein, komm lach mit mir!“, spielte Irina auf ein altes Kinderspiel an, das sie oft gespielt hatten.

„Da gibt es nichts zu lachen! Du kannst deine langweiligen Sendungen in jedem Alter moderieren, aber mir nimmt in ein paar Jahren keiner mehr die jugendliche Geliebte ab. Ich …“

„Und all der Katzenjammer nur, weil ein Mann, der dir im Prinzip egal ist, sich eine Schulter zum Ausheulen gesucht hat? Das ist doch lächerlich! Du hast noch viel Zeit, für deine Karriere neue Wege einzuschlagen. Es liegt an dir, ob du weiterhin die Schöne spielen willst oder nicht. Bisher hast du alles geschafft, was du dir in den Kopf gesetzt hast. Das schaffst du auch!“, sagte Irina mit Überzeugung.

Eine Weile blieb es still, aber Irina konnte fühlen, dass ihre Schwester ruhiger wurde. Der erste, große Jammer war überwunden, und darunter lauerte kein Monster. Jasper war einer von vielen.

„Danke!“

„Immer wieder gerne!“

„Bist du Weihnachten zu Hause bei Mama und Papa? Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen …“ Es war eher eine Bitte als eine Frage.

„Kommst du denn heim?“, fragte Irina überrascht, die eigentlich jedes Jahr mit ihren Eltern in Oberammergau feierte im Gegensatz zu Eva-Maria, die sich seit Jahren nicht mehr hatte an den Feiertagen blicken lassen.

„Ohne Jasper weiß ich nicht, wohin ich sonst gehen sollte. Am Heiligen Abend spiele ich, aber am ersten Weihnachtsfeiertag habe ich frei und könnte Mamas Braten und Papas Klöße wieder einmal genießen. Kommst du auch?“

„Ich werde da sein wie immer, aber Evchen, bis Weihnachten sind es noch volle vier Wochen. Du willst mir doch nicht einreden, dass du den Guten bis dahin nicht längst ersetzt hast? Bis dahin hast du seinen Namen vergessen. Wie ich dich kenne, feiere ich brav mit unseren alten Herrschaften, und du fliegst mit deiner jungen Liebe direkt nach deiner Weihnachtsvorstellung in den Süden. Wir werden sehen!“

„Kann auch sein. Was weiß ich, was bis dahin ist“, räumte Eva-Maria ein. „Aber in der Weihnachtsgeschichte von Dickens am Stadttheater spiele ich auf jeden Fall am Heiligen Abend. Kommst du mit deinem Süßen? Wir könnten hinterher etwas trinken gehen, und dann stellst du mir den Mann deines Herzens offiziell vor. Bei dir sind solche Dinge ernster als bei mir. Ich schicke dir Freikarten“, lud Eva-Maria sie zu der Vorstellung ein.

Das hatte sie seit Jahren nicht mehr getan. Irina wurde hellhörig. Warum interessierte sich Eva-Maria plötzlich für ihre Karriere und ihr Leben? Ihre Schwester hatte schon seit Ewigkeiten nicht mehr nach ihr gefragt. Die Gerüchte, die anscheinend über Paul Lassner und sie im Umlauf waren, trugen sicher ihren Teil dazu bei, auch wenn der große Katzenjammer den späten Anruf ausgelöst hatte.

Eva-Maria hatte es nie zulassen können, dass sich ein männliches Wesen für Irina interessierte. Schon in der Schulzeit hatte sie jedem Jungen einen ihrer unwiderstehlichen Blicke zugeworfen, der sich Irina annäherte. Sie hatte ihn angelockt, bewiesen, dass sie ihn haben konnte, und ihn dann fallen lassen.

Als Schülerin hatte sich Irina kaum für Jungen interessiert und das Spiel ihrer Schwester mit einem gleichgültigen Achselzucken abgetan. Bei einem Kommilitonen, den sie als Studentin wirklich gerngehabt hatte, war es dann aber zum Eklat gekommen. Eva-Maria hatte mit schlechtem Gewissen versprochen, sich beim nächsten Mal zu beherrschen, aber natürlich war es auch später wieder passiert. Sie konnte nicht anders. Es war ihre Art.

„Ich will dich mit keinem Mann teilen“, hatte sie ihr Verhalten irgendwann einmal zu erklären versucht.

