Unter dem Banner des Kreuzes - Astrid Fritz - E-Book

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Astrid Fritz

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Beschreibung

Sie suchen ihr Seelenheil und finden den sicheren Tod – Ein packendes Schicksal aus der Zeit der Kinderkreuzzüge Freiburg 1212: Die siebzehnjährige Anna leidet unter ihrem jähzornigen Vater. Eines Tages hört sie von den Heerscharen junger Leute, die zu Fuß das Rheintal hinaufziehen, um das heilige Jerusalem zu befreien. Anna ergreift die Gelegenheit zur Flucht. Zunächst ziehen die Kinder mit fröhlichem Gesang und Gebet gen Basel, himmeln ihren Anführer an, werden am Wegesrand bejubelt und in den Ortschaften versorgt. Doch bald folgen die ersten Durststrecken und Gefahren. Seit der Freiburger Gegend begleitet sie der angehende Priester Konrad. Seine Worte gegen den unseligen Kinderkreuzzug und gegen den Anführer, der sich mehr und mehr wie ein König huldigen lässt, verhallen ungehört. Kann er seine kleine Schar retten?

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Astrid Fritz

Unter dem Banner des Kreuzes

Historischer Roman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Sie suchen ihr Seelenheil und finden den sicheren Tod – Ein packendes Schicksal aus der Zeit der Kinderkreuzzüge

 

Freiburg 1212: Die siebzehnjährige Anna leidet unter ihrem jähzornigen Vater. Eines Tages hört sie von den Heerscharen junger Leute, die zu Fuß das Rheintal hinaufziehen, um das heilige Jerusalem zu befreien. Anna ergreift die Gelegenheit zur Flucht.

Zunächst ziehen die Kinder mit fröhlichem Gesang und Gebet gen Basel, himmeln ihren Anführer an, werden am Wegesrand bejubelt und in den Ortschaften versorgt. Doch bald folgen die ersten Durststrecken und Gefahren.

Seit der Freiburger Gegend begleitet sie der angehende Priester Konrad. Seine Worte gegen den unseligen Kinderkreuzzug und gegen den Anführer, der sich mehr und mehr wie ein König huldigen lässt, verhallen ungehört. Kann er seine kleine Schar retten?

Über Astrid Fritz

Astrid Fritz studierte Germanistik und Romanistik in München, Avignon und Freiburg. Als Fachredakteurin arbeitete sie anschließend in Darmstadt und Freiburg und verbrachte mit ihrer Familie drei Jahre in Santiago de Chile. Heute lebt Astrid Fritz in der Nähe von Stuttgart.

 

Inhaltsübersicht

KartePrologTeil 1 Der Aufbruch ins Gelobte LandKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Teil 2 Du aber hebe deinen Stab auf und recke deine Hand über das Meer und teile es mitten durch (Ex. 14,16)Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Teil 3 Die Heimkehr der verlorenen KinderKapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Nachwort der AutorinGlossar

Prolog

Zu Lüttich, Frühjahr anno Domini 1212

Ungeduldig trat der Bettelmönch von einem Bein aufs andere, die Kapuze seiner braunen Kutte tief ins Gesicht gezogen. Viel zu lange schon wartete er in dieser dunklen, nach Exkrementen stinkenden Seitengasse, die zum Bischofshof führte. Spätestens heute sollten seine beiden Vertrauten von ihrer Reise zurück sein, doch es dämmerte bereits, und bald würden die Stadttore schließen.

«Seid ihr das, Bruder Johannes, Bruder Paulus?», raunte er, als sich endlich zwei Gestalten näherten.

«Bruder Benedikt? Ja, wir sind’s.»

«Dem Himmel sei Dank! Seid ihr allein?»

«Keine Sorge, niemand ist uns gefolgt.»

Alle drei drängten sie sich in eine Toreinfahrt.

«Unsere Wanderungen waren erfolgreich», sagte der dickere der beiden Mönche sichtlich zufrieden.

«So habt ihr also einen unschuldigen, jungen Hirtenknaben gefunden, der dieses heilige Unterfangen vollbringen mag?», fragte Bruder Benedikt.

Der andere nickte eifrig.

«Der Allmächtige war uns gnädig. Gleich dreimal sind wir fündig geworden: im welschen Frankenreich, im Rheinland und im Moseltal. Und wir sind genauso vorgegangen, wie wir es mit dir abgesprochen haben.»

«Das ist gut. Sehr gut, Bruder Paulus.» Bruder Benedikt stieß einen erleichterten Seufzer aus. «Der Zeitpunkt ist mehr als günstig – erst der Komet am Himmel, jetzt die kraftvolle Konstellation der Gestirne, allen voran Jupiter und Saturn. So Gott will, werden schon bald Tausende junger, unschuldiger Seelen die Heilige Stadt und die gesamte Christenheit von den Ungläubigen befreien, ohne Schwert und Blutvergießen, nur kraft Gottes Wort.»

Der, der sich Bruder Paulus nannte, straffte die Schultern. «So soll es sein. Wenn auch nur einer der drei Knaben das heilige Feuer in sich brennen spürt, wird unsere Saat aufgehen. Dann werden sich genug junge Mitstreiter finden, um mit den Waffen der Armut, der Liebe und der Unschuld die Christenheit zu erretten.»

«Das wollen wir hoffen. So lasst uns denn zu unserem Bischof gehen, damit ihr euch nach der langen Reise erst einmal stärken mögt. Aber wie gesagt: vorerst kein Wort in dieser Sache, zu niemandem!»

Teil 1 Der Aufbruch ins Gelobte Land

Kapitel 1

Zu Freiburg im Breisgau, Ende Juli anno Domini 1212

Ein letztes Mal noch zupfte Anna sich das neue, in leuchtendem Blau und Rot gestreifte Schultertuch zurecht. Dann durchquerte sie mit schnellen Schritten die kleine Eingangshalle, die dem Vater als Werkstatt und Verkaufsraum diente, schnappte sich den Einkaufskorb vom Boden und stieß die Tür nach draußen auf.

«Halt!»

Anna zuckte zusammen.

«Hiergeblieben!»

Sie drehte sich um. Mit finsterem Blick lehnte ihr Vater am Holzgestell mit den Leisten. Anna hatte ihn draußen im Hof gewähnt, wo er bei schönem Wetter des besseren Lichts wegen an seinen Schuhen zu arbeiten pflegte.

«Aber ich muss los, auf den Markt. Bin sowieso spät dran.»

«Komm her zu mir!»

Ihr jüngerer Bruder Matthis, der dabei war, den Fußboden zu kehren, hielt gespannt inne. Verunsichert trat sie auf den Vater zu. Mit einem Ruck riss der kräftige Mann ihr das Schultertuch herunter und schleuderte es auf den staubigen Boden.

«Wer hat dir erlaubt, dich so herauszuputzen? Deine Mutter etwa?»

Anna wagte nicht zu antworten, während Matthis sich ein Grinsen verkniff.

Das Brüllen ihres Vaters ließ sie erneut zusammenfahren: «Elsbeth! Wo steckst du?»

Gleich darauf hörte man eilige Schritte die Außentreppe heruntertapsen, und ihre Mutter erschien in der schmalen Rundbogentür zum Hof. Auf dem Arm hielt sie die kleine Resi, deren Pausbacken mit Brei verschmiert waren.

«Was ist, Auberlin? Warum bist du so außer dir?»

«Ich will dir sagen, was ist, Weib.»

Zornesröte war dem Vater ins Gesicht gestiegen, und er begann mit seinem festen Schuhwerk auf dem schönen Tuch herumzutrampeln.

«Willst du, dass deine Tochter von den Leuten als freies Fräulein gesehen wird? Willst du das?»

Die Mutter wurde bleich. «Anna ist ein anständiges Mädchen», flüsterte sie.

«Ach ja? Und warum kleidet sie sich dann nicht so? Soll ihr der nächstbeste Lump an den Hintern greifen? Woher hat sie dieses schreiend bunte Tuch überhaupt? Von dir, mit meinem hart erarbeiteten Geld bezahlt?»

«Ich weiß selbst nicht, Auberlin … Aber so arg ist es doch auch nicht, wenn sich ein Mädchen in ihrem Alter ein bisschen hübsch machen will …», stammelte die Mutter, während die kleine Resi zu heulen begann. «Aber gut, dann soll sie eben ihr graues Tuch nehmen.»

«Das will ich meinen.» Der Vater wurde ruhiger, streckte die Arme nach seiner Jüngsten aus und zog sie an sich. Augenblicklich hörte Resi zu weinen auf und schmiegte sich an seine Schulter. Derweil starrte Anna entgeistert auf den Boden. Was dort als schmutziges, zusammengeknülltes Bündel lag, war ihr ganzer Stolz gewesen!

Die Angst vor dem aufbrausenden Vater begann sich in Wut zu verwandeln.

«Ich hab’s von der Nachbarin, von der alten Theres», sagte sie mit fester Stimme. «Als Lohn, weil ich ihr manchmal aushelf im Haushalt. Und deshalb ist das Tuch ganz und gar mein Eigen.»

«Da pfeif ich drauf. Matthis wird der Theres das verfluchte Ding zurückbringen. Und jetzt ab auf den Markt, die Resi nimmst du mit. Und bedeck gefälligst dein Haar, wenn du draußen bist.»

