Die Bettelprophetin - Astrid Fritz - E-Book

Die Bettelprophetin E-Book

Astrid Fritz

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Beschreibung

Als Theres Ludwig dem charismatischen Pfarrer Patriz Seibold zum ersten Mal begegnet, hat sie eine Jugend hinter sich, die geprägt ist von Armut und Elend, von Einsamkeit und Lieblosigkeit, von bitterbösen Schicksalsschlägen. Es ist die Zeit der Hungerjahre und der Volksaufstände überall in Deutschland. Theres ist am Ende ihrer Kräfte, sie verflucht Gott und die Kirche. Aber anstatt sie für dieses unerhörte Sakrileg zu strafen, nimmt Patriz Seibold sie in seinem Pfarrhaus auf. Als die beiden sich näherkommen, begeben sie sich in große Gefahr. Denn mächtige Menschen versuchen mit aller Gewalt, das Unbotmäßige zu verhindern.

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Astrid Fritz

Die Bettelprophetin

Historischer Roman

HAUPTMANN: Woyzeck, Er hat keine Tugend! Er ist kein tugendhafter Mensch.

WOYZECK: Ja, Herr Hauptmann, die Tugend – ich hab’s noch nit so aus. Sehn Sie: wir gemeine Leut, das hat keine Tugend, es kommt einem nur so die Natur; aber wenn ich ein Herr wär und hätt ein’ Hut und eine Uhr und eine Anglaise und könnt vornehm reden, ich wollt schon tugendhaft sein. Es muß was Schönes sein um die Tugend, Herr Hauptmann. Aber ich bin ein armer Kerl!

Vorspann

März 1825, Landstraße in Oberschwaben

Der Mann hinter dem Haselbusch leckte sich die Lippen: Was hatte er da nur für zwei appetitliche junge Weibspersonen vor Augen. Nackt bis auf ein loses Hemd standen die beiden da, nur einen Steinwurf von ihm entfernt am Flussufer, und wuschen sich und zwei kleinen Buben Gesicht und Hände. Deutlich zeichneten sich die runden Brüste unter dem Leinen ab, die Haut ihrer bloßen Arme und Beine schimmerte hell im Licht der Märzsonne. Die Versuchung war groß, allzu groß, wäre da neben ihm nicht der junge Kerl gestanden, dieser Lorenz, der ihm erst vor kurzem aus der Residenzstadt Stuttgart geschickt worden war und dem er noch keinen Deut vertraute.

Ein andermal, dachte er und gab sich einen Ruck. Er musste dem Burschen Vorbild sein, schließlich war er, Anton Sipple, als langjähriger Oberlandjäger in königlichen Diensten erst neulich zum Stationskommandanten des Oberamts Ravensburg befördert worden und wusste, was er seinem Rang schuldig war. Und eben jetzt bestand seine Pflicht darin zu prüfen, ob es sich hier nicht ganz augenscheinlich um eine Vagantensippe handelte, um liederliche Weiber, die arbeitsscheu und ohne Moral durch die Lande stromerten und keinesfalls der sittlichen und geistigen Erziehung ihrer Blagen fähig waren. Erst vorgestern hatte er hier, an der alten Staatsstraße von Stuttgart an den Bodensee, eine Horde Bettler festgenommen. Deren verlauste Kinder hatten bei der Hanfreibe drüben in Staig Hühner stibitzt, um sie auf dem Ravensburger Markt zu verscherbeln.

Sipples Rechte griff nach dem Knauf seines Säbels. Dann reckte er Kreuz und Schultern, wobei sich seine Uniformjacke über dem mächtigen Bauch bedenklich spannte, und trat aus dem Gebüsch heraus.

«Halt! Keinen Schritt weiter!»

Die Frauen fuhren erschrocken herum.

«Mir habn nix verbrochen», stotterte die Ältere und legte schützend die Arme um die Knaben. Ganz offensichtlich war sie die Mutter der beiden, ihr hageres Gesicht war von Pockennarben gezeichnet. Dafür war die andere ausnehmend hübsch mit ihren langen, dunklen Locken, und Anton Sipple bedauerte erneut, nicht allein auf Patrouille zu sein.

«Eure Papiere!», donnerte er.

Die Frauen beeilten sich, ihre Kleider überzustreifen, dann kramten sie in ihren wenigen Habseligkeiten herum, die an einem Baumstamm abgelegt waren.

«Festnehmen?», flüsterte Sipples Begleiter.

«Nein, wart noch. Wir müssen die Instruktionen einhalten. Also, was ist?», wandte sich der Kommandant an die Frauen. «Sucht ihr die Stecknadel im Heuhaufen?»

«Irgendwer muss die Papiere geklaut haben», murmelte die Ältere mit hochrotem Kopf. «Mir sin Mägde, auf der Such nach Arbeit, keine Landstreicher. Das müsset Sie uns glauben.»

«Ich muss gar nix. Ihr wisst genau, dass es verboten ist, ohne Passierschein oder Heimatschein durch die Gegend zu vagabundieren. Reisegeld könnt ihr wahrscheinlich auch keins vorweisen.»

Die beiden Frauen blickten stumm zu Boden, während die Buben zu schluchzen begannen.

«Name und Herkunft! Und weh euch, ihr lügt!»

«Creszenz Schwende, aus Ulm», begann die Ältere.

«Und du?» Sipple stieß der anderen in die Rippen.

«Margarete– Margarete Weinhard aus der Schweiz.»

Dem Stationskommandanten entging nicht der erstaunte Blick der Älteren.

«Du lügst!»

Er schlug der Jungen mit der flachen Hand ins Gesicht.

«Maria, Maria Bronner», stammelte die nun unter Tränen. «Aus Eglingen auf der Rauhen Alb.»

«Maria Bronner also.» Sipple grinste. «Dann wollen wir mal in Erfahrung bringen, ob das der Wahrheit entspricht. Auf geht’s, Lorenz, legen wir den Weibern Handfesseln an. Damit uns die Täubchen nicht wegflattern.»

Grob packte Sipple die Dunkle bei den Handgelenken und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Während er ihr mit geübtem Griff die Fesseln anlegte, presste er sie enger als nötig gegen seinen massigen Leib. Deutlich spürte er ihren Busen an seiner Brust, roch den Duft nach Erde und Wind in ihrem Haar. Sipple unterdrückte ein Stöhnen. Wie lange schon hatte er kein Weib mehr unter sich gehabt!

«Fertig, Herr Kommandant!», rief neben ihm Lorenz mit heller Stimme, und Alfons Sipple trat einen Schritt zurück.

«Sie könnet uns doch net einfach festnehmen», rief die, die sich Creszenz nannte. «Daheim warten Mann und Kinder auf uns.»

«Und ob wir das können. Nichts weiter als diebisches Gesindel seid ihr, das auf dem Bettel durchs Land zieht.»

In diesem Augenblick begann es wenige Schritte neben dem Baumstamm lautstark zu krächzen. Aus einem Lumpenbündel streckten sich zwei winzige Ärmchen und begannen zu zappeln.

«Ja, sabberlodd! Was ist das denn?»

Sipple stieß mit der Stiefelspitze gegen das Bündel. Das Kind, das ihn aus aufgerissenen Augen anstarrte, war höchstens vier, fünf Monate alt.

«Das ist mein Töchterle, die Theres.» Maria Bronner fiel auf die Knie. «Ich fleh Sie an: Lasset Sie uns gehn! Das Kind hat Hunger, und daheim im Dorf wartet mein Hannes auf mich, mein kleiner Bub.»

«Halt’s Maul und steh auf! Lorenz, du nimmst den Wurm und die beiden Rotzlöffel da. Ich kümmer mich um die Weibsbilder. Und jetzt ab marsch nach Ravensburg!»

«Warum nach Ravensburg? Was sollen wir da?», fragte die Ältere mit ängstlicher Stimme.

«Ins Arbeitshaus kommt ihr zwei beiden. Da macht man aus einer Bagasch wie euch anständige Leut.»

«Aber die Kinder – die kleine Theres?»

«Die seht ihr so schnell nicht wieder. Weiber wie ihr sollten erst gar keine Bälger in die Welt setzen.»

Teil 1

Selig sind, die da Leid tragen. 

1

Mai 1832, Eglingen auf der Rauhen Alb

«Ist das also dein letztes Wort, Nepomuk Stickl?»

Der alte Bauer nickte. «Gucket Sie sich die Theres doch an, Herr Stadtrat. Das Mädle verschafft’s ja net mal, die Wassereimer zu schleppen. Zu nix ist die zu gebrauchen, net mal zum Wollekrempeln. Der Bruder ist da von ganz andrem Schlag.»

«Vielleicht hast du sie ja auch zu knappgehalten?» Der Stadtrat runzelte die Stirn. «Sie schien mir schon beim letzten Besuch arg mager. Viel zu schmächtig für ihre acht Jahre.»

«Was – was wollet Sie damit sagen?»

«Nun, du weißt ja wohl noch, was du und deine Frau– Gott hab sie selig – damals beurkundet habt? Ihr hattet euch verpflichtet, gewissenhaft auf Moral und Physis eurer Pfleglinge zu achten, auf ausreichende Nahrung und Kleidung sowie regelmäßigen Schulbesuch. Stickl, Stickl…» Er seufzte. «Du glaubst gar nicht, was mir in meiner Eigenschaft als Pfleger schon alles untergekommen ist! Grad für euch Bauern ist das Geld von der Stiftung doch ein rechter Batzen, der euch ins Haus rollt. Da gibt’s Spitzbuben, die stecken das Geld ein, prügeln ihre Pfleglinge wie Sklaven zur Arbeit oder sogar auf den Bettel und lassen sie dabei halb verhungern.»

