Die Bestie aus den Hügeln - Miriam Rademacher - E-Book
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Die Bestie aus den Hügeln E-Book

Miriam Rademacher

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Beschreibung

Die Heirat zwischen der rebellischen Theda und dem Zigeunerjungen Milan liegt schon einige Jahre zurück. Ihre Kinder sind inzwischen so alt wie sie, als sie sich kennen gelernt haben und könnten unterschiedlicher nicht sein. Als eines ihrer Kinder eine schreckliche Entdeckung macht, wird das Dorf in Aufruhe versetzt.

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Die Bestie aus den Hügeln
eine Novelle
Edition Alea Deseo

Auflage 1 │ Mai 2016

© 2016 Alea Libris Verlag, 72149 Neustetten

Titelbildgestaltung: Marion Reinhardt

Satz: Michaela Harich

Lektorat: Tatjana Nikisch

ISBN 978-3-945814-06-2

Kapitel 1

"Liesbeth! Liesbeth!"

Es war nicht so, als ob Liesbeth die Rufe der Mutter nicht hören konnte. Nichts war lauter an diesem wunderschönen Tag im Spätherbst. Liesbeth saß, die Beine lang ausgestreckt, unter einer Eiche. Den Rücken an den Stamm gelehnt, beobachtete sie, wie die Blätter lautlos ins warme Gras fielen. Vögel zwitscherten, irgendwo muhte eine Kuh. Ja ohne die Stimme der Mutter hätte dieser Augenblick perfekt sein können.

"Liesbeth! Wenn ich dich erwische, hast du ein schmerzhaftes Problem, mein Kind!"

Liesbeth seufzte.  Vorsichtig spähte sie um den Stamm der Eiche herum, in Richtung des elterlichen Hofes. Doch nicht die Gestalt der Mutter, groß und rund, die Hände zu beiden Seiten in die nicht vorhandene Taille gestemmt, war es, die sie aufspringen ließ. Es war der Einspänner des Doktors, der verlassen vor dem Wohnhaus stand.

Eilig rannte Liesbeth den Hügel hinab, übersprang fast elegant einen Weidezaun und kam direkt vor ihrer Mutter zum Stehen. Zur Begrüßung verpasste die ihr eine Ohrfeige.

„Au! Wofür war die denn?“

„Ungehorsam und schlechtes Benehmen. Genau in dieser Reihenfolge.“

„Ich habe nichts Unrechtes getan!“

„Erzähl mir ja nicht, du hättest mich nicht gleich gehört! Und was habe ich dir über das Springen über Zäune gesagt?“

Liesbeth zog die Schultern hoch und presste die Lippen aufeinander. Mit der Mutter zu diskutieren, machte nur selten Sinn.

„Und nun geh in den Keller und bring ein paar Gläser mit eingelegten Kirschen herauf. Marsch, Marsch!“

„Aber das sind unsere letzten Kirschen!“, widersprach Liesbeth.

Der Doktor, in seinem dunkelblauen Gehrock, stand neben der Mutter und drehte verlegen seinen Hut in den Händen. Doch die Mutter fuhr in ihrem herrischen Ton fort.

„Sollen wir den Doktor vielleicht ohne Lohn für seine Arbeit fortschicken?“ Sie wartete keine Antwort ab. „Mach schon, Mädchen! Im nächsten Sommer werden neue Kirschen wachsen.“

Liesbeth protestierte nicht weiter und lief zur Scheune herüber. Unter deren Bodenbrettern verbarg sich ein kleiner Vorratskeller. Dass es Liesbeth war, die die Kirschen holen musste, war nur allzu verständlich. Zu klein war der Raum unter der Erde, als dass die Mutter sich darin noch hätte drehen und wenden können. Liesbeth fragte sich, wie ihre Mutter es schaffte, diese stattliche Figur zu halten. Das Geld reichte hinten und vorne nicht und nun fielen auch die letzten Vorräte der Krankheit des Vaters zum Opfer. Längst konnte Milan den Hof nicht mehr bewirtschaften. Ein Lungenleiden zwang ihn seit Monaten aufs Lager. Davor war es eine verschleppte Erkältung gewesen und davor ein verletztes Bein. Gesund hatte Liesbeth den Vater schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Und auch wenn ihre Mutter und sie selbst ihr Bestes gaben um den Betrieb am Laufen zu halten, es reichte hinten und vorne nicht.