 

Wenig später betrat Anna die staubige Gasse, die von einfachen Holzhäusern und freiem, mit Gestrüpp überwuchertem Baugrund gesäumt war. Hier, im ruhigeren Westteil der noch jungen Zähringerstadt, lebten vor allem einfache Handwerker, Kleinhändler und nahe bei den Juden an der nördlichen Stadtmauer auch etliche Taglöhner. Sie alle waren einst als Unfreie aus dem Umland zugezogen, gerade so wie ihr Vater, um in dieser Stadt mit dem verheißungsvollen Namen ein neues Leben zu beginnen.

Gehorsam hielt Anna ihr schwarzbraunes Haar unter dem scheußlichen Wolltuch verborgen, an ihrer Hand quengelte und zappelte Resi, die kein bisschen Lust hatte, so weit zu marschieren. Wahrscheinlich würde sie nicht nur den schweren Einkaufskorb heimschleppen müssen, sondern auch noch ihre kleine Schwester! Und das bei dieser Hitze, die seit über einer Woche schon auf der Stadt lastete.

«Herr im Himmel! Jetzt lauf endlich anständig, sonst braucht es nur noch länger», fuhr sie Resi barscher an als gewollt. Eigentlich liebte sie ihre kleine Schwester von Herzen, die mit ihren blonden Locken einem Engel glich und der man schlichtweg nicht böse sein konnte. Aber dass Anna sie künftig stets mitnehmen sollte, wenn sie ausging – sei’s zum Einkauf, sei’s auch nur hinüber zum Brunnen –, das ging ihr doch gehörig gegen den Strich. Warum nur musste der Vater sie immer so piesacken?

Drüben bei der Sankt-Martinskapelle traf sie auf eine Horde barfüßiger, halbnackter Kinder. Davon gab es in ihrem Viertel in Scharen, boten die vielen Brachen und wenig belebten Gassen doch viel Platz zum Toben. Von ihrer Mutter hatte sie gehört, dass es damit bald schon vorbei sein würde: Immer mehr Menschen strömten nämlich in die aufblühende Residenz von Herzog Bertold, der hoch über der Stadt sein prächtiges Burgschloss hatte.

Sie wollte schon weitereilen zur Großen Gass, da zum Mittagsläuten die Verkaufslauben schlossen und die Bauern aus dem Umland ihre Ware zusammenräumten, doch das Geschrei vor der Kapelle ließ sie innehalten.

«Rotfuchs – Heulsuse! Rotfuchs – Heulsuse!»

Mittendrin erkannte sie den kleinen Christian aus ihrer Gasse. Schniefend wischte er sich über das tränennasse, sommersprossige Gesicht. «Gebt mir mein Steckenpferd zurück.»

Ein halbwüchsiger Bursche fuchtelte mit dem Stock in der Luft herum. «Hol’s dir doch, du Zwerg.»

Anna ließ Resis Hand los, war mit drei Schritten bei dem Jungen und entriss ihm das Steckenpferd.

«Wenn du dir nicht eine Maulschelle einfangen willst, dann hau ab. Und ihr anderen auch.»

«Ho ho! Die Schuster Anna! Als ob ich Angst vor dir hätt.»

Dennoch wich er einen Schritt zurück und gab den anderen ein Zeichen. «Gehen wir lieber baden. Ist eh lustiger als mit diesem Bettseicher rumstreiten.»

Einer nach dem anderen verschwanden sie in Richtung Martinstor, nicht ohne Christian und Anna eine lange Nase zu drehen.

«Jetzt hör auf zu weinen.» Sie gab dem Knaben seinen buntbemalten Stock zurück und strich ihm über den struppigen roten Haarschopf.

Christian rieb sich verlegen die Augen. «Gehst du auf den Markt? Ich könnt dir zum Dank tragen helfen.»

Sie musste lachen. Eine große Hilfe würde Christian nicht sein, da er für seine acht Jahre viel zu klein und schmächtig geraten war. Deshalb und seiner feuerroten Haare wegen wurde er auch immer wieder gefoppt und geärgert von den anderen Kindern. Auch ihr Bruder Matthis war nicht selten bei diesen Hänseleien dabei.

«Na, dann verlass ich mich mal auf deine Bärenkräfte. Komm!»

Sie blickte sich suchend nach ihrer kleinen Schwester um.

«Resi?»

Doch Resi war verschwunden. War sie etwa den anderen Kindern gefolgt? Das würde ihr gleichsehen: nicht mit auf den Markt wollen, aber dann den weiten Weg bis zum Dreisamfluss laufen.

«Resi, wo bist du? Resi!»

Aus dem offenen Tor der Korbmacherwerkstatt schräg gegenüber drang Gelächter.

«Noch ein Tänzchen, dann kriegst du’s!» Jemand klatschte im Takt in die Hände. Sie rannte hinüber und traute ihren Augen nicht: Vor dem Meister und seinem Knecht hüpfte Resi wie ein Äffchen auf und nieder, drehte sich im Kreis, reckte die Arme hoch, während Meister Lampert über ihr einen gedörrten Apfelring in die Höhe hielt.

Anna war zwischen Ärger und Belustigung hin- und hergerissen.

«Ihr könnt die Kleine doch nicht einfach in Eure Werkstatt locken, Meister. Ich such sie überall.»

«Die ist ganz von allein gekommen.» Lampert gab dem Kind den Apfelring und einen Klaps auf den Hintern. «Musst halt besser aufpassen auf die Resi.»

«Los jetzt, komm schon.» Anna packte Resi bei der Hand. Manchmal fragte sie sich, wie das später noch werden sollte mit der kleinen Schwester. Jetzt schon verdrehte sie Weibern wie Mannsbildern den Kopf mit ihren blonden Locken, den großen himmelblauen Augen und ihrer lustigen, unbekümmerten Art.

«Hier.» Sie drückte Christian, der ihr in die Werkstatt gefolgt war, den Korb in die Arme. «Höchste Zeit, dass wir auf den Markt kommen.»

 

Die Große Gass, wo der tägliche Markt stattfand, war die breiteste Straße der Stadt. Hier und in der benachbarten Salzgasse hatten sich von Anbeginn Kaufleute und zähringische Dienstmannen niedergelassen, dazu all die Herren von Munzingen, Krozingen, Offnadingen und wie die Adelsleute aus dem Umland sonst noch so hießen. Nicht locker gereiht, wie in Annas Viertel, sondern dicht an dicht standen die vornehmen Häuser aus behauenen Buntsandsteinquadern, die Giebelseiten mit ihren hübsch verzierten Türen und Doppelfenstern zur Straße hin ausgerichtet.

Der Markt war zu dieser Stunde nicht mehr allzu belebt, und so konnte man jetzt deutlich das Hämmern und Sägen vernehmen, das von der Baustelle am Christoffelstor herüberdrang. Beeindruckend hohe Tortürme ersetzten nach und nach die alten Mauertore, um dem Reisenden schon von weitem die Bedeutung dieser Stadt zu verkünden.

«Jetzt aber rasch», murmelte sie, mehr zu sich selbst, und beeilte sich, an der Krämerlaube Bänder und Garne für die Mutter, ein Seil für den Vater zu kaufen. Hernach ging es noch zur Eierfrau, da ihre jungen Hühner noch nicht genug legten, dann zum Brotbeck beim Spital. Auf dem Weg dorthin wurde ihr Einkauf vom Versehgang des Stadtpfarrers unterbrochen: Unter dem Glöckchenläuten des Altardieners trug Pfarrer Theodorich das Allerheiligste quer über den Markt, und alle beugten das Knie und bekreuzigten sich. Auch Anna und Christian, derweil Resi mit ihren nackten Füßen durch das Bächlein in der Straßenmitte tappte.

«Komm raus da, das ist schmutzig!», tadelte Anna.

Nachdem sie ihr Graubrot erstanden hatte, nicht ohne für Resi und Christian einen Brocken abzubrechen, fehlten ihr nur noch Rindsfüße und Speck für den Eintopf am Abend.

«Schau mal, dort!» Christian stupste sie in die Seite und deutete in Richtung Fischbrunnen. Vor der hölzernen Gerichtslaube, wo bei niederen Freveln das Schultheißengericht tagte, hatte sich eine Menschentraube gesammelt. Neugierig, wie Anna war, ließ sie sich von dem Knaben mitziehen.

Auf der obersten Stufe zur Gerichtslaube stand ein ansehnlicher junger Mann in der langen Haartracht der Vornehmen, die dunkelblonden Strähnen um die Stirn in künstliche Locken gelegt. Wie einer dieser Wanderprediger, die zu Marktzeiten hin und wieder auftauchten, sah er nicht gerade aus, eher schon wie ein Schildknappe mit seiner Streitaxt am Gürtel und dem leuchtend blauen Wappenrock über dem Kettenhemd. Helm oder Lederhaube trug er nicht, dafür war an seiner rechten Schulter ein blutrotes Kreuz aufgenäht.

«Rückt nur näher, ihr Jungleute und Kinder, und hört, was ich euch zu sagen habe: Drüben in Straßburg am Rhein, da sammeln sich gar unerschrockene, gottesfürchtige Kinder, zu Hunderten und Tausenden. Und wisst ihr, warum? Sie alle werden das Kreuz nehmen, um als Glaubenskrieger Jerusalem und das Heilige Grab aus den Fängen der Sarazenen zu befreien.»

Er wies auf das Kreuz an seiner Schulter, und Anna begriff, dass es das Zeichen für die Wallfahrt nach Jerusalem war. Sie drängte sich, Christian und Resi fest bei der Hand haltend, weiter nach vorne.

