Die besten Ärzte - Sammelband 56 - Katrin Kastell - E-Book

Die besten Ärzte - Sammelband 56 E-Book

Katrin Kastell

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Beschreibung

Willkommen zur privaten Sprechstunde in Sachen Liebe!

Sie sind ständig in Bereitschaft, um Leben zu retten. Das macht sie für ihre Patienten zu Helden.
Im Sammelband "Die besten Ärzte" erleben Sie hautnah die aufregende Welt in Weiß zwischen Krankenhausalltag und romantischen Liebesabenteuern. Da ist Herzklopfen garantiert!

Der Sammelband "Die besten Ärzte" ist ein perfektes Angebot für alle, die Geschichten um Ärzte und Ärztinnen, Schwestern und Patienten lieben. Dr. Stefan Frank, Chefarzt Dr. Holl, Notärztin Andrea Bergen - hier bekommen Sie alle! Und das zum günstigen Angebotspreis!

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Chefarzt Dr. Holl 1821: Vanessas Irrweg
Notärztin Andrea Bergen 1300: Diagnose: Lebensgefahr
Dr. Stefan Frank 2254: Entscheide dich für mich!
Dr. Karsten Fabian 197: Dr. Fabian und die Sünderin
Der Notarzt 303: SOS im Waldkindergarten

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 582

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Katrin Kastell Isabelle Winter Stefan Frank Ulrike Larsen Karin Graf
Die besten Ärzte - Sammelband 56

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2014/2016/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © wavebreakmedia/ Shutterstock

ISBN: 978-3-7517-4665-6

https://www.bastei.de

https://www.sinclair.de

https://www.luebbe.de

https://www.lesejury.de

Die besten Ärzte - Sammelband 56

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Chefarzt Dr. Holl 1821

Vanessas Irrweg

Die Notärztin 1300

Diagnose: Lebensgefahr

Dr. Stefan Frank 2254

Entscheide dich für mich!

Dr. Karsten Fabian - Folge 197

Die wichtigsten Bewohner Altenhagens

Dr. Fabian und die Sünderin

Der Notarzt 303

SOS im Waldkindergarten

Guide

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Contents

Vanessas Irrweg

Trieb Dr. Mehring seine Frau in eine Sekte?

Von Katrin Kastell

Mit Engelszungen hat Chefarzt Dr. Holl schon auf Vanessa Mehring eingeredet, doch die junge Mutter ist unbelehrbar. Obwohl ihre fünfjährige Tochter Marie an einem gefährlichen Nephroblastom leidet, weigert Vanessa sich, der lebensrettenden Chemotherapie und der anschließenden Operation zuzustimmen! Mit starren Augen und äußerlich völlig unbewegt, hat Vanessa die eindringlichen Worte des Chefarztes an sich abprallen lassen …

Doch Stefan Holl ist fest entschlossen, alles Menschenmögliche zu tun, um die Tochter seines Mitarbeiters Dr. Roman Mehring zu retten, der der starren Haltung seiner Frau ebenso fassungslos gegenübersteht.

Was ist nur los mit Vanessa Mehring? Als Dr. Holl eines Abends im Hause Mehring einem mysteriösen Mann begegnet, der sich als „Professor Sumantra“ ausgibt, ist er aufs Höchste alarmiert! Kann es sein, dass Vanessa unter dem Einfluss eines skrupellosen Sektenführers steht und längst jeden Bezug zur Realität verloren hat?

Marie verzog erst das Gesicht, dann fing sie an zu weinen.

„Aber was ist denn los, mein Schatz?“ Vanessa Mehring hatte ihrer kleinen Tochter vorgelesen und wollte gerade das Licht ausschalten. Sie legte das Buch zur Seite und nahm das Kind zärtlich in den Arm.

„Ich hab so dolles Bauchweh.“

„Dann bekommst du jetzt noch ein Zäpfchen, und dann ist alles wieder gut. Na, dreh dich mal um.“ Mit geübten Griffen führte die besorgte Mutter kurz darauf das Medikament ein. „Und jetzt wird geschlafen.“

Doch Maries Arme hielten die Mutter fest umklammert.

„Geh nicht weg, Mama!“, jammerte sie.

„Aber ich bleibe doch immer bei dir, das weißt du doch. Wir lassen die Tür auf. Dann kannst du jederzeit nach mir rufen.“

„Bitte auch das Licht anlassen!“

„Ganz wie du willst, mein Schatz.“ Vanessa strich über die braunen Locken ihres geliebten Kindes.

„Wann kommt Papa wieder?“, fragte Marie.

„Ich hab dir doch gesagt, dass er viel zu tun hat. Er ist Arzt und hilft anderen Menschen beim Gesundwerden.“

„Hat er mich denn nicht mehr lieb, Mama?“

„Ganz sicher hat er das. Und ich habe dich noch viel mehr lieb. Und ich lasse dich niemals allein, versprochen.“

„Wo ist der Bogo?“

Vanessa schaute unter die Decke, doch dann sah sie den Plüschhund, einen Cockerspaniel, auf dem Teppichboden liegen. Sie hob ihn auf und legte ihn in Maries Arm.

„Da ist er. Er war nur runtergefallen.“

„Hoffentlich hat er sich nicht wehgetan!“ Marie drückte das Stofftier an sich.

„Du musst ihn ganz festhalten“, schlug Vanessa ihrer Tochter vor und sah zufrieden, dass Marie endlich müde wurde. Zwar versuchte sie noch einige Male, die Lider wieder zu heben, doch es fiel ihr immer schwerer.

Eine Weile lauschte sie noch den tiefen Atemzügen und verließ dann leise das Kinderzimmer. Die kleine Nachttischlampe ließ sie brennen. Wenn Marie im Dunkeln erwachte, bekam sie oft Angst und fing dann an zu weinen.

Vanessa hielt es für besser, wenn Roman überhaupt nicht mehr kam. Seine Besuche machten das Kind nur traurig. Auch der große Meister sprach sich immer wieder gegen solche Kontakte aus.

Aber Roman bestand nun mal darauf, seine Tochter zu sehen. Und rechtlich gab es wohl keine Handhabe, dem Vater das Besuchsrecht zu entziehen.

Vanessa seufzte. Das Leben war zurzeit nicht leicht für sie.

Im Wohnraum brannten noch die Kerzen, die sie vorhin schon angezündet hatte. Ein Räucherkegel aus Amber verbreitete den Duft der Liebe.

Vanessa ließ sich fallen in eine Welt, die nur ihr gehörte. Eine Welt, zu der ihr der große Meister Zutritt verschafft hatte. Ein Fingerzeig, für den sie ihm ewig dankbar war.

Aber noch war sie nur seine Schülerin auf dem Weg zur Erleuchtung. Und es war fraglich, ob sie jemals so diszipliniert sein würde, dieses Ziel zu erreichen.

Im Hintergrund spielte Meditationsmusik. Vanessa ließ sich im Lotussitz auf dem Schafwollteppich nieder, begann mit der Innenschau und verschwand vorübergehend aus der Wirklichkeit. Dabei benutzte sie die Technik, die Meister Sumantra sie gelehrt hatte.

Eine halbe Stunde später beendete Vanessa ihre Meditation, ließ die Kerzen aber brennen und rief den großen Meister an.

„Ich habe schon auf deinen Anruf gewartet“, hörte sie die sonore Stimme, die sie umhüllte wie ein weiches Tuch. „Wie geht es Marie?“

„Ich habe ihr ein Zäpfchen gegeben. Sie war noch etwas durcheinander vom letzten Besuch meines Mannes. Aber jetzt schläft sie.“

„Euer Leben, deins und Maries, wird bald wieder frei sein von allen Störungen. Du musst nur täglich daran arbeiten, deinen Energieradius zu erweitern, dann kann niemand dir etwas anhaben.“

Er schwieg. Vanessa lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen mit geschlossenen Augen. Atmen war so wichtig für das seelische Wohlbefinden. Jeden Morgen nach dem Erwachen konzentrierte sie sich erst mal eine Viertelstunde lang nur auf dieses regelmäßige Ein und Aus und spürte der Energie nach, die sie dabei empfand.

„Ich schließe dich ein in mein Mantra“, meldete sich seine Stimme zurück. „Spürst du es?“

„Ich spüre es, großer Meister.“

„Sei stark in deinem Universum! Morgen erwarte ich dich zur Gemeinschaftsmeditation. Bitte sei pünktlich!“

„Ja, großer Meister“, erwiderte sie beschämt.

Sumantra hatte allen Grund, sie zurechtzuweisen, denn letztes Mal war sie zehn Minuten zu spät gekommen wegen der unpünktlichen Nachbarin, die auf Marie aufpassen sollte.

„Und vergiss niemals: Der Geist macht uns frei – auch wenn der Körper noch so krank ist.“

Vanessa unterbrach den Kontakt. Immer, wenn sie mit Professor Sumantra sprach, fühlte sie sich ruhig, ausgeglichen und aufgehoben. Er war ihr Meister, Therapeut, Vater, Bruder und Freund zugleich. Ihm vertraute sie. Ihm legte sie ihr Innerstes offen, ohne Angst zu empfinden, denn sie wusste, dass er sie niemals verletzten würde.

Sie machte sich einen Jasmintee und aß noch einen kleinen Fruchtsalat. Anschließend vertiefte sie sich in die Schriften Sumantras. Der Meister wünschte nicht, dass seine Schüler andere Werke lasen als die seinigen, denn die anderen stifteten seiner Meinung nach nur Verwirrung. Seine Schüler seien noch nicht gefestigt genug, um sich auch anderer Literatur zu widmen.

Vanessa befolgte seine Ratschläge gern. Endlich gab es wieder jemanden, der ihr sagte, was sie tun und lassen sollte!

