Die Gauklerin - Astrid Fritz - E-Book

Die Gauklerin E-Book

Astrid Fritz

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Beschreibung

Die junge Agnes führt ein behütetes Leben bis zu dem Tag, als der Krieg seine Fühler nach ihrer Heimatstadt Ravensburg ausstreckt. Seit fünf Jahren währt das Schlachten schon – dreißig werden es am Ende sein. Bald sind ihre Brüder mit den Soldaten davon, und auch Agnes hält es nicht daheim – sie hat sich in einen fahrenden Sänger verliebt. Der lässt sie in Stuttgart sitzen, schwanger und mittellos. Doch Agnes ist hübsch und gescheit, und so bringt sie es von der Spülmagd bis zur Zofe der württembergischen Prinzessin. Aber der Krieg holt sie immer wieder ein. Als die Mutter im Sterben liegt, macht sich Agnes auf, um ihre verfeindeten Brüder zu suchen ...   «30 Jahre Leben im Krieg – Astrid Fritz' neuer Roman Die Gauklerin ist ihr bester. Fritz gelingt hier die Annäherung an die Lebensumstände jener Zeit, sie schildert diese europäische Katastrophe aus der Sicht der Opfer wie der Täter.» (Badische Zeitung)

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Astrid Fritz

Die Gauklerin

Historischer Roman

Erstes Buch

Flucht ins Ungewisse

(August 1620 – April 1626)

1

Der Feierabend, den der Turmbläser soeben verkündet hatte, versprach keine Abkühlung. Bleigrau lastete der Himmel über der Stadt, die ungewöhnliche Hitze an diesem Spätsommernachmittag machte die Menschen reizbar.

Agnes stellte ihren Einkaufskorb auf den Boden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Den Weg zum Schuhmacher oben im Gänsbühl würde sie morgen früh erledigen, jetzt zog es sie nur noch nach Hause. Ein Trommelwirbel ließ sie aufhorchen: Vor dem Rathaus tänzelte ein prächtig geschmückter Schimmel unter seinem Reiter, der die scharlachrote Schärpe eines Offiziers trug.

Neugierig trat sie näher. Das Gesicht war unter dem breitkrempigen Hut nicht auszumachen, doch die beiden Trommler rechts und links des Reiters wirkten blutjung. Jetzt ließen sie ihre Schlegel schneller und schneller über das Fell wirbeln, und binnen kurzem füllte sich der Platz vor dem Rathaus mit Neugierigen: mit Lehrlingen und Gesellen, Gesinde und Knechten, mit Schulbuben, Tagedieben und Taugenichtsen. Kaufleute, Bürgersfrauen und andere Leute, die Besseres zu tun hatten, ließen sich wenige blicken – schließlich wusste jeder, was es mit dem verwegen aussehenden Reiter auf sich hatte: Er war gekommen im Auftrag des Generalleutnants in bayerischen Diensten, Johann Tserclaes Freiherr von Tilly, und hatte die bedeutsame Aufgabe, ein Regiment Knechte aufzurichten. Auf ein Zeichen hin hielten die Trommlerbuben inne, und der Reiter ließ seinen dröhnenden Bass erschallen:

«Bürger der Stadt Ravensburg, Männer und Burschen!»

Weiter kam er nicht. Zwei riesige Köter waren mit dem tiefen Knurren hungriger Wölfe in die Menge gerast: Vorneweg ein heller mit langem, struppigem Fell und einem Schweinskopf zwischen den Lefzen, ihm dicht auf den Fersen der andere, schwarz und nicht weniger groß. Genau vor dem Reiter kamen sie zum Stehen. Mit glühendem Blick, das Fell gesträubt, verteidigte der Helle seine Beute. Sein Angreifer fletschte nur kurz die Zähne, dann warf er sich auf ihn. Im nächsten Augenblick hatten sich die beiden zu einem Knäuel verbissen und wälzten sich unter hässlichem Gekläffe im Dreck. Der Schimmel stieg steil in die Luft, erschreckt wichen die Umstehenden zurück, irgendwer schrie nach einem Knüppel. Schon färbte sich der Nacken des hellhaarigen Hundes blutrot unter den Bissen des schwarzen, sein Jaulen gellte über den Platz. Immer wieder schnappte er nach der Kehle des anderen, doch er schien hoffnungslos unterlegen.