Würde Eva-Maria versuchen, Paul Lassner für sich zu gewinnen? Irina wurde es eigentümlich weh ums Herz, obwohl sie nur mit Paul befreundet war. Die Vorstellung, ihn ihrer Schwester zu überlassen, war schmerzlich.

„Ich habe keinen Süßen und …“

„Paul Lassner? Man hört überall munkeln, dass der begehrteste Junggeselle bald vom Markt sein wird“, scherzte Eva-Maria und konnte ihre Neugierde nicht verbergen.

„Herr Lassner und ich verstehen uns gut und sind Freunde. Ich mag ihn, aber …“

„Sie mag ihn, aber … Ach, Schwesterherz, ich kann dein Herz seit Monaten hüpfen hören. Ich bin es! Du bist bis über beide Ohren in den Mann verliebt“, unterbrach Eva-Maria sie lachend. „Keine Bange, wir sind doch keine Kinder mehr. Ich nehme ihn dir nicht weg!“, gelobte sie fröhlich.

Irina war wie immer beeindruckt, wie rasch die Stimmungen bei ihr wechseln konnten. Auf Gewittersturm mit Orkanböen folgte übergangslos strahlender Sonnenschein.

„Ich mag ihn. Das ist auch schon alles. Die großen Liebesdramen überlasse ich dir. Du kennst mich doch!“, wehrte sie halbherzig ab.

Eva-Maria lachte.

„Sei es, wie es will! Ich schicke dir auf jeden Fall Karten und würde mich sehr freuen, wenn ihr kommt.“ Sie legte auf.

***

Es war Eva-Marias Bemerkung, die alles änderte. Irina lauschte verwundert in sich hinein. War sie wirklich verliebt? Paul Lassner löste zweifelsohne starke Gefühle in ihr aus. Es war schön mit ihm, und sie fühlte sich rundum wohl in seiner Gegenwart. War das Liebe? Wünschte sie sich mehr von ihm als das, was sie bereits teilten an Vertrautheit?

Etwas in ihr kannte längst die Antwort. Sie war verliebt und hatte es nicht sehen wollen. Was sie mit Paul teilte, gab ihrem Leben bei all der Arbeit einen warmen Hintergrund. Es schuf ein Stück Geborgenheit und Zuhause. Das wollte sie nicht durch unter Umständen unangemessene, einseitige Gefühle gefährden.

Was empfand Paul für sie? Sah er sie als gute Freundin oder als Frau? Musste das eigentlich ein Gegensatz sein? Konnte er nicht Freund und Geliebter sein? Sie wünschte sich das sehr und fürchtete, alles zu verlieren, wenn sie mehr haben wollte, als sie hatte.

Bisher hatte sie den Zwiespalt von sich fernhalten können, indem sie sich ihre Gefühle nicht eingestand. Nun war es damit vorbei. Sie konnte nicht mehr vor sich selbst weglaufen.

„Danke, Eva-Maria!“, brummte sie grimmig. „Das hast du mal wieder gut hinbekommen.“

Zeigte sie Paul, wie sie für ihn empfand, konnte es sein, dass er sie freundlich zurückwies. Schafften sie es dann noch, Freunde zu bleiben? Schwerlich. Und selbst wenn er sich für sie zu entscheiden schien, musste das nichts bedeuten. Eva-Maria hatte bisher jedes Mal spielend erreicht, dass Männer Irina hatten fallen lassen.

Paul musste sie nicht einmal fallen lassen, falls ihre Schwester zum Angriff überging. Schließlich waren Paul und sie nur Freunde. Irina hatte Angst. Hätte er in den verstrichenen Monaten nicht versucht, sie in den Arm zu nehmen und zu küssen, wenn sie als Frau für ihn von Interesse gewesen wäre?

Konnte sie nicht einfach alles belassen, wie es war? Sie rang mit sich, und Eva-Marias Einladung machte das nicht besser. Irinas innere Stimme riet ihr, Paul und Eva-Maria unter keinen Umständen zusammenzubringen. Sie wollte ihrer Schwester keine Chance geben, ihr altes Spiel zu spielen.

Aber auch wenn Eva-Maria und sie nicht mehr so eng verbunden waren wie früher, gehörte sie zu Irinas Leben und war wichtig. Falls Paul sich für Eva-Maria entschied wie all die anderen, dann war das auch eine Antwort, tröstete sie sich mit Galgenhumor, aber sie konnte nicht darüber lächeln.