«Zu Köln, der Stadt der Heiligen Drei Könige, ist nämlich ein Wunder geschehen, ein göttliches Wunder!» Der junge Vornehme riss die Arme zum Himmel empor. «Einem arglosen Hirtenknaben namens Nikolaus ist auf dem Feld ein Engel erschienen. Und dieser Engel hat ihn auserwählt, abermals einen Feldzug gegen die Ungläubigen zu führen. Doch für diesmal ohne Schwert und Schild, nur mit der Kraft des Glaubens und der Reinheit der Seele …»

«Für was hast dann deine Streitaxt dabei? Um dem Torwächter von Jerusalem den Kopf abzuschlagen, oder was?», höhnte eine Männerstimme hinter Anna, und eine Magd zerrte grob einen Knaben aus der Menge: «Wirst jetzt wohl mit mir kommen und mir auf dem Acker helfen, du faules Aas?»

«Denn eines ist gewiss, ihr Leut», fuhr der Junker ungerührt fort. «Was den Mächtigen und Königen, den Kreuzrittern und selbst dem Papst nicht gelungen ist, das werden Nikolaus und seine unschuldigen jungen Mitstreiter vollbringen: nämlich das Heilige Land der Christenheit zurückgeben! So folgt auch ihr, die ihr jung und unverdorben seid, diesem Aufruf, gebt eurem Herzen einen Stoß und …»

Der Mann neben Anna warf empört die Faust in der Luft: «Halt dein gotteslästerliches Maul, du falsche Schlange! Die Ungläubigen werden die Kinder in Stücke reißen, wenn sie so nackt und unbewehrt daherkommen.»

«Wer gewappnet ist mit der Liebe Gottes, der braucht keine Waffen. Hat Jesus nicht gesagt: Lasset die Kindlein zu mir kommen? ER wird sie schützen!»

«Dass ich nicht lache – mit diesen Bälgern hier schaffst du es ja nicht mal bis nach Straßburg! Weil sie dann über Blasen an den Füßen jammern.»

Kopfschüttelnd verließ der Großteil der Älteren nun die Menge, während Anna wie die anderen gebannt darauf wartete, dass der Knappe endlich weitersprach. Dessen Worte und das Feuer in seinen hellen Augen hatten sie berührt, und auch Christian standen Mund und Augen weit offen. Nur Resi begann ungeduldig an ihrer Hand zu zappeln.

«In diesen bösen Zeiten der Kriege, Seuchen und Hungersnöte», wandte sich der Junker ihnen wieder zu, «gibt es nur den einen Weg, Gott versöhnlich zu stimmen und den Frieden in die Welt zurückzubringen. Wenn ihr also gewillt seid, den Kampf, bei dem die Alten mit Lanze und Schwert versagt haben, allein mit eurem unerschütterlichen Glauben zu gewinnen, dann packt euer Bündel und kommt morgen bei Sonnenaufgang vor das Stadttor auf Breisach zu. Damit ich euch zu Nikolaus nach Straßburg führe. Deus lo vult – Gott will es!»

Er legte die von weißen Handschuhen bedeckten Hände zusammen.

«Und nun lasst uns gemeinsam das Vaterunser beten.»

Kaum war das Amen verklungen, hatte sich der Knappe auch schon davongemacht, und die Zuhörer zerstreuten sich. Einige rannten sogar los, wohl um zu Hause ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen.

«Ist Jerusalem weit weg?» Christians Wangen waren gerötet.

«Sehr weit», entgegnete Anna. «Am anderen Ende der Welt. Und jetzt komm, wir müssen uns beeilen.»

Doch als sie bei den Fleischbänken der oberen Metzig ankamen, waren die Lauben bereits mit Brettern verschlossen. Anna unterdrückte einen Fluch. Das würde zu Hause mehr als Ärger geben.

Kapitel 2

Zu Freiburg, am selben Abend

Das brütende Schweigen während des Abendessens wurde nur unterbrochen vom leisen Schmatzen und Schlürfen der anderen. Anna wagte kaum den Kopf zu heben, zumal ihr der Nacken noch immer von Vaters Schlägen schmerzte, und der Magen war ihr wie zugeschnürt. Nachdem sie ohne Fleisch und Speck heimgekehrt war, hatte er noch gewartet, bis sie ihren Korb ausgepackt hatte, um dann mit der flachen Hand auf sie einzuschlagen, bis die Mutter dazwischengegangen war. Dass sie überhaupt hier sitzen und mitessen durfte, hatte sie nur ihr zu verdanken. Dabei war es ein Wunder, dass die Mutter der Tracht Prügel heute ein Ende gesetzt hatte, ängstlich, wie sie sonst eher war.

Verstohlen warf Anna einen Seitenblick auf den Vater. Wie er da so hungrig den Eintopf in sich hineinlöffelte, schien seine Wut halbwegs verraucht. Ja, sie hatte einen Fehler gemacht, hätte sich nicht von der Rede dieses jungen Predigers aufhalten lassen dürfen, dessen ergreifende Worte noch immer in ihr nachhallten. Indessen war es nicht ihre Schuld, dass sie so spät aus dem Haus gekommen war. Und auch noch die kleine Schwester hatte mitschleifen müssen.

Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie kämpfte mühsam dagegen an, nicht loszuheulen. Sie sagte sich, dass auch andere Kinder von den Eltern geschlagen wurden, und doch wusste sie, dass es bei ihr anders war. Bei jeder Kleinigkeit fuhr ihr Vater inzwischen aus der Haut, immer jähzorniger wurde er. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal ein Lob oder ein freundliches Wort von ihm geerntet hätte. Manchmal war ihr, als ob er mit etwas Schrecklichem in sich kämpfte, als ob er von einem Dämon besessen sei. Dabei konnte er doch zufrieden sein mit seinem Leben, mit seiner Familie. Ihnen fehlte es an nichts, er hatte einen kräftigen Sohn, der eines Tages die Werkstatt übernehmen würde, zwei gesunde Töchter, eine fleißige, sanfte Frau. Durch ihre Mutter, deren Vater als Hufschmied zu den Dienstleuten der Burg gehört hatte, war er auch zum Bürger geworden. Hatte er doch dereinst nur als höriger Schuster am Fronhof des Basler Bischofs in der nahen March gedient und durch diese Heirat nicht einmal Jahr und Tag abwarten müssen, um ein freier Genosse der Stadt zu werden. Hatte sogar für eine Silbermark schon bald Haus und Grund erwerben können – ein zwar bescheidenes Haus, aber immerhin.

Sie spürte Resis kleine Hand auf ihrem Unterarm.

«Tut’s noch weh?», flüsterte das Mädchen.

«Hab ich nicht gesagt, dass niemand mit ihr redet?», donnerte der Vater augenblicklich los, und Resi zog erschrocken die Hand zurück.

Er richtete sich auf und strich sich durch den mittlerweile grau durchsetzten Bart. «Wird allerhöchste Zeit, dass wir einen Mann für Anna finden. Eine wie die landet sonst noch in der Gosse!»

Eine wie die … Anna schluckte. Was tat sie denn Schlimmes, dass der Vater sie so viel strenger hernahm als Resi oder Matthis? Gab sie sich nicht alle Mühe, ihre Arbeit zu machen, der Mutter im Haushalt zur Hand zu gehen, als Älteste auf ihre Geschwister achtzugeben? Dass sie in letzter Zeit oft artige Schmeicheleien von den Mannsbildern in Vaters Werkstatt erntete, dafür konnte sie nichts. Selbst ihre Mutter sparte inzwischen nicht mit seltsamen Worten wie: «Werd bloß nicht hoffärtig und stolz, nur weil der liebe Gott dir ein solch gefälliges Aussehen geschenkt hat. Für eine Frau kann dies zu einer schweren Bürde werden.» Das sagte gerade ihre Mutter, die ausnehmend schön war mit ihrem goldblonden, noch immer kräftigen Haar und den feinen Gesichtszügen – so schön, dass der Vater sie am liebsten zu Hause eingesperrt hätte. Sich selbst fand Anna alles andere als schön. Viel zu schnell gewachsen war sie in letzter Zeit und hatte dazu das fast schwarze Haar und die dunklen Augen wie so viele hier im Rheintal. Etwas Besonderes war das wahrhaftig nicht.

«Ich geh noch auf einen Krug Bier in die Schenke», hörte sie den Vater zu ihrer Erleichterung sagen, hatte sie doch schon befürchtet, er würde den ganzen Abend weiter über sie herziehen. Erst als er zur Küche hinaus war, wagte sie es, aufzustehen und den Tisch abzuräumen.

«Komm einmal her, mein Kind.» Die Mutter zog sie in die Arme. «Es tut mir von Herzen leid, wenn er so streng mit dir ist. Aber jeder Vater hat Angst um seine halberwachsenen Töchter, glaub mir. Und dann bist du auch noch die Älteste, da ist man immer strenger.»

«Trotzdem.»

Sie wollte sich schon losmachen, doch sie spürte, wie gut ihr die Nähe der Mutter tat. Ja, eine Heirat würde wahrscheinlich das Beste sein. Dann wäre sie wenigstens weg vom Vater, und wenn sich nur ein halbwegs freundlicher Mann zur Ehe fand, so wäre das immer noch besser, als hier zu Hause für alles und jedes der Sündenbock zu sein. Und ihre Mutter und die Geschwister könnte sie ja trotzdem hin und wieder sehen.