«Aber, Herr Stadtrat», stotterte der Alte. «Ich doch net. Ihr kanntet doch mein Weib, so eine herzensgute Frau. Aber jetzt, wo sie tot ist und meine leiblichen Kinder aus dem Gröbsten raus, muss ich doch auch schauen, wo ich bleib. Und vielleicht find ich ja wieder ein neues Eh’weib…» Er senkte die Stimme. «Das Mädle ist seltsam, mit dem ist nix Rechtes anzufangen. Man weiß nie, was der Theres im Kopf rumgeht. Vielleicht ist sie ja einfach ein bissle blöd.»

Theres kauerte hinter der zugigen Bretterwand, die ihre Schlafstelle von der Wohnküche trennte, und lauschte. Durch das Astloch in der Wand hatte sie ihren Pflegevater und den vornehmen Gast mit dem knielangen Gehrock und der fliederfarbenen Seidenhalsbinde genau im Blick. Vergangene Woche hatte ihnen dieser Herr vom Münsinger Kirchenkonvent schon mal einen Besuch abgestattet, und die ganze Zeit hatte Theres sich gefragt, was der Mann bei ihnen wollte. Nun aber wurde ihr schlagartig klar, dass es um sie ging. Und dass es nichts Gutes verhieß.

Sie ballte die Fäuste. Wie gemein der Alte war, sie vor einem Fremden dermaßen schlechtzumachen! Nur zu gut erinnerte sie sich noch an jenen Tag im letzten Herbst, als der junge Visitator des Armenkollegiums aufgetaucht war, unangekündigt wie immer, um nach dem Rechten zu sehen. Er hatte geschimpft damals, dass ihm die Theres von Mal zu Mal verwahrloster erscheine, und buchstabieren könne sie auch immer noch nicht. Ob sie denn nicht zur Schule gehe? Sehr wohl schicke er sie dorthin, hatte der alte Bauer geantwortet, aber sie sei halt wohl nicht gescheit genug für solcherlei Dinge. Theres war fassungslos gewesen: Sie durfte gar nicht zur Schule, weil sonst die Hausarbeit liegen blieb und das Garn für den Wollweber nicht fertig wurde.

«Stimmt das?», hatte der Beamte sie daraufhin gefragt. «Ja», hatte sie gestottert, mit einem Seitenblick auf den Pflegevater.– «Ist dir die Schule also zu schwierig?» – «Ja, Herr.» Und die Tränen waren ihr vor Scham übers Gesicht gelaufen.

«Jetzt hol das Mädchen her», hörte sie in diesem Augenblick den Stadtrat sagen. «Ich hab heute noch andres zu tun.»

Hastig sprang Theres auf, noch immer verwirrt von dem, was sie eben vernommen hatte. Da hörte sie schon die schlurfenden Schritte ihres Pflegevaters, und das Türchen zu ihrem Verschlag öffnete sich.

«Komm raus!», befahl der alte Bauer. «Der Herr Stadtrat will dich sehn. – Und sag ja nix Falsches», setzte er leise hinzu.

Theres ging mit gesenktem Kopf hinüber in den Wohnraum, gab dem Gast die Hand und machte einen artigen Knicks.

«Du weißt, warum ich hier bin?» Die Stimme des Mannes klang freundlich.

«Nein, Herr.»

Der Stadtrat warf Nepomuk Stickl einen missbilligenden Blick zu und fuhr fort: «Dein Pflegevater kann sich nicht mehr angemessen um dich kümmern, jetzt, wo die Bäuerin tot ist. Du sollst ins Staatswaisenhaus zu Weingarten gebracht werden, in die Vagantenkinderanstalt. Da lernst du alles, was du fürs spätere Leben brauchst. Mach also unserem Staat und unserem König keine Schande, hörst du?»

Sie nickte, während sie am ganzen Leib zu zittern begann. Sie hatte es geahnt, der Bauer wollte sie weggeben! Dann packte sie der nächste Schrecken: Von ihrem Bruder war mit keinem Wort die Rede gewesen.

«Was… Was ist mit Hannes?» Die Tränen schossen ihr in die Augen.

«Der Hannes bleibt hier», schnauzte Nepomuk Stickl.

Beruhigend strich der Stadtrat ihr übers Haar.

«Es ist zu deinem Besten, mein Kind.» Er wandte sich wieder an ihren Pflegevater. «Machen wir also Nägel mit Köpfen, Stickl. Unterschreib jetzt, dass du die Fürsorge für den Pflegling Theres Ludwig, Tochter der Landfahrerin Maria Bronner aus Eglingen und des Taglöhners Jakob Ludwig aus Ravensburg, zum heutigen Tage aufkündigst. Hier, an dieser Stelle.»

Mit einem verlegenen Räuspern setzte der Bauer drei Kreuze an die bezeichnete Stelle. Dann fragte er:

«Und wie kommt die Theres hernach ins Waisenhaus?»

«Ich schick auf morgen früh einen Stadtbüttel. Gib dem Kind ausreichend Essen und Trinken mit, es ist ein weiter Weg.»

Damit schien für den Mann alles besprochen. Er wandte sich zur Tür, nahm Zylinder und Stöckchen vom Haken und trat hinaus. Theres sah ihm nach, wie er unbeholfen zwischen den Pfützen hindurch in Richtung Straße stakte, wo sein Einspänner auf ihn wartete.

«Was glotzt du so?», fragte ihr Pflegevater. «Hast net gehört, dass es zu deinem Besten ist? Auf jetzt, versorg die Hühner und dann ab in die Küche.»

Doch Theres achtete nicht auf seine Worte. Kaum war die Kutsche um die nächste Wegbiegung verschwunden, rannte sie los.

«Bleibst wohl hier, du Saubangerd!», hörte sie den Bauern noch brüllen, da war sie schon die Böschung hinaufgeklettert, mitten hinein in das dunkle Tannenwäldchen, das an ihren Hof grenzte. Keine Viertelstunde später erreichte sie die sonnenbeschienene Wacholderheide, wo ihr Bruder dieser Tage die Schafe des Dorfes hütete.

«Hannes!», keuchte sie. «Ich soll fort!»

Schwer atmend lehnte sie sich neben ihn an das warme Felsgestein. Ihr Bruder starrte zu Boden und schwieg.

Theres wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. «Warum sagst du nichts?»

Hannes schüttelte den Kopf.

«Sag bloß… Sag bloß, du hast es gewusst!»

«Seit gestern», murmelte er so leise, dass sie ihn kaum verstand. «Hab mich nicht getraut, es dir zu sagen.»

«Aber warum soll ich fort und du nicht? Warum dürfen wir nicht zusammenbleiben?»

«Ich weiß es nicht.»

Jetzt erst merkte Theres, dass auch ihr Bruder weinte. Hinter einem Schleier von Tränen schweifte ihr Blick über die sanften Hügel mit ihren hellen und dunklen Waldstücken, den Schafweiden und Wacholderheiden. Wie vertraut ihr dieses Bild war, wie schön das alles aussah, so im warmen Licht der Maisonne! Sie kannte nichts andres, ihr Lebtag war sie nie weiter als bis in die nächsten Dörfer gekommen, nicht mal bis in die nahe Oberamtsstadt Münsingen.

Sie schloss die Augen und erblickte plötzlich einen riesigen, düsteren Saal mit vergitterten Fenstern rundum, sich selbst inmitten einer Horde verwahrloster Kinder von Landstreichern. Ein Aufseher durchmaß mit energischem Schritt die Reihen und verteilte Karbatschenhiebe nach rechts und links.

Erschrocken riss sie die Augen wieder auf.

«Ich hab Angst», stammelte sie.

«Das musst du nicht, Theres. Ich komm dich besuchen.» Hannes nahm ihre Hand und drückte sie fest.

«Weißt du denn, wo dieses – dieses Weingarten liegt?»

«Nein. Trotzdem.»

Am nächsten Tag erschien gleich nach dem Morgenessen der Büttel, ein maulfauler, dickbäuchiger Mensch namens Hufnagl. Theres hockte auf der Schwelle der offenen Haustür, ihr kleines Bündel zu Füßen, und wartete, bis der Mann sein Krüglein warmes Bier ausgeschlürft hatte. In ihrem Innern schwelte noch immer die unaussprechliche Angst vor dem, was auf sie zukam, und davor, Hannes vielleicht nie wiederzusehen.

Theres wandte sich um. Stumm saßen sich Hufnagl und ihr Pflegevater am Tisch gegenüber. Sie waren allein. Ihre Stiefschwester Berthe und ihr Stiefbruder Marx, beide um viele Jahre älter als sie, arbeiteten bereits draußen auf dem Acker, und auch ihr Bruder hatte kaum seinen Napf mit Schwarzem Brei ausessen dürfen, da hatte ihn der Bauer schon zum Schafspferch befohlen. Nur ganz kurz hatten sie und Hannes sich zum Abschied umarmen dürfen, und als Theres ihren Bruder nicht loslassen wollte, hatte der Alte ihr einen schmerzhaften Streich mit der Weidenrute versetzt.

Lautes Stühlerücken ließ sie auffahren. Sie hörte den Büttel nach den Papieren fragen, die er im Waisenhaus abgeben müsse, und unterdrückte ein Schluchzen. Sie wollte nicht weg, das hier war ihre Heimat! In diesem kleinen Häuschen mit seiner vom Herdfeuer dunkel gebeizten Wohnküche und den beiden Bretterverschlägen, die als Schlafkammern dienten, in diesem Dorf auf der Rauhen Alb hatte sie ihr ganzes bisheriges Leben verbracht, und wenn sie jetzt alles so bedachte, war dieses Leben nicht das schlechteste gewesen.