Damals, als Roman weggegangen war, um in Kalifornien mit einem berühmten Chirurgen zu arbeiten, war sie vollkommen hilflos gewesen. Ursprünglich hatten sie geplant, dass sie ihm mit Marie folgte, um die Familie zusammenzuhalten, aber dann war Vanessa Sumantra begegnet. Seine Ruhe und seine Weisheit halfen ihr, die Trennung von ihrem Mann zu überwinden.

In mehr als einem Jahr entstand eine tiefe Kluft zwischen ihr und Roman. Und als er vor Kurzem zurückkehrte, stellte sie gelassen fest, dass sie ihn nicht mehr liebte.

Sie ließ die Broschüre sinken und strich sich mit einer anmutigen Bewegung das Haar aus der Stirn. Ihre Augen hatten das Grün eines stillen Waldsees. Langsam ließ sie die Lider sinken. Sie sah Romans Gesicht vor sich. Im Gegensatz zu ihr hatte er sich während der Zeit ihrer Trennung nicht verändert.

Ein einziges Mal war er für zwei Tage zurück nach Rosenheim gekommen, aber auch nur, weil ein wichtiges Ärztesymposium in Paris stattfand und er von dort einen Abstecher nach Hause machen konnte.

Was war das für ein Mann, was für ein Familienvater, der Frau und Tochter sich selbst überließ, um sich nur noch um seine berufliche Karriere zu kümmern? Vanessa gab sich einen Ruck und stand auf. Roman war einst ihre große Liebe gewesen. Heute berührte sie das alles nicht mehr.

Heute gab es einen anderen Mann, in dessen Hände sie ihr Leben legen konnte, ohne befürchten zu müssen, von ihm verletzt zu werden. Man musste die Dinge nur mal so sehen: Wenn Roman nicht gegangen wäre, hätte sie Professor Sumantra niemals kennengelernt. Also hat jeder Abschied auch sein Gutes. Weil man sich erst trennen muss, um neu zu beginnen. Nur wer das Alte loslassen kann, wird von etwas Neuem erfüllt.

***

Seit seine Frau ihn gedrängt hatte, sich eine eigene Wohnung zu suchen, lebte Dr. Roman Mehring, ein hochspezialisierter Chirurg, im möblierten Apartment der Lassows. Rechtsanwalt Dr. Axel Lassow, der Mann von Dr. Holls Schwester Beatrix, wollte noch nicht mal Miete dafür haben, aber das lehnte Roman ab. Schließlich war ein akzeptabler Mietzins vereinbart worden.

Vorerst ließ sich Roman auf diese verlängerte räumliche Trennung ein, obwohl eigentlich geplant gewesen war, nach seiner Rückkehr aus Amerika das Familienleben wieder aufzunehmen. Aber vielleicht hatte Vanessa recht, wenn sie sagte, dass es nicht so ginge, wie er sich das vorstellte. Weil er nämlich selbst verantwortlich sei für den breiten Graben zwischen ihnen, der während seiner viel zu langen Abwesenheit entstanden war.

Das Haus mit Garten beanspruchte Vanessa für sich mit dem Argument, Marie solle nicht aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen werden. Roman stimmte zu, obwohl die Immobilie mit einem großen Grundstück am Stadtrand von Rosenheim ihm allein gehörte. Es war das Erbe seiner Eltern.

Er sehnte sich so sehr danach, Frau und Tochter wieder näherzukommen! Er wollte alles wiedergutmachen, musste Vanessa aber Zeit lassen. Auch Roman fand, dass Marie selbstverständlich in dem Haus aufwachsen sollte, das auch ihr Geburtshaus war. Außerdem ging sie dort in eine Kita, in der sie sich laut Vanessa sehr wohlfühlte.

Vor zwei Tagen hatte er in der Berling-Klinik seinen Vertrag mit Chefarzt Dr. Holl unterschrieben. Dabei wurde ihm die Option eingeräumt, in ungefähr acht bis zehn Monaten eine Wohnung im Ärztehaus zu beziehen. Aber bis dahin war seine Familie hoffentlich wieder vereint. Wenn er wieder mit Vanessa und Marie zusammenleben konnte, nahm er dafür gern die tägliche Fahrt nach München und zurück in Kauf.

Eigentlich hätte er zufrieden sein können. Da sein verstorbener Bruder Gunnar der beste Freund von Dr. Axel Lassow gewesen war, übertrug der Anwalt jetzt seine Freundschaft auf den jüngeren Roman. Axel hatte ihn überdies auf die vakante Stelle als chirurgischer Oberarzt in der Berling-Klinik aufmerksam gemacht.

Dr. Holl und Dr. Roman Mehring waren sich schnell einig gewesen. Roman konnte sich mit dem Beginn der nächsten Woche kopfüber in die Arbeit stürzen. Seine Berufsaussichten waren glänzend.

Eine bleiche Novembersonne hüllte den Englischen Garten in ein diffuses Licht. Roman marschierte mit weit ausholenden Schritten am Chinesischen Turm vorbei, ohne einen Blick darauf zu werfen.

Erst, als sich vor ihm auf dem breiten Parkweg zwei kleine Buben mit ihrem Hund tummelten, begleitet von einem lächelnden Elternpaar, ging er etwas langsamer. Wehmütig dachte Roman an seine Tochter Marie, die er jetzt gern bei sich gehabt hätte, doch Vanessa sagte, das Kind sei krank. Auf seine Frage, was ihr fehle, hatte sie nur lapidar „Bauchschmerzen halt“ geantwortet.

Instinktiv spürte er, dass Vanessa sich weitere Ausreden überlegen würde, um ihn von Marie fernzuhalten. War das ihre Art, ihm einiges für sein langes Wegbleiben heimzuzahlen? Liebte er sie noch? Liebe sie ihn noch?

Ja, vielleicht hätte er seine Karriere nicht an die erste Stelle setzen dürfen. Aber der Ruf aus den USA war einfach zu verlockend gewesen. Und Vanessa hatte ja auch nachkommen wollen. Sie hatten sogar schon Freunde gefunden, die für die Zeit ihrer Abwesenheit das Haus in Rosenheim hüteten.

Auch die tollen Verdienstmöglichkeiten waren ein Grund für seine Entscheidung gewesen. Dann aber überlegte sich Vanessa alles anders. Sie könne mit dem Kind nicht nach Amerika kommen. Allein die unüberwindlichen Sprachbarrieren!

Warum hatten sich Vanessa und er trotzdem so sehr auseinandergelebt? Frau und Kind hatte es während seiner Abwesenheit an nichts gefehlt. Jeden Monat war ein großer Betrag bei Vanessa eingetroffen.

Die beiden Buben vor ihm tobten lachend mit ihrem Hund herum. Sie riefen ihn Bennie. Marie wollte auch schon immer einen Hund, aber Vanessa war strikt dagegen und hatte ihm verboten, Marie deswegen Flausen in den Kopf zu setzen.

Ja, alles war seine Schuld. Diese Vorwürfe wiederholte sie gebetsmühlenartig. Und Roman glaubte schon selbst daran. Er hatte versagt – als Ehemann und als Vater.

Vanessa war ihm fremd geworden. Er kannte sie nicht mehr. Ihre schönen grünen Augen schauten ihn zwar an, aber ihr Blick drückte außer einer erschreckenden Leere nichts aus. Zunächst dachte er, sie habe jemanden kennengelernt, doch das stritt sie vehement ab. Sie hatte sich verändert. Alle Versuche, wieder zueinanderzufinden, brachten nichts. Noch nichts. Hoffnung hatte er immer noch.

Nein, das waren keine guten Vorzeichen für eine gemeinsame Zukunft, aber er wünschte sich von ganzem Herzen, dass Vanessa sich besinnen und in einen Neuanfang einwilligen würde. Er musste ihr nur etwas Zeit lassen. Schließlich würde doch wieder alles ins Lot kommen.

Er nahm sich vor, nicht mehr so oft aus der Haut zu fahren, wenn er sich über sie ärgerte. Wie eingeschlossen kam sie ihm vor. Und immer wieder prallte er an der harten, aber unsichtbaren Kapsel ab, die sie umgab. Ob er die jemals durchbrechen würde?

Später fuhr er noch ins Zentrum und schaute sich die Schaufensterauslagen an. In einem Kaufhaus kaufte er eine Puppe für Marie. Er wollte sie ihr gleich morgen schicken und nicht erst beim nächsten Besuch mitbringen.

***

Beatrix Lassow, Stefan Holls Schwester, plante für den Abend ein Essen mit ihrem Bruder und seiner Familie. Und auch Roman war dazu eingeladen.

Gegen achtzehn Uhr trafen Stefan, Julia und die vier Kinder ein. Es gab sofort ein großes Hallo unter den Cousins und Cousinen. Stefan Lassow, Dr. Holls Patensohn, war im gleichen Alter wie die Zwillinge Daniela und Marc, während Michaela altersmäßig zum fünfzehnjährigen Chris Holl passte. Juju, das jüngste Holl-Kind, war der Sonnenschein des gesamten Clans – und sich dieser Sonderstellung auch durchaus bewusst.

Noch vor Beginn des Essens ordnete Stefans temperamentvolle Schwester an, dass alle sich duzten, was die fröhliche Runde auch gleich akzeptierte. Besonders die zwanzigjährige Daniela freute sich über diesen Vorschlag.

Schon auf den ersten Blick fand sie Papas neuen Kollegen ungeheuer anziehend. Die Sitzordnung am langen Esstisch war längst aufgehoben. Und so gelang es Dani, sich den freien Platz neben ihm zu erobern und ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

Sie erzählte von ihrem Biologie-Studium und dass sie auch eine Weile überlegt habe, wie Zwillingsbruder Marc Medizin zu studieren.