 

In dieser Nacht tat sie kaum ein Auge zu. Immer wieder fuhr sie aus dem Schlaf auf, weil sie schlecht geträumt hatte: Mal verfolgte sie der Vater durch die Gassen der Stadt, mal schrie er sie an: «Eine wie du hat bei uns nichts verloren», und zuletzt hatte er ihr und der Mutter Fußfesseln umgelegt und ihnen die Augen verbunden. Nach diesem letzten Traum lag sie wach, lauschte den Atemzügen von Resi und Matthis neben sich im Bett und dachte erneut über den Auftritt des Knappen nach. Durch die dünne Bretterwand zur Nachbarkammer konnte sie das leise Schnarchen des Vaters hören, von irgendwoher bellte ein Hund.

Sollte sie wirklich warten, bis die Eltern einen Ehemann für sie gefunden hatten? Und was, wenn es ihr erging wie den Töchtern von Theres, der Nachbarin? Beide waren sie nach Villingen verheiratet worden, oben auf dem Schwarzwald, und Anna hatte sie nur ein- oder zweimal bei Theres zu Besuch gesehen, so weit und beschwerlich war der Weg.

Sie reckte den Hals, um durch die offene Dachluke nach draußen sehen zu können. Vom Morgengrauen war noch nichts zu erahnen, hell leuchteten die Sterne am nachtschwarzen Himmel.

Nein, sie würde nicht warten. Oft genug in letzter Zeit hatte sie an Flucht gedacht, und eine bessere Gelegenheit als jetzt würde es nicht geben. Sie musste nur all ihren Mut zusammennehmen. Weder wusste sie, wie weit es nach Jerusalem war, noch, ob sie je dort ankommen würde. Aber etwas Schlechtes konnte es nicht sein, Gott zu Gefallen das Kreuz zu nehmen, auch wenn man hierfür ohne Abschied die Familie verließ.

Einen kurzen Augenblick kämpfte sie noch mit sich, dann schlug sie die Decke zurück, hauchte der schlafenden Resi einen Kuss auf die Stirn, erhob sich so leise als möglich und zog ihre Kleider aus der offenen Truhe. Wie fast alle Menschen hatte sie Angst vor der Finsternis, indessen würde sie nicht warten können, bis in der Morgendämmerung die Hähne zu krähen begannen. Spätestens dann nämlich erwachte ihre Mutter.

Um die Geschwister nicht zu wecken, nahm sie, nackt, wie sie war, ihr Kleiderbündel über den Arm und schlich zur Leiter. Bei jedem Knarren der Sprossen hielt sie erschrocken inne, bis sie endlich in der Küche stand. Die Herdglut gab einen schwachen Schein ab, und so streifte sie sich hastig erst das Untergewand, dann das Kleid über. An den Gürtel heftete sie sich neben Messer und Löffel einen Stoffbeutel, den sie in der Dunkelheit der Vorratskammer noch mit ein paar Brocken Brot und gedörrtem Obst für unterwegs füllte. Dann schlang sie sich ihr altes graues Halstuch um die Schultern, setzte sich die Sonntagshaube auf und nahm die Schuhe in die Hand. Vorsichtig schob sie den Riegel der Tür zurück. Einmal noch holte sie tief Luft, bevor sie hinaustrat in die Kühle der Nacht und die Außentreppe zum Hof hinabstieg.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als sie durch die stille, stockdunkle Gasse auf das Lehener Tor zuging. Nur hinter ihr, über dem Waldgebirge, lag schon ein schwacher heller Schein, der den Tag ankündigte. Ganz kurz schoss es ihr durch den Kopf, ob sie nicht doch besser beim Stadtpfarrer anklopfen und ihn um Rat fragen sollte. Sie verehrte diesen klugen, welterfahrenen Mann, der für jeden ein freundliches Lächeln übrighatte. Als Stadtpfarrer kannte er sie seit ihrer Geburt, hatte sie getauft und ihr die erste Kommunion gespendet. Doch sofort verwarf sie den Gedanken wieder, da sie ahnte, dass Pfarrer Theodorich ihr von diesem Feldzug ins Heilige Land abraten und sie schnurstracks nach Hause bringen würde.

Das Stadttor war noch verschlossen, doch zu ihrem Erstaunen drängten sich dort schon einige junge Leute und Kinder. Genau wie sie selbst mussten sie in der Nacht von zu Hause fortgeschlichen sein. Rasch verbarg sie sich im Dunkel eines Scheunentors, für den Fall, dass ihre Eltern gehört haben sollten, wie sie sich aus dem Haus geschlichen hatte, und zwang sich, ruhig durchzuatmen.

Während sie dort kauerte, hörte sie die anderen aufgeregt flüstern. Ein letztes Mal kämpfte sie dagegen an, sich doch lieber dem Pfarrer anzuvertrauen, dann schloss sie die Augen und wartete ab. Beim ersten Morgenlicht öffneten sich endlich die beiden Torflügel mit durchdringendem Quietschen, und unter den spöttischen Rufen des Wächters stürzten alle hinaus. Zögernd verließ Anna ihr Versteck, sah sich mit bangen Blicken um, ob ihr nicht doch noch der Vater oder die Mutter gefolgt waren, dann erst eilte sie den anderen hinterher. Ein gutes Dutzend waren sie nur, und Anna hätte sich mehr Menschen erwartet, angesichts der großen Zuhörerschaft am Vortag.

Beim Garten der neuen Badstube, einen Steinwurf hinter den Stadtmauern, verharrte die Schar unschlüssig. Von dem Junker war weit und breit nichts zu sehen.

«Schläft der Faulpelz etwa noch?», rief eine vorwitzige Stimme, die Anna sehr wohl kannte. Das hätte fürwahr nicht sein müssen – ausgerechnet Jecki! Der junge Taglöhner aus ihrer Nachbarschaft war als rechter Galgenstrick und Raufbold bekannt und schon einige Male haarscharf einem Stadtverweis entronnen. Dann glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen: An Jeckis Hand klammerte sich niemand anderes als Christian – barfuß, dafür den schmächtigen Körper in einen zerschlissenen Winterumhang gehüllt.

Mit drei schnellen Schritten war sie bei dem Knaben und schüttelte ihn bei der Schulter. «Bist du noch bei Trost? Was machst du denn hier?»

Trotzig blickte Christian sie an: «Ich will dabei sein, wenn Jerusalem befreit wird. Außerdem – du bist ja auch gekommen.»

«Nichts da! Du gehst jetzt sofort nach Hause!»

Sie wollte nach seinem Arm greifen, doch da baute sich Jecki vor ihr auf. Er war größer und vor allem um etliches kräftiger als sie.

«Tut er nicht. Er steht unter meinem Schutz», erklärte er großspurig, «und er wird wie wir alle ein großes Werk tun. Der Herrgott wird ihn dafür belohnen.»

Christian nickte ernst: «Mit dem Paradies. Da gibt es niemals Hunger und niemals Streit.»

Sie wollte schon etwas Bissiges erwidern, als von der Dreisam her ein Reiter durch die Morgendämmerung auf sie zutrabte. Es war der Knappe vom Vortag, für diesmal auf einem schneeweißen Pferd und mit vollbepackten Taschen rechts und links des Sattels.

«Im Namen des Herrn freue ich mich, dass ihr gekommen seid. Auch wenn es ein wenig mehr hätten sein dürfen für dieses heilige Unterfangen. Doch sei’s drum – ich weiß, hierzu gehört viel Mut und Gottvertrauen, und so nehme ich an, ihr seid die Besten in dieser Stadt.» Dann lachte er. «Eure Wintersachen hättet ihr allerdings daheimlassen können. Im Heiligen Land scheint immer die Sonne, und es ist dort mindestens ebenso warm wie heuer unser Sommer.»

Sein Schimmel begann unruhig zu tänzeln.

«Für die, die es noch nicht wissen: Mein Name ist Gottschalk von Ortenberg, vormals Schildknappe, jetzt Kreuzritter im Auftrag unseres Herrn. Und nun hinaus aus dem Freiburger Gerichtsbann, bevor euch eure wütenden Lehrherren oder Väter zurückholen.»

Da rannten sie los, mit übermütigen Freudenschreien die meisten, bis sie den Markstein mit dem Freiburger Wappen erreichten, der an dieser Stelle den Stadtbann begrenzte. Hier begann Reichsgut, hier hatte der Herzog als Stadtherr und Oberster Gerichtsherr nichts mehr zu sagen. Ohnehin hatte sich bislang keine Menschenseele blicken lassen – wahrscheinlich würde es noch seine Zeit brauchen, bis die Freiburger gewahr wurden, dass ihnen ein Kind, ein Lehrknecht oder eine Dienstmagd im Hause fehlten.

Ein letztes Mal drehte Anna sich um: Scharf zeichneten sich die Umrisse der Mauern und Türme gegen den zartroten Morgenhimmel ab – die Mauern und Türme ihrer Heimatstadt Freiburg, von der sie sich noch nie weiter als eine Wegstunde entfernt hatte. Und die sie womöglich nie wieder sehen würde.

Kapitel 3

Zu Freiburg, am frühen Vormittag desselben Tages

«So sperr doch die Augen auf, Weib!», brüllte der Mann sie an. Ums Haar wäre Luitgard unter die Räder seines Ochsenkarrens geraten, der mit schweren Steinen beladen war. Der Platz rund um die Pfarrkirche Unserer Lieben Frau, die Herzog Bertold in großer Pracht erneuern ließ, war seit Jahren eine einzige Baustelle.