„Meine Schwester hat uns zu ihrer Vorstellung am Heiligen Abend eingeladen“, erzählte sie Paul, als er sie ein paar Tage später vom Studio abholte und zum Essen ausführte. „Ich weiß, Sie gehen eigentlich nicht ins Theater, aber falls Sie am Heiligen Abend noch nichts vorhaben sollten …“

Irina wusste, dass seine Eltern schon lange tot waren und er ansonsten keine Familie hatte. Bisher hatten sie nie darüber gesprochen, wie sie für gewöhnlich Weihnachten feierten. Sie ging eher nicht davon aus, dass er noch keine Pläne für die Feiertage hatte.

„Ich bin dabei!“, antwortete er prompt. „Die Feier in der Firma ist am zweiundzwanzigsten, und ansonsten möchte ich das Jahresende ruhig angehen lassen und ein wenig ausspannen. Es war ein anstrengendes Jahr. Ich hatte gehofft, dass wir uns öfter sehen könnten, und freue mich sehr auf den Abend mit Ihnen“, sagte er mit einer Wärme, die sie berührte.

„Mir geht es auch immer so, wenn wir uns sehen. Es ist eine der besonders positiven und schönen Entwicklungen in diesem Jahr, dass wir uns kennengelernt haben“, wagte sie sich weiter aus der Reserve, als es für sie üblich war.

Lassner musterte sie prüfend. Konnte es sein, dass sie sich doch noch allmählich für ihn öffnete? Er dachte oft an Irina, aber er spürte, dass es keinen Sinn hatte, ihr zu sagen und zu zeigen, wie er empfand. Es hätte sie nur erschreckt und auf Abstand gehen lassen. Ihm war ein Rätsel, wie eine so bezaubernde, kluge und attraktive Frau sich ihrer eigenen Weiblichkeit so wenig bewusst sein konnte.

Mit einem guten Freund und seiner Frau hatte er sich einige Male über diese eigentümliche Freundschaft zwischen Irina und ihm unterhalten, die sein Leben bereicherte und ihn zugleich durcheinanderbrachte. Dr. Stefan Holl war der Leiter der Berling-Klinik in München. Er war seit vielen Jahren glücklich verheiratet und hatte vier, zum Teil schon fast erwachsene Kinder.

Paul hatte ihn kennengelernt, als er seinen Ärztestab für die ersten Einsätze in Afrika zusammengestellt hatte. Sowohl in Bezug auf die Auswahl der Ärzte, die sich dafür beworben hatten, als auch in Bezug auf die Zusammenstellung der erforderlichen medizinischen Grundausrüstung war Stefan Holl ihm eine große Hilfe gewesen.

Noch jetzt war er einer der Ärzte, die von Deutschland aus die Einsätze mit Fachwissen und Medikamenten versorgten, wenn es erforderlich war. Paul schätzte Stefan Holl als Mensch und Arzt sehr und war öfter in der gastfreundlichen und gemütlichen Villa der Familie zu Besuch.

„Irina braucht noch Zeit, um sich zu öffnen. Ich muss abwarten, sonst jage ich sie in die Flucht. Ich kann nur warten und da sein, sobald sie so weit ist. Na ja, sollte sie nie so weit kommen, werden wir eben immer Freunde bleiben. Das ist doch auch etwas“, bemerkte er an einem Sonntagnachmittag, als sie zusammen auf der Terrasse der Holls saßen und Kaffee zusammen tranken.

„Und für dich wäre es in Ordnung, quasi dein Leben lang auf sie zu warten?“, fragte Stefan Holl skeptisch. Ihm kam es eigentümlich vor, sich derart auf eine Person zu fixieren, wenn es um die eigene Lebensplanung ging.

„Das kann ich nicht beantworten. Es mag mir irgendwann eine andere Frau begegnen, und das war es dann. Im Leben ist doch immer alles offen, oder? Ich habe Irina sehr gerne, und im Moment wäre sie die Frau, mit der ich weitergehen wollte. Vor ihr bin ich keiner Frau begegnet, die mich derart fasziniert hätte.“

„Das ist eine ehrliche Antwort“, stellte Julia Holl anerkennend fest. „Aber irgendwie nehme ich dir das Ganze trotzdem nicht so recht ab. Da ist doch noch etwas anderes, dass dich zögern lässt, oder? Es gibt Bedenken, die dich zurückhalten.“

„Kann man sich bei so etwas sicher sein, bevor man es probiert hat? Irina ist ein Arbeitstier wie ich. Wie soll das gut gehen, wenn wir zusammenkommen? Wird nicht jeder vom anderen erwarten, dass er etwas zurücksteckt, damit wir uns öfter sehen können?“, gestand er seine Zweifel ein.