Roman genoss das Zusammensein mit den unkomplizierten Menschen. Für eine Weile konnte er seine prekäre Familiensituation vergessen. Dani Holl war eine selbstbewusste Gesprächspartnerin. Sie gefiel ihm.

Doch dann brachte sie ihm ungewollt seine Lage in Erinnerung.

„Wann holst du deine Familie nach München?“ Von ihrem Papa hatte sie gehört, dass Frau und Kind des neuen Kollegen noch in Rosenheim lebten. „Die Fahrerei ist doch sicher lästig.“

„Vorerst wohne ich ja bei Beatrix und Axel, fahre also nicht jeden Tag nach Rosenheim.“

„Hast du ein Bild von deiner Tochter?“, erkundigte sich Dani.

„Nein, leider nicht. Aber das nächste Mal werde ich eins mitbringen.“

„Arbeitet deine Frau auch?“

„Nein, sie widmet sich ganz der Erziehung unserer Tochter. Früher war Vanessa Einkäuferin in einem Modehaus. Vielleicht findet sie später wieder den Anschluss, wenn Marie etwas größer ist.“

„Das wird nicht leicht sein“, kommentierte Dani. „Wir würden deine Familie gern mal kennenlernen. Bring sie doch mal mit!“

„Ja, vielleicht klappt es irgendwann einmal“, gab er ausweichend zurück.

Er schaute auf die Uhr. „Aber jetzt werde ich mich zurückziehen, damit die Familie noch ein wenig unter sich sein kann.“

Er verabschiedete sich von den Lassows und den Holls. Dani begleitete ihn noch ein paar Schritte und schloss die Haustür hinter sich. Die Einliegerwohnung verfügte über einen separaten Eingang.

„Ich hoffe, wir sehen uns jetzt öfter“, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln. „Ja, das wäre nett.“

Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Arm. „Sag mal, hast du Kummer?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte er mit sichtlicher Verblüffung.

„Deine Augen sind so traurig.“

„Du hast eine gute Beobachtungsgabe. Ja, es stimmt. Es gibt ein paar Familienprobleme, ausgelöst durch meine lange Abwesenheit von zu Hause. Aber damit werde ich dich ganz sicher nicht belasten, Daniela.“

„Meinst du, ich bin zu jung?“ Ihre blauen Augen blitzten angriffslustig, aber sie lächelte immer noch.

„Weil sich eine attraktive junge Frau nicht mit den Problemen eines älteren Mannes befassen sollte.“

„Das musst du jetzt aber mal klarstellen. Wie alt bist du denn? Lass mich raten …“ Sie neigte den Kopf zur Seite und betrachtete ihn prüfend. „Ich würde sagen fünfunddreißig plus minus zwei Jahre.“

„Sehr gut geschätzt.“ Roman lachte leise. „Geschätzte Zahl plus eins, dann liegst du vollkommen richtig.“

„Ein Mann im besten Alter also“, kommentierte sie. „Das gefällt mir.“

***

„Du solltest das alleinige Sorgerecht für dein Kind beantragen!“

Meister Sumantra legte seine große fleischige Hand auf Vanessas braune Locken. Er war ein kleiner, leicht übergewichtiger Mann. In seinem wulstigen Gesicht schimmerten bernsteinfarbene Raubkatzenaugen, die wachsam, manchmal aber auch schläfrig in die Welt schauten.

Wenn man auf der Matte lag und sich nur noch seiner samtenen Stimme hingab, löste man sich auf in einem Universum, in dem es keine menschlichen Probleme mehr gab. Doch diese Phase der heutigen Meditation lag schon hinter ihr. Sie war wieder bei sich.

„Aber wie soll das denn gehen?“, fragte sie irritiert. „Roman und ich sind verheiratet. Er ist Maries Vater und hat einen Anspruch …“

„Ist er das wirklich?“

„Ja, ich bin mir sicher.“

„Aber du hast mir doch von deinem Seitensprung damals erzählt. Ihr wart gerade ein Jahr verheiratet. Erinnerst du dich nicht mehr?“

Vanessa errötete bis unter die Haarwurzeln und schwieg.

„Ich bin sicher, dass Marie Romans Tochter ist. Sie sieht ihm so ähnlich.“

„Na gut, lassen wir das einstweilen.“ Der große Meister lächelte gönnerhaft. „Darüber reden wir zu einer späteren Zeit. Wichtig ist, dass dein Mann euch nicht mehr so oft besucht. Das zerstört deine Aura nachhaltig. Ich spüre es. Du bist nicht bei der Sache.“

„Aber wie soll ich ihm das verbieten? Das Haus gehört ihm.“

„Das spielt keine Rolle“, befand Sumantra. „Wichtig ist, dass er das Sorgerecht verliert. Es gibt einige Wege, um das zu erreichen.“ Er überreichte ihr eine Visitenkarte.

Dr. Ellen Köhler, Anwältin , las Vanessa und schaute den Meister fragend an.

„Sie ist eine von uns und weiß, wie man gegen Väter vorgeht, die ihren Töchtern zu nahekommen.“

„Aber …“

„Alles wird gut, sorge dich nicht! Sprich mit Frau Doktor Köhler. So eine Sache will gut vorbereitet sein.“

Vanessa steckte die Karte ein.

„Hast du das Geld dabei?“

„Ja, selbstverständlich.“ Romans Frau zog einen weißen Briefumschlag aus ihrer Handtasche und ließ ihn in seine Hand gleiten. Meister Sumantra wünschte den Beitrag zur Gemeinschaft der Glücklichen immer nur in einzelnen Hunderterscheinen. Fünf waren es diesmal.

„Vergiss nicht, mit deinen Chakren zu arbeiten.“

Vanessa faltete die Hände und verneigte sich. Dann erhob sie sich aus ihrer knienden Haltung, ging rückwärts zur Tür, öffnete sie und trat in das Zimmer, in dem Marie unter der Aufsicht eines jungen Mannes spielte.

Beide schauten auf. Lukas Felder war schon viel länger dabei als sie.

„Danke, dass du dich um sie gekümmert hast“, sagte sie zu ihm.

„Aber das hab ich doch gern getan“, gab Lukas zurück. Sein blondes Haar stand ihm wild vom Kopf ab. „Sie ist ein so reizendes Kind. Ruf mich an, wenn du mich mal brauchst. Dann spiele ich mit ihr und passe auf sie auf.“

„Darauf werde ich sicher zurückkommen.“ Vanessa nickte Lukas zu. Sie hatte mal gehört, dass er ein Studium in München begonnen hatte, jetzt aber so etwas wie der Privatsekretär des großen Meisters war.

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Mutter und Tochter wieder ausgehfertig waren. Draußen wehte ein eiskalter Wind. Mit dem milden Spätherbstwetter war es vorerst vorbei. Und die Temperaturen sollten noch mehr sinken.

Vanessas Kleinwagen stand direkt vor des Meisters Haus. Sie verfrachtete Marie auf dem Kindersitz und glitt dann hinter das Steuer.

„Jetzt fahren wir nach Hause, und ich mache dir eine heiße Schokolade.“

„Bauchweh“, maulte Marie. Die Aussicht auf ein süßes Getränk schien sie nicht sonderlich zu freuen. „Wann kommt Papa?“

„Er hat zu tun“, gab Vanessa etwas ungeduldig zurück.

„Und darum hat er überhaupt keine Zeit für kleine Mädchen.“

Das reichte, um Marie zum Weinen zu bringen.

***

In der Berling-Klinik lief es gut für ihn. Alle Mitarbeiter nahmen Roman herzlich auf. Und schon in den ersten Tagen bekam Stefan Holl reichlich Beweise dafür, dass er die bestmögliche Wahl getroffen hatte. Als Roman an diesem Montagmorgen in der Klinik eintraf, wurde er sofort zu einem durch einen Unfall traumatisierten Kind gerufen. Ein sechsjähriges Mädchen war von einem Fahrzeug angefahren worden.

Eilig betrat er den Schockraum. Das Erste, was er sah, waren die dunkelbraunen Locken des Kindes. Der Schreck nahm ihm für drei Sekunden den Atem. Doch es war nicht Marie, natürlich nicht. Roman ließ sich den Unfallhergang schildern, der von den Sanitätern bei der Einlieferung mitgeteilt worden war. Über eine Nasensonde wurde dem Kind Sauerstoff zugeführt.

„Blutverlust durch innere Blutungen, Absenkung des zentralen Venendrucks“, sagte Andrea Kellberg, die Anästhesistin. „Puls beschleunigt und schwach. Schockindex liegt über eins.“

„Die Eltern sind schon verständigt“, fügte Dr. Jordan hinzu. „Die Mutter ist ziemlich fertig. Schon mehrfach hat sie versucht, in den OP einzudringen.“

Für Roman war klar, dass bei der kleinen Patientin durch den großen Flüssigkeitsverlust ein Kreislaufversagen drohte. Sie war sehr unruhig. Und durch die Verminderung des Blutes im Kreislauf konnte es zum völligen Zusammenbruch des Stoffwechsels kommen. Jeder Schock bedeutete höchste Lebensgefahr.

Es musste wieder ein ausreichender Perfusionsdruck für Herz, Niere und Gehirn erreicht werden. Das war die zurzeit dringlichste Aufgabe.

Zügig und gezielt gab Roman seine Anweisungen. Flache Lagerung, Volumenersatz und ein vasoaktives Medikament, das den Gefäßtonus positiv beeinflusste. Gleichzeitig gab er dem Kind ein Analgetikum für die Schmerzstillung und ein Sedativum zur Ruhigstellung.