«Wenn Ihr Soldat seid, warum schießt Ihr nicht auf die Scheißtölen?», brüllte einer der Burschen dem Werber zu, der vergeblich versuchte, sein Pferd zu beruhigen. Endlich erschienen im Laufschritt zwei Stadtwächter und schlugen mit ihren Stöcken auf die Tiere ein, bis sie voneinander abließen und sich winselnd aus dem Staub machten – der eine blutüberströmt, der andere mit gebrochenem Hinterlauf. Zurück blieb der zerbissene Schweinskopf, der aus leeren Augenhöhlen in den grauen Himmel stierte.

Laute Trommelschläge ließen die aufgeregte Menge verstummen.

«Nun denn», der Offizier räusperte sich, um seiner Stimme wieder Nachdruck zu verleihen. «Ihr wisst, dass in Böhmen die gottlosen und rebellischen Stände unsere christliche Ordnung mit Füßen treten und ihr Land von einem unrechtmäßig gewählten König, dem Ketzer Friedrich von der Pfalz, regieren lassen. Nun, da das hochherzige Angebot unserer Majestät des Kaisers, die böhmische Krone freiwillig zurückzugeben, ausgeschlagen wurde, muss die Ordnung mit Waffen wiederhergestellt werden. Wer also Manns genug ist, mit Leib und Seele für Gott, die Christenheit und unseren Kaiser zu kämpfen, der möge sich in den nächsten Stunden auf der Kuppelnau zum Eintragen in die Musterrolle einfinden. Als heldenmütige Herausforderung, als Christenpflicht–»

In diesem Moment entdeckte Agnes in der Menschenmenge ihren jüngeren Bruder Matthes. Ihre Blicke trafen sich für einen Sekundenbruchteil, dann senkte Matthes verlegen den Kopf und trat einen Schritt zurück, um sich hinter ein paar hoch gewachsenen Burschen zu verbergen.

Sie hatte genug gesehen. Energisch nahm sie ihren Korb unter den Arm und eilte in Richtung Liebfrauen. Vor dem Elternhaus, einem schmalen dreistöckigen Steinbau hinter der Kirche, traf sie auf ihren Vater. Missmutig erwiderte der Ravensburger Schulmeister Jonas Marx den Gruß seiner Tochter, öffnete die Haustür und ließ sie vorangehen in den angenehm kühlen Flur. In der Stube wartete bereits die Mutter mit Jakob, dem Jüngsten, am gedeckten Tisch.

»Was ist mit dir? Du schaust so finster.» Prüfend betrachtete Marthe-Marie Mangoltin ihren Mann.

«Diese gottverdammten Rattenfänger! Selbst Kinder machen sie verrückt mit ihrem Gefasel von Ruhm und Ehre. Meine Schulbuben haben heute über nichts anderes geschwatzt als über das Soldatenleben. Als ob sie mit ihren zwölf, dreizehn Jahren alt genug wären, um auf dem Schlachtfeld zu krepieren.» Jonas Marx blickte missmutig zur Tür. «Wo bleibt Matthes? Muss dieser Bengel fortwährend zu spät zum Essen kommen?»

Mit rotem Gesicht stürzte der Gescholtene in die Stube, murmelte eine Entschuldigung und setzte sich an seinen Platz.

«Können wir jetzt endlich anfangen zu essen?», herrschte Jonas den Jungen an.

Agnes warf ihrem Vater einen Seitenblick zu. Der Werber, der seit gestern für den Prager Feldzug die Trommeln rührte, schien ihm vollkommen die Laune verdorben zu haben. Schweigend löffelten alle ihre Suppe.

Jakob hob den Kopf.

«Der Stadtarzt hat gesagt, ich darf ihn sonntags bei den Krankenbesuchen begleiten.»

Jonas’ Miene hellte sich auf. «Soso, mit dem Herrn Stadtarzt. Ich hoffe, du vernachlässigst darüber nicht deine Studien.»

Agnes wusste, wie stolz ihr Vater auf Jakob war, dem das Lernen so leicht fiel wie einem Vogel das Fliegen und der mit seinen dreizehn Jahren bereits eine Klassenstufe der Lateinschule übersprungen hatte. Jeder in der Familie bewunderte Jakob für diese Fähigkeit; Jakob selbst hingegen, in fast kindlicher Einfalt, schien dies gar nicht zu bemerken. Zumal ihr Vater seit jeher bemüht war, keines seiner drei Kinder zu bevorzugen – auch wenn ihm dies in letzter Zeit sichtlich schwer fiel. Matthes nämlich wurde zunehmend störrischer, brachte seinen Lehrherrn gegen sich auf oder ließ sich auf Händel mit irgendwelchen Gassenbuben ein.