Ganz unberechtigt waren diese Bedenken sicherlich nicht, fand er.

„Wir sind alle beide eingebunden, engagiert und überzeugt von dem, was wir tun. Wie es jetzt ist, freuen wir uns an unseren Treffen, nehmen uns aber auch nicht übel, wenn es nicht klappt. Sobald wir einen Schritt weitergehen, fangen die Erwartungen an und damit die Enttäuschung, und das ist doch meistens der Anfang vom Ende, oder?“

„Lässt man sich auf eine Partnerschaft ein, ist das nicht nur eitler Sonnenschein, und manchmal ist es anstrengend, gangbare Kompromisse zu finden“, antwortete Julia Holl. „Dafür stellt man sich dem Leben auch nicht mehr alleine und hat einen Partner an der Seite. Möchtest du gerne eine Partnerin?“

„Julia, du solltest ins Jagdgewerbe wechseln. Bei Treibjagden wärst du der Geheimtipp“, neckte ihr Mann sie, dem sein Freund ein wenig leid tat.

„Hin und wieder muss man die Dinge beim Namen nennen, Stefan“, rechtfertigte sie sich und blieb ernst. „Natürlich bedeutet eine Partnerschaft Arbeit und kann schiefgehen. Die Frage ist doch, ob man gerne allein bleiben möchte und mit einem tätigen Leben alleine zufrieden ist. Das ist eine Entscheidung, die man irgendwann für sich treffen muss. Jede der Lebensweisen hat Vorteile und Nachteile.“

„Fragst du dich öfter, ob es nicht besser gewesen wäre, für dich allein zu bleiben?“, drehte Paul den Spieß um.

„Nein. Ich liebe meine Kinder, und dem Mann da, der sich gerade gerne aus dem Staub machen möchte, kann ich auch nach über zwanzig Jahren noch ganz schön viel abgewinnen. Wäre ich Stefan aber nicht begegnet, hätte mein Leben vielleicht einen vollkommen anderen Verlauf genommen.“

„Wie meinst du das?“

„Ich bin Kinderärztin und könnte zum Beispiel eine eigene Praxis haben oder die Kinderstation eines Krankenhauses leiten“, sagte Julia. „Unter Umständen hätte mein Vater mir bei seinem Rücktritt die Leitung der Berling-Klinik übertragen, und ich stünde jetzt in Stefans Stiefeln.“

Nach einem kurzen Moment des Schweigens sprach sie weiter.

„So aber habe ich meine vier Pappnasen großgezogen und meinen Beruf aufgegeben, um ihnen eine gute Mutter zu sein. Das bedauere ich nicht, aber ich kann nicht wissen, was für ein Mensch ich wäre, wenn der Beruf all die Jahre im Zentrum meines Lebens gestanden hätte. Ich bin zufrieden mit meinem Leben, wie es ist. Vielleicht wäre ich auch mit jenem anderen Leben zufrieden.“

„Interessante Überlegung“, stimmte Paul zu.

„Müßig, aber spannend. Ich glaube, wichtig ist nur, dass wir eine Entscheidung treffen und unser Leben entsprechend gestalten. Das ewige Nachtrauern von verpassten Gelegenheiten ist Futter für handfeste Depressionen“, meinte Julia.

Sie hatte das Gefühl, Paul irgendwie auf die Sprünge helfen zu müssen.

„Zieht es dich zu einer Frau und vielleicht irgendwann auch zu Kindern?“, fragte sie konkreter als zuvor. „Du bist noch jung, gerade siebenunddreißig“.

Stefan lachte leise auf, und Paul ließ sich Zeit mit der Antwort. Er lauschte in sich hinein.

„Ich war neunzehn, als meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen, und stehe seitdem allein in der Welt. Es gab immer klare Ziele in meinem Leben, und die Arbeit hat mich ausgefüllt. Mit Kindern hatte ich kaum zu tun, und Frauen spielten da keine entscheidende Rolle, wenn ich ganz ehrlich bin.“

Nun glitt ein Strahlen über sein Gesicht.