Über einen Venenkatheter am Hals floss der Blutersatz in den kleinen Körper. Eine erste Stabilisierung erfolgte. Dr. Kellberg las laut die ersten ermutigenden Werte ab.

Nun nahm man eine Ganzkörper-Computertomografie vor, die enthüllte, was sich im Körper des Kindes abspielte.

„Die Blutungsquelle liegt im Bauchraum“, sagte Roman nach Auswertung der Daten. „Wir bereiten alles für eine Laparotomie vor. Wenn sie noch ein wenig stabiler ist, fangen wir an.“ Nach einer Weile emsiger Vorbereitungen konnte es losgehen.

Dr. Roman Mehring setzte das Elektroskalpell an und zog einen Rippenrandschnitt. Das Instrument enthielt Wechselstrom mit hoher Frequenz, der im Gewebe sofort für eine oberflächliche Blutstillung sorgte.

Dr. Jordan zog die so entstandene Wunde mit stumpfen Haken auseinander. Zunächst musste die Bauchhöhle abgesaugt werden, da vor lauter Blut nichts zu sehen war.

Von Roman ging eine angenehme Ruhe aus, die vom restlichen Team als äußerst wohltuend empfunden wurde. Das Team arbeitete stressfrei Hand in Hand.

„Da ist es“, klang es gedämpft durch Romans Mundschutz. Ein Stück der Leber war so tief eingerissen, dass eine Verbindung mittels Naht an den übrigen Leberlappen als aussichtslos erschien.

„Wir schneiden das Teil ab. Das Gewebe wird zum Teil wieder nachwachsen.“

Nach der Abtrennung kam es zu neuen Blutungen. Alle Hände waren mit Absaugen, Reinigen und Blutstillen beschäftigt. Endlich konnte der Leberrand sorgsam vernäht werden. Dann wurde die Operationswunde verschlossen. Ein kleiner Spalt blieb offen für die Bauchdrainage.

Dr. Kellberg vermeldete jetzt einen zufriedenstellenden Blutdruck. Auch Puls und Atmung gaben keinen Anlass mehr zur Besorgnis. Dennoch musste die kleine Patientin die nächsten Tage auf der Kinderintensivstation verbringen. Noch war die Gefahr nicht ganz gebannt. Erneut konnten Komplikationen auftreten.

Nach diesem hektischen Dienstbeginn ging Roman in die Kantine, um sich einen Becher Kaffee und eine Schinkensemmel zu holen. Er hatte heute nichts gefrühstückt.

Noch bevor er die rettende Kaffeeausgabe erreichte, meldete sich sein Handy. Vanessa! Er ging wieder ein paar Schritte auf den Gang zurück, wo er ungestörter reden konnte.

„Schön, dass du anrufst!“, begrüßte er sie und bemühte sich nach Kräften, die Spannung in seiner Stimme zu unterdrücken. Ob sie ihn um ein Wiedersehen bat?

„Ich rufe an, weil ich was Wichtiges mit dir besprechen muss. Es geht um Marie.“

„Was ist mit ihr? Geht es ihr gut? Ist die Puppe schon angekommen?“

„Damit erreichst du gar nichts, Roman. Glaubst du, du könntest die monatelange Vernachlässigung deiner Tochter mit einer Puppe ungeschehen machen?“

„Ich wollte ihr eine Freude bereiten, nicht mehr und nicht weniger!“, stieß er ärgerlich hervor. „Hör endlich auf, mir bei jeder Gelegenheit meine angebliche Schuld vorzuhalten. Ich bin das leid. Mir scheint, ein normales Gespräch ist mit dir nicht möglich. Was ist bloß aus dir geworden! Ich verstehe nicht mehr, was in dir vorgeht.“

„Ich werde für Marie das alleinige Sorgerecht beantragen!“, stieß Vanessa hervor. Und es klang, als hätte sie sich für diesen Satz lange vorher gut zugeredet.

„Wie bitte?“ Roman glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Mir das Sorgerecht wegnehmen? Wer hat dir das denn eingeredet? Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Marie ist mein Kind. Und das wird sie auch bleiben, ganz egal, wie wir beide miteinander klarkommen. Das gemeinsame Sorgerecht bleibt bestehen!“

„Du bist ein Fremder für deine Tochter …“

„Du möchtest mir wohl aus allem nur noch Fallstricke drehen“, beschwerte er sich. „Lass dir gesagt sein, du kannst mir das Sorgerecht gar nicht entziehen. Ich bin zwar kein Jurist, aber die Situation kann jeder beurteilen, der ein bisschen Verstand hat. Warum willst du mich aus allem hinausdrängen? Wenn du weiterhin den Kontakt zu meiner Tochter mit fadenscheinigen Ausreden verhinderst, werde ich meine Rechte gerichtlich durchsetzen. Allmählich kann ich dein Verhalten nicht mehr tolerieren.“

Er schwieg erschöpft. Sein Puls raste, und sein Mund war ganz trocken geworden. Er hätte sie schütteln können, diese unzugängliche, herzlose Frau, der es nichts auszumachen schien, sein Leben zu zerstören.

„Es ist für alle besser so, erst recht für Marie.“

„Und das kannst du so ohne Weiteres beurteilen? Du weißt ja nicht, was du redest. Was ist in dich gefahren? Hast du einen anderen? Sag mir die Wahrheit, damit ich endlich weiß, woran ich bin.“

Er hörte sie heftig atmen und wartete auf eine Erwiderung.

Doch da kam nichts mehr. Die Verbindung war unterbrochen. Als er kurz darauf zurückrief, meldete sich nur der Anrufbeantworter.

„Verdammt noch mal“, fluchte Roman leise in sich hinein. Er musste Vanessa wieder zur Vernunft bringen.

***

Gleich nach Dienstschluss fuhr er mit dem Wagen nach Rosenheim. Eine solche Behandlung ließ er sich nicht länger gefallen. Vanessa spielte sich auf, als wäre nur sie diejenige, bei der alle Entscheidungsbefugnisse lagen.

Er parkte vor seinem Haus und klingelte. Niemand kam an die Tür. Er klingelte noch einmal, und als sich immer noch nichts rührte, benutzte er seinen Schlüssel.

Kaum hatte er das Haus betreten, stand sie auch schon vor ihm: blass, kühl, feindselig. „Was willst du? Und wieso kommst du einfach herein?“

„Ich habe geklingelt, aber du hast nicht aufgemacht. Ich darf dich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, dass es mein Haus ist, in dem ihr wohnt. Deshalb habe ich selbstverständlich ein Recht, es jederzeit zu betreten. Wir müssen reden.“

„Es geht jetzt nicht!“

„Ich bestehe darauf. Schläft Marie schon?“

„Sie ist krank und liegt im Bett.“

„Warum erfahre ich das nicht?“

„Sie hat sich erkältet. Die Temperatur ist erhöht.“

„Warst du beim Kinderarzt?“

„Selbstverständlich. Doktor Haller hat Zäpfchen und Tropfen verordnet.“

„Ich will sie sehen …

„Und ich will nicht, dass du sie aufweckst.“

„Ich werde ganz leise sein.“ Unbeeindruckt von ihrem gedämpften Protest, ging er hinauf ins Kinderzimmer. Die Tür stand einen Spalt offen. Er schaute hinein. Die Nachttischlampe brannte auf dem Tisch. Seine Tochter schlief. Leise trat er näher. Zärtlich strich er Marie über die geröteten Wangen und ging ebenso leise wieder zurück.

„Na, bist du jetzt zufrieden?“, fragte Vanessa mit abweisender Miene.

Er ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer und nahm auf dem Sofa Platz. Sein Blick glitt durch den Wohnraum und streifte all die Möbel, die sie noch in glücklichen Zeiten zusammen ausgesucht hatten.

„Ich würde nur zu gern wissen, was mit dir los ist“, sagte er betont ruhig und verschränkte die Arme vor der Brust, um seinen Ärger unter Kontrolle zu halten. „Kannst du überhaupt noch vernünftige Gedanken äußern?“

„Wir haben uns nichts mehr zu sagen. Darum sollten wir die Konsequenzen ziehen.“ Sie setzte sich nicht, sondern ging vor ihm auf und ab.

„Und die wären?“

„Du warst über ein Jahr von hier fort. Dann kommst du zurück und denkst, alles geht so weiter wie vorher!“

Er seufzte tief. Seine Brust hob und senkte sich. So oft hatte er schon versucht, die Lage aus seiner Sicht zu erklären, dass es nun auf ein weiteres Mal auch nicht mehr ankam.

„Du warst damals einverstanden. Es war eine einmalige Chance für mich. Ich habe viel Geld verdient, das uns allen zugute kam, auch dir. Oder hattest du etwa finanzielle Sorgen? Ich denke nicht. Ja, wir haben uns nur einmal gesehen während dieser Zeit, aber ich dachte, unsere Liebe hielte das aus. War wohl ein Irrtum.“

Warum muss ich mich eigentlich immer verteidigen?, fragte er sich. Vanessa hat doch anfangs alles mitgetragen, ja ihn sogar noch ermutigt, diesen Top-Vertrag zu unterschreiben. Kann ich was dafür, dass sie während der Trennung ihre Ansicht änderte?

Vanessa hörte nicht auf, hin- und herzulaufen.