Während Liesbeth die Leiter in den Keller hinabstieg, mit den Händen über die fast leeren Regale strich, gewöhnten sich ihre Augen nur langsam an das Dämmerlicht. Sie musste an ihren nichtsnutzigen Bruder denken. Clemens hätte als zukünftiger Erbe des Hofes wirklich mehr Interesse an der Arbeit zeigen können, doch er glänzte meistens durch Abwesenheit und die Mutter ließ es ihm durchgehen. Immer! Liesbeth selbst, jedoch, fing sich schon eine Ohrfeige ein, wenn sie nur einmal nicht sofort auf Zuruf reagierte. Das Leben war ungerecht.

Endlich ertasteten ihre Finger in der Finsternis die letzten beiden Einmachgläser mit dunklen Kirschen. Als sie vorsichtig den Aufstieg über die Leiter begann, presste sie sie sich vor die Brust. Oben konnte sie schon die Stimme des Doktors hören. Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

„Ich kann Ihnen leider nur wenig Hoffnung machen, Frau Sandrini. Ihr Mann Milan ist schwer krank. Er hat es auf der Lunge und ich weiß mir keinen Rat mehr. Sein Zustand verschlechtert sich.“

„Er verschlechtert sich schon seit Jahren. Immer, wenn man meint, dass es schlechter nicht mehr geht, dann schafft er es, sich noch zu steigern. Mir scheint, ihm gefällt es einfach zu gut in seinem Bett.“

„Sie täuschen sich. Er ist wirklich krank.“

Die Mutter schwieg und Liesbeth spürte, wie sich zu dem aufgeregten Herzschlag nun noch ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend hinzugesellte. War ihr Vater vielleicht sterbenskrank?

„Liesbeth, nun beeil dich gefälligst! Der Herr Doktor hat nicht den ganzen Tag Zeit!“

Nein, die hatte der Doktor natürlich nicht. Er war ein vielbeschäftigter Mann. Ein großartiger noch obendrein, wie Liesbeth fand. Freilich war Liesbeth nur ein kleines Bauernmädchen und er ein gut aussehender, junger Doktor. Liesbeths Herz sollte nicht immer schneller schlagen, sobald sie seine schlanke Gestalt oder nur seinen Pferdewagen irgendwo erspähte. Aber so war es eben. Sie konnte nichts dagegen tun.

Hastig stieg Liesbeth von der Leiter und lief auf die beiden Erwachsenen zu, die mitten auf dem Hof standen und ihr entgegen blickten. Die Mutter voller Strenge und Ungeduld, doch der Doktor mit einer fast spürbaren Wärme in den dunklen Augen. Liesbeth erwiderte seinen Blick und fühlte im gleichen Moment, wie ihr eines der Gläser beim Blick in seine Augen entglitt. Sie griff hastig nach, woraufhin auch das Zweite ins Rutschen kam. Einen Moment lang schien es, als könnte sie beide noch halten, doch dann schlugen sie knallend auf dem gepflasterten Hof auf und verteilten im Zerbersten den roten Kirschsaft, der weit über die Steine spritzte.

„Liesbeth, du Ausbund an Unglück und Ungeschick, du bringst mich noch ins frühe Grab! Die schönen Kirschen!“

Bei dem Anblick der im Dreck liegenden Kirschen schossen Liesbeth selbst die Tränen in die Augen. Da entdeckte sie die roten Spritzer auf ihrem grauen Kleid. Die Tränen waren nicht mehr aufzuhalten und rollten ihr über die Wangen.