„Bei Irina ist es anders. Sie ist anders. Ich könnte mir vorstellen, mein Leben mit ihr zu verbringen. Und der Gedanke, mit ihr eine Familie zu gründen, hat etwas durchaus Verlockendes für mich. Es wäre schön, etwas mit ihr aufzubauen.“

„Dann hast du doch deine Antwort!“, kommentierte Julia und betrachtete die Angelegenheit als erledigt. „Also ich möchte jetzt noch ein Eis. Habt ihr auch Lust auf etwas Süßes?“

Paul hatte im Nachhinein noch oft an dieses Gespräch gedacht. Irinas freundschaftliche Distanziertheit hatte ihn aber davon abgehalten, ihr seine Gefühle zu zeigen. Die Einladung zu der Weihnachtsvorstellung ihrer Schwester schien ihm ein gutes Zeichen. Öffnete Irina ihm endlich eine Tür zu ihrem Herzen? Er hoffte es.

***

Eva-Maria war eine begnadete Schauspielerin, und Irina war wie immer, wenn sie ihre Schwester auf der Bühne oder im Film sah, unendlich stolz auf sie. Paul und sie hatten Plätze in der ersten Reihe und saßen nahezu auf der Bühne. Von dieser Nähe aus war es noch beeindruckender, Eva-Marias Spiel zu bewundern.

Siebenmal musste sich der Vorhang am Ende des Stückes heben, weil das Publikum nicht aufhören wollte zu klatschen. Immer wenn Eva-Maria vor ihr Publikum trat, schwoll der Applaus noch zusätzlich an. Es war ein Tosen der Begeisterung. Die Schauspielerin strahlte vor Freude und verbeugte sich graziös und anmutig.

Im Leben hatte Eva-Maria einen kecken Kurzhaarschnitt, aber für das Stück trug sie eine Perücke mit langen, gelockten blonden Haaren. Dadurch wurde ihre Ähnlichkeit mit ihrer Schwester noch unterstrichen.

Paul musste immer wieder seinen Blick zwischen der Frau auf der Bühne und der Frau neben ihm hin und her gleiten lassen. Die Ähnlichkeit war erstaunlich.

„Wie ist es euren Eltern gelungen, euch auseinanderzuhalten?“, fragte er Irina in der Pause.

„Gar nicht.“ Sie lachte fröhlich. „Papa hat das zur Verzweiflung gebracht, weil er nie sagen konnte, wem er gerade eine Standpauke halten sollte. Er hat meist mit uns beiden zugleich geschimpft, um nichts falsch zu machen.“

Schmunzelnd erzählte sie Paul nun von dem Trick ihrer Mutter.

„Sie konnte es sich nicht verkneifen, uns gleich zu kleiden, als wir klein waren. Es machte ihr Spaß. Da sie uns selbst nicht auseinanderhalten konnte, gab es aber immer einen winzigen, unauffälligen Unterschied, den nur sie kannte.“

Paul musste lachen. Irina hatte ihn zum Weihnachtsessen am anderen Tag zu ihren Eltern eingeladen, und er war auf ihre Mutter und ihren Vater gespannt. In den letzten drei Wochen war ihr Verhältnis deutlich inniger geworden. Sie hatte ihm einiges über ihre Kindheit erzählt.

Sie waren endlich beim Du angekommen. Irina scheute sich nicht mehr, seine Hand zu nehmen und zu drücken. Beim Abschied und bei der Begrüßung nahmen sie sich in die Arme und hielten sich länger als notwendig umschlungen. Es waren Momente der Nähe, die sie genossen, noch ohne zu benennen, was sie bedeuten mochten.

„Manchmal hatte ein Knopf an meinem Kleidchen eine andere Farbe, oder da war irgendwo ein kleiner Stern aufgestickt. Nicht einmal meinem Vater hat sie das verraten und sich immer damit gebrüstet, die Einzige zu sein, die ihre Mädchen wirklich kennen würde. Eva-Maria und ich haben sie natürlich regelmäßig hereingelegt und die Kleider heimlich getauscht. Gemerkt hat sie es nie“, erzählte Irina weiter.

„Böse Mädchen!“, tadelte er liebevoll spöttisch.