Nicht dass sie ihrem Pflegevater eine einzige Träne nachweinen würde. Dazu hatte sie viel zu oft seine Weidenrute zu spüren bekommen – vor allem, nachdem die Bäuerin gestorben war. Wie oft hatte sie hungrig zu Bett gehen müssen, wenn sie angeblich wieder den Musbrei hatte anbrennen oder das Feuer ausgehen lassen. Aber Hannes oder auch Marx hatten ihr dann heimlich einen Brocken Brot zugesteckt. Nur die Berthe, diese blöde Kuh, hatte sie immer wie Luft behandelt. Hatte sie bei der Hausarbeit herumgescheucht und als «Bettelbastard» beschimpft, wenn sie ihren Befehlen nicht schnell genug gefolgt war. Genauso jähzornig wir ihr Vater war Berthe. Und dabei hässlich und dumm.

Und dennoch – Theres hätte sich niemals beklagt. Schließlich kannte sie es nicht anders, diesen Wechsel aus Arbeit, Schlägen und Mahlzeiten, die einen nicht satt machten. Ihrem Bruder und den meisten andern Bauernkindern rundum erging es nicht besser und nicht schlechter als ihr. Alle mussten sie sich krummschaffen bei der Heimarbeit für irgendwelche raffgierigen Verleger oder auf den steinigen Äckern, die hier auf der Alb nicht viel mehr hergaben als Flachs oder Viehfutter. Trotz alledem war das hier ihre Familie. Und Eglingen ihr Dorf. Jedes Kind, jedes Stück Vieh kannte sie hier, jeder Winkel war ihr vertraut.

Hinzu kam: Hier war ihre Mutter aufgewachsen, in einer kleinen Kate am andern Ende des Dorfes, bevor sie den Ravensburger Taglöhner Jakob Ludwig geheiratet hatte. Ein ganz junges Ding musste sie damals gewesen sein. Die meisten hier ließen allerdings kaum ein gutes Haar an ihrer Mutter. Stolz und hoffärtig sei sie gewesen und habe den Jakob hintergangen. Manche behaupteten gar, sie, die Theres, sei gar nicht dessen leibliche Tochter, in fremden Betten habe sich damals das Luder herumgetrieben, bis der Jakob vor Gram gestorben sei! Und so habe man sich nicht verwundern müssen, dass die Bronnerin irgendwann als Landstreicherin und Bettlerin im Zuchthaus gelandet sei. Als Theres einmal gewagt hatte, ihren Pflegevater zu fragen, wo ihre Mutter jetzt sei und warum sie nie nach Eglingen zurückgekehrt sei, hatte der nur hämisch gelacht. «Vergiss dieses Weibsstück. Die ist längst außer Landes gejagt, falls sie nicht gar am Galgen gelandet ist. Kannst Gott danken, dass wir dich und deinen Bruder aufgenommen haben.»

Nächtelang hatte sie daraufhin geweint und fortan selbst geglaubt, dass ihre Mutter tot sein müsse. Denn warum sonst hatte sie ihre Kinder nie wiedersehen wollen? Jetzt war ihr nur noch der Bruder geblieben, der fast vier Jahre älter war und sie immer beschützt hatte, wenn die Kinder im Dorf frech geworden waren. Wie konnte der Herrgott es zulassen, dass sie für immer von ihm getrennt werden sollte?

Gut zwei Stunden lang marschierten sie querfeldein, das kleine barfüßige Mädchen neben dem schwergewichtigen Büttel, bis sie die Zwiefalter Alb und damit die Staatsstraße erreichten, die von Reutlingen her auf Ravensburg zuführte.

«Du stinkst wie ein elender Seichhafen!», hatte der Mann sie irgendwann angeschnauzt. «Kei Sau wird uns da mitnehmen wollen.»

Da waren Theres die mühsam unterdrückten Tränen wieder über die Wangen geflossen. Was konnte sie dafür, dass sie nicht mal ein sauberes Sonntagsgewand besaß und nur alle zwei Wochen in den Waschbottich steigen durfte – als Letzte wohlweislich, wenn das Wasser schon kalt und schlierig vom Dreck der andern war?

Doch entgegen Hufnagls Befürchtung ließ sie alsbald ein Fuhrmann auf die halbleere Ladefläche seines Wagens aufsteigen, wo ihr Bewacher so weit wie möglich von ihr abrückte und sein Vesperpaket auspackte. Theres musste mit ansehen, wie er sich Wurststück um Wurststück in den Mund stopfte. Sie selbst hatte nur Wasser und Brot dabei.

Der Büttel kniff die Augen zusammen. «Was glotzt? Hat dir der Bauer nix eingepackt?»

«Doch, doch. Aber ich heb’s mir auf, für später.»

Hufnagl nickte nur, und Theres überließ sich wieder ihrem Abschiedsschmerz und dem heftigen Gerüttel des Wagens auf der löchrigen Straße. Bis hierher hatte die Landschaft nicht viel anders ausgesehen als daheim. Jetzt aber begann sich die Straße in engen Krümmungen durch dichten dunklen Tannwald steil bergab zu winden, bis der Blick wieder frei wurde auf eine lichte Hügellandschaft, die sich im Dunst des weit ausladenden Donautals verlor. Theres wusste: Nun war sie in der Fremde angelangt. Brotbeutel und Trinkflasche waren leer, ihre Tränen versiegt, keine zehn Worte hatte Hufnagl bislang an sie gerichtet. Sie tastete in ihrer Schürzentasche nach dem Holzpferdchen, das Hannes ihr einst geschnitzt hatte und das schon ganz abgegriffen und speckig war, und fühlte sich so verlassen wie noch nie.

In der Oberamtsstadt Riedlingen am Donauufer nahmen sie ihr Nachtquartier. In Theres’ Augen wirkte die Stadt mit den hübschen Fachwerkhäusern riesig, gewiss hundertmal so groß wie ihr Heimatdorf. Und wie laut und voller Menschen dieses Riedlingen war: Allein auf dem Marktplatz drängte sich mehr Volk als bei ihnen im Dorf zur Kirchweih! Spielende Kinder tobten zwischen Fuhrwerken und Handkarren herum, Trödler boten den Inhalt ihrer Bauchläden feil und schrien dabei mit den Karrenbäckern und Zeitungsjungen um die Wette, aus den offenen Fenstern und Hoftoren drangen Gehämmer und Geklopfe. Niemals würde sie in solch einem Trubel wohnen können. Umso verwunderter war sie, als sie auf dem Dachfirst des Rathauses das schwarzweiße Federkleid eines Storchenpaars entdeckte, das hier seine Jungen aufzog.

Nachdem der Büttel sie beide bei der Ortspolizei angemeldet hatte, wies man sie in ein kleines Wirtshaus nicht weit vom Markt ein. Dort bestellte Hufnagl ihr einen Teller Erdäpfel in Milchsuppe, sich selbst vergönnte er eine Platte mit knusprig gebratenem Schinkenspeck. Derweil schleppte der Wirt zwei Strohsäcke ins Nebenzimmer.

«Wenn’s Wetter hält», der Büttel wischte sich den Bierschaum vom Mund, «bist morgen Abend im Waisenhaus.»

Theres erwiderte nichts, nur die Hand, mit der sie den Löffel hielt, begann zu zittern. Sie vermochte kaum, ihren Teller leer zu essen – allein das Wort «Waisenhaus» hatte ihr die Kehle zugeschnürt.

«Ich bin müde», flüsterte sie schließlich.

«Geh halt schlafen.» Hufnagl gab dem Wirt ein Zeichen, ihm den Bierkrug nachzufüllen. «Und weh dir, du machst Ärger.»

Als sich Theres auf ihrem schmalen Lager ausstreckte, hörte sie den Wirt nebenan fragen: «Was ist das für ein Balg, das Sie da mitschleppen?»

«Ein Vagantenkind. Soll nach Weingarten.»

«Ja, ja.» Der Wirt seufzte. «Die vermehren sich wie die Ratten, diese Landstreicher. Man sollt sie alle einsperren.»

Sie hatten Glück: Am nächsten Morgen nahm ein Tuchhändler sie bis in die nächste große Stadt namens Saulgau mit, wo sie ihre Wasserflaschen auffüllten und ihnen die Ortspolizei eine weitere Fahrgelegenheit auf einem Krämerkarren verschaffte. Theres hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen, so oft hatte sie weinen müssen. Jetzt, am Nachmittag, begann sie der Hunger zu quälen. Bis auf einen Napf Hafergrütze in der Frühe hatte sie noch nichts gegessen, und sie wagte es nicht, den Büttel um ein Stück Wurst oder Brot zu bitten. Außerdem war ihr kalt. Ihre dünne Jacke schützte sie kaum vor dem kühlen Wind, der inzwischen aufgekommen war und über ihnen dunkelgraue Gewitterwolken zusammenschob.

Als sie schließlich bei einem Dorfbrunnen Halt einlegten und Theres vom Karren klettern wollte, gaben ihre Beine unter ihr nach, und sie sank zu Boden.

«Ist das Kind krank?», fragte der Krämer erschrocken. «Ich sag’s Ihnen offen: Wenn die krank ist, nehm ich euch nicht weiter mit.»

«Ja, Heidenei und Kruzifix!» Umständlich stieg der Büttel vom Kutschbock und half Theres wieder auf die Beine. «Jetzet reiß dich aber z’samme!»

«Ich will heim nach Eglingen», flüsterte sie.

«Spinnst völlig? Der alte Stickl tät dir die Tür vor der Nas zuschlagen. Hast net verstanden? Der will dich nimmer.»

«Soll ich Ihnen was sagen?» Der Krämer, ein hagerer Mann mit grauem Bart und Halbglatze, füllte seine Wasserflasche mit Brunnenwasser auf. «Das Kind hat Hunger. Dem sein Magen knurrt ja lauter, als mein Maultier wiehern kann. Geben Sie ihm denn nichts zu essen?»

Hufnagl zuckte die Schultern. «Der Bauer hätt ihr halt was Rechtes mitgeben müssen. Ich hab selber net genug.»

Kopfschüttelnd trat der Krämer an seinen Karren, öffnete eine Kiste und zog einen Kreuzerwecken und ein Stück Schwarzwurst heraus.