«Heilige Mutter Gottes – lass mich meinen Jungen wiederfinden», flehte sie mit Blick auf das Gotteshaus aus warmem, rotem Stein, dann zwang sie sich achtzugeben zwischen all den Lastenträgern und Mörtelmischern, Zimmerleuten und Steinmetzen, die mit ihrem schweißtreibenden, lauten Handwerk den Platz bevölkerten. Als sie hinter dem neuen Chor endlich am Pfarrhaus anlangte, hatte sie kaum noch die Kraft, den Türklopfer zu schlagen.

Mit missmutigem Gesicht ließ die Magd sie ein. «Heut geht’s hier wahrlich zu wie im Taubenschlag. Noch nicht mal sein Morgenessen hat der arme Herr Pfarrer gehabt.»

Beklommen folgte ihr Luitgard hinauf in die gute Stube, wo Stadtpfarrer Theodorich am offenen Fenster lehnte und hinausstarrte.

«Hier ist noch jemand, Herr Pfarrer», verkündete die Magd und ließ sie allein.

Luitgard blieb im Türrahmen stehen. Sie wartete, bis sich der große, füllige Mann langsam zu ihr umdrehte, dann beugte sie ehrerbietig das Knie.

«Dein Kind also auch?»

Er wies auf die Bank des Kachelofens, und Luitgard ließ sich auf den angenehm kühlen Stein sinken. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte sie sich nicht mehr allein.

«Ja, hochwürdiger Herr Pfarrer. Der Christian … Er ist einer von Euren Chorknaben, der mit den roten Haaren … Wo er doch mal Priester werden will … Und jetzt ist er fort.» Sie begann leise zu weinen. «Könnt Ihr mir nicht helfen, als Mann Gottes?»

Der Pfarrer trat auf sie zu und legte ihr beruhigend die Hände auf die Schultern. In seine Stirn gruben sich tiefe Sorgenfalten.

«Ich fürchte, es ist zu spät.»

Sie schluchzte auf. «Es ist alles meine Schuld – wär ich heut nur früher aufgestanden … Aber ich musste doch noch bis spät in die Nacht unsre Wäsche flicken, und so bin ich erst am helllichten Morgen aufgewacht.»

Sie schlug die Hände vors Gesicht.

«Nun beruhige dich erst einmal. – Du bist Luitgard, die Wäscherin, nicht wahr?»

«Ganz recht, hochwürdiger Pfarrer. Die Witwe des Seilers Klewi.»

«Und du bist ganz sicher, dass dein Junge fort ist?»

«Nun – das Bett neben mir war leer, als ich wach wurd, und in der Küche war er auch nicht. Nicht mal was gegessen hat er. Hab mir erst gedacht, er wär vielleicht draußen auf unserem kleinen Feldstück vor dem Christoffelstor, wo doch der harte Boden gehackt werden muss, weil sonst alles vollends verdorrt. Aber da war er auch nicht. Die ganze Stadt hab ich nach ihm abgesucht, und dabei hab ich erfahren, dass ein Werber hier war und eine Schar Kinder mitgenommen haben soll, heut bei Sonnenaufgang.»

Sie verstummte. Das lange Reden war sonst ihre Sache nicht. Aber da bewegte noch etwas ihre Seele, das sie kaum glauben mochte.

«Ist es wirklich wahr, dass die Kinder bis ins Heilige Land ziehen wollen? Und dort ohne Schutz und Waffen die Ungläubigen besiegen?»

«Das ist wohl wahr.» Der Stadtpfarrer stieß einen tiefen Seufzer aus. «Ein junger Freund, der gestern aus Straßburg kam, hat mir davon erzählt. Aberhunderte von jungen Menschen, halbe Kinder zumeist, sollen von Köln aus aufgebrochen sein und gen Mittag ziehen. Dazu treiben sich überall im Land Werber herum, junge Adlige zu Pferd und wortgewaltige Kreuzprediger, um noch mehr unschuldige Seelen einzufangen.»

Mit schweren Schritten begann er in der Stube auf und ab zu gehen. «Und das alles unter der Führung eines zehnjährigen Knaben namens Nikolaus. Zwei Wochen lang, so sagt man, habe er vor dem Kölner Dom seine Predigten gehalten wie ein geweihter Priester, sei jeden Morgen auf einem Esel eingezogen gleich unserem Herrn Jesus Christus – welche Blasphemie!»

«Ein Knabe? Dann stimmt es also, was die Leut auf der Straße sagen? Dass bei Köln einem Knaben ein Engel erschienen ist und dass dort zuvor Kinder und Hirten ein blendend weißes Kreuz am Himmel haben stehen sehen, mitten zur Nacht? Dann ist dieser Knabe gar ein Prophet?»

Das Gesicht des Pfarrers lief rot an. «Wohl eher ein dummes, verblendetes Kind! Ein Schwarmgeist, angestiftet von seinem nichtsnutzigen Vater, der ihn noch Tage zuvor in Schenken gegen milde Gaben hat singen lassen, angefeuert von ebenso nichtsnutzigen Armutspredigern, die dem wahnhaften Gedanken anhängen, nur eine Heerschar von unschuldigen und armen Seelen sei fähig, das Grab Christi zurückzuerobern. All das ist nicht nur töricht – es ist wider Gottes Willen! Wie sollen Kinder erfolgreich sein, wo schon vier Züge schwer bewaffneter Kreuzritter gescheitert sind? Sie werden allesamt ins Verderben laufen. Allein ihre Einfalt, wenn du sie fragst, wie sie über das Meer kommen wollen! Dann antworten sie dir, das Wasser würde sich vor ihnen teilen, wie einstmals dem auserwählten Volk.»

Plötzlich fasste er sich an die Brust, als bekäme er keine Luft mehr. «Das größte Übel ist», brachte er schließlich hervor, mehr zu sich selbst, «dass unseren Bischöfen alles gleichgültig zu sein scheint, wenn der Junge nur das Wort Gottes verkündet. Drüben in Straßburg will Heinrich von Veringen diesen Kindern sogar das Kreuzgelübde abnehmen und ihnen den Segen spenden.» Er schnaubte böse.

Luitgard verstand von dem, was der sonst so sanftmütige Mann entrüstet vorbrachte, nur die Hälfte. Doch das reichte, um ihre Angst um Christian noch größer werden zu lassen. Wie wollte ein Hirtenknabe ganze Heerscharen anführen, um die Christenheit zu retten? Das konnte nicht gehen, da hatte der Pfarrer recht. Plötzlich wusste sie: Ihr einziges Kind, der einzige Mensch auf der Welt, der ihr von Bedeutung war, würde nie wieder zu ihr zurückkehren.

«Dann hab ich meinen Jungen also auf immer verloren», flüsterte sie.

«Ich weiß es nicht, Luitgard. Wo selbst unser Schultheiß und der Rat der Vierundzwanzig es nicht für nötig halten, Reiter hinterherzuschicken, bleibt uns nur zu beten und zu hoffen. Wahrscheinlich ist man hier auch noch stolz darauf, Freiburger Kinder dabei zu wissen. Wobei – wäre nur ein einziger Sohn aus den vornehmen Geschlechtern darunter, hätte man keine Mühe gescheut, einen bewaffneten Reitertrupp aufzustellen.»

«Es ist alles meine Schuld», murmelte sie. «Weil ich den Jungen viel zu oft allein gelassen hab und weil er sich dauernd auf der Gasse rumtreibt. Aber, Herr Pfarrer, ich muss doch das Brot verdienen für ihn und mich … Er kann doch nichts dafür, dass sein Vater vor Jahren gestorben ist, er soll es doch mal besser haben.»

«Es ist nicht deine Schuld, Luitgard. Auch nicht die Schuld der anderen Väter und Mütter. – Niemand konnte das ahnen», sagte er mit bitterer Stimme. Er trat wieder ans Fenster und starrte hinaus. «Eine letzte kleine Hoffnung bleibt mir noch, immerhin.»

«Was meint Ihr damit, hochwürdiger Herr Pfarrer?»

Er räusperte sich. «Wie dem auch sei – bete für deinen Jungen, Luitgard, für ihn und all die anderen Kinder, auf dass sie wohlbehalten heimkehren. Ich werde dasselbe tun.»

Sie nickte und ging zur Tür. «Danke, dass Ihr Euch Zeit genommen habt.»

«Gott sei mit dir, meine Tochter. Mit dir und all den armen Kindern.»

In diesem Augenblick hatte Luitgard eine Eingebung. Sie drehte sich noch einmal um: «Habt Ihr nicht von Straßburg gesprochen? Wie weit ist das von hier?»

«Etwa drei Tagesmärsche.»

«Gut. Dann will ich ihn suchen gehen.»

«Luitgard! Du kannst doch nicht allein als Frau … Nein, das geht nicht, das kann ich nicht zulassen.»

«Und wenn ich ein ganzes Jahr wandern müsste – was hab ich zu verlieren? Ich habe doch nur noch ihn.»

Der Stadtpfarrer strich sich über den dunklen Haarkranz seiner Tonsur. Er ahnte wohl, dass niemand sie von ihrem Entschluss würde abhalten können, denn nach kurzem Nachdenken sagte er: «Es gibt da eine andere Möglichkeit: Der Kaufherr Heinrich Iselin von Oberlinden fährt morgen früh nach Breisach. Ich will ihn bitten, dass er dich mitnimmt. In Breisach lass dich über den Rhein setzen und marschiere auf Kolmar zu. Sie werden mit Sicherheit, wenn es denn so viele sind, von Straßburg aus die alte Handelsstraße auf Basel zu nehmen und auf jeden Fall durch Kolmar ziehen. Vielleicht hast du ja Glück. – Warte!»

Er öffnete die geschnitzte Truhe in der Fensternische und griff in eine Schatulle.