„Das war eine herrliche Zeit, Paul. Du kannst dir das nicht vorstellen, wie es ist, wenn da jemand ist, mit dem man dieselben Gedanken denkt. Ich fürchte, das ist etwas, was ich für den Rest meines Lebens vermissen werde. Man ist nie allein, verstehst du?“, fragte sie scheu, als ob sie ihm ein wohlbehütetes Geheimnis offenbart hätte.

„Sehr gut sogar!“, sagte er mit Wärme. „Ich kann es mir vorstellen, gerade weil ich es nicht kenne. Als Einzelkind gab es nur mich und meine Eltern. Sie waren wunderbare Menschen, und ich liebte sie sehr. Und dann fuhren sie zu einer Party zu Freunden in die Berge.“

Paul sprach nie über den schlimmsten Tag in seinem Leben, aber Irina wollte er nun davon erzählen.

„Eigentlich wäre ich mit ihnen gefahren, aber nach dem Abitur machte ich ein soziales Jahr und musste am diesem Wochenende arbeiten. Mein Vater fuhr nicht gerne nachts, und vermutlich wäre ich in dieser Nacht am Steuer gewesen. Vielleicht wäre nichts passiert, wenn ich dabei gewesen wäre.“

„Das kannst du nicht wissen. Dinge geschehen, Paul. Niemand kann etwas dazu.“ Unwillkürlich nahm Irina seine Hand. Er hatte ihr noch nie erzählt, wie er seine Eltern verloren hatte.

„Der Anruf kam kurz nach zwei. Mein Vater muss am Steuer eingeschlafen sein. Meine Mutter und er hatten eigentlich dort übernachten wollen. Niemand verstand, warum sie dann doch gefahren sind. Ich nehme an, es hat ihnen nicht so gut gefallen und es zog sie heim.“

Irina hörte den Schmerz in seiner Stimme, obwohl der tragische Unfall fast zwanzig Jahre zurücklag.

„Es gab keinen Gegenverkehr. Er kam einfach von der Straße ab, und das Auto stürzte in die Tiefe. Sie waren sofort tot, hat mir die Polizei gesagt. Ich hoffe, das stimmt. In jener Nacht wurde ich erwachsen.“

Die Pause war vorbei, und der Gong rief sie zurück in den Theatersaal. Hand in Hand nahmen sie ihre Plätze ein. Eva-Maria stand hinter dem Vorhang und beobachtete es. Irina wirkte so froh. Sie hatte etwas gefunden, was Eva-Maria einfach nicht finden konnte, was sie auch tat. Neid flammte in ihr auf.

Irina und sie gehörten zusammen und würden immer zusammengehören. Niemand hatte das Recht, sich zwischen sie zu drängen. Paul Lassner war ein gut aussehender Mann, ein südländischer Typ mit schwarzen Haaren, dunklen Augen und einem drahtigen, sportlichen Körper. Er gefiel Eva-Maria.

Es war keine bewusste Entscheidung, sich mit aller Macht zwischen das Paar drängen zu wollen. Eva-Maria wollte Irina nicht wehtun und ihr etwas wegnehmen. Sie konnte nur nicht zulassen, dass ihre Schwester etwas fand, was sie selbst nicht finden konnte.

Nach der Aufführung hatte Eva-Maria sie hinter die Bühne eingeladen. Daher wurden Irina und Paul zu den Umkleidekabinen durchgelassen, wo ein munteres Treiben herrschte. Die Aufführung war ein voller Erfolg gewesen, und die Truppe war ausgelassen und in Feierstimmung.

„Ihr müsst noch mit uns kommen! Wir feiern noch ein wenig im Krug drüben. Das ist eine gemütliche, kleine Kneipe, in der hauptsächlich wir Theaterleute verkehren. Ihr müsst mitkommen, Irina! Es ist so schön, dich wieder einmal zu sehen! Und wir haben uns noch gar nicht beschnuppern können, Paul“, duzte sie ihn ganz selbstverständlich und hakte sich bei ihm unter, als ob es nichts Natürlicheres auf der Welt geben würde, obwohl sie ihn kaum kannte.

„Ihr wollt doch sicher unter euch sein. Da stören wir nur“, versuchte Irina abzulehnen, aber da hatte sie keine Chance.

„Das geht nicht! Ihr müsst mitkommen!“ Eva-Maria gab nicht nach.