«Da, nimm!»

Theres stammelte ein «Vergelt’s Gott!» und mehrfaches Danke.

«Schon recht! Füll dein Wasser auf, damit wir rasch weiterkönnen. Ich will vor dem Regen in Ravensburg ankommen.»

Viel zu schnell hatte Theres ihre Brotzeit hinuntergeschlungen und war doch noch immer nicht satt. Aber Schwindel und Magenknurren waren wenigstens verschwunden, und sie fühlte sich wieder bei Kräften. Einen kurzen Augenblick dachte sie daran, jetzt, wo sie fast am Ziel ihrer Reise war, vom Wagen zu springen und davonzulaufen. Sich irgendwo zu verstecken, bis der Büttel nicht mehr nach ihr suchte. Aber dann verwarf sie den Gedanken wieder. Wohin sollte sie schon gehen? Wie sollte sie zu ihrem Essen kommen, wo übernachten? Ihr fiel ein, dass sie ja Angst hatte, allein in der Dunkelheit. Und außerdem würde es bald regnen, vielleicht gar gewittern.

Sie wandte den Kopf. Von Westen, von der Alb her, wurde das Dunkel immer bedrohlicher, und sie vernahm fernes Donnergrollen. Bei Sonnenschein hätte diese Landschaft um sie herum mit ihren weiten, saftigen Wiesen und den Seen und Weihern, die bald hinter jeder Baumgruppe auftauchten, bestimmt etwas Malerisches gehabt. Nun aber lag das Gras fast flach im böigen Wind, von graugrüner Farbe war es plötzlich, während die Waldstücke immer dunkler wurden und die Seen schwarz glänzten.

Da hörte sie ein Rauschen über sich. So tief, dass sie ihn fast hätte berühren können, zog ein Storch über sie hinweg. Sie wusste sofort: Es war derselbe, den sie am Morgen bei ihrer Abfahrt beobachtet hatte. Derselbe Storch, der droben auf dem Riedlinger Rathausdach die Flügel gespreizt und sich, als der Kaufmann seinen Rössern die Zügel auf den Rücken klatschte, in die Luft geschwungen hatte. Gerade so, als wolle er sich ebenfalls auf die Reise machen, hatte Theres da gedacht und sich trotz ihrer elenden Lage gefreut. Störche brachten nämlich Glück.

Jetzt war sie sich sicher, dass der riesige Vogel sie tatsächlich begleitet und beschützt hatte auf ihrer Reise nach Weingarten, denn als sie ihm nachschaute, hörte sie den Krämer sagen: «Wir sind bald da.»

Sie befanden sich am Rande einer Hochfläche, die hier jäh zu einem breiten Tal hin abfiel, und der Krämer deutete mit ausgetrecktem Arm auf die andere Seite, wo über einer bewaldeten Bergkette die blaugrauen Zacken der Alpen zu erkennen waren. «Heut ist Föhn, da ist weite Sicht. Seht ihr? Da drüben liegt Altdorf mit dem vormaligen Kloster Weingarten. Das war mal weitberühmt, wegen der Kirche und dem Heilig Blut. Jetzt verfällt’s und steht halb leer, bis auf den Teil mit dem Waisenhaus.»

Wie ein Fingerzeig schob sich in diesem Moment ein Strahlenbündel der Nachmittagssonne durch die Wolken und ließ Mauern, Kuppel und die beiden Türme der mächtigen Klosteranlage golden schimmern. Vielleicht ist das ein Zeichen, vielleicht wird alles doch nicht so schlimm, dachte Theres, während der Storch noch eine Runde über ihren Köpfen drehte, als wolle er sich verabschieden, und dann in Richtung Tal hinuntersegelte.

Vor ihrem inneren Auge sah sie das sommersprossige Gesicht ihres Bruders mit dem ewig zerzausten Haar in der Stirn. «Im Sommer komm ich dich besuchen», hörte sie ihn sagen. «Das schwör ich bei Gott und allen Heiligen.»

Eine halbe Stunde später hatten sie die gefährlich steile Steige hinter sich gebracht. Am Rande eines kleinen Dorfes zügelte der Krämer sein Maultier.

«Ab hier müsst ihr zu Fuß gehen. Es ist nicht mehr weit bis Altdorf. Nehmt am besten den Feldweg da vorn.»

Hufnagl bedankte sich. In diesem Augenblick verdunkelte sich der Himmel, als werde es gleich Nacht, und es begann zu schütten wie aus Eimern.

«Herrgottsdonnerblitz!», fluchte der Büttel und sah dem Karren nach, der hinter dem Regenvorhang in Richtung Ravensburg verschwand. «Nix als Malör hat man mit euch Landstreichern. Jetzt könnt ich gemütlich daheim im Wirtshaus hocken, und was mach ich stattdessen? Zieh bei diesem Sauwetter mit einem Vagantenbastard durch die halbe Weltg’schicht!»

Er packte Theres grob beim Arm. «Los, komm schon, beweg deine Haxen.»

Sie konnte kaum Schritt halten mit dem großen Mann. «Es tut mir leid», murmelte sie.

«Leid – leid – dummes Gschwätz!» Hufnagl begann sich in Rage zu reden, während ihm das Wasser übers Gesicht lief. «Man hätt dich grad hier im Schussental lassen sollen, damals, als die Landjäger deine Mutter und dich aufgegabelt hatten. Sackerment – wieso bleibst jetzt stehen?»

«Hier?»

In Theres’ Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Zeitlebens hatte sie geglaubt, ihre Mutter habe sie und Hannes in Eglingen einfach alleingelassen. Oder weggegeben wie einen alten löchrigen Schuh.

«Hier?», wiederholte sie.

«Was fragst so dumm? Hast net gewusst, dass du von der Straß kommst? Eing’sperrt hat man die Weiber und euch Blagen weggebracht.»

«Woher – woher wissen Sie das?»

«Weil mein Schwager Büttel in Ravensburg ist, darum. Und meine Schwester hat dich auf einem Eselskarren auf die Alb bringen müssen, die Arme. Die ganze Reise hast gebrüllt wie am Spieß. Die hätt dich am liebsten im nächsten Weiher versenkt!»

«Und… Und meine Mutter?»

«Was weiß ich? Jetzt halt endlich dei Gosch und komm!»

Theres blickte nicht nach links noch nach rechts, als sie die restliche Wegstrecke neben dem Büttel herstapfte und schließlich die Häuser der Ortschaft Altdorf erreichte. Sie konnte nicht fassen, was sie da eben erfahren hatte: Ihre Mutter war also gar nicht das herzlose Weib, dem seine Kinder gleichgültig waren. Bestimmt hatte sie bitterlich geweint, als sie eingesperrt werden sollte. Hatte um ihre Freiheit gefleht, darum, ihr kleines Mädchen behalten zu dürfen.

Ihre nackten Füße tappten über die regennassen Gassen, während der Büttel sich zum Rathaus durchfragte. Dort klopfte er mehrmals ungeduldig gegen das Tor, bis endlich jemand öffnete.

«Hufnagl mein Name, Büttel aus Münsingen. Sind Sie der Bürgermeister?»

«Seh ich so aus? Bin nur der Amtsbote. Der Herr Bürgermeister ist zu Tisch, im Löwen.» Der Atem des Mannes roch nach Branntwein, und der Unwillen über diese Störung war ihm deutlich anzusehen.» Was wollen Sie also?»

«Ich soll die Theres Ludwig ins Vagantenkinderinstitut bringen.»

Der Amtsbote musterte Theres und verzog das Gesicht.

«Ein Landstreicherkind also. Dacht ich mir’s fast. Haben Sie die nötigen Papiere dabei?»

«Selbstverständlich. Hier – ihr Heimatschein. Und hier die Anweisung vom Münsinger Kirchenkonvent an das hiesige Oberamt und ans Waisenhaus. Das Mädle soll künftig dem Oberamt Ravensburg zugesprochen sein.»

«Als ob wir nicht schon genug verwahrloste Kinder hätten», murrte der Amtsbote. «Immer noch mehr werden hier angeschleppt.»

«Sie kriegen das Mädle zurück, nix weiter. Schließlich haben Ihre Leut es vor acht Jahren hier aufgegabelt, drunten bei Niederbiegen.»

«Kommt dieser Entscheid aus Stuttgart?»

Hufnagl nickte. «Liegt schriftlich bei.»

«Gut. Warten Sie hier in der Diele, ich bin gleich zurück.»

Die Kälte des Steinbodens drang Theres durch den ganzen Körper. Kurz darauf kehrte der Mann zurück, in langem Regenumhang und Kapuze.

«Brauchen Sie eine Bleibe zum Übernachten?», fragte er Hufnagl.

«Nein, ich will noch nach Ravensburg, zu meinem Schwager. Wie weit ist’s bis dahin?»

«Eine Wegstunde.» Der Amtsbote nahm eine Laterne vom Wandhaken. «Hier, für Sie. Es wird bald dunkel. Geben Sie sie morgen beim Oberamt ab.»

Der Büttel bedankte sich, und sie traten hinaus in die Abenddämmerung. Es hatte zu regnen aufgehört.

«Nun dann, Theres…» Hufnagl wirkte mit einem Mal verlegen. Unbeholfen klopfte er Theres auf die Schulter. «Es wird schon werden. Halt dich immer nur schön brav, dann wird’s dir net schlecht ergehn. Behüt dich Gott!»

Theres krampfte es das Herz zusammen, als sie dem fremden Mann durch die Gasse folgte. Vor ihnen auf einem Berg, hoch über den Dächern und jetzt in schwefelgelbes Licht getaucht, thronte das alte Kloster Weingarten mit seiner Kirche. Über einen mächtigen steinernen Treppenaufgang gelangte man hinauf.