Verstohlen musterte Agnes ihre beiden ungleichen Brüder. Matthes, dunkel wie sie selbst und wie die Mutter, war im letzten halben Jahr unerwartet schnell in die Höhe geschossen. Der Flaum auf seiner Oberlippe verriet, dass er zu einem jungen Mann wurde. Das Ungestüme, fast Leichtsinnige, das ihn schon als kleines Kind in haarsträubende Situationen gebracht hatte, schien sich jetzt noch zu verstärken. Es war, als suche er täglich aufs Neue eine Herausforderung. Jakob hingegen, der Schmächtige, Nachdenkliche mit seinem strohblonden Haar, ging jedem Streit aus dem Weg und hatte dafür ein unendlich großes Herz für alles Schwache und Hilflose. Sie konnte sich nicht erinnern, dass er je einen anderen Wunsch geäußert hatte als den, Medicus zu werden. Und zwar studierter Arzt. Jonas Marx hatte dazu bisher weder ja noch nein gesagt. Jakob solle zunächst seine Lateinschule absolvieren, dann werde man weitersehen.

Unterschiedlicher konnten zwei Brüder nicht sein. Und doch liebte Agnes beide gleichermaßen, jeden auf seine Art. Fast fühlte sie sich verantwortlich für sie, als Schwester, die um etliche Jahre älter war. Oder besser gesagt: als Halbschwester. Ihr eigener, leiblicher Vater war schon bald nach Agnes’ Geburt am hitzigen Fieber gestorben.

«Gibt es heute kein Brot zur Suppe?»

«Herrje! Das Brot hab ich ganz vergessen. Es liegt noch im Korb.»

Agnes sprang auf und holte den Laib Weißbrot, schnitt erst ihrem Vater, dann ihrer Mutter ein Stück ab.

Jonas lächelte sie an. Sein Ärger war offensichtlich verflogen – dem Himmel sei Dank, denn Agnes hatte noch etwas auf dem Herzen.

«Danke, meine Kleine.»

Meine Kleine! Wann würde ihr Vater endlich einsehen, dass sie kein Kind mehr war? Sie war fast neunzehn! Andere hatten in diesem Alter bereits einen Ehemann, ihre eigene Haushaltung. Agnes holte tief Luft.

«Erlaubt ihr mir, nach dem Essen noch auf den Marienplatz zu gehen? Nur für eine Stunde.»

Jonas’ Miene verfinsterte sich erneut.

«Zu den Komödianten? Wir haben doch erst vorgestern diese alberne Aufführung gesehen.»

«Bitte!»

Agnes sah zu ihrer Mutter. Für einen kurzen Moment glaubte sie so etwas wie Misstrauen in ihrem erstaunten Blick zu lesen.

«Nun, weltbewegend fand ich diese Truppe zwar wirklich nicht.» Jonas strich sich das noch immer volle Haar aus der Stirn. «Aber wenn’s sein muss. Der Jakob geht mit. Und ihr seid gleich nach der Vorstellung wieder hier.»

Agnes zog eine Grimasse. «Mein kleiner Bruder als Aufpasser!»

«Du hast gehört, was Vater gesagt hat.» Marthe-Marie erhob sich und stapelte geräuschvoll die leeren Teller ineinander. «Entweder nimmst du Jakob mit, oder du bleibst zu Hause. Und jetzt geh mir in der Küche zur Hand.»

Als sie wenig später das saubere Geschirr auf die Regalbretter räumten, hörten sie aus dem Erdgeschoss, wie mit plötzlichem Krachen eine Tür ins Schloss fiel, dann erscholl die laute Stimme von Jonas Marx. Kurz darauf zerrte er, das Gesicht hochrot vor Zorn, Matthes hinter sich her in die Küche.

«Heimlich hinausschleichen wollte er sich, durch die Hintertür. In seinem besten Sonntagsstaat. Und den Knappsack hat er auch schon gepackt. Jetzt sag endlich, wohin du wolltest.»