„Na, na. So schlimm ist das doch nicht. So ein Missgeschick kann jedem passieren“, rief Doktor Gründig aus und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Ja, aber es passiert nur Liesbeth, immer nur Liesbeth. Dieses Mädchen taugt wirklich zu gar nichts. Ich bin wirklich geschlagen, Herr Doktor. In meinem Bett liegt ein todkranker Mann, der die Mistgabel kaum noch selbst halten kann und meine einzige Tochter ist ein Nichtsnutz!“

„Aber, gute Frau! Vergessen Sie nicht, Sie haben auch noch einen stattlichen Sohn! Ihr Clemens ist doch ein Junge, wie ihn sich jede Mutter wünscht.“

Na vielen Dank, dachte Liesbeth und die Tränen verflüchtigten sich augenblicklich. Dass ihr der Bruder von der Mutter tagein, tagaus als etwas Besonderes vorgehalten wurde, war schon lästig genug. Doch dies auch noch aus dem Munde des Doktors bestätigt zu bekommen, war eine Gemeinheit.

Liesbeth konnte sehen, wie es im Gesicht der Mutter kurz zuckte.

Dann murmelte sie: „Freilich, für meinen Sohn muss ich dem Herrgott dankbar sein. Wenigstens für ihn.“

Dabei interessierte es sie nicht, dass Liesbeth in Hörweite war oder nicht. Leider sprach die Mutter selten gut über sie. Wie Liesbeth diesen Groll auf sich gezogen hat, war ihr ein Rätsel.

„Na sehen Sie!“

Doktor Gründig tätschelte ihr begütig die Schulter.

„So schlecht haben sie es doch gar nicht getroffen. Es wird schon alles wieder werden. Ich lasse Ihnen diese Kräutertinktur hier. Ob sie Milan wieder auf die Beine bringt, bezweifle ich, aber es wird seine Beschwerden lindern.“

„Zu liebenswürdig Herr Doktor, aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen dafür danken kann, da dieser Unglücksrabe hier“, sie deutete mit dem Finger auf Liesbeth, „soeben unsere letzten Kirschen in den Staub geworfen hat.“

Liesbeth rieb sich hastig über die Augen, um zu verhindern, dass ihr wieder die Tränen kamen.

„Heute schenke ich Ihnen die Tinktur.“

Er deutete eine Verbeugung an und schwang sich auf den Bock seiner Kutsche. Groß und schlank war er, das hellbraune Haar im Nacken zu einem kleinen Zopf zusammengebunden. Liesbeth konnte den Blick kaum von ihm abwenden. Da nickte er auch ihr noch einmal kurz zu und schenkte ihr ein winziges, flüchtiges Lächeln. Schon schnalzte er mit der Zunge und das Pferd, ein alter Schecke, trabte an. Liesbeth sah ihm nach, wie er vom Hof fuhr. Die harten Worte der Mutter, die jetzt wie ein Hagelschauer über sie niedergingen, prallten ungehört an ihr ab.

Auf dem Bock seines Pferdewagens lehnte sich Doktor Gründig entspannt zurück und lächelte vor sich hin. Lange würde es nicht mehr dauern, dann würde Theda Sandrini sich in seiner Gegenwart nicht länger über die Tollpatschigkeit ihrer durchaus hübschen Tochter beklagen. Im Gegenteil. Sie würde vielmehr in Kürze damit beginnen die Vorzüge des Mädchens zu rühmen und zu preisen, so wie sie es alle taten.