Irina warf Paul einen fragenden Blick zu, und ihr Herz setzte für einen Schlag aus. Da war er, dieser Gesichtsausdruck, den sie so gut kannte. Paul war absolut fasziniert von Eva-Maria. Er hing an ihren Lippen. Es störte ihn kein bisschen, dass sie sich bei ihm untergehakt hatte, und er dachte nicht im Traum daran, sich von ihr zu befreien.

Irina empfand das Verhalten ihrer Schwester als aufdringlich und als unangenehme Anmache, aber Paul fand es anziehend – wie all die anderen Männer vor ihm. Mit ihr mochte er ins Theater gekommen sein, aber sie war längst vergessen. Eva-Maria galt seine volle Aufmerksamkeit.

Tiefe Traurigkeit machte sich in Irina breit. Was nun kam, kannte sie so gut. Gewohnheitsmäßig ließ sie sich nicht anmerken, wie verletzt sie war. Paul war etwas Besonderes für sie gewesen. Die Begegnungen mit ihm hatten ihr viel bedeutet, und doch hieß es nun für sie, Abschied zu nehmen.

„Dann kommen wir eben mit!“, willigte sie mit einem müden Lächeln ein. Zumindest wollte sie eine gute Verliererin sein.

***

In der Kneipe ging es hoch her. Es wurde gelacht, getanzt und viel getrunken. Irina war die Einzige, die keinen Alkohol trank, weil sie ihn nicht vertrug. Neben den anderen empfand sie sich selbst als langweilig und unscheinbar. Sie sprach kaum ein Wort, saß still neben Paul, der sich problemlos in die heitere Runde einfügte und seinen Spaß mit den Theaterleuten hatte.

„Du hast mit deiner Anemone schon an einer Regatta für Klassiker teilgenommen. Eine schöne, kleine Yacht – ich segle für mein Leben gerne“, plauderte Eva-Maria mit Paul.

Irina wusste genau, dass ihre Schwester das Segeln hasste. Woher wusste sie überhaupt von dem Schiff? Hatte sie sich im Vorfeld über Paul informiert, um ihn leichter um den Finger wickeln zu können? Und Paul fiel natürlich darauf herein und schwärmte von seiner Anemone.

Irina wusste, wie viel ihm die Yacht bedeutete, und es tat förmlich weh, wie leicht es für ihre Schwester war, ihn zu täuschen.

„Schade, dass wir gerade keine Jahreszeit für einen Segeltörn haben, sonst würde ich mich auf deine Anemone einladen“, sagte Eva-Maria kokett.

„Irina und ich waren zweimal damit draußen. Vielleicht kannst du uns nächstes Jahr einmal begleiten“, antwortete Paul diplomatisch. Er begriff nicht, was da gerade passierte. Warum war Irina so still? Was sollte das alles?

„Ich liebe den Winter und fahre morgen mit ein paar Freunden nach St. Moritz auf ihre Skihütte. Warum kommst du nicht spontan mit?“, lud Eva-Maria ihn ein. „Es ist noch Platz da und wird bestimmt lustig.“

„Irina und ich sind bei euren Eltern eingeladen morgen“, lehnte Paul taktvoll ab und fühlte sich allmählich wie in einem Schwitzkasten gefangen. War das vielleicht ein Spiel, das die Zwillinge immer spielten, wenn eine von ihnen verliebt war? Wurde er gerade getestet? Hilflos sah er zu Irina, aber sie wich seinem Blick aus und war sehr blass.

„Meine Eltern sind bei so etwas nicht so eigen. Wenn ich ihnen erkläre, dass du mit Eva-Maria Skifahren bist, verstehen sie das“, sagte sie und gab ihn frei. Er war sprachlos und wurde langsam wütend. Wollte sie ihn etwa mit ihrer Schwester verkuppeln?

Gerade wollte er Irina darauf ansprechen und direkt fragen, als sie aufstand und zur Toilette ging. Irritiert sah er ihr nach. Es wurde Zeit, dass sie sich verabschiedeten und dass sie ihm in aller Ruhe erklärte, was da gerade ablief. Er bereute, mit in die Kneipe gegangen zu sein.

„Und ihr seid wirklich nicht zusammen? Der Mann ist heiß. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich …“ Eva-Maria war ihr gefolgt und stellte sie im Waschraum.

Irina hätte sie gerne geohrfeigt. Sie atmete innerlich tief durch, dann lächelte sie kühl.