„Ich bin vollkommen okay“, sagte sie kühl, während sie kurz stehen blieb. „Uns, das heißt Marie und mir, ginge es noch viel besser, wenn du unser Leben nicht mehr durcheinanderbringen würdest.“

„Hör zu, meine Liebe, ich lasse mir deine Vorwürfe nicht länger gefallen.“

Romans Stimme schwoll an. Er schlug mit der flachen Hand auf einen Beistelltisch. „Dies hier ist mein Haus, in dem du mich nicht mehr haben willst. Und auch den Kontakt zu Marie verhinderst du ständig. Und dann behauptest du unverschämterweise, ich würde dein Leben durcheinanderbringen? Aber Geld darf ich dir weiterhin jeden Monat überweisen. Oder ist dir das jetzt unangenehm?“

„Komm mir bloß nicht so!“ Jetzt wurde auch Vanessa laut. „Um es ganz klar zu sagen: Verschwinde aus meinem Leben!“

Unbemerkt von beiden, stand plötzlich Marie mit großen Augen in der Tür, Plüschhund Bogo fest an sich gepresst.

„Papa, da bist du ja!“, sagte sie erstaunt und kam langsam auf ihn zu.

„Da siehst du, was du angerichtet hast“, zischte Vanessa.

Vater und Tochter kümmerten sich nicht um sie. Roman nahm sein kleines Mädchen in die Arme und schaukelte es hin und her. Ja, das Kind hatte Fieber.

„Ich bring dich wieder in dein Bett!“ Er stand auf, ohne sie loszulassen.

Marie lächelte selig. „Geh nicht wieder weg, Papa!“, bat sie.

„Mach dir keine Sorgen, mein Schatz. Es wird alles gut. Ich verspreche es dir.“

Er trug Marie nach oben, ließ sie sanft ins Bett gleiten und deckte sie zu.

„Tut dir irgendwo was weh? Hast du jetzt Bauchweh?“

„Nein, aber heute Morgen.“

„Wenn es wiederkommt, werden wir dich ganz genau untersuchen. Ich hatte als kleiner Junge auch oft Bauchschmerzen. Meistens hatte ich dann zu viel Kirschen gegessen.“

Darüber musste Marie lachen. Roman zog sie gerührt an sich. Seine kleine Tochter hatte viel schneller zu ihm zurückgefunden als ihre Mutter.

Er blieb bei Marie, bis sie wieder eingeschlafen war. Dann drückte er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Stirn und fand, dass sie sich nicht heiß anfühlte.

Als er Vanessa im großen Wohnraum mit dem riesigen Fenster wieder gegenübertrat, fühlte er sich ein wenig milder gestimmt.

„Marie schläft“, sagte er und ging schon zur Tür. „Ich fahre jetzt nach München zurück. Wiedersehen, Vanessa.“

Seine Frau saß nun in einem der Polstersessel, schaute aber demonstrativ an ihm vorbei und schwieg.

Roman zog leicht die Schultern hoch. „Ob und wie es mit uns weitergeht, steht noch in den Sternen. Und ich wage keine Voraussage. Aber ich werde alles tun, um unsere Ehe zu retten. Weil du mir wichtig bist. Immer noch. Sollte es mir nicht gelingen, dein Vertrauen wiederzugewinnen, müssen wir uns als Paar trennen. Aber auf mein Kind werde ich niemals verzichten. Das darfst du nicht von mir verlangen. Es wäre unmenschlich.“

Er wartete, ob seine Worte ihr eine Reaktion entlockten, doch Vanessa sagte immer noch nichts, als hätte sie ganz plötzlich die Sprache verloren.

Nach weiteren quälenden Sekunden wandte sie leicht den Kopf in seine Richtung. Einen Blick in seine Augen vermied sie.

„Marie ist nicht deine Tochter“, sagte sie in das hohle Schweigen hinein.

***

Beatrix Lassow öffnete die Tür und staunte über Danielas plötzliches Auftauchen. „Nett, dass du mal wieder vorbeikommt, um deiner alten Tante Gesellschaft zu leisten.“

„Du und alt?“ Dani kicherte. „Das glaubst du ja selbst nicht.“

„Komm rein, mein Kind!“ Beatrix Lassow zog ihre Nichte an sich.

„Ich war bei einer Freundin, die wohnt nicht weit weg von hier. Und da dachte ich …“

„Wir sind ganz allein. Die Kinder sind ausgeflogen, ich weiß noch nicht einmal, wann sie zurückkommen. Und dein Onkel sitzt immer in seiner Kanzlei, obwohl es schon so spät ist. Ich fühle mich arg vernachlässigt. Kann ich dir was anbieten? Kaffee, Tee oder Saft. Möchtest du was essen?“

„Ein Glas Saft wäre schön“, erwiderte Daniela Holl. „Hunger habe ich keinen.“

Sie ließ sich auf das breite Ledersofa fallen. Bei der Schwester ihres Vaters fühlte sie sich immer wie zu Hause. Hier war ihre erweiterte Familie. Die Holl-Geschwister waren mit den beiden Lassow-Kindern aufgewachsen. Viele Male hatte man auch zusammen Urlaub gemacht.

Beatrix Lassow war eine reife Schönheit. Gelegentlich kokettierte sie mit ihrem Alter und freute sich, wenn sie jünger geschätzt wurde, als sie wirklich war. Ihr Geburtsdatum hielt sie nach Möglichkeit geheim. Nur die engsten Angehörigen kannten es.

Tante und Nichte schwatzten unbekümmert. Nach einer Weile erkundigte sich Daniela mit dem Gesicht eines Unschuldsengels nach Roman in der Nachbarwohnung.

„Wir bekommen ihn nicht oft zu sehen“, erklärte Beatrix bereitwillig. „Er arbeitet viel. Und wenn er heimkommt, verschwindet er sofort in seinen vier Wänden. Dabei haben wir ihm Familienanschluss angeboten, so viel er möchte. Er ist ein sympathischer Mann und wahnsinnig attraktiv obendrein. Er hätte bestimmt keine Probleme, jederzeit eine Affäre zu beginnen.“

„Warum sagst du das?“ Dani versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie sich ertappt fühlte.

„Weil ich mir vorstellen kann, dass einige junge Damen in seiner Umgebung hinter ihm her sind.“ Beatrix hielt nichts davon, um den heißen Brei herumzureden.

„Ist er jetzt zu Hause?“, fragte Dani und trank einen großen Schluck Saft.

Beatrix sagte erst einmal nichts, sondern betrachtete Stefans Tochter.

„Daher weht also der Wind.“

„Was du denkst, ist völlig falsch“, erwiderte Dani, konnte aber nicht verhindern, dass sie errötete. „Ich könnte ja mal nachschauen. Vielleicht hat er Lust, ein Glas mit uns zu trinken.“

„Sag mal, Dani, bist du verliebt? Mir kannst du es ruhig sagen. Ich werde schweigen wie ein Grab.“

„Also wirklich, Tante …“ Dani schüttelte übertrieben streng den Kopf. Tante Beatrix schien tatsächlich eine gute Antenne für solche Gefühle zu haben.

„Schon gut, schon gut, reg dich nicht auf. Verliebt sein ist ein tolles Gefühl. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, auch wenn es mir schon ewig nicht mehr passiert ist. Zum Glück währt Verliebtheit nicht ewig, Sondern macht einem anderen Gefühl Platz, das auch sehr schön ist.“ Sie nippte an ihrem Glas. „Trotzdem, sei vorsichtig, mein Kind! Roman ist viel älter als du, außerdem verheiratet und Vater einer Tochter.“

„Nun ja, sechzehn Jahre!“, gab Dani zurück. „So viel ist das auch wieder nicht. Man liest und hört doch von Ehen mit einem Altersunterschied von vierzig Jahren und mehr!“

„Gut, aber das sind doch eher Ausnahmen“, pflichtete Beatrix ihrer Nicht bei. „Ich persönlich halte es für besser, wenn man altersmäßig zueinander passt. Nach meinem Dafürhalten sind das plus minus fünf Jahre. Aber gut, ich sehe, dass ich dich jetzt von deinem Vorhaben nicht abbringen kann. Wenn du also wissen willst, ob er da ist, dann klopf doch einfach an seine Tür.“

Dani Holl beherzigte diesen Rat. Zehn Minuten später fuhr sie enttäuscht nach Hause. Niemand hatte ihr geöffnet.

***

„Wie bitte?“ Roman glaubte sich verhört zu haben. Mit einer fahrigen Bewegung fuhr er sich über das dichte Haar, das mal wieder einen Schnitt brauchte.

„Marie ist nicht deine Tochter“, wiederholte Vanessa gleichmütig.

„Nicht meine Tochter?“ Der Arzt schnappte nach Luft und begann eine nervöse Wanderung durch den Raum.

„Das glaube ich dir nicht! Ganz unmöglich! Du willst mir nur wehtun.“

„Es ist, wie ich es sage. Und ich muss es ja wissen.“

Entweder ist sie wirklich so kalt, oder sie steht unter Drogeneinfluss, dachte Roman in einem Anflug von Verzweiflung. „Immer schon ist dir und allen Leuten die Ähnlichkeit zwischen Marie und mir aufgefallen.“

„Zufall“, tat Vanessa sein Argument ab. „Außerdem sehen die Leute, was sie sehen wollen.“

„Ich habe jetzt keine Lust, mir noch weiter solchen Unfug anzuhören“, sagte Roman mit mühsam erzwungener Ruhe.

„Zum fraglichen Zeitpunkt habe ich auch mit einem anderen geschlafen.“

„Aber da waren wir schon länger verheiratet.“

„Es war ein Jugendfreund von mir. Gabriel Weimar. Du kennst ihn. Er ist vor vier Jahren tödlich verunglückt.“

Jetzt war es mit Romans Fassung vorbei. Seine Frau gestand ihm einen Seitensprung mit Folgen, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt.

„Darum hast du kein Recht auf Marie“, fuhr Vanessa fort.

Nach ein paar tiefen Atemzügen klärte sich in seinem Kopf der Gedankennebel.