Sie legte den Kopf in den Nacken: Der Anblick des riesigen Gotteshauses dort oben, das kaum von Menschenhand gemacht sein konnte, erschreckte Theres. Erst recht der Gedanke, dass dort herinnen eine solch unheimliche Kostbarkeit wie das Blut Jesu Christi aufbewahrt wurde.

«Jetzt mach schon!» Der Amtsbote gab ihr einen Stoß. «Ich will endlich Feierabend haben.»

Zögernd stieg sie die Stufen hinauf und fühlte sich winzig und wehrlos wie eine Laus.

2

Ankunft im Waisenhaus Weingarten, Mai 1832

Das hochaufgeschossene Mädchen mit den dicken, weißblonden Zöpfen verschränkte die Arme.

«Du bist also die Theres. Wo kommst her?»

«Von Eglingen.»

«Nie gehört. Hör zu, Theres. Dass du’s gleich weißt: Ich bin hier die Stubenälteste und hab das Sagen im Schlafsaal. Verstanden?»

«Ja.» Theres nickte müde. Sie hatte nur noch den einen Wunsch, sich endlich in eines der Betten verkriechen zu dürfen. Schon im Amtslokal des Hauptinstituts, wo sie bei ihrer Ankunft vom Ökonomieverwalter Wilhelm Ludwig Heintz empfangen worden war, hatte sie sich kaum noch auf den Beinen halten können vor Erschöpfung und Hunger. Hatte die knappen Fragen nach Name und Alter, Herkunft und Konfession beantwortet und dabei nur noch an einen Teller warmer Suppe denken können.

Mit dem Satz «Alles Weitere morgen früh» hatte das untersetzte, ältliche Männlein mit Spitzbart und runder Brille auf der Hakennase das Gespräch schließlich beendet und nach der Hausmagd geläutet. Da hatte Theres ihren ganzen Mut zusammengenommen und ihn nach einem Abendessen gefragt.

«Was erlaubst du dir?» Die schnarrende Stimme bekam einen ärgerlichen Klang. «Zu Abend gegessen wird schlag halb sechs, nicht früher, nicht später. Wir sind hier schließlich keine Speisewirtschaft. Und jetzt geh mit der Magd und wasch dich, du stinkst zum Davonlaufen!»

Geduckt wie ein geprügelter Hund, war Theres der Frau durch eine Abfolge dunkler Gänge gefolgt, bis sie in einen Kellerraum gelangten. An der Wand standen große Öfen mit Wasserkesseln darauf, in einem glühte noch die Kohle.

«Zieh dich aus und wasch dich», hatte die Magd sie angewiesen. «Bin gleich wieder da.»

Das Wasser war noch lauwarm, und nachdem sich Theres im Halbdunkel einer Tranlampe sorgfältig gewaschen hatte, war die Magd auch schon wieder zurück. In der Linken hielt sie ein graues Nachthemd und Filzpantoffeln, in der Rechten einen Kanten Brot mit Käse.

«Verrat mich nicht», hatte sie gesagt, während Theres das Hemd überstreifte und sich dabei gierig Brot und Käse in den Mund stopfte. Dann war sie zum Mädchenschlafsaal geführt worden, wo sie jetzt in der offenen Tür stand, umringt von einer Horde neugieriger Kinder.

«Du schläfst am hinteren Fenster, bei der Sophie. Wenn was ist, läutest die Glocke hier bei der Tür. Und jetzt alle zurück ins Bett!», befahl die Hausmagd. «Du auch, Rosina! Und führ dich net immer so auf.»

Mit einem dumpfen Schlag fiel die Tür hinter Theres ins Schloss, knarrend wurde ein Riegel vorgeschoben.

Keines der Mädchen rührte sich.

Als Theres in Richtung Fenster gehen wollte, stellte die Weißblonde, die Rosina hieß, ihr ein Bein, und sie stürzte der Länge nach zu Boden. Im nächsten Moment spürte sie einen Fuß auf ihrem Rücken.

«Da ist noch etwas», hörte sie die Stubenälteste in affigstem Schriftdeutsch sagen. «Als Neue bedienst du mich, dass das klar ist. Und du sprichst mich mit Fräulein Rosina an.»

Der Druck auf ihren Rücken verstärkte sich.

«Ob das klar ist!»

«Ja.»

«Das heißt: Ja, Fräulein Rosina.»

«Ja, Fräulein Rosina», presste Theres hervor.

Die anderen kicherten, und Tränen der Wut schossen Theres in die Augen.

«Morgen früh übernimmst dann meinen Kehrdienst, verstanden?»

«Ja, Fräulein Rosina.»

«Gut. Und jetzt küss mir die Füße, danach darfst ins Bett.»

Der Druck auf Theres’ Rücken schwand. Dicht vor ihrer Nase erschienen zwei Füße, denen selbst im Halbdunkel anzusehen war, wie dreckig sie waren. Angewidert drückte sie einen flüchtigen Kuss auf jeden Fußrücken und rappelte sich auf.

«Mein Gott, die Neue heult ja!», höhnte Rosina. «Was für ein Mammasuggele! Sophie, bring sie ins Bett, die Kleine muss Heia machen.»

Das dunkelhaarige Mädchen, das Sophie hieß und kaum älter wirkte als Theres, führte sie zu einem der Doppelstockbetten.

«Heut Nacht kannst mit unter meiner Decke schlafen. Aber morgen holst dir selber eine.»

Theres nickte, dann drehte sie sich zu Rosina um: «Und wie lang soll das gehen?», fragte sie leise. «Als deine Dienerin, mein ich?»

«Sabberlodd, was bist du dumm! Natürlich, bis die nächste Neue kommt.»

Alle brachen in schallendes Gelächter aus.

In diesem Moment steckte jemand den Kopf zur Tür herein und brüllte: «Ruhe jetzt, zum Donnerwetter!»

Die Mädchen sprangen in ihre Betten, und augenblicklich herrschte Totenstille. Mit klopfendem Herzen drehte sich Theres zur Wand. Sie würde hier nicht bleiben, niemals. Dann doch lieber irgendwo im Wald wohnen und vom Bettel leben.

«Keine Angst, das wird schon alles», hörte sie neben sich Sophie flüstern. «Die Rosina ist gar nicht so schlimm.»

Am nächsten Morgen in aller Frühe weckte sie der Lärm schlagender Topfdeckel.

«Los, aufstellen!», rief eine Frauenstimme von der Tür her. «Eins, zwei – drei!»

Bei drei standen tatsächlich alle Mädchen vor ihren Betten stramm und riefen: «Guten Morgen, Frau Wagner!» Theres, die erst spät in der Nacht in den Schlaf gefunden hatte, rieb sich die Augen. Gut zwei Dutzend Kinder zählte sie, alle in denselben hellgrauen, bodenlangen Nachthemden und dunkelgrauen Filzpantoffeln. Mit halblauter Stimme begannen sie ein Morgengebet herunterzuleiern, das Theres nicht kannte. Während sie zum Schein die Lippen bewegte, entdeckte sie zu ihrem Schrecken, dass die Fenster, durch die das fahle Morgenlicht drang, wahrhaftig vergittert waren! Im Geiste sah sie bereits die Aufseher mit Lederpeitschen vor sich, die sie gleich zur Arbeit antreiben würden.

«Was geschieht als Nächstes?», fragte sie Sophie leise, während sie in Zweierreihen der hageren Frau mit dem grauen Dutt folgten.

«Waschen, Beten, Essen, Schule – wie immer. Ach nein, heut ist ja Freitag. Da ist vorher Kirchgang statt Gebetsstunde.»

«Kirchgang?»

«Halt die Morgenpredigt in Sankt Martin. Immer dienstags und freitags, dazu am monatlichen Bußtag und am Geburtstag unseres Königs. Ist das bei dir daheim nicht so?»

Theres schüttelte den Kopf. «Ich durft nur sonntags und an den Feiertagen in die Kirche.»

«Wirst sehn: Das ist das Beste hier. Da kannst nämlich noch eine halbe Stunde weiterschlafen.»

Inzwischen hatten sie den Waschraum erreicht. Jetzt erst bemerkte Theres, dass hinter ihnen eine Horde Buben marschiert war und in dem Waschraum gegenüber verschwand. Einer von ihnen, ein hochgeschossener, schwarzhaariger Kerl mit dunklen Augenringen im bleichen Gesicht, drehte sich im Türrahmen um und streckte ihr die Zunge heraus.

«He, Theres!» Im Waschraum stand die Magd vom Vorabend und winkte sie heran. «Hier dein Rock, Mieder, Hemd, Wäsche und Strümpfe. Das sollte passen, denk ich. Wenn nicht, kommst heut Nachmittag zu mir.» Sie legte die Sachen auf ein Holzregal, an dem eine lange Reihe von Namensschildern angebracht war. «Das ist der Platz für die Nachthemden und Handtücher. Für die Kleidung habt ihr Truhen im Schlafsaal. Du teilst dir eine mit Sophie – dein Lumpenbündel hab ich da schon reingetan. Übrigens kontrollier ich ab und an, ob alles ordentlich zusammengefaltet ist. Verstanden?»

Theres nickte.

«Ein Namensschild für Truhe und Ablage bekommst du morgen. Du kannst doch hoffentlich lesen?»

Das Gesicht der Hausmagd wirkte jetzt älter als am Vorabend und um einiges strenger.

«Ja.»

Das war schlichtweg gelogen, doch ihren Namenszug erkannte Theres immerhin.

«Gut. Ich bin übrigens Fräulein Susanna. Waschlappen und Handtuch gibt es jeden Samstag neu, alle vierzehn Tag dürft ihr warm baden, unten im Keller. Und jetzt geh dich waschen.»