„Tu, was du nicht lassen kannst, aber Paul ist ein liebenswerter, guter Mann. Er verdient Respekt. Wenn du nur vorhast, mir zu beweisen, dass ich gegen dich keine Chance habe, dann lass ihn in Ruhe!“

„Gott, kannst du bissig sein!“, beschwerte sich Eva-Maria. „Ein Wort von dir, dass du ein Besitzrecht auf ihn erhebst, und ich lasse die Finger von ihm. Aus dem Alter sind wir längst raus, in dem ich dir oder mir noch etwas beweisen musste. Gehört er dir, oder ist er Freiwild?“

„Paul ist ein Mann und keine Kaffeetasse. Er gehört mir nicht, und wenn er sich auf dich einlassen möchte, dann ist das seine Entscheidung“, knurrte Irina feindselig und kämpfte mit den Tränen.

„Danke! Das war alles, was ich wissen wollte. Schwesterlein, ich finde ihn wirklich anziehend. Ich bin noch solo, und er ist mein Typ. Wir werden bald fünfunddreißig. Ich suche nach einem Mann fürs Leben, und er käme dafür durchaus infrage. Da du ihn nicht willst, versuche ich mein Glück“, flötete Eva-Maria und kehrte bester Laune in den Gastraum zurück.

Irina wurde übel, und sie musste sich übergeben. Warum hatte sie nicht gesagt, dass Paul mehr als ein Freund für sie war? Warum hatte sie es ihrer Schwester so leichtgemacht, ihr Gewissen zu beruhigen?

Sie wusste es wirklich nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie nicht in diesen Gastraum zurückgehen und zusehen konnte, wie Paul sich in Eva-Maria verliebte. Sie wollte nicht dasitzen, wenn die beiden zusammen die Kneipe verließen. Das hatte sie alles schon mehr als einmal erlebt, und bei Paul wollte sie es nicht erleben.

Still und heimlich verließ Irina die Kneipe und fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass Paul ihr Verschwinden kaum bemerken würde. Er hatte die hübschere und charismatischere Schwester zur Gesellschaft. Warum hätte er sie da vermissen sollen?

Wie hatte sie nur so dumm sein können, mit ihm ins Theater zu gehen? Sie hatte es herausgefordert und nicht besser verdient. Gegen Eva-Maria war sie farblos und blass. Es war ihre eigene Schuld.

Das erste Mal bedauerte sie es aus tiefstem Herzen, einen Zwilling zu haben. Sie wollte ganz sein und sich nicht immerzu als Hälfte einer Ganzheit empfinden. Eva-Maria würde immer der dominante Teil sein, ihr alles abverlangen in der Not und ihr alles nehmen können. Die Jahre der inneren Distanz hatten nichts daran geändert, dass Irina sich nicht gegen ihre Schwester behaupten konnte.

Lange stand sie unter der Dusche und weinte bitterlich. Warum hatte sie den entscheidenden Satz nicht sagen können? Wäre es denn so schwer gewesen, Paul als ihren Privatbesitz zu deklarieren?

Ja, das war eine Grenze, die sie nicht überschreiten konnte. Keiner gehörte einem anderen Menschen! Lieber verlor sie ihn, als so etwas zu behaupten. Es mochte ihr nicht gelingen, sich von ihrer Schwester zu lösen und sich unabhängig von ihr zu machen, aber nicht einmal sie gehörte Eva-Maria. Auch sie war frei.

Todmüde und resigniert legte sie sich ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Das Leben ging weiter. Das tat es immer, wie schlecht man sich auch fühlte. Ihr graute vor dem Weihnachtstag bei ihren Eltern, aber da Eva-Maria schon abgesagt hatte, musste zumindest sie hinfahren.

***

„Wo ist denn Irina? Geht es ihr nicht gut?“, fragte Paul verwundert, als Eva-Maria alleine zu ihm an den Tisch zurückkehrte.

„Sie wird schon noch kommen!“, meinte sie gleichgültig und fing wieder an, von St. Moritz zu schwärmen. „Warum kommst du nicht mit? Jemand in deiner Position muss sich doch vor niemandem rechtfertigen und kann tun und lassen, was er will!“

Paul ließ sie reden. Sie hatte zu viel getrunken und wusste am anderen Morgen mit Sicherheit nicht mehr, was sie alles gesagt hatte. Er zweifelte daran, dass sie nach St. Moritz kommen würde. Höchstens ihre Freunde warteten, bis sie gegen Mittag ihren Rausch ausgeschlafen haben würde.