«Hier.» Er drückte ihr einige Pfennige in die Hand. «Für den Fährmann und als Zehrgeld für unterwegs. Hol wenigstens die Kleinsten und die Mädchen zurück, dieser Feldzug ist ein Werk des Teufels. Vielleicht hören sie ja auf dich, als Frau und Mutter.»

Kapitel 4

Reise nach Straßburg, am Vormittag desselben Tages

Längst war die Morgenkühle verflogen, und die Sonne brannte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Anna wünschte, sie hätte statt ihrer Brotzeit einen Schlauch mit Wasser mitgenommen. Der Schweiß lief ihr den Rücken hinunter, die Haut klebte vom Straßenstaub, die Kehle schmerzte.

Gerade so wie auf ihrem kleinen Acker vor den Toren Freiburgs waren auch hier draußen die Böden überall ausgetrocknet und rissig, stand die Feldfrucht mehr als kümmerlich. Viel zu lange schon hatte es nicht mehr geregnet, und war es doch einmal zu einem kurzen Schauer gekommen, war das bisschen Regen auf dem steinharten Boden sogleich wieder verdampft.

Fast im Laufschritt durchquerten sie hinter Freiburg die March, jenen Wildbann des Basler Bischofs, in dem Annas Vater aufgewachsen war. Jetzt schon begann ihr die Heimat zu fehlen, und sie überkam ein Gefühl von Trauer. Das und dazu die Hitze und der Durst machten Anna mehr und mehr zu schaffen. Viel zu selten war ihnen auf der staubigen Straße mal ein wenig Schatten vergönnt, und noch seltener erlaubte ihr Führer ein kurzes Innehalten, um aus einem der Bachläufe zu trinken und sich zu erfrischen. Nachdem sie schließlich alle lautstark zu murren begannen, hielt Gottschalk an und sprang vom Pferd.

«Die beiden Kleinsten da», er zeigte auf Christian und einen barfüßigen Jungen in zerrissenem Kittel und halblangen Hosen, «dürfen auf dem Ross sitzen. Ihr anderen sollt wissen: Bis Breisach, wo wir über den Rhein setzen, müssen wir uns sputen – ob es euch gefällt oder nicht. Hernach geht es gemütlicher weiter. Wer allerdings jetzt schon fußlahm ist, der sollte besser kehrtmachen.»

Fest entschlossen, nicht gleich zu Anfang aufzugeben, folgte keiner seinem Ratschlag. Und so erreichten sie schließlich das erste größere Dorf. Es lag am Fuße eines Weinbergs, den es zu überwinden galt.

Die Bauern und Weingärtner des umfriedeten Fleckens beobachteten ihre kleine Schar mit Misstrauen. Erst nachdem einer von ihnen das rote Kreuz auf Gottschalks Schulter gewahr wurde, kamen sie neugierig näher.

«Seid ihr wahrhaftig Kreuzritter, auf dem Weg nach Jerusalem?»

«Ja, das sind wir.» Gottschalk nickte erhobenen Hauptes. «Und auf der anderen Seite des Rheins, in Straßburg, da sammeln sich schon Tausende, um die Heilige Stadt zu befreien.»

Ein paar Frauen gingen bei diesen Worten doch tatsächlich voller Ehrfurcht auf die Knie. Es waren ärmliche Leute, einfache Bauern, Knechte und Mägde, und dennoch ließen sie ihren Wasserschlauch herumgehen und steckten den Kindern kleine, harte Birnen und Brotstücke zu. Eine ausgiebige Rast gönnte Gottschalk ihnen nicht, aber wenigstens durften sie ihren Durst stillen.

«Wir wandern weiter, erholen könnt ihr euch später», beschied er in einem Tonfall, der keine Widerrede duldete. «Gut die Hälfte des Wegs nach Breisach haben wir immerhin geschafft.»

Das bestimmende Wesen wie auch das vornehme, stattliche Äußere des Knappen schüchterten Anna gehörig ein. Dennoch wagte sie es, ihn anzusprechen.

«Wie weit ist’s noch von Breisach bis nach Straßburg?»

Er musterte sie ein wenig spöttisch.

«Zweiundeinhalb Tagesmärsche sind das schon noch. Alsdann: Wer will hierbleiben?»

Niemand hob die Hand.

«Gut. So gefällt das unserem Herrgott.»

Er nahm sein Pferd beim Zügel und marschierte los.

«Was aber», rief Jecki ihm zu, «wenn dieser Bursche aus Köln gar nicht so lang auf uns wartet?»

«Dieser Bursche aus Köln trägt den Namen Nikolaus, das solltest du dir merken», kam es scharf zurück. «Wie heißt du?»

«Jecki.»

«Hör zu, Jecki: Nikolaus wartet, bis all seine Werber aus dem Breisgau, der Ortenau und aus dem Zaberner Land zurückgekehrt sind. Kümmer dich also lieber drum, dass du keine Blasen an den Füßen kriegst.»

Jecki war anzusehen, wie schwer es ihm fiel, keine freche Bemerkung zurückzugeben.

«Was für ein Maulheld», zischte er Anna zu, bevor er sich in Bewegung setzte. Doch sie zuckte nur die Schultern. Mit Jecki wollte sie sich nicht gemeinmachen, zumal der junge Taglöhner geradeso dafür bekannt war, sich aufzublasen und ein großes Maul zu führen.

«Gott schütze und segne euch», riefen die Leute und winkten ihnen nach, als es nun über einen schmalen Pfad den Weinberg hinaufging. Sie winkten zurück, bis das Dörfchen nach einer Kehre verschwunden war. Zum ersten Mal an diesem Tag wurde es Anna leichter ums Herz, und sie verspürte fast so etwas wie Freude und Stolz.

Nachdem sie wenig später wieder die Ebene erreichten, mussten Christian und der andere Junge ihren bequemen Sitz hoch zu Ross aufgeben und ihn zwei Mädchen überlassen. Bevor Jecki Christian an seine Seite ziehen konnte, griff Anna nach dessen Hand. Sie erkannte, dass er Tränen in den Augen hatte.

«Ärgerst du dich etwa, dass du wieder zu Fuß gehen musst?»

Christian schüttelte den Kopf. «Ist schon recht, wenn jetzt mal die Mädchen dran sind.»

«Warum weinst du dann?»

«Ich weine ja gar nicht.» Seine Augenlider begannen zu flattern.

«Du hast Heimweh, nicht wahr?»

Der Junge nickte kaum merklich, und Anna musste schlucken. Sie durfte gar nicht an ihre Mutter und die Geschwister denken, sonst wären ihr auch noch die Tränen gekommen.

Jecki, der neben ihnen aufgeschlossen hatte, gab dem Kleinen eine Kopfnuss.

«Nach Hause willst du also? Wie soll das gehen? Sollen wir dich etwa mutterseelenallein heimlaufen lassen? Hör bloß auf zu heulen.» Er schnaubte «Ich hätt dich gar nicht erst mitnehmen sollen.»

Anna starrte ihn an: «Sag bloß, du hast ihn überredet mitzukommen!»

«Da braucht ich nicht viel überreden. Hab ihm nur gesagt, dass ihn keiner mehr anlangt von den Gassenkindern, wenn er erst mal in Jerusalem war. Aber wenn er jetzt heimwill, dann soll er halt verschwinden, dieses Muttersöhnchen.»

«Bin kein Muttersöhnchen.»

«Dann benimm dich wie ein rechter Kerl.»

Das wirkte. Tapfer und ohne zu jammern stapfte Christian zwischen ihnen einher, bis eine Wegstunde später in der flirrenden Mittagshitze die Umrisse der Zähringerstadt Breisach auftauchten. Dabei hatte sich das letzte Stück schier endlos dahingezogen. Erschöpft umrundeten sie den mit Burgschloss und Kirche besetzten Bergstock, der sich über dem Rheinstrom erhob, und gelangten an eine Herberge mit Remise und Stallungen.

«Wartet hier», befahl ihnen ihr Anführer, der im Gegensatz zu allen anderen kein bisschen ermattet wirkte. «Ich muss noch eben den Schimmel in den Mietstall zurückbringen, dann geht’s über den Rhein.»

«Dann habt Ihr gar kein eigenes Ross?», fragte Anna fast enttäuscht. Ein Knappe ohne Pferd erschien ihr wie ein Schmied ohne Amboss.

Da schenkte er ihr ein unerwartet freundliches Lächeln, und sie merkte, wie sie errötete.

«Mein eigenes Pferd ist ein edles Streitross und wartet in Straßburg auf mich.»

Er half den beiden kleinen Mädchen aus dem Sattel und verschwand mit dem Pferd im Hof der Herberge. Annas Blick ging hinüber zu dem steinernen Torbogen, der zur Bootslände führte. Jetzt wäre noch die Gelegenheit zur Umkehr. Sie könnte Christian mit sich nehmen, vielleicht noch den einen oder anderen ihrer Reisegefährten, und vor Sonnenuntergang in Freiburg sein. Hatten sie erst über den Rhein gesetzt, gab es kein Zurück mehr.

Vor ihrem inneren Auge tauchte das zornige Gesicht des Vaters auf: Eine wie du landet noch in der Gosse!

Sie schüttelte erschrocken den Kopf. Fast erleichtert hörte sie den Ruf des Knappen: «Auf geht’s, Kinder. Suchen wir uns einen Fährmann.»

Wie eine Herde Schafe trotteten sie ihm hinterher zu dem schattigen Torbogen. Ein Zöllner trat aus seinem Häuschen und wies auf die beiden Satteltaschen, die der Knappe über den Schultern trug.