Theres quetschte sich neben ihre Bettgenossin an den langgestreckten Holztisch, auf dem die Waschschüsseln aufgereiht standen. Kaum hatte sie die Hände in das eiskalte Wasser getaucht, packte sie jemand am Nacken und drückte ihr das Gesicht unter Wasser. Theres prustete und zappelte und schlug mit aller Kraft um sich, bis sie endlich freikam. Verzweifelt schnappte sie nach Luft und sah sich nach der Hausmagd um. Doch die war spurlos verschwunden.

«Das war deine Taufe.» Rosina stand hinter ihr und grinste mit den andern um die Wette. «Und jetzt wasch mir mein Gesicht.»

Theres nahm den nassen Lappen, den Rosina ihr unter die Nase hielt, und klatschte ihn dem Mädchen, in einem Anflug von Wagemut, mitten ins Gesicht.

«Na warte!»

Eh sie sich’s versah, hatte die andre ihr die Arme auf den Rücken gedreht und sie ein zweites Mal mit dem Gesicht in die Schüssel gezwungen. Jemand schüttete einen Schwall Wasser nach, überall drang dieses eisige Wasser ein, in Nase, Augen und Kehle. Eine grauenhafte Angst packte sie, sie wollte laut schreien, aber es ging nicht. Luft, Luft, brüllte es in ihr, und sie spuckte und würgte und keuchte und spuckte immer noch, als sie sich längst auf dem nassen Boden vor dem Waschtisch krümmte.

«Das tust du nie wieder. Sonst schlag ich dich tot», zischte Rosina.

Keines der Mädchen lachte mehr. Sophie half Theres auf die Beine und trocknete ihr Gesicht und Haare ab.

«Deine Nase blutet», sagte sie plötzlich und zog das Handtuch weg. Es war voller hellroter Flecken. «Oje, das gibt Ärger.»

Theres hielt ihren schmerzenden Kopf über die Schüssel und betrachtete die roten Tropfen, die kreisförmige Ornamente ins Waschwasser zeichneten. Sie konnte noch immer nicht sprechen. Als die Nase endlich zu bluten aufgehört hatte, streifte sie sich das durchnässte Nachthemd über den Kopf und kleidete sich an. Die anderen hatten sich bereits draußen auf dem Gang aufgereiht, auch Sophie.

Mit zitternden Händen knöpfte Theres das schlichte braune Gewand zu, das an den Ärmeln bereits mehrfach geflickt war. Dann sah sie hinauf zu den beiden Fenstern, oben unter der Decke. Ein strahlend blauer Himmel war zwischen den Gitterstäben zu erkennen, und sie dachte an die Weite auf der Rauhen Alb, an den unendlichen Himmel dort, an den Duft nach Wacholder und Wildblumen im Frühjahr.

«Wo ist die Neue?», hörte sie vom Gang her eine tiefe Stimme, und im nächsten Augenblick schon stand ein Bär von Mann im Türrahmen. Theres erschrak bis ins Mark: Der Mann, der Kleidung nach ein Knecht, starrte sie aus einem einzigen Auge böse an. Anstelle des andern Auges klaffte eine dunkle Höhle.

«Was ist das für eine Sauerei hier?»

Theres blickte zu Boden. In einer Pfütze lag zusammengeknüllt ihr Nachthemd, neben dem blutbefleckten Handtuch. Das Wasser auf den Fliesen hatte sich hellrot verfärbt.

«Das werd ich melden. Und jetzt raus zu den andern.»

Eilig schlüpfte sie in ihre Pantoffeln und ging hinaus, um sich in die Schlange der wartenden Mädchen einzureihen. Neben ihnen hatten sich die Knaben aufgestellt, die über Theres zu tuscheln und zu grinsen begannen.

«Verrat lieber nicht, was die Rosina mit dir gemacht hat», raunte Sophie ihr zu.

Theres antwortete nicht. Ihr war bald alles gleichgültig.

Wenig später betraten sie den weitläufigen Innenhof, dessen Längsseite von jener mächtigen Kirche begrenzt wurde, die sie am Vortag schon so beeindruckt und zugleich beunruhigt hatte. Jetzt läutete von einem der beiden himmelwärts ragenden Türme die Glocke zur Morgenpredigt. Mit gesenktem Kopf schlurfte sie in den viel zu großen Lederschuhen, die man ihr zugewiesen hatte, neben Sophie her. Sie bemerkte, dass die Pflastersteine in einem Muster gehalten waren: Einem Quadrat von vier hellen Steinen folgte eines aus dunkleren. Wenn sie es nun schaffen würde, bis zur Kirche immer nur die hellen Steine zu betreten, dann würde doch noch alles gut werden hier in der Vagantenkinderanstalt!

Plötzlich prallte sie gegen den Rücken ihrer Vorgängerin, die samt den anderen Mädchen abrupt stehengeblieben war.

«Pass doch auf, du Trampel!» Vor ihnen marschierte eine weitere Schar Kinder, ebenfalls in Zweierreihen und allesamt in dunkelblauen Kleidern mit hübschen weißen Spitzenkrägen, im Gleichschritt auf den Durchgang zum Kirchenvorplatz zu. Während die Vagantenkinder ihnen den Vortritt ließen, sah Theres zu ihrer Enttäuschung, dass ihre Schuhe halb auf den hellen, halb auf den dunklen Pflastersteinen zum Stehen gekommen waren.

«Das sind die Waisen vom Hauptinstitut», hörte sie Sophie sagen, als sie hinaus auf den Kirchplatz hoch über Altdorf traten. «Die glauben, die wären was Bessres als wir.»

Kühle Luft umfing sie im Kircheninnern. Noch großartiger als von außen zeigte sich Sankt Martin hier herinnen. Das Kirchenschiff, das auf mächtigen Pfeilern ruhte, war in blendendem Weiß gehalten, durchsetzt von den flammenden Farben der Deckengemälde, dem dunklen Holz des geschnitzten Chorgestühls, dem reichverzierten Orgelprospekt und dem Gold des Chorgitters. Die Pracht des Hochaltars war von hier aus nur zu erahnen, und die Kuppel schwebte dermaßen hoch über ihnen, dass einem schwindlig wurde, blickte man hinauf. Zu winzigen Ameisen wurden die Menschen, und Theres fragte sich, wie es sein konnte, dass ein solcher Gottespalast dem gemeinen Volk offen stand, ja selbst solchen Kindern wie ihr, den Kindern von Bettlern und Landstreichern. Dabei war Altdorf nicht einmal eine Stadt, nur ein Marktflecken.

«Wo ist das Blut?», flüsterte Theres Sophie ins Ohr, und ein Schauer durchrann ihren Körper.

«Das Blut? Ach so – die Reliquie. Da vorn, im Heilig-Blut-Altar. Zur Prozession am Blutfreitag wird sie rausgeholt und durch die Gassen und Felder getragen, damit jeder sie sehen kann. Jetzt komm schon.»

Sophie zog sie zu einer der hintersten Bankreihen.

«Müssen wir denn nicht stehen?», fragte Theres, nachdem sie sich bekreuzigt hatte.

«Jetzt haltet endlich die Goschen, Vagantenpack!», fauchte ein Mädchen zwei Reihen vor ihnen, wie ihre Nebensitzerinnen im blauen Kleid der Waisenkinder. Sophie streckte ihm die Zunge heraus und schob Theres zu den anderen Vagantenkindern in die Bank.

Als der Pfarrer mit kräftiger Stimme zur Predigt anhob, flüsterte Sophie: «Willst du meine Freundin sein?»

«Gern!»

Zum ersten Mal seit ihrem Abschied von daheim empfand Theres so etwas wie Freude. Sie hörte Sophie noch murmeln: «Ich hab nämlich bislang keine Freundin», dann fielen Theres vor Müdigkeit die Augen zu.

Heil unserm König, Heil!, schmetterte die Gemeinde aus voller Brust, und Theres schrak auf. Alle hatten sich erhoben, um mit dieser Huldigung an König Wilhelm, wie überall in den Kirchen des Landes, den Gottesdienst abzuschließen.

Sei bester König hier,

lang noch des Volkes Zier,

der Menschheit Stolz…

Mit lauter Stimme sang Theres die letzten Verse mit, wobei ihr Blick über die Köpfe der Kirchgänger schweifte, auf der Suche nach Rosina. Doch deren weißblonder Haarschopf war zum Glück nirgends zu entdecken. Vielleicht lag sie ja krank im Bett.

Entgegen ihrer Hoffnung erwartete die Stubenälteste sie in bester Verfassung am Treppenaufgang der Erziehungsanstalt. «Hast ja hoffentlich nicht vergessen, dass du meinen Kehrdienst machen sollst, oder?»

«Nein», murmelte Theres und drückte sich an ihr vorbei die Stufen hinauf.

«Dann aber schnell, sonst kriegst nix mehr ab vom Morgenessen. Die Besen findst in der Kammer neben dem Schlafraum.»

Der Flur vor den Schlafsälen lag wie ausgestorben da, nachdem sie die Treppe bis zum dritten Stockwerk hinaufgehastet war. Sie hatte völlig vergessen zu fragen, wo sich der Esssaal befand. Dabei war ihr inzwischen fast schlecht vor Hunger und erst recht bei dem Gedanken, die nächsten Wochen und Monate dieser dummen Ziege zu gehorchen.

Wütend zerrte sie Kehrblech, Handfeger und Besen aus der Abstellkammer und machte sich an die Arbeit. Der grobe Dielenboden sah nicht gerade aus, als sei er die letzten Tage sorgfältig gefegt worden, und binnen weniger Minuten war die Kehrschaufel voller Krümel und Staub. Ratlos blickte Theres sich um: Wohin jetzt mit dem Dreck?

Vom Schlafsaal gegenüber hörte sie ein Geräusch. Sie trat in den Flur hinaus und erschrak bis ins Mark: Vor ihr, im Türrahmen des Knabenschlafsaals, stand eine Art Gespensterwesen! Eine winzige Gestalt, zierlicher und kleiner noch als sie selbst, mit riesengroßen Händen, Füßen und Kopf, von dem hellrotes Haar wie Flammen in alle Richtungen abstand.