„Wie gesagt, ich glaube nicht, dass du die Wahrheit sagst. Sollte es wider Erwarten doch so sein, lässt sich das leicht mit einem Gentest klären. Außerdem …“

Er machte eine kurze Pause, um dann wieder neu anzusetzen. „Außerdem bin ich der rechtliche Vater, ganz unabhängig davon, ob Marie von mir ist oder nicht. Sie ist während unserer Ehe geboren, ich habe alle Rechte, vor allem das Sorgerecht. Erkundige dich bei einem Anwalt. Er wird es dir bestätigen.“

„Ich möchte, dass du jetzt gehst“, sagte sie, nun ziemlich erregt. Einen Gentest würde sie nicht zulassen … aber vielleicht würde der ja wirklich die Lage klären. Sie musste den Meister fragen, was sie nun tun sollte.

Romans Hand lag schon auf der Klinke, doch er schaute sich noch einmal um.

„Du kommst mir vor wie ein fremdgesteuerter Zombie. Irgendwer oder irgendwas hat dir eine Gehirnwäsche verpasst. Du hast nichts mehr mit der Frau zu tun, die ich liebe. Wir waren doch einmal glücklich miteinander. Konntest du diese Zeit in deiner Erinnerung einfach löschen?“

„Du wirst von meiner Anwältin hören“, erwiderte Vanessa, ohne auf seine Fragen einzugehen.

„Und du von meinem Anwalt“, gab Roman verbittert zurück.

Als er in seinem Zuhause ankam, fand er einen Zettel in seinem Briefkasten vor. Ich wollte mit dir eine Pizza essen. Warst leider nicht da. Vielleicht ein andermal? Liebe Grüße, Dani.

***

„Du hast richtig gehandelt“, sagte Meister Sumantra zu seiner Schülerin. „Bleib weiterhin so fest! Dieser Mann hat kein Anrecht auf dein Kind.“

Vanessa presste den Hörer ans Ohr. Sie freute sich über das Lob. Sie konnte geradezu sehen, wie der Meister sanft lächelte. Er war ein so gütiger Mensch. Aber da war noch mehr, was ihr große Sorgen machte.

„Maries Fieber ist noch gestiegen. Was soll ich tun?“

„Hab Geduld. Die Heilung dauert ein wenig. Das heißt aber nur, dass sie besonders gut wird. Gib ihr weiterhin die grünen Kügelchen und jeden Tag ein Zäpfchen. Dann wird sie bald gesund sein. Und vergiss nicht, was ich dir über die Schulmedizin gesagt habe. Sie zerstört die Menschen mit ihrer unseligen Apparatemedizin und bringt sie mit falschen Therapien früh ins Grab. Halte dich fern von deinem Mann! Er gehört zu diesen Leuten. Darum ist er für Marie ein Feind.“

Ein ganz kleiner Widerstand regte sich nun doch in ihr. „Marie hat heute mehrmals erbrochen. Ich kann mein Kind nicht so leiden sehen …“

„Also gut, wenn es dich beruhigt, dann lass den Kinderarzt kommen und hole seinen Rat ein. Aber die Medikamente, die er verordnet, wirst du mir vorlegen, damit ich sie begutachten kann. Ich habe den Eindruck, dass deine kosmische Energie zurzeit nicht gut fließen kann. Das müssen wir wieder ändern, Vanessa!“

Ein kleiner, aber deutlicher Tadel. Vanessa musste schlucken. „Ich werde mich bemühen“, versprach sie. „Und heute doppelt so lange meditieren wie sonst.“

Vanessa beendete das Gespräch. Sie war immer noch ganz durcheinander von Romans Vorwürfen.

Zum Glück konnte sie stets mit dem großen Meister sprechen, wenn ihre Gemütslage sich verschlechterte. Bei ihm, einem ausgebildeten Therapeuten, fühlte sie sich angstfrei und verstanden. Er wies ihr den Weg, beantwortete alle Fragen dieser Welt, war einfühlsam und allwissend. Mit großer Hochachtung schaute sie zu ihm auf. Er hatte sie aus dem Tal der Tränen wieder in ein friedvolles Leben zurückgeführt.

Als sie ihn vor mehr als einem halben Jahr im Meditationszentrum kennengelernt hatte, hatte sie zunächst gedacht, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Professor Sumantra, wie er sich zunächst vorstellte, wirkte ausgesprochen bieder in seinem Bermudashorts und dem karierten Baumwollhemd.

Aber schon bald erkannte sie die fast göttlichen Qualitäten dieses Mannes. Nach einigen gemeinsamen Meditationen, auch mit anderen Schülern, war ihr klar, dass sie nur dank seines Beistands aus ihrer tiefen Depression wieder herausfinden konnte. Eine Depression, in die sie nach Romans Abreise gestürzt war und aus der es keinen Ausweg gab – bis sie durch eine Zeitungsanzeige auf Meister Sumantra aufmerksam wurde.

Inzwischen hatte Vanessas ihr seelisches Gleichgewicht wiedergefunden. Sie pflegte Kontakt zu den anderen Mitgliedern des Erleuchtungszentrums, und wenn sie ganz dringend seinen Beistand brauchte, rief sie ihn an und hinterließ auf seiner Mailbox ein Codewort. So bald es ihm möglich war, rief er zurück.

Wenn Roman, den sie inzwischen als einen typischen Karrieristen betrachtete, nur einen Bruchteil vom Einfühlungsvermögen des Meisters an den Tag gelegt hätte, wäre sie nicht so abgrundtief verlassen und verloren gewesen. Roman hatte seinen Beruf über alles gestellt und so ihre Beziehung unrettbar zerstört.

Beim nächsten Treffen im Zentrum würde sie dem Meister in einer feierlichen Sitzung den Hausschlüssel übergeben. Denn er wollte seine besten Schüler, zu denen auch sie gehörte, jederzeit spontan besuchen können. Ja, Meister Sumantra war für Vanessa wie der Vater, den sie nie gehabt hatte.

Nun brauchte sie Roman nicht mehr. Sie kam auch ohne ihn sehr gut zurecht.

***

Roman verstand nicht, wieso er sich nach Stunden im OP so vollkommen erledigt fühlte. Er musste wohl auch noch die seelische Belastung berücksichtigen, die seit der unangenehmen Auseinandersetzung mit Vanessa wie ein Bleibündel an seinen Schultern hing. Er wusste, dass sie unrecht hatte und den Sorgerechtsentzug bei Gericht nicht durchsetzen konnte. Und doch hatte er Angst. Wie kam sie nur auf all diese Ideen? Hatte er sich je als schlechter Vater erwiesen? Sie wusste doch, dass er sein Kind von ganzem Herzen liebte.

Während er noch überlegte, ob er den Abend zu Hause mit unerfreulichen Grübeleien verbringen oder lieber ausgehen sollte, kam ein Anruf von Dani Holl. Ohne Umschweife erkundigte sie sich, ob er heute Lust hätte, mit ihr eine Pizza bei Francesco zu essen. Erleichtert sagte er zu. Ein oder zwei Stunden mit dieser jungen, unkomplizierten Frau ließen den bevorstehenden Dienstschluss in einem ganz anderen Licht erscheinen.

Zwei Stunden später begrüßten sie sich beim Italiener wie zwei gute Freunde, Küsschen rechts und Küsschen links.

„Schön, dass du Zeit hattest“, sagte Dani. „Ich freu mich.“

„Ich freu mich auch“, sagte Roman, nahm ihr den Mantel ab, hängte ihn auf und seine Lederjacke daneben.

Der Winter hatte neulich nur einen Späher vorbeigeschickt. Inzwischen war es wieder milder geworden. Eigentlich sollte man die Probleme aus dem Kopf verbannen und die letzten schönen Tage genießen, bevor es damit endgültig vorbei war. Leider gelang ihm das nicht.

„Das ist ja wirklich nett von dir, dass du deine Freizeit oder wenigstens einen Teil davon mit mir verbringen willst.“ Er schaute diskret in die Runde. Die hübsche Holl-Tochter sorgte in dem kleinen Lokal für Aufmerksamkeit.

Sie bestellten Pizza mit Tomaten- und Mozzarellabelag, Salat, Wasser und eine kleine Karaffe Wein. Die Pizzen waren groß und dufteten verlockend.

Roman säbelte sich ein großes Stück ab. Er war hungrig wie ein Löwe. Nach einer Weile legte er eine Pause ein und trank einen Schluck Wein.

„Entschuldige, dass ich so über meinen Teller herfalle, aber ich bin seit dem Morgen nüchtern und hab den ganzen Tag einfach keine Minute Zeit gefunden für einen Imbiss. Als ich in die Klinik kam, ging’s gleich los mit der Arbeit.“

„Na, das finde ich aber nicht gut, dass die Ärzte in der Klinik meines Vaters keine Zeit zum Essen haben. Das werde ich bei Gelegenheit mal kritisieren.“ Dani grinste vergnügt. „Andererseits bist du doch schon ein großer Junge und wirst dir eine Pause nehmen, wenn du sie brauchst.“

„Ja, natürlich“, erwiderte er und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. „Jetzt bin ich jedenfalls froh, mit einer so reizenden jungen Dame meinen Abend zu verbringen.“

„Danke für das Kompliment.“ Dani neigte den Kopf zur Seite. „Du bist auch ein ansehnlicher Typ.“

„Wirklich? Freut mich, dass du mich so siehst. Ich wünschte, auch meine Frau würde mich in diesem Licht sehen.“

„Lebt ihr getrennt?“, erkundigte sich Dani mit kaum verhohlenem Interesse.