«Welche Waren führt Ihr mit Euch?»

Gottschalk von Ortenberg warf sich in die Brust.

«Unsere Ware ist der Gottesglaube, und der ist nicht mit Gold aufzuwiegen.»

«Wollt Ihr Euch über mich lustig machen, Junker?»

«Keineswegs. Wir sind Pilger auf dem Weg ins Heilige Land, und drüben auf der anderen Seite des Rheins sammeln sich schon Tausende.»

Kopfschüttelnd winkte der Zöllner sie durchs Tor, und Gottschalk hielt Ausschau nach einer ausreichend großen Barke zum Übersetzen. Ein halbes Dutzend davon lagen an der niedrigen Kaimauer vertäut, dazu noch einige große Lastkähne, mit Aufbauten, Segelmasten und spitz zulaufendem Bug. Die Bootsleute dösten im Schatten eines Schuppens vor sich hin und machten keine Anstalten, sie nach ihrem Begehr zu fragen.

«Was ist? Will niemand von euch eine Schar Pilger ans andere Ufer bringen?»

«Um Gotteslohn meint Ihr wohl?» Ein vollbärtiger Kerl reckte den Hals. «Habt Dank, aber dafür rühr ich bei der Hitze keinen Finger.»

Gottschalk verzog ärgerlich das Gesicht. «Das solltest du aber. Denn das wäre ein Dienst an Gott, der dir eines fernen Tages zugutekommt.»

Der Mann winkte ab. «Ein vornehmer Herr wie Ihr hat genug Silber im Beutel, um eine ehrliche Arbeit zu entlohnen.»

«Und was ist mit euch anderen?» Gottschalk stemmte die Arme in die Seite.

Keiner rührte sich, während Jecki frech zu grinsen begann. «So kommen wir nie nach Jerusalem.»

Er stieß Anna in die Seite und zwinkerte ihr zu. Dann trat er vor den Bärtigen hin. «Ein echter Freiburger Silberpfennig dürfte wohl genügen, oder?»

«Meinetwegen. Weil’s einer guten Sache dient.»

«Wir brauchen aber die größte Fähre, damit wir alle Platz haben.»

«Das größte Boot ist meins.» Ein hochaufgeschossener, zugleich spindeldürrer Kerl sprang auf die Füße. Abschätzig musterte er Jeckis schäbige, zerrissene Kleidung. «Bist wohl der Schatzmeister dieses Rittersöhnchens?»

«Fast getroffen.» Zu Annas Verblüffung zog Jecki eine Silbermünze aus seinem Beutel und drückte sie dem Fährmann in die Hand. Noch größere Augen machte sie indessen, als Jecki drei weitere Silberlinge hervorkramte. «Hierfür bis nach Straßburg!»

«Sieben Silberpfennige!»

«Fünf – und keinen weiteren drauf!»

Da reichte der Fährmann ihm die Hand, und Jecki schlug ein. Triumphierend drehte er sich zu den anderen um: «Wir werden noch genug marschieren müssen bis Jerusalem. Jetzt haben wir’s erst mal bequem.»

Die Kinder klatschten begeistert in die Hände, nur Gottschalk von Ortenberg war anzusehen, dass es ihm gar nicht gefiel, wie ihm hier jemand den Rang als Anführer streitig machte. Auch Anna war nahe daran, Einspruch gegen diesen Handel zu erheben. Jecki war allseits als Gauner bekannt, nie im Leben hatte der sich das viele Geld mit seiner Hände Arbeit verdient. Schon eher hatte er gestern auf dem Markt jemandem den Beutel vom Gürtel geschnitten. Doch ein kurzer Blick auf die Jüngsten ihrer Truppe, von denen kaum einer Schuhwerk an den Füßen trug, ließ sie den Mund halten.

Derweil hatte der Fährmann Ruder und Stange aus dem Schuppen geholt und winkte sie ungeduldig zu seiner flachen, mannsbreiten Barke.

«Hast du kein Segel?», fragte Jecki ihn.

«Wozu? Der Strom treibt uns bis Straßburg. Mach ich nicht zum ersten Mal.»

«Wie kommst du dann flussaufwärts zurück ohne Segel?»

«Gar nicht. In Straßburg verkauf ich den Kahn. Da gibt’s gutes Geld für, mehr als hier.»

In diesem Augenblick hörten sie vor dem nahen Zolltor einen Reiter heransprengen.

«Wartet, nicht ablegen!», rief der ihnen zu, nachdem er vom Pferd gesprungen war und dem verdutzten Zöllner die Zügel in die Hand gedrückt hatte. In seinem langen, dunklen und reichlich zerschlissenen Kapuzenumhang sah er aus wie ein Wanderprediger, hatte aber keine Tonsur wie die Mönche, sondern trug das rehbraune, kräftige Haar kurzgeschnitten. Vom Alter her mochte er ein, zwei Jahre mehr zählen als Gottschalk von Ortenberg. Er stolperte fast über seinen Rocksaum, als er jetzt auf ihr Boot zugerannt kam.

«Wenn Ihr übersetzen wollt, müsst Ihr wen anders fragen», brummte der Bootsführer, der im Begriff war, die Leine zu lösen. «Wir fahren bis Straßburg.»

«Dem Himmel sei’s gedankt – dann sind das hier die Freiburger Kreuzfahrer?»

Gottschalk baute sich vor ihm auf. «Wer will das wissen?»

Seine Rechte näherte sich bedrohlich der Streitaxt im Gürtel.

«Bruder Konrad, Konrad von Illenkirchen, meines Zeichens ein Wanderprediger. Und die, die Ihr hier um Euch geschart habt, werden mit mir nach Freiburg zurückkehren.»

«Werden sie nicht.» Mit verschränkten Armen gesellte sich Jecki hinzu. Sowohl er als auch der Knappe waren um einiges kräftiger als dieser Wanderprediger. Doch der ließ sich nicht beeindrucken. Die Augen in seinem erhitzten Gesicht funkelten, als er sich Anna und den Kindern zuwandte. Er hatte grüne, tiefgrüne Augen, wie sie Anna nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte.

«Eure Eltern, eure Lehrherren sind in größter Sorge um euch. Was ihr vorhabt, ist eine Dummheit, die euch das Leben kosten wird. Und Ihr, Junker, habt diese unbedarften Kinder auch noch dazu angestiftet, schämt Euch.»

«Vorsicht.» Gottschalks Hand umschloss den Griff seiner Streitaxt. «Sonst fordere ich Euch zum Zweikampf. Diese Kinder stehen nämlich unter meinem Schutz.»

«Das mögt Ihr so sehen, und deshalb frage ich die Kinder selbst.» Er zog Christian und ein strohblondes Mädchen namens Margret, das eine leichte Hasenscharte hatte und traurige Augen, zu sich heran. «Ihr werdet Tag für Tag, Woche für Woche marschieren müssen, ihr werdet Hunger und Durst leiden, nachts in dunklen Wäldern schlafen müssen und die Wölfe heulen hören. Unterwegs lauern euch böse Menschen auf, und wenn ihr Glück habt und allen Gefahren entkommt, so werdet ihr das Heilige Land doch nie erreichen. Weil dazwischen nämlich ein unermesslich hohes Gebirge und ein schier unendliches Meer liegen.»

«So halt schon dein Maul, du verhinderter Pfaffe.» Gottschalk packte ihn bei der Schulter, doch der Wanderprediger schüttelte ihn ab.

«Also, ihr Kinder, was ist?»

Christian tauschte einen langen, unsicheren Blick mit Jecki aus, dann stieß er hervor: «Ich will nach Jerusalem.»

«Ich auch», sagte die kleine Margret tapfer. Die anderen nickten stumm.

«Da hast du’s!»

«Dann wenigstens du.» Bruder Konrad sah Anna flehentlich an. «Du bist eine junge Frau, weißt nicht, wie das ist, unterwegs auf der Landstraße. Hübsche Jungfern wie du sind Freiwild für umherstrolchende Ritter, und bei den Sarazenen im Morgenland …»

Sie schüttelte entschieden den Kopf. Was maßte sich dieser Wildfremde an?

«Das kannst du deiner Mutter nicht antun – und deinem Vater auch nicht.»

«Was wisst Ihr schon von meinen Eltern?», brauste sie auf.

Sein Blick wurde unsicher. «Nichts.»

«Dann lasst mich bloß in Ruh!»

«Sackerment!», fuhr der Fährmann ungehalten dazwischen. «Seid ihr euch jetzt endlich einig? Hab keine Lust, kurz vor Straßburg an Land zu gehen, nur weil’s Nacht wird.»

Kopfschüttelnd rannte der junge Wanderprediger zu seinem Pferd zurück und führte es in Richtung Mietstall.

«Auf geht’s, ins Boot mit euch.» Gottschalk von Ortenberg warf seine Satteltasche in die Barke und stieg hinterher. Dann reichte er einem nach dem anderen die Hand, während der Fährmann die Leine fest im Griff hatte. Bei jedem Einstieg schwankte das Boot bedenklich, und Anna hielt Gottschalk einen Moment länger fest, als es nötig gewesen wäre.

Die kleine Margret zögerte. «Und wenn wir nun alle ertrinken?»

Der Fährmann lachte. «Eher werden wir auflaufen, wir haben Niedrigwasser.»

Tatsächlich strömte der Rhein mit seinen zahlreichen Inseln in äußerst gemächlichen Schleifen dahin, was alles andere als gefährlich aussah. Die andauernde Sommerhitze schien das Wasser genauso träge gemacht zu haben wie die Menschen.