Wann immer er zu einem Haus gerufen wurde, indem sich nicht nur ein Patient, sondern auch ein Mädchen im heiratsfähigen Alter befand, durfte er dieses Schauspiel genießen. Manchmal amüsierte es ihn, doch zuweilen war es ihm lästig.  Natürlich verstand er die Mütter, die ihren Töchtern eine gute Partie wünschten. Da reiche Hoferben an ihrer Tür selten Schlange standen, musste sich doch der junge und unverheiratete Arzt ködern lassen. Er war erst achtundzwanzig Jahre alt und so manches, der ihm auf diese Weise vorgeführten Mädchen, hatte durchaus einen gewissen Reiz, Allerdings war er oberflächlich. Und so hatte Gründig noch jedem Backfisch widerstehen können. Er hatte gewisse Ansprüche an eine Frau, die sein Leben mit ihm teilen wollte. Kochkünste und Stickkünste interessierten ihn dabei reichlich wenig. Nein, das Mädchen, das Gründigs Anforderungen gewachsen war, würde wohl schwerlich hier auf einem der Höfe zu finden sein. Er hielt sich selbst für einen Mann der Wissenschaft und als solcher wünschte er sich eine gebildete Frau aus besserem Hause an seiner Seite.

 Wonach ihm mehr der Sinn stand, als nach einer hübschen Hausfrau umgeben von einer Schar Kinder, war eine Gefährtin. Eine gescheite und mutige Gefährtin, mit der er des Abends gemeinsam Themen erörtern konnte, die den Horizont einer Liesbeth Sandrini bei Weitem übersteigen mussten. Liesbeth. Die Kleine war niedlich, aber noch sehr jung. Heiratsfähig frühestens in zwei Jahren. Dann würde er schon dreißig sein und das könnte ihn als möglichen Kandidaten aus dem Rennen werfen. Wie schön. Eine Theda Sandrini, die ihre Tochter verheiraten wollte, konnte anstrengend für ihn werden.

Ein Schlagloch riss den jungen Arzt aus seinen Gedanken und schlug ihm fast den Hut vom Kopf. Zeit sich wichtigeren Dingen zuzuwenden. Der nächste Patient wartete schon.

Als Theda die geliebte Tochter wie einen geprügelten Hund davonschleichen sah, fühlte sie sich für einen kurzen Moment an sich selbst erinnert. An das lebenslustige, vielleicht zu lebenslustige Mädchen, dass sie vor fast zwanzig Jahren gewesen war. Jetzt, mit fünfunddreißig Jahren, fühlte Theda sich bereits alt und ausgelaugt. Die Jahre an Milans Seite waren nicht leicht gewesen. Zwar hatten sie ihr Auskommen gehabt, doch der einst so agile Milan, hatte sich alsbald in einen kränklichen, hustenden Schatten verwandelt. Die Krankheiten wechselten, kamen und gingen, doch nie war Milan gesund genug. Er konnte weder das Vieh melken noch die wenigen Felder zu bewirtschaften. Ohne die Hilfe der Nachbarn und die ihrer zwei Kinder hätte sie den Hof wohl längst aufgegeben und nicht auch zuletzt sich selbst. Das allabendliche Starkbier war es, was ihr die einst so zarte Figur ruiniert hatte. Trotzdem konnte und wollte sie von ihrem einzigen Laster nicht lassen. Schon beim Aufstehen freute sie sich auf den Moment, wenn sie mit dem Krug am Feuer saß und die Schritte ihres Sohnes vor der Haustür hörte.

Clemens. Wie sehr der Junge, jetzt schon ein Mann, seinem Vater glich. Nicht Milan natürlich. Nein, es war der Kurfürst selbst, der aus seinen Augen blickte und sich in jeder weichen, ja eleganten Bewegung offenbarte.