„Nun, ich war über ein Jahr in Amerika. Da war die Trennung schon mal unvermeidlich. Eigentlich wollte sie mit unserer Tochter nachkommen, aber dann zog sie es vor, in Deutschland zu bleiben. Wir halten das aus, dachte ich. Das war eine Fehleinschätzung, denn jetzt stehen wir vor den Scherben unserer Ehe.“

„Wollt ihr euch scheiden lassen?“

„Ich will es nicht“, sagte Roman traurig, wobei er das erste Wort deutlich betonte. „Aber ich fürchte, dass es über kurz oder lang dazu kommen wird.“

„Erzähl mir noch mehr!“ Dani schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Ich kann gut zuhören.“

Eigentlich wollte er die schöne Holl-Tochter nicht mit seinen Beziehungsproblemen behelligen. Andererseits bot sich ihm endlich einmal die Gelegenheit, sich seinen Kummer von der Seele zur reden – und er ergriff sie.

Dani war wirklich eine aufmerksame Zuhörerin. Manchmal stellte sie eine kurze Frage, die er umso ausführlicher beantwortete. Vanessas ungeheuerliche Behauptung, er sei gar nicht Maries Vater, behielt er jedoch für sich.

Als er alles ausgesprochen hatte, was ihn bedrückte, nahm er einen kräftigen Schluck Wein. „Jetzt geht es mir tatsächlich etwas besser“, stellte er fest.

„Liebst du sie noch?“, fragte sie zögernd – und hing an seinen Lippen.

Darüber musste Roman erst einmal eine Weile nachdenken.

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Im Augenblick kann ich keinen klaren Gedanken fassen. Vanessa hat überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit der Frau, die ich geliebt habe. Sie ist mir fremd geworden. Und ich ihr wahrscheinlich auch.“

„Vielleicht eine Persönlichkeitsveränderung“, meinte Dani. „Oder sonst eine seelische Störung. Könnte es sein, dass sie Drogen nimmt?“

„Ich weiß es nicht“, musste er eingestehen. „Ich weiß überhaupt nichts mehr von ihr. Ich könnte nur Mutmaßungen anstellen, was aber auch nichts bringt. Wie ferngesteuert kommt sie mir vor.“

„Da eure Probleme nicht an einem Tag entstanden sind, wirst du für die Lösung auch länger brauchen. Denk mal für eine Weile nicht daran und sorge für Zerstreuung.“

„Das ist leicht gesagt“, gab er zurück. „Aber schwer getan.“

„Gehen wir noch woanders hin?“

„Nein. Tut mir leid, Dani, aber ich war noch nie ein Nachtschwärmer. Und morgen muss ich ganz früh raus.“

„Du bist ein Spielverderber!“, murrte Dani bedauernd. Ihr Gefühl für diesen attraktiven Arzt war schon mehr als nur Interesse.

Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. „Sei nicht böse, bitte. Ich bin sicher nicht der richtige Begleiter für eine junge Frau wie dich. Es hat mir gutgetan, mich mit dir zu unterhalten, aber dabei wollen wir es auch belassen. Erstens ist der Altersunterschied zwischen uns zu groß, und zweitens geht es niemals gut, wenn man aus einer Enttäuschung heraus gleich eine neue Beziehung beginnt.“

„Jetzt behandelst du mich wie ein Kind. Aber ich bin längst volljährig und für mich selbst verantwortlich.“

„Das bestreite ich ja auch gar nicht“, sagte Roman geduldig. „Trotzdem bleibt es bei meiner Entscheidung, dass ich nichts tun werde, was dich unglücklich machen könnte. Noch bin ich ein verheirateter Mann, der sich nicht mit der Tochter seines Chefarztes auf eine Affäre einlassen wird.“

„Das war deutlich!“ Dani seufzte. „Und ein bisschen behandelst du mich ja doch noch wie ein Kind.“

„Gestern warst du auch noch eins. Heute bist du eine junge Erwachsene. Mit zwanzig steht dir die Welt offen. Du wirst noch so viel erleben und erfahren …“

„Schon gut, ich habe verstanden“, schnitt sie ihm das Wort ab.

Für ein paar Sekunden sah es so aus, als wäre sie ihm wirklich böse, doch dann nickte sie einsichtig. „Okay, ich werde nicht mehr darauf zurückkommen. Trotzdem möchte ich mich wieder mit dir treffen.“

„Das lässt sich sicher machen, Dani. Soll ich dich jetzt nach Hause bringen? Oder willst du dir die Nacht noch um die Ohren schlagen?“

„Bring mich heim“, erwiderte sie unverkennbar spöttisch. „Dort kann mir dann nichts mehr passieren.“

***

Dr. Walter Haller, der Kinderarzt, der Marie seit seiner Kindheit betreute, machte eine besorgte Miene. Das Mädchen hielt den Stoffhund fest an sich gepresst, als er über den Bauch tastete. Marie quietschte leise auf. „Tut das weh?“, fragte er.

„Ein bisschen“, flüsterte Marie und warf einen fragenden Blick auf ihre Mutter.

Vanessa hatte ihm von den Bauchschmerzen berichtet, die ihrer Meinung nach nur eine Magen-Darm-Störung sein konnte. Aber da das Fieber trotz der vom großen Meister empfohlenen Mittel nicht sinken wollte, bat sie nun den alten Arzt um Rat. Es musste etwas geschehen.

„Wie lange hat sie das schon?“, fragte Dr. Haller.

„Erst ein paar Tage.“

Vanessa versuchte, Maries Leiden herunterzuspielen. In Wirklichkeit klagte Marie schon länger über diffuse Schmerzen im Bauch. Vanessa erinnerte sich, dass sie als Kind auch viel Bauchweh gehabt hatte. Später waren diese Symptome von allein wieder verschwunden. Bei Marie würde es ebenso sein.

Dr. Haller ließ sich Maries Zunge zeigen, inspizierte den Rachen, an dem er aber nichts Auffälliges feststellen konnte. Dann horchte er die Lungen ab. Schließlich erklärte er dem Kind, dass er jetzt noch ein wenig Blut abnehmen müsse, um es zu untersuchen.

Vanessa lenkte ihre Tochter ab, während der Arzt die Nadel in der Armbeuge einstach. Marie entfuhr nur ein kleiner Schreckenslaut, dann war schon wieder alles vorbei.

„Du bist ein sehr tapferes Mädchen“, stellte Dr. Haller fest. „Hier ist ein Trostpflästerchen.“

Mit einem freudigen Lächeln nahm das Kind das eingewickelte Bonbon entgegen. „Danke!“

„Spiel noch ein wenig, ich komme gleich wieder“, schlug Vanessa vor.

Mit Dr. Haller verließ sie Maries Zimmer. Unten im Wohnzimmer setzte er seine Tasche ab.

„Kann es der Blinddarm sein?“, fragte die Mutter besorgt.

„Daran habe ich auch gedacht, aber ich konnte auch eine Verdickung auf der anderen Seite tasten. Das müssen wir abklären, Frau Mehring. Wenn die Blutuntersuchung eine Erhöhung der weißen Blutkörperchen anzeigt, ist ein Entzündungsprozess im Gang, der auf eine Appendizitis hinweist. Aber der Knoten ist damit nicht erklärt. Wir könnten morgen noch einen Ultraschall in meiner Praxis machen, aber ich rate Ihnen, Marie so bald wie möglich im Krankenhaus untersuchen zu lassen. Dort stehen alle apparativen Möglichkeiten zur Verfügung. Gegebenenfalls müsste sogar eine Bauchspiegelung gemacht werden.“

„Um Himmels willen! Das wäre ja schrecklich.“

Dr. Haller schaute die Frau verwundert an. „Viel schrecklicher wäre es, das zu unterlassen, wenn sich die Hinweise auf etwas Ernsthaftes erhärten.“ Er zog sein Handy aus der Tasche. „Ich kann sofort eine Einweisung vornehmen …“

Vanessa legte ihm eine Hand auf den Arm. „Nein, lassen Sie nur, Doktor Haller. Darum kümmere ich mich selbst.“

„Gut. Die Kollegen werden mir ja dann ihren Bericht schicken. Und bitte, handeln Sie bald!“

Vanessa brachte den Arzt zur Tür. Dann ging sie wieder hinauf zu Marie.

Das Mädchen lag angezogen auf dem Bett und schlief. Der Besuch des Doktors musste sie doch ziemlich angestrengt haben. Liebevoll betrachtete Vanessa ihre Tochter. Marie atmete ruhig, die Lippen waren halb geöffnet. Sie schien keine Schmerzen zu haben, also ließ Vanessa sie schlafen.

Wenig später rief sie den Meister an, sagte das Codewort und wartetet dann auf seinen Rückruf, der aber erst eine Stunde später kam. Sie berichtete nervös, was der Kinderarzt gesagt hatte, und hörte schon an Meister Sumantras Tonfall, dass ihm die Sache ganz und gar nicht gefiel.

„Unternimm noch nichts! Ich werde mir Marie anschauen. Dann haben wir Gewissheit.“

„Wann kommst du?“

„Noch heute Abend“, versprach er.

Vanessa fühlte sich einigermaßen beruhigt. Der Meister war nicht nur ein lebenserfahrener Mann, sondern hatte auch etliche Jahre Berufserfahrung als Arzt in Afrika. Zwar wusste sie nicht genau, welches sein Fachgebiet war, aber sie vertraute ihm.

Vertraust du ihm mehr als Roman?

Was soll diese Frage? Roman hat uns im Stich gelassen! Wenn Marie während seiner Abwesenheit todkrank gewesen wäre, hätte er von Amerika aus auch nicht helfen können.

Aber Roman ist ein guter Arzt.

Ja, vielleicht für andere, nicht für seine einzige Tochter.

Meister Sumantra weiß sehr gut, was für Marie gut ist. Er doktert nicht an den Symptomen herum, sondern behandelt den Menschen als Ganzheit. Allein darauf kommt es an.