Trotzig biss sich Matthes auf die Lippen. Dabei warf er Agnes einen flehenden Blick zu.

Ach Matthes, dachte sie, warum soll ich verraten, dass ich dich bei dem Werber gesehen habe? In diesem Aufzug verrätst du dich doch selbst.

«Also?» Marthe-Marie musterte ihren Sohn von oben bis unten. Ganz blass sah sie plötzlich aus.

«Wenn du den Mund nicht aufmachst, sage ich es.» Jonas riss ihm den Ranzen aus der Hand. «Du wolltest auf die Kuppelnau, dich zur Musterung eintragen lassen. Habe ich Recht?»

Matthes schwieg.

«Antworte mir gefälligst! Oder ist dir dein Soldatenherz schon vor der großen Schlacht in die Hose gerutscht?»

Da ballte Matthes die Fäuste. «Gar nichts kannst du mir vorschreiben. Lieber will ich bei den Soldaten kämpfen, als weiter vor diesem Menschenschinder in der Werkstatt zu katzbuckeln.»

Jonas holte aus und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige.

«Habe ich richtig gehört?», brüllte er. «Mein Sohn, den ich nach Luthers Lehren zu einem friedfertigen Menschen erzogen habe, will sich für diese katholischen Kriegstreiber abschlachten lassen? Will mit nicht mal fünfzehn Jahren den Helden spielen? Und ob ich das verhindern kann – zur Not sperr ich dich ein, bis du wieder zu Verstand gekommen bist!»

Noch nie hatte Agnes ihren Vater so wütend gesehen. Marthe-Marie strich ihm über den Arm, eine flüchtige Geste der Beruhigung und Zärtlichkeit zugleich.

«Lass gut sein, Jonas. Ich bringe Matthes auf seine Kammer, und ihr sprecht morgen in aller Ruhe miteinander.»

«Da gibt es nichts zu reden.» In den Augen des Schulmeisters blitzte noch immer der Zorn. «Dieser widerliche Krieg in Böhmen ist ein Krieg der Mächtigen, die nichts als Geld und Blut begehren. Niemals wird einer meiner Söhne zu dieser schmutzigen Schlächterei ausziehen. Nicht, solange ich lebe. Geht das in dein Hirn?» Er packte Matthes hart bei den Schultern. «Morgen werde ich ein Wörtchen mit deinem Meister reden, damit deine Schludrigkeiten ein Ende nehmen. Jetzt los auf eure Zimmer, aber sofort – auch du, Agnes.»

Agnes stockte der Atem. «Aber du hast mir doch–»

«Du bleibst heute Abend im Haus.»

Mit zusammengekniffenen Lippen folgte sie ihrem Bruder zur Küche hinaus, hörte eben noch, wie ihr Vater sagte: «Der Junge braucht eine härtere Hand!», dann stapfte sie hinauf in ihre kleine Dachkammer.

Die harte Hand würde er beim Heer haben, dachte sie, und ihr Mitleid mit Matthes schlug in Groll um. Nur seinetwegen durfte sie nicht hinaus! Dabei hatte sie Kaspar treu und fest versprochen zu kommen. Und sie war es gewohnt, ihren Kopf durchzusetzen – zumindest, was ihren Vater betraf. Sie trat mit dem Fuß die Tür hinter sich zu und starrte wütend aus der Luke über die Dächer der Stadt. Über den Hügeln im Osten begann es zu wetterleuchten.

Aus der Kammer unter ihr hörte sie die Mutter auf Matthes einreden. Im Grunde konnte Agnes ihren Bruder verstehen. Ihn trieb es hinaus aus der Enge der Stadt, weg von seinem jähzornigen Meister, bei dem er das Horndrechseln lernen sollte. Finster lauschte Agnes den wehleidig-trotzigen Widerworten ihres Bruders. Es war so ungerecht: Natürlich war Matthes viel zu jung, um auf eigene Faust in die Fremde zu ziehen oder sich gar als Söldner zu bewerben. Doch in zwei, drei Jahren, wenn er sich ein wenig am Riemen riss, würde er die Gesellenprüfung ablegen und auf Wanderschaft gehen. Würde fremde Städte und Landschaften kennen lernen.