Erst ein einäugiger Riese, dann ein Zwerg! Die volle Kehrschaufel glitt ihr aus der Hand und fiel scheppernd zu Boden.

Das Gesicht des Kleinwüchsigen verzog sich zu einem belustigten Grinsen. «Was gibt’s da zu glotzen? Hast noch nie einen Zwerg gesehen?»

Sie schüttelte den Kopf.

«Dann hab ich dich also erschreckt? Keine Angst, das geht am Anfang jedem so. Am besten schaust mir ins Gesicht, das sieht noch am normalsten aus.»

«Ich – ich hab keine Angst», stotterte Theres. «Ich wollt dich eigentlich fragen, wo ich den Kehricht hintun soll.»

«Na, dann frag mich doch.» Der Junge verschränkte die Arme und zwinkerte ihr zu. «Na los, frag!»

«Wo soll der Kehricht hin?»

«Welcher Kehricht? Deine Kudderschaufel ist leer.» Er lachte und nahm ihr den Besen aus der Hand. «Wart, ich helf dir. Hast ja vor Schreck alles verschüttet.»

Er fegte den Dreck zu Theres’ Füßen zusammen und schüttete alles in den Eimer neben der Besenkammer.

«Ich bin übrigens der Urle. Oder auch Ulrich, aber das sagt kein Mensch zu mir.»

«Ich heiß Theres.»

«Du bist neu hier, gell?»

«Ja.»

Sie schämte sich plötzlich, dass ihr die Gestalt des Jungen solche Angst eingejagt hatte. Sein Gesicht sah eigentlich ganz nett aus, mit den Grübchen in den Wangen und den großen grünen Augen. «Kannst du mir sagen, wie ich hernach zum Speisesaal komm?», fragte sie.

«Bist etwa noch nicht fertig mit Kehren?»

«Nein.»

«Wenn du willst, helf ich dir, und wir gehen zusammen zum Morgenessen. Oder genierst dich mit mir?»

«Nein, gar nicht.»

Wobei das allem anderen als der Wahrheit entsprach. Natürlich fürchtete sie den Spott der anderen Kinder, wenn sie gemeinsam mit diesem seltsamen Jungen beim Essen auftauchen würde. Aber jetzt gab es kein Zurück.

Wenig später stieg sie an Urles Seite die Treppen hinunter ins Parterre, wo sich der Speisesaal befand, ein schmuckloser Raum, von dessen Wänden der Putz bröckelte. An einem Stehpult an der Schmalseite, wo sich auch der Durchgang zur Küche befand, wachte eine ältere Frau mit Küchenhaube und langer Schürze über die vier langgestreckten Tischreihen. Vierzig bis fünfzig Kinder hockten dort über ihren Tellern und löffelten schweigend ihren Brei – bis zu dem Moment jedenfalls, als Theres und Urle eintraten. Sofort brandete Gelächter auf.

«Da schau her! Unser Zwergle hat ein neues Gspusi!», rief der Schwarzhaarige, der Theres am Morgen die Zunge herausgestreckt hatte.

«Ruhe!» Die Faust der Küchenmagd krachte gegen den Pultdeckel. Dann winkte sie die beiden zu sich heran. «Ihr wisst: Wer zu spät zum Essen kommt, bei dem bleibt der Teller leer.»

«Ich hatte Kehrdienst», erklärte Urle. «Und die Theres auch. Es ging halt länger diesmal.»

Die Küchenmagd musterte Theres. «Dich kenn ich noch gar nicht.»

Theres wollte sich gerade vorstellen, als es durch den Saal raunte: «Achtung! Heinzelmännle und der dicke Fritz!» Sie wandte sich um: Der schmächtige Verwalter, der sie am Vorabend empfangen hatte, war eingetreten, an seiner Seite ein Mann, noch dicker als Büttel Hufnagl, dabei rotgesichtig und mit grauem Backenbart und Glatze. Jetzt schnaufte er vernehmlich, während die Kinder von ihren Bänken auffuhren und strammstanden.

«Guten Morgen, Herr Oberinspektor! Guten Morgen, Herr Verwalter!»

«Guten Morgen, ihr Kinder.» Der Dicke trat auf Theres zu. «Da haben wir ja unseren neuen Zögling. Theres Ludwig, nicht wahr?»

«Ja.» Sie machte einen tiefen Knicks.

«Und mit unserem Haus- und Hofnarren Urle hast du dich auch bereits bekannt gemacht, wie ich sehe. Nun – ich bin Oberinspektor Fritz, zugleich Hausgeistlicher dieses Instituts. Den Herrn Heintz kennst du ja bereits.»

Er räusperte sich.

«Wir haben dich bei uns aufgenommen, Theres Ludwig, um dich eine ehrbare, züchtige und gottselige Lebensführung zu lehren. Lasse hierzu deine Vergangenheit hinter dir, die von mancherlei widrigem Tun, von einem Leben ohne Zucht und Ordnung, geprägt gewesen sein mag. Wildwuchs muss beschnitten werden, dann aber findet sich in jedem von Gottes Geschöpfen der Kern zum Guten, auch bei euch Kindern von der Straße.»

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

«Hier bei uns, im Rettungshaus für verwahrloste Kinder, wirst du herangezogen werden zu Arbeitsfleiß, Tugend und Gottesfurcht– Tugend und Gottesfurcht…» Er schien den Faden verloren zu haben, und sein Blick schweifte suchend umher, bis er an der Küchenmagd hängenblieb.

«Gebührendes Verhalten gegenüber dem gesamten Hauspersonal ist oberstes Gebot», fuhr er fort. «Dies heißt: Allen Anweisungen ist in Gehorsam und ohne Widerstreben Folge zu leisten. Unser Lehrpersonal wird dich im Beten wie im Lesen, Schreiben und Rechnen unterweisen sowie im hausfraulichen Tagwerk, und zwar in aller Güte, aber auch mit der nötigen Strenge. Solchermaßen gefestigt, wirst du eines Tages als ein nützliches und arbeitsames Mitglied unserer gesellschaftlichen Ordnung diese Anstalt verlassen und deinen weiteren Lebensweg selbst in die Hand nehmen können.»

Er nickte, wie um seine wohlgesetzten Worte noch einmal zu bestätigen, und wandte sich dann zum Gehen. Da berührte Wilhelm Heintz ihn beim Arm.

«Verzeihen Sie, Herr Kollege, aber ich hätte da noch eine Rüge vorzubringen.» Theres zuckte zusammen. «Urban hat mir vermeldet, dass dieses Kind den Waschraum in einen unerhörten Zustand versetzt hat. Es habe ausgesehen wie nach einer Wirtshausschlägerei.»

Der Oberinspektor legte die hohe Stirn in Falten. «Nun, Theres, was hast du hierzu zu sagen?»

Theres stand da mit eingezogenen Schultern und warf einen Seitenblick auf Sophie. Die schüttelte kaum merklich den Kopf.

«Ich hatte Nasenbluten», flüsterte Theres schließlich.

«Nasenbluten?»

«Das kommt manchmal, wenn ich aufgeregt bin.»

Der Oberinspektor lachte dröhnend. «Aber mein liebes Kind – wenn du dich still und gehorsam beträgst, gibt es hier nichts, was du fürchten musst. Was meinen Sie, werter Herr Kollege? Ich denke, für dieses Mal lassen wir es gut sein. Versprichst du, künftig besser achtzugeben, wenn dich das Nasenbluten überkommt?»

Theres nickte und machte abermals einen Knicks.

«Im Übrigen», Wilhelm Heintz setzte eine vollends sauertöpfische Miene auf, «gehört zu einem tugendhaften Geist auch ein angemessenes Äußeres. Das nächste Mal will ich dich ordentlich gekämmt und mit Zöpfen sehen.» Er griff ihr dermaßen fest ins dichte Haar, dass es schmerzte. «Was für ein schönes, kastanienbraunes Haar dir der Herrgott geschenkt hat! Und du lässt es solchermaßen verkommen.»

Theres schluckte. «Ich – ich hab keine Bürste.»

«Dann hol dir heute Mittag eine bei der Hausmagd Susanna ab. Und denk dran: Jedes Kind hat seine eigene Haarbürste, der Austausch ist streng untersagt. Wir wollen hier schließlich keine Läuseepidemie.»

Er warf einen prüfenden Blick auf seine Handflächen und wischte sie an der Hosennaht ab. Dann nickte er dem Oberinspektor zu, und die beiden verließen den Saal.

«Läuse-Theres, Läuse-Theres!», zischte Rosina.

«Halt den Mund, Rosina!» Die Küchenmagd warf der Stubenältesten einen warnenden Blick zu. Dann wandte sie sich an Theres und Urle: «Ihr zwei geht jetzt in die Küche und holt euch einen Teller Brei. Aber flink, der Unterricht beginnt gleich.»

Theres hätte laut losheulen mögen. Es war alles noch schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Was würde wohl als Nächstes kommen?

Nachdem sie und Urle in kürzester Zeit den lauwarmen Haferbrei hinuntergeschlungen hatten, nicht ohne zuvor und danach zu beten, reihten sie sich zu zweit auf, um im Stechschritt zum Schulsaal zu marschieren. Dort, an ein Pult gelehnt, erwartete sie bereits ungeduldig ihr Lehrer, ein junger, schlaksiger Mensch mit spitzem Gesicht und dünnem Zwirbelbart auf der Oberlippe. Die Kinder eilten zu ihren Bänken, um dort strammzustehen, die Buben links, die Mädchen rechts, während Theres unsicher im Türrahmen verharrte.

«Guten Morgen, Herr Löblich!», riefen sie im Chor.