Clemens war etwas Besonderes. Von Geburt an war der Junge zart, schön und einfühlsam gewesen. Und Clemens konnte genießen. Den Sonnenschein oder ein besonders schönes Kirchenlied, das waren Dinge, die er zu würdigen wusste. Theda widerstrebte es, Clemens zu einer Arbeit zu zwingen, die ihm nicht lag und das umfasste nahezu alle Tätigkeiten auf ihrem Bauernhof. Er war eine Leihgabe des Kurfürsten, die einmal Clemens gehören sollte. Doch Clemens war kein Bauer, so sehr er sich auch, zumindest phasenweise, abgemüht hatte, den Vater zu ersetzen. Milan jedoch war nie mit irgendetwas, was Clemens fabriziert hatte, zufrieden gewesen. Nüchtern betrachtet, nicht ganz zu Unrecht, denn die Arbeit auf dem Hof lag dem Jungen wirklich nicht. Schließlich hatte Theda ein Machtwort gesprochen und Clemens erlaubt, dem Pfarrer der Dorfkirche zur Hand zu gehen. Im Gegenzug erhielt er dafür Orgelunterricht. Es erwies sich als weise Entscheidung. Theda lächelte bei dem Gedanken daran. Es war doch so offensichtlich, wo die Talente des Jungen lagen. War es nicht ihre Pflicht diese zu fördern? Hatte sie es nicht seinem Vater, seinem leiblichen Vater, in der Stunde des Abschieds versprochen, auch wenn dies zwangsläufig mehr Arbeit für sie selbst und ihre Tochter bedeutete?

Theda warf einen letzten Blick auf den Kirschsaftfleck zu ihren Füßen und straffte die Schultern. Liesbeth war wie sie und Milan. Das Mädchen hatte nur Unsinn im Kopf und zog Ärger an, wie das Licht die Motten. Aus Liesbeth konnte nichts Herausragendes werden. Sie war eben nicht das Kind eines Kurfürsten, sondern das eines Gauklers. Da durfte man keine hohen Erwartungen haben. Doch mit strenger Hand würde Theda zu verhindern wissen, dass ihre Tochter sich in Schwierigkeiten brachte, wie sie es selbst vor langer Zeit getan hatte. Auch wenn dem Mädchen keine große Zukunft bevorstand, dass es Schande über sich brachte, würde Theda zu verhindern wissen. Von Zeit zu Zeit wurde es Theda bewusst, dass sie Liesbeth behandelte, wie sie einst von ihrer eigenen Mutter behandelt worden war. In diesen seltenen Momenten tat ihr das Mädchen fast leid und dann nahm sie sich vor nachsichtiger mit ihr zu sein. Doch es gelang ihr nie, diesen Vorsatz lange zu halten. Theda erzog ihre Tochter wie sie selbst erzogen worden war. Etwas Anderes hatte sich nicht gelernt.  

Die Dämmerung war hereingebrochen. Liesbeth war auf ihre Kammer geschickt worden. Theda nahm, den Bierkrug in der Hand, am warmen Ofen Platz. Es war ihr einziges Abendessen. Die letzte Brotscheibe im ganzen Haus lag neben einem eher kleinen Schmalzrest bereit und wartete auf Clemens. Doch es war nicht der leichte, federnde Gang ihres Sohnes, den Theda jetzt vernahm. Die schlurfenden Schritte, die sich der Wohnstube näherten, kamen von der Treppe her und waren die Milans. Theda seufzte schwer, als die Türklinke sich senkte und das, was einmal ein schöner junger Mann gewesen war, eintrat.

Milans Körper war ausgemergelt und steckte in einem staubgrauen Nachthemd. Das einst volle schwarze Haar war dünn und grau geworden, ließ seine fahle Kopfhaut durchschimmern. Sein Atem ging röchelnd.

„Wo ist der Junge?“

Theda rollte entnervt die Augen.

„Wo soll der schon sein? Im Pfarrhaus natürlich. Oder in der Kirche. Übt das Orgelspiel.“

„Hier ist sein Platz! Hier ist genug zu tun für ihn! Das ist eines Tages sein Hof!“

Milan rang nach Luft. Er hatte sich bemüht laut zu sprechen, doch schon drei kurze Sätze gingen über seine Kräfte. Theda spürte einen Anflug von Mitleid für ihn, stand auf, nahm ihm am Arm und führte ihn zur Ofenbank.