Wie oft hatte sie sich gewünscht, als Junge geboren zu sein. Selbst um seine Lehre als Horndrechsler beneidete sie Matthes – doch als Mädchen eine Lehre zu beginnen, daran war nicht einmal zu denken. Auch wenn das in längst vergangenen Zeiten wohl nichts Ungewöhnliches gewesen war. Was konnte ihr das Schicksal als Frau schon anderes bieten als eine Anstellung in einem Bürgerhaushalt oder die Ehe mit einem Mann, dem sie für den Rest des Lebens Ehrfurcht und Respekt zollen musste. Nur selten, das wusste sie, traf es eine so glücklich wie ihre Mutter mit Jonas Marx, der seine Frau verehrte und liebte. Gut, in vielen Häusern hatten heimlich die Frauen die Hosen an, hielten sie selbst den Söhnen gegenüber die Zügel in der Hand. Doch kaum gab es weiterreichende Entscheidungen, galt man als Frau nicht viel mehr als ein unmündiges Kind.

Agnes lehnte sich weit hinaus in die Abendluft, deren Wärme ihr nach diesem entsetzlich kalten Sommer wie eine Verheißung erschien. In der Kammer unten war es still geworden. Offenbar hatte die Mutter in ihrer so liebevollen wie unnachgiebigen Art Matthes zur Vernunft gebracht. Vom Marienplatz her drang Gelächter, dann Musik herauf. Mit einem Ruck schloss Agnes die Luke und trat mit geballten Händen an den Waschtisch. Nein, sie würde sich nicht einsperren lassen wie ein Stück Vieh. Sie hatte Kaspar versprochen zu kommen, und niemand würde sie zurückhalten.

Nachdem sie sich gewaschen und ihr neues Leinenkleid angelegt hatte, flocht sie sich bunte Bänder in die widerspenstigen dunklen Locken, nahm ihre Schuhe in die Hand und tappte barfuß, so lautlos wie möglich, die Stiege hinunter zur Kammer ihrer Brüder. Ohne anzuklopfen trat sie ein.

Jakob saß mit einem Buch in der Hand auf seinem zerschlissenen Lehnstuhl am Fenster, Matthes kauerte auf dem Bett und starrte an die Wand.

«Und? Hast du deine dummen Soldatenträume begraben?»

«Nein!»

«Und warum bist du dann noch hier?»

«Rutsch mir doch den Buckel runter.»

«Hör zu, du großer Feldherr: Eine Hand wäscht die andere. Ich hab nicht verraten, dass du bei dem Werber warst, und ihr wisst nicht, dass ich jetzt noch nach draußen gehe. Und zwar ohne meine Brüder.»

Jakob sah erstaunt von seinem Buch auf. «Du willst heimlich gehen? Wie willst du an der Stube vorbei, ohne dass dich jemand hört?»

«Ach Jakob, mein Unschuldslämmchen. Als ob ihr beiden diesen Weg nicht bestens kennen würdet.»

Durch ein schmales Türchen schlüpfte sie hinaus auf den Altan, auf dem die Wäsche trocknete. Sie knotete das Ende einer der Leinen auf und warf das freie Ende über die Brüstung. Jakob steckte den Kopf zum Fenster heraus.

«Du bist verrückt geworden», sagte er.

«Und wenn schon?» Sie warf ihre Schuhe in den Hof hinunter. «Bis später. Und lasst das Türchen offen.»

Es ging leichter, als sie gedacht hatte. Vorsichtig seilte sie sich entlang dem breiten Pfeiler ab. Angst, dass das dünne Hanfseil ihr Gewicht nicht halten würde, brauchte sie nicht zu haben. Sie war viel zierlicher als Matthes, der schon oft auf diesem Weg dem elterlichen Haus entflohen war. Für sie bedeutete es das erste Mal, und sie grinste vor Stolz.

Gebückt huschte sie durch den Gemüsegarten, stieg über die halbhohe Mauer zum Nachbargrundstück, dann über eine weitere Mauer, bei der sie erst auf ein Regenfass klettern musste, und stand schließlich im Kirchhof von Liebfrauen. Sie hatte es geschafft. Nur eine gute Stunde blieb ihr noch bis Einbruch der Dunkelheit, dann musste sie wieder im Hause sein, wollte sie nicht dem Nachtwächter oder der Stadtwache in die Arme laufen. Aber eine Stunde war besser als nichts.