Da waren sie wieder, die beiden Stimmen in ihrem Kopf, die manchmal ohne Vorwarnung zu streiten begannen. Vanessa bekam vor lauter Aufregung einen Schluckauf, der sich erst nach einer langen Weile wieder beruhigte.

Sie war auf dem richtigen Weg, ganz, ganz sicher.

Noch bevor der Meister eintraf, bekam sie noch einen Anruf von Lukas Felder, der ebenfalls zum erkorenen Kreis der besten Schüler gehörte. Er erkundigte sich nach ihrem Befinden.

„Mir geht es gut. Und dir?“

Erst nach einem kurzen Zögern kam die Antwort. „Auch gut“, erwiderte er. „Aber zur nächsten Gruppensitzung kann ich nicht kommen. Ich muss für eine Weile weg.“

„Wo willst du denn hin?“

„Es ist was Privates“, wich er aus. „Bitte sag dem Meister, dass ich mich nach meiner Rückkehr wieder bei ihm melde.“

„Warum sagst du ihm das nicht selbst?“, fragte Vanessa verwundert.

„Ich habe meine Gründe. Dir alles Gute, Vanessa. Du bist ein lieber Mensch.“

Das Gespräch brach ab. Sie war ganz verwirrt, konnte sich aber keinen Reim auf Lukas’ Worte machen. Wenn der Meister kam, würde sie ihm gleich von dem merkwürdigen Telefonat erzählen. Vielleicht hatte er ja eine Erklärung dafür.

***

„Danke, dass du Zeit für mich hast“, sagte Roman zu Axel Lassow, Dr. Holls Schwager.

„Aber ich bitte dich, das ist doch selbstverständlich. Gönnen wir uns ein Glas Wein zum Feierabend?“

„Da sage ich nicht Nein.“ Roman nickte zustimmend und schaute zu, wie der beste Freund seines verstorbenen Bruders eine Flasche Rotwein öffnete und den ersten Schluck verkostete, bevor er die Gläser füllte.

„Kein schlechter Tropfen“, befand Axel. Die beiden Männer prosteten sich zu.

„Schmeckt ganz wunderbar.“ Roman nahm gleich noch einen Schluck.

„Dann erzähl mir mal, um was es geht. Wir haben alle Zeit der Welt. Jedenfalls so lange, bis Beatrix von ihrem Klassentreffen wieder zurückkommt.“

Sie saßen im geräumigen Wohnraum des Einfamilienhauses. Roman musste unbedingt mehr über seine rechtlichen Möglichkeiten wissen.

„Meine Frau hat angekündigt, dass sie meine Vaterschaft anfechten will. Kann sie das? Angeblich ist Marie nicht mein Kind. Sie will mich ausgrenzen.“

„Wenn sie gute Gründe vorbringt, kann sie das. Aber nicht nur sie, auch der Kindsvater und das Kind können, wenn sie Zweifel haben, eine gerichtliche Anfechtung verlangen. Bis das geklärt ist, bist du und nur du der Vater.“

„Ich weiß genau, dass sie mich nur verletzen will. Sie möchte das Sorgerecht allein ausüben. Ich soll, was Marie betrifft, nichts mehr zu sagen haben. Es ist eine Art Rache für meine lange Abwesenheit.“

„Der Vaterschaftstest wird vom Gericht angeordnet. Wenn du sofort Bescheid wissen willst, kannst du selbst einen machen lassen. Diesen Test kann man aber vor Gericht nicht verwenden. Er dient nur zu deiner Information.“

„Vanessa behauptet, Marie sei die Folge eines Seitensprungs.“

„Ich verstehe sehr gut, wie dir zumute ist. Andererseits, was ändert sich nach einem Test an deinen Gefühlen für Marie? Du liebst sie. Warum führt deine Frau dieses Theater überhaupt auf?“

„Wir haben uns entfremdet. Heute denke ich oft, ich hätte nicht für so lange Zeit weggehen sollen, aber das kann ich natürlich nicht mehr rückgängig machen.“

„Es ist immer scheußlich, wenn sich zwei Erwachsene um ein Kind streiten. Und solche Streitigkeiten haben üble Auswirkungen auf die betroffenen Kinder, die ja noch gar nicht verstehen können, was sich da abspielt. Vielleicht erinnerst du Vanessa daran, an das Wohl des Kindes zu denken. Nur das sollte im Vordergrund stehen.“

Für eine Weile versank Roman in dumpfes Brüten. Gelegentlich nippte er an seinem Glas. Was würde er nicht alles für eine Annäherung tun – trotz der vielen hässlichen Auseinandersetzungen in der letzten Zeit!

Aber zu einem solchen Kraftakt gehörten zwei, und es sah nicht so aus, als könnte oder wollte Vanessa über ihren Schatten springen. Er wäre sogar zu einem Neuanfang bereit, auch wenn er viel Zeit kostete. Mit seiner Familie wieder glücklich vereint zu sein, war sein größter Wunsch, doch er wusste auch, dass sich dieser Wunsch wohl nicht erfüllen würde. „Und kann sie mir sonst auf irgendeine Weise das Sorgerecht entziehen?“

„Nein, das kann sie nicht. Dazu müsste sie sehr gewichtige Gründe haben, zum Beispiel, dass du dem Kind schadest. Vielleicht hast du recht, und sie will dir etwas heimzahlen.“

„Dann darf sie mir also auch nicht den Besuch verbieten?“

„Fahr zu deiner Tochter, wann immer dir danach ist“, schlug Axel vor. „Vielleicht wird deine Frau ja anderen Sinnes, wenn sie sieht, wie gut sich Vater und Tochter verstehen.“

„Danke, Axel. Ich werde mir deinen Rat zu Herzen nehmen.“ Morgen hatte er einen freien Tag. Gleich morgens würde er nach Rosenheim fahren.

***

Marie hatte eine gute Nacht verbracht. Am Frühstückstisch war sie munter und so ausgelassen, dass Vanessa sie immer wieder ermahnen musste, nicht so sehr zu zappeln. „Du wirst noch deine Milch umstoßen!“, ermahnte sie das Kind.

Sie saßen am kleinen Tisch in der Küche, an dem zwei Personen genug Platz hatten. Marie stocherte in ihren Cornflakes herum. Dann schaute sie aus dem Fenster. Und das, was sie draußen sah, brachte sie zu einem Entzückensschrei. Der Löffel fiel in ihren Teller, der Inhalt spritzte über den Rand, und Vanessa konnte gerade noch den Trinkbecher vor dem Umfallen retten.

„Ein Hündchen! Sieh doch, Mama, da!“

Und ehe Vanessa eingreifen konnte, sprang Marie schon auf, lief zur Haustür und hinaus zu dem Hund, der am Grundstückszaun angebunden war.

„Marie, fass das Tier nicht an! Vielleicht ist es krank“, rief Vanessa ihrer Tochter hinterher, doch es war zwecklos. Das Kind kniete bei dem Tier nieder, umarmte es. Der Hund winselte erfreut und wedelte anfangs verhalten, dann begeistert mit dem Schwanz. Leider konnte er den Menschen nichts von seiner vorausgegangen Odyssee erzählen.

Marie löste die Leine in Windeseile. „Ihm ist so kalt. Und hungrig ist er auch. Wir nehmen ihn mit rein. Dort hat er es warm.“

„Er wird jemandem gehören“, wandte Vanessa ein, aber auch ihr war klar, dass sie das Tier nicht draußen in der Kälte angebunden lassen konnte. Der Himmel bildete eine einzige schwarze Wolkendecke. Bald würde es regnen, vielleicht würde sogar der erste Schnee fallen.

„Warum bindet sein Herrchen ihn dann an unseren Zaun?“

Das Tier stellte sich auf die Hinterbeine vor Freude. Vanessa hatte große Mühe, es abzuwehren.

„Schau, Marie, hier in der Kapsel steckt die Adresse seines Besitzers. Wir rufen ihn an und sagen ihm, wo er seinen Hund abholen kann. Aber jetzt erst einmal rein mit euch und Tür zu, sonst wird das ganze Haus noch kalt.“

Der kleine struppige Geselle freute sich sichtlich über die freundliche Aufnahme. Und Marie konnte ihr Glück kaum fassen. Sie wünschte sich so sehnlichst einen Hund, aber Mama wollte kein Tier erlauben.

Während Kind und Hund schon Freundschaft schlossen, holte Vanessa das zusammengerollte Papier aus der Kapsel. Es enthielt jedoch nicht wie vermutete eine Anschrift und eine Telefonnummer, sondern nur den lapidaren Satz: Ich suche ein neues Zuhause .

Du liebe Güte!, dachte Vanessa. Als wenn wir nicht schon genug Probleme hätten, und jetzt auch noch dieses Vieh! Der Hund wird Flöhe und Würmer haben. Er ist eine zusätzliche Bedrohung für Maries Gesundheit.

„Mama, er hat Hunger!“, drängte das Kind.

„Also gut“, entschied die Mutter sichtlich ungehalten. „Er bekommt zu essen und zu trinken. Dann rufe ich im Tierheim an.“

Marie war so glücklich, dass sie die letzten Worte nicht hörte. Natürlich gab es kein Hundefutter in diesem Haus. Also bekam der Vierbeiner zwei Würstchen und eine Schale Wasser. Er hatte wirklich Hunger, denn im Nu war alles verputzt. Sich noch die Lippen leckend, schaute der Hund zu Vanessa auf – in seinen Augen die vorsichtige Frage, ob da vielleicht noch mehr käme …

Marie geriet völlig aus dem Häuschen. Der unverhoffte Gast mit seinem hellen, fast goldfarbenen Fell war für sie genau der Spielkamerad, den sie sich so sehr ersehnte.