„Wir kommen zurecht, Milan. Nicht gut, aber es reicht doch fürs Nötigste. Clemens ist jung und er ist begabt. Warum soll er seine ganze Zeit im Stall und auf dem Feld zubringen?“

„Warum soll Liesbeth es? Warum du? Weil dieser Hof uns ernährt! Seine Musik wird es nicht.  Nicht mal ihn selbst wird sie ernähren können. Das sind doch alles Hirngespinste.“

„Sagt mir der Mann, der einst sein Geld mit dem Jonglieren auf Jahrmärkten verdient hat.“

„Ja, das sagt dir dieser Mann!“

Milan schnaufte vor Anstrengung.

„Ich habe nie, nicht einen Tag vergessen, woher ich komme. Hätten wir diesen Hof nicht, läge ich längst tot neben einem Brückenpfeiler! Und deswegen soll der Junge seine Zeit und Energie darauf verwenden, was uns alle am Leben hält und letztendlich auch ihn selbst.“

„Und wenn er nicht für ein Leben als Bauer geschaffen ist?“

„Dann wird er es lernen müssen! Oder was soll aus dir und Liesbeth werden, wenn ich nicht mehr bin? Soll dieses Haus ohne einen Herren sein?“

Theda seufzte leise. Gespräche mit Milan über Clemens verliefen immer auf diese wenig erfreuliche Weise. Milan hatte keinerlei Verständnis für die Neigungen des Sohnes. Er wollte aus dem Jungen so sehr einen Bauern machen, wie Clemens selbst es nicht wollte. Für Milan war der Hof gleichbedeutend mit Wohlstand, doch Theda hätte alles dafür gegeben, dem Jungen mehr bieten zu können.

„Wir kommen schon zurecht. Und du bist noch lange nicht tot, mein lieber Milan. Trink deine Medizin. Deine Tochter hat sie mit zwei zerschlagenen Einmachgläsern bezahlt. Den letzten wohlgemerkt.“

Fast geräuschlos öffnete sich nun die Außentür. Hochgewachsen, dunkelhaarig, schlank, mit vollen Lippen und markanter Nase, betrat Thedas ganzer Stolz den Raum.  Es kam ihr vor, als würde es sogleich ein wenig heller im Zimmer werden. Seine Züge glichen so sehr denen eines hohen Herren, das er Theda gelegentlich wie einem Gemälde entstiegen vorkam. Einem Gemälde, wie sie es in dem großen Schloss in Brühl gesehen hatte, damals vor neunzehn Jahren.

„Clemens! Guter Junge, wie schön, dass du kommst. Setz dich an den Tisch. Du wirst hungrig sein, ich habe dir Brot und Schmalz bereitgestellt.“

„Ja, Junge! Setz dich hin und iss Schmalzbrot! Das ist mehr als jeder andere in diesem Hause heute zum Abendbrot bekommen hat!“, fauchte Milan und bemühte sich, aufzustehen.

Theda konnte ein erneutes Augenrollen nicht unterdrücken.

„Ist es wahr, Mutter? Hast du noch Nichts gegessen?“

 Für einen Moment sah Theda den Anflug eines Schreckens über das Gesicht ihres geliebten Sohnes huschen und lächelte ihn beruhigend an.

„Iss nur. Du wächst doch noch und hast es nötig.“

Milan gab ein Schnauben von sich.

„Nötig hat der Junge eigentlich etwas völlig anderes! Und wenn ich gesund wäre, würde ich mich persönlich darum kümmern. So bleibt mir nur, dir gehörig ins Gewissen zu reden, mein Sohn.“

„Danke, aber das Schmalzbrot interessiert mich im Moment mehr“, antwortete Clemens und warf dem Vater einen kühlen Blick zu.

„Du glaubst wohl, du könntest dich über mich lustig machen, weil ich krank bin!“

„Nicht weil du krank bist, sondern weil du dich nicht bemühst, gesund zu werden.“

Nur mit Mühe konnte Theda ihre Augen dieses Mal unter Kontrolle halten. Dieser Streit war alt, das Thema leidig erschöpft, doch Vater und Sohn ließen keine Gelegenheit aus, sich in die Haare zu geraten.