«Guten Morgen.» Der Lehrer blickte auf ein Papier in seiner Hand, dann musterte er Theres. «Willst du dort Wurzeln schlagen? Schließ die Tür und hol dir dein Schulgerät. Dann setzt du dich nach hinten, in die freie Bank.»

Er überreichte ihr zwei Bücher und eine Schiefertafel mit Griffel und Schwämmchen, und Theres tat wie ihr geheißen. Nachdem sie sich in ihre Sitzbank gezwängt hatte, musste sie, wie alle Kinder, ihre Fingernägel vorzeigen und erntete dafür zwei schmerzhafte Tatzen. Zu ihrem Trost bekamen auch Rosina und einige der Knaben das Stöckchen des Lehrers zu spüren.

Nach dem Morgensegen schließlich sagte einer der Buben mehrere Gebete auf, die die Klasse im Chor nachsprach. Mit aneinandergelegten Händen und tief gesenktem Kopf murmelte Theres leise irgendetwas vor sich hin, denn sie hatte weder die Gebete noch das anschließende Kirchenlied jemals gehört. Endlich stimmten sie das Vaterunser an – hiervon wenigstens kannte sie jedes Wort. Mit fester Stimme fiel sie in den Chor ein, und als sie beim «Amen» wieder aufsah, stand der Lehrer vor ihrer Bank. Seine hellbraunen Augen zwinkerten nervös.

«Du bist also Theres Ludwig, acht Jahre alt und kommst von der Alb.»

«Ja, Herr Lehrer.»

«Warst du dort auf der Schule?»

«Manchmal, wenn ich Zeit hatte.»

«So, so. Wenn du Zeit hattest.» Lehrer Löblich verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen, wobei er eine Reihe kleiner, spitzer Zähne entblößte. «Aber Lesen und Schreiben hast du ja wohl gelernt, oder?»

Theres dachte fieberhaft über eine Antwort nach, die nicht gelogen wäre. Schließlich sagte sie: «Ein bisschen.»

Einige begannen zu kichern. Der Oberkörper des Mannes schnellte herum.

«Hier lacht keiner außer mir, verstanden?», brüllte er. «Wie heißt unsere siebente Betragensregel? Jodok!»

Der schwarzhaarige, lange Kerl mit dem bleichen Gesicht sprang auf. «Seiet untereinander friedlich und gefällig und vermeidet alles grobe Betragen.»

«Genau. Und nun zu dir, Theres. Ich weiß nicht, wie es in deiner Dorfschule gehalten wurde, aber bei uns gilt Folgendes: Das oberste Gebot sind Ruhe und Gehorsam. Ihr seid fast fünfzig Kinder hier, aber ich verlange eine Stille, als wäret ihr nicht da. Wirst du aufgerufen, erhebst du dich und hältst dich gerade. Ich dulde keine Zappelei. Willst du auf eine Frage antworten, hebst du deutlich die Hand, ohne Geschnipse. Für Trauerränder unter den Nägeln gibt’s Tatzen, wie du eben erfahren hast, auch dein Schulgerät hältst du reinlich und in Ordnung. Im Übrigen bin ich nicht nur euer Lehrer, sondern auch euer Aufseher. Ich habe mein Zimmer auf demselben Stock wie eure Schlafsäle. Sollte während der Nachtruhe etwas Ungebührliches geschehen, hast du wie alle andern die Pflicht, die Glocke zu läuten und mir oder der Lehrfrau Wagner Meldung zu erstatten. Verstanden?»

«Ja, Herr Lehrer.»

«Noch etwas: Wie du siehst, sind alle Vagantenkinder in einer Klasse zusammengefasst. Wer von euch sich wider Erwarten durch besonderen Fleiß und Geistesgaben auszeichnet, hat die einmalige Gelegenheit, in die Waisenschule zu wechseln. Dort haben wir drei Klassenstufen, die den jeweiligen Begabungen des Schülers entsprechen. Und jetzt geh mit mir an die Wandtafel und zeig, was du kannst.»

Mit klopfendem Herzen folgte Theres dem Lehrer nach vorn.

«Mit welchem Buchstaben beginnt dein Name?»

Sie nahm ein Stück Kreide und malte langsam, unter grässlichem Quietschen, ein großes T an die Tafel.

«Sehr schön. Und wie heißt dieser Buchstabe?»

Theres schwieg. Hinter dem Rücken des Lehrers sah sie, wie ihre Klassenkameraden sämtlich zu grinsen begannen. Nur Urle und Sophie bewegten lautlos die Lippen, als wollten sie ihr etwas sagen. Aber sie verstand sie nicht.

«Ich – ich hab’s vergessen.»

«Vergessen!» Der Lehrer stöhnte laut auf. «Ist das zu glauben? Wie kann man den Buchstaben vergessen, mit dem der eigene Name beginnt?» Er begann zu brüllen: «T wie Theres – in was für einer Deppenschule warst du eigentlich?»

Seine Stimme wurde wieder ruhiger. «Gut, gut, jeder hat das Recht auf einen zweiten Versuch. Schreib mir ein großes A.»

Jetzt schossen Theres die Tränen in die Augen. Voller Scham schüttelte sie den Kopf.

«Ich kann das Abc nicht», flüsterte sie.

«Was? Lauter!»

«Ich kann das Abc nicht.»

«Noch lauter! Stell dich vor die Klasse und wiederhol diese ungeheure Aussage.»

Lieber Herr im Himmel, lass mich jetzt sterben, dachte sie, als sie einen Schritt nach vorne trat. Die feixenden Gesichter rundum verschwammen zu hellen Flecken.

«Ich kann das Abc nicht», rief sie mit bebender Stimme. Dann durfte sie zurück in ihre Bank und war froh, allein zu sitzen, so sehr schämte sie sich. Für den Rest des Vormittags, während der Rechenstunde und der Leseübungen aus Katechismus und Bibel, wurde sie weder aufgerufen noch sonst irgendwie von ihrem Lehrer beachtet. Eine einzige Aufgabe hatte er ihr übertragen: ihre Schiefertafel abwechselnd mit großen und kleinen A’s zu beschreiben, alles sauber auszuwischen und wieder von vorne zu beginnen.

Endlich läutete die Schulglocke. Die Kinder erhoben sich, um zu beten, dann stürzten sie nach draußen. Nur Theres blieb sitzen. Ihr Handgelenk schmerzte, als sie das letzte kleine a auf den Schiefer presste. Inzwischen hatte der Lehrer sein Pult aufgeräumt, von draußen drangen das Geschrei und Gelächter der Kinder herauf.

«Morgen übst du das B, übermorgen das C.Nach vierundzwanzig Schultagen wirst du das Abc dann hoffentlich beherrschen.» Lehrer Löblich nahm Bibel und Katechismus von ihrer Bank. «Die brauchst du ja vorerst nicht. Und jetzt raus mit dir.»

Unten im Hof gingen die Zöglinge, getrennt nach Buben und Mädchen, nach Waisen- und Vagantenkindern, in kleinen Gruppen spazieren. Genauer gesagt, marschierten sie in gleichmäßigem Schritt zwischen zwei verkrüppelten Lindenbäumchen auf und ab. Ganz offensichtlich durfte man hier weder toben noch spielen.

Theres entdeckte ihre neue Freundin bei Rosina und winkte ihr verstohlen zu. Als eines der Mädchen mit dem Finger auf sie zeigte und die anderen zu kichern begannen, wandte Sophie ihr den Rücken zu. Enttäuscht ließ sich Theres auf die Stufen der Eingangstreppe sinken und legte den Kopf auf die Knie.

«Stehst du wohl auf!» Lehrer Löblich verpasste ihr eine Kopfnuss. «Die Recreation ist nicht zum Schlafen gedacht. Los, reih dich irgendwo ein und beweg dich!»

Keine halbe Stunde später rief der Lehrer sie wieder zusammen. Theres begriff, dass man sich immer dem Alter nach aufstellen musste, und so kam sie wieder neben Sophie zu stehen. Hinter ihnen befanden sich nur noch zwei jüngere Mädchen, dem Aussehen nach Zwillinge.

«Jetzt haben wir bis zum Mittagessen Handarbeitsstunde und die Buben nochmal Lernstunde», sagte Sophie leise. «Kannst du stricken?»

Statt einer Antwort fragte Theres: «Bist du jetzt nicht mehr meine Freundin?»

«Doch, schon.» Sophie schob die Unterlippe vor. «Aber die blöde Kuh von Rosina braucht das ja nicht zu wissen.»

Der restliche Tag verging, von Mittag- und Abendessen abgesehen, mit vielerlei Gebetsübungen und Arbeit. Letzteres hatte für Theres immerhin etwas Vertrautes: An endloses Schuften war sie gewöhnt, auch wenn sie im Nähen, Spinnen und Stricken nicht sonderlich geschickt war. An diesem sonnigen Frühlingstag indessen hatten sie Glück. Statt zurück in die Näh- und Spinnstube ging es am Nachmittag hinüber in den Garten, wo sie neue Maulbeerbäumchen für die hiesige Seidenraupenzucht setzten. Obwohl Theres die Hand vom Schreiben schmerzte, genoss sie die warme Maienluft wie ein unerwartetes Geschenk. Hier duftete es nach Kräutern und Blumen, genau wie in den Bauerngärten ihres Dorfes, und auf der sonnenbeschienenen Mauer am Ende des Gartens saß ein Amselpärchen und sang um die Wette.

Der Streich einer Weidenrute gegen ihre Schulter brachte sie in die Wirklichkeit zurück.

«Du hast die Arbeit wohl auch nicht erfunden», keifte die Lehrfrau Wagner, die zusammen mit Lehrer Löblich die Arbeit beaufsichtigte. Bereits in der Nähstunde hatte sie Theres mehrfach gerügt.

«Entschuldigung», murmelte Theres. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass das Amselpärchen verschwunden war; auch wirkte die Mauer plötzlich schmutzig-grau und unendlich hoch.