Auf der Bühne, die nichts weiter war als ein umgebautes Fuhrwerk mit Himmel aus verblichenem blauen Tuch und einem Vorhang im Hintergrund, sprach einer der Komödianten eben seine Schlussworte: «In Summa: Unsre Lebenszeit – ist lauter Traum und Eitelkeit!», dann fiel Trommelwirbel in den nicht eben leidenschaftlichen Beifall, und zwei Artisten machten ihre Faxen und Luftsprünge über die knarrenden Bretter. Agnes wusste: Als Nächstes würde der Höhepunkt folgen – der Auftritt des Lautenspielers und Zeitungssingers Kaspar Goldkehl.

Sie bedauerte kaum, dass sie das Spiel der Komödianten verpasst hatte, denn ihr Stück frei nach der berühmten Tragödie Cenodoxus des Jesuiten Jacob Bidermann hatte vor zwei Tagen weder sie noch die anderen Zuschauer so recht begeistert. Die Geschichte des heuchlerischen Medicus von Paris, die die Zuschauer in Angst und Schrecken hätte versetzen sollen, war zu einer faden Posse heruntergekommen, lustlos gespielt und ohne jeden Aufwand in Szene gesetzt. Überhaupt schien es Agnes, dass diese Truppe ihre beste Zeit längst hinter sich hatte, mit ihren zerschlissenen Kostümen und spärlichen Requisiten.

Doch dann betrat Kaspar die Bühne, mit strahlendem Lächeln, die Arme zum Gruß erhoben. Und prompt schwoll der Applaus an, den er sichtlich zu genießen schien. Es waren, wie Agnes missmutig wahrnahm, vor allem die Frauen und Mädchen, die da so hingerissen in die Hände klatschten. Denn Kaspar war ein ausnehmend schöner Mann. Das dichte braune Haar, unterhalb der Ohren und im Nacken sorgfältig gestutzt, umrahmte sein bartloses Gesicht mit der geraden Nase und dem etwas kantigen Kinn. Sehr männlich wirkten Kaspars Züge, gleichzeitig hatten sie etwas Weiches, beinahe Mädchenhaftes durch die hellbraunen, leicht vorstehenden Augen unter fein geschwungenen Brauen und seinen schönen Mund mit den vollen Lippen. Dazu war er hoch gewachsen und von aufrechter, muskulöser Statur.

Während im Hintergrund ein Bub das Dreigestänge mit den Bildtafeln aufstellte, stimmte Kaspar seine Laute, nicht ohne hin und wieder ein verschmitztes Lächeln ins Publikum zu werfen. Dabei entdeckte er Agnes. Sofort schlug er eine kleine Melodie an und sang, ohne den Blick von ihr zu wenden:

«Königin Sonne, du leuchtest so!

Ich und der Sommer, wir brennen lichterloh!»

Obwohl immer noch drückende Schwüle über dem Platz lag, lief Agnes ein Schauer über den Rücken. Kaspar ließ eine schnelle Akkordfolge anklingen, und der Junge deutete mit einem Stock auf das erste Bild. In grellen Farben zeigte es einen Tumult zwischen mehreren Männern, die sich inmitten umgestürzter Möbel vor einem weit geöffneten Fenster drängten.

«Ihr Leute, höret die Geschichte,

Die vor zwei Jahren ist geschehn,

Die treulich ich euch nun berichte,

Drum lasst uns dran ein Beispiel sehn.»

Agnes nahm die Bilder nicht wahr, hörte nicht die Worte. Nur Kaspars schönes Gesicht hatte sie vor Augen, die Melodie seiner warmen tiefen Stimme im Ohr. Die kündete von dem bösen Streit zwischen den kaiserlichen Statthaltern Prags und den lutherischen Ständevertretern, der für Böhmen so schlimme Folgen gezeitigt hatte.

«Die Statthalter, die Kaisertreuen,

Die stritten laut um Wort und Sinn

Mit den Calvinern, Lutheranern,

Was in des Kaisers Brief stand drin.

Zum Fenster hat man sie gezogen,

Den Slavata und Martinitz,

Und rausgehaun in hohem Bogen

Gradwegs auf einen Haufen Mist.

Der Schreiberling Fabricius,

Der flog gleich hintendrein.

Sie fielen tief, sie fielen weich,

Auf Dreck von Rind und Schwein.

Bald kündt von Pein und großer Not

Ein Stern am Himmelsrand,

Und seither schlagen sie sich tot

Im schönen Böhmerland.