Als Letzter stieg Jecki zu. Gerade als sie sich von der Ufermauer abstoßen wollten, sprang mit einem großen Satz jener Konrad von Illenkirchen ins Boot und brachte es fast zum Kentern. Die Kleinsten schrien auf.

«Was soll das jetzt?», schnauzte der Knappe erbost, der mit Jecki den Platz bei den Rudern eingenommen hatte. Der Wanderprediger steckte dem Bootsmann eine Münze zu.

«Ich komme mit. Ob es Euch passt, Junker, oder nicht.»

 

Nur selten wurde das Wasser schnell, dafür liefen sie mehr als einmal auf Kiesbänke auf, und der Fährmann, der am Heck das Steuerruder hielt, fluchte, wenn vorne am Bug Jecki und Gottschalk wieder alle Mühe hatten, das Boot aus der Untiefe herauszustaken.

Gleißend und bleischwer hing der Himmel nun über dem Rheintal. Anna sank bald schon in eine dumpfe Schläfrigkeit, immer wieder fielen ihr die Augen zu. Jetzt spürte sie, wie müde sie war nach der schlaflosen Nacht und dem anstrengenden Marsch, indessen war ihr dieses allgegenwärtige Wasser rundum doch zu unheimlich, als dass sie richtig hätte schlafen mögen. Außerdem – das hatte sie sich beim Einsteigen geschworen – musste sie auf Christian aufpassen. Der presste sich auf der schmalen Holzbank eng an sie, hatte er doch genau wie Margret Angst zu ertrinken. Das Beste würde wohl sein, wenn dieser Bruder Konrad ihn doch noch nach Freiburg zurückbrachte – der Knabe war viel zu klein und schwächlich für eine solche Unternehmung.

«So ist’s recht», knurrte der Fährmann, als sie sich mit einem Mal in einer tiefen, gerade verlaufenden Fahrrinne befanden und deutlich an Fahrt zunahmen. Jecki und Gottschalk mussten nicht einmal mehr rudern, und die Auwälder zu ihrer Linken glitten rasch an ihnen vorüber.

«Sind wir bald da?», fragte sie.

«Das wird sich weisen. Der Rhein ist ein alter Griesgram – mal zeigt er sich freundlich, mal tückisch.»

Auch wenn diese Antwort nicht allzu beruhigend ausfiel, wurde Anna allmählich gelassener. Es würde schon alles gutgehen, der Bootsmann schien sein Handwerk zu verstehen. Ihr Blick streifte den Wanderprediger, der ihr gegenübersaß, bei Margret und deren kleiner Freundin. Margret, die inzwischen eingeschlafen war, lehnte vertrauensvoll an Konrads Schulter.

Bis auf Jecki, Christian und Margret kannte Anna die anderen Freiburger nur vom Sehen – Kinder von Taglöhnern oder selbst junge Taglöhner, die von klein auf zum Familienunterhalt hatten beitragen müssen. Gemein war ihnen allen ihre ärmliche Erscheinung: Alle trugen sie bessere Lumpen, manche besaßen nicht einmal Schuhe, und die Kappen und Hüte, die sie sich zum Schutz gegen die Sonne mitgenommen hatten, waren löchrig oder starrten vor Dreck. Wie Anna auch waren sie wahrscheinlich überzeugt davon, dass es überall auf der Welt nur besser sein konnte als dort, woher sie kamen.

Als sich ihr Blick mit dem des Wanderpredigers traf, wandte sie den Kopf zur Seite. Was hatte dieser Bruder bei ihnen zu suchen? Dafür, dass er angeblich ein Diener des Herrn war, hatten seine Worte bei der Ankunft reichlich gotteslästerlich geklungen. Seither allerdings war er in fast trotziges Schweigen verfallen. Dass sie sich von ihm beobachtet fühlte, kaum dass er an Bord war, mochte daran liegen, dass er ihr gegenübersaß – dennoch war ihr seine Gegenwart nicht recht geheuer. Plötzlich wähnte sie sich fast sicher, dass sie ihn in Freiburg bei dem Menschenauflauf vor der Gerichtslaube gesehen hatte.

Umso angenehmer hingegen fand sie den jungen Schildknappen. In seiner Nähe fühlte man sich einfach sicher und beschützt, und Anna zweifelte keinen Augenblick daran, dass er sie alle wohlbehalten zu jenem Hirtenknaben bringen würde. Verschämt stellte sie fest, dass ihr auch sein Äußeres gefiel. Schon heute Morgen war ihr aufgefallen, dass seine dünnen, geschwungenen Brauen gezupft waren und dass es in seiner Nähe nach Rosen- und Lavendelöl duftete. Mit seinen langen, dunkelblonden Locken, den gepflegten Händen und den schon sehr männlichen Gesichtszügen ließ er die Herzen der höfischen Jungfern und Damen gewiss höher schlagen. Für eine wie sie, eine einfache Schustertochter, würde er wohl kaum Augen haben, und sie ertappte sich dabei, wie sie das bedauerte.

«He, Bootsführer!», rief er in diesem Augenblick. «Willst du in Straßburg nicht deinen Kahn verkaufen und mit uns ziehen? Gott wird es dir lohnen.»

«Für wie närrisch haltet Ihr mich, Junker? Einem halben Kind hinterherlaufen, nur um mich dann von den Sarazenen abschlachten zu lassen? Nein, habt Dank.»

«Versündige dich nicht, Mann. Nikolaus ist ein Prophet, von Gott berufen.»

Doch der Bootsführer grinste nur.

«Erzählst du uns von diesem Nikolaus, der uns ins Heilige Land führen will?», rief Christian mit seiner hellen Stimme.

«O ja! Bitte!», kam es prompt von Margret und ihrer Freundin. Die beiden waren plötzlich hellwach.

Anna wies Christian zurecht. «Einen Junker spricht man nicht ungefragt an. Und duzen tut man ihn schon gar nicht.»

«Lass nur.» Gottschalk lachte. «Der Knabe gefällt mir. – So will ich euch also erzählen, wie Nikolaus der Heiland erschienen ist.»

Er erhob sich von der Ruderbank und stellte sich breitbeinig auf, damit er besser zu hören war. Seine Stimme, die sonst so schroff Befehle austeilen konnte, wurde sanft.

«Vor wenigen Monaten, in der Nacht zu Walpurgis, hütete er vor den Toren der großen Stadt Köln die Schafe seines Vaters. Da sah er ein flammendes Kreuz am Nachthimmel seine Bahn ziehen, und in einem blendenden Schein, der alles in weißes Licht tauchte, schwebte ein Engel vom Himmel herab auf ihn zu, mit einem Antoniuskreuz in der Hand. Ihr könnt euch denken, wie erschrocken der Hirtenknabe war, und so warf er sich mit ausgebreiteten Armen zu Boden und rief: ‹Allmächtiger, was hat das zu bedeuten?› Als er wieder aufsah, entschwand der Engel über den Baumwipfeln, und vor ihm lag ein rotes Kreuz aus Stoff, und eine freundliche Stimme sagte: ‹Fürchte dich nicht. Dieser Engel wird dich und ein Heer von Unschuldigen ins Heilige Land führen. Er wird dich übers Gebirge führen, er wird dich durch das große Meer führen, das sich wie in biblischen Zeiten vor euch teilen wird. Befreie das Heilige Land von den Ungläubigen, befreie mein Grab in Jerusalem, dann kann die Menschheit errettet werden.› Da wusste Nikolaus, dass der Heiland zu ihm gesprochen hatte.»

Auf der Barke, die ruhig über den glitzernden Strom glitt, war es mäuschenstill geworden.

«Und wenn er das alles nur geträumt hat?», wandte Anna schüchtern ein. Von ihren Geschwistern wusste sie nur allzu gut, was Kinder so zusammenträumten.

Auf der Stirn des Knappen zeigte sich eine steile Falte. «Du zweifelst? Der Engel ist seither immer bei ihm. Wie sonst hätte er, als einfacher Knabe ohne Bildung, die richtigen Worte finden können und tagelang zu Köln vor dem Altar der Heiligen Drei Könige predigen?»

Jecki pfiff durch die Zähne. «Die haben ihn wie einen Priester predigen lassen?»

«Aber ja – und immer mehr kamen herbei, um ihn zu hören. Erst waren es Hunderte, dann Tausende. Bald schon waren junge Menschen aus allen Winkeln des Reichs nach Köln gekommen, sogar aus Flandern und Lothringen und Brabant. Und auch jetzt noch, bei seiner ersten großen Rast in Straßburg, strömen täglich neue Scharen herbei, so wie auch ihr auf dem Weg zu ihm seid …» Er warf Anna einen strafenden Blick zu, und sie ärgerte sich über ihre vorschnelle Bemerkung. «Die Zweifler, die Zögerlichen wie dich, die hat er schnell eines Besseren belehrt: Ich war selbst dabei, wie er eine Veitstänzerin und einen gelähmten Jungen, die mit ihm ziehen wollten, durch Handauflegen von ihrem Leiden geheilt hat.»

Verblüfft fragte Christian: «Dann ist Nikolaus ein Heiliger?»

«Noch nicht, weil das der Papst, als Vertreter unseres Herrn auf Erden, zu bestimmen hat. Aber engelsgleich ist er jetzt schon, ihr werdet es selbst sehen. Man sagt, dass der Herr ihn vom Himmel speist, denn er trinkt nichts, isst nichts und lebt trotzdem.»