Doch Martinitz und Slavata

Samt Secretarius –

Für sie war Glück und Ruhm nun da

Mit Adelstitel und Genuss.

So macht man aus ’nem armen Schreiber

Fabricius von Hohenfall.

Die andern massakrieren sich die Leiber

Mit Spieß und Büchsenknall.

Von der Geschicht so hört nun die Moral:

Des einen Glück den andern wird zur Qual.»

Agnes hatte kaum zugehört. Ungeduldig wartete sie darauf, dass Kaspar sein nächstes Stück beendete, ein rührseliges Schäferlied, für das er eigens Schlapphut und Schaffell angelegt hatte. Ein rothaariges Mädchen von vielleicht fünfzehn Jahren drängte sich neben sie. «Na, wartest du auf deinen Liebsten?»

Es schien nicht böse gemeint, denn auf dem sommersprossigen Gesicht der Rothaarigen erschien ein freches Grinsen. Es war die Tochter des Prinzipals, das wusste Agnes inzwischen. Seit Kaspar seinen Weggefährten erzählt hatte, dass Agnes als Kind selbst mit Gauklern gezogen war, begegneten ihr die Leute von der Truppe zwar nicht immer freundlich, aber doch ohne Misstrauen.

Endlich verschwand Kaspar nach einer knappen Zugabe hinter dem Vorhang. Kurz darauf stand er neben ihr.

«Mein Goldschatz!»

Er zog sie in den Schatten des Requisitenwagens, wo er sie zärtlich umarmte. Wieder wurde ihr heiß und kalt zugleich, doch diesmal kämpfte sie dagegen an, denn sie wollte nicht wie eine dumme Jungfer vor ihm stehen. Sie war nicht ganz so unerfahren, was immer Kaspar von ihr denken mochte.

«Ich hab schon gemeint», er küsste ihre Lippen, «du lässt mich sitzen.»

«Es gab Streit mit meinen Eltern», flüsterte sie. «Lass uns woanders hingehen. Vielleicht im Hirschgraben spazieren.»

«Wohin du willst. Und danach–» Er strich über den Ansatz ihrer Brüste.

«He, Kaspar, Schluss mit den Tändeleien! Los, hilf abbauen!» Ein vierschrötiger Mann mit wilder grauer Mähne stand plötzlich direkt neben ihnen. Agnes machte sich hastig von Kaspar los; sie spürte, wie das Blut ihr in die Wangen schoss.

«Nicht heute, Meister! Lass mir diesen letzten Abend mit meinem Schatz.»

Er hakte sich bei Agnes unter und schob sie, ohne auf die Verwünschungen des Grauhaarigen zu achten, in eine schmale Seitengasse, die zu einem Durchlass in der Stadtmauer führte. Dort, geschützt vor den Blicken der heimkehrenden Bürger, beugte er sich wieder über sie. Doch Agnes schüttelte seinen Arm ab. Ihre dunkelblauen Augen funkelten.

«Was soll das heißen – letzter Abend? Zieht ihr etwa weiter?»

«Hatte ich dir das gestern nicht gesagt?» Elegant zog er die geschwungenen Brauen in die Höhe.

«Nein, hast du nicht!» Sie verschränkte die Arme. «Und wahrscheinlich hättest du es mir auch heute Abend verschwiegen. Wärst morgen früh sang- und klanglos verschwunden.»

«Ach, Unsinn. Es ist nur–», er geriet ins Stottern, «der Prinzipal hat es heute erst entschieden.»

Er nahm ihre Hand, und sie traten durch die Pforte auf den Hirschgraben hinaus. «Du hast doch selbst gesehen, dass wir kaum noch einen Hund hinter dem Ofen vorlocken. Kann ich sogar verstehen. Diese entsetzlich plumpen Moralitäten, ohne Witz und Attraktion. Und meine neckisch-verlogenen Schäferliedchen stehen mir selbst schon bis zum Hals.» Er lächelte sie an. «Aber ich verspreche dir: Spätestens zum Martinimarkt bin ich wieder in Ravensburg. Und in der Zwischenzeit werde ich keine andere Frau auch nur eines Blickes würdigen.»

Vergebens suchte sie ihre Enttäuschung zu überspielen. Viel zu kurz war er in Ravensburg gewesen, fünf Tage nur, an denen sie sich heimlich vormittags vor der Stadt getroffen hatten. Wie schwer war es ihr gefallen, bei der Aufführung vorgestern, ihren Eltern gegenüber zu verbergen, dass sie den Sänger kannte. Dass sie ihn liebte, seit er sie beim Frühjahrsmarkt keck und unverhohlen angesprochen hatte, in Gegenwart all ihrer Freundinnen. Und jetzt sollte sie schon wieder viele, viele Wochen warten, bis sie wieder zusammen sein konnten?

«Nun sieh mich nicht so an, Prinzessin. Nur du bist mir wichtig in dieser heillosen Welt.» Er bedeckte ihren Hals und ihre Schultern mit Küssen. «Weißt du, in was ich mich damals zuerst verliebt habe? In deine Augen. Sie haben das Blau eines wolkenlosen Sommertages, eines im Wind wogenden Kornblumenfeldes–»

«Es wird gleich dunkel», unterbrach sie ihn. «Ich muss nach Hause.»

Unvermittelt ließ er sie los und kniete jetzt tatsächlich vor ihr nieder, mit glühendem Blick, die Arme ihr theatralisch entgegengereckt.

«Komm mit zum Fluss, in unser Lager. Ich flehe dich an: Lass uns diese letzte Nacht zusammen verbringen.»

Ihr schwindelte. Dieser Gedanke war ungeheuerlich. Sie wusste, was eine Nacht mit Kaspar bedeutete. Er war keiner der Nachbarburschen, die sie seit einigen Jahren umschwärmten und mit denen sie spielen konnte, wie es ihr gefiel. Die sie nach Belieben an sich heranlassen und wieder abweisen konnte. Kaspar war ein Mann, und er wollte sie als Frau. Sie wusste genau Bescheid um diese Dinge, hatte oft genug von sich aus die Burschen gedrängt, weiter zu gehen, als es schicklich war. Doch bis zu dem, was der Pfarrer in der Kirche mit hochrotem Kopf «Kopulation» nannte, hatte sie es niemals kommen lassen.

Und dann – ihre Eltern! Vielleicht hatten die längst entdeckt, dass sie verschwunden war, und erwarteten sie nun voller Zorn zu Hause. Nicht auszudenken, wenn sie die ganze Nacht fortbliebe. Umbringen würden ihre Eltern sie.

Ein mächtiger Donnerschlag ließ sie zusammenzucken. Gleich darauf begann es zu regnen. Beherzt zog sie Kaspar zu sich heran.

«Gehen wir.»

2

«Wie konntest du so etwas Schamloses tun?» Aus Marthe-Maries Lippen war alle Farbe verschwunden.

Agnes hob den Kopf. Ihre Wange brannte noch immer. Zwar war ihre Mutter mit Maulschellen stets schneller zur Hand gewesen als ihr Vater, doch es war Jahre her, dass sie zuletzt eine gefangen hatte.

«Was hätte ich tun sollen?» Agnes’ Stimme zitterte. Der Schreck saß ihr noch in den Gliedern, seit sie bei Morgengrauen heimgeschlichen war, über den Altan zurück in das Zimmer der Brüder – und dort auf ihren Vater gestoßen war. Im Lehnstuhl hatte er gesessen, hellwach, mit rotgeränderten Augen, und auf sie gewartet.

«Es ist, wie ich’s sage. Die Leute von der Theatertruppe wollten mir das Lager zeigen, und dann kam dieses Unwetter dazwischen.»

Jonas schlug die Faust auf den Küchentisch, dass es krachte. «Hör endlich auf! Darum geht es gar nicht. Du hast uns belogen und betrogen. Einfach nachts davonschleichen, sich einem hergelaufenen Landstreicher an den Hals werfen! Bist du überhaupt noch ganz bei Sinnen?»

«Kaspar ist kein Landstreicher. Er ist Sänger! Und er weiß ganz genau, was er will.»

«Oh, das kann ich mir denken. Dummen jungen Gänsen den Kopf verdrehen, um sie dann aufs Kreuz zu legen.» Jonas war aufgesprungen und lief erregt in der Küche auf und ab. «Ich hab ihn doch gesehen, ihn und diese elende Vagantentruppe. Ein ausgekochter Hallodri ist das, nichts weiter.»

«Nein!» Agnes sprang vom Stuhl auf. «Er meint es ernst mit mir.»

«Ein Komödiant meint es niemals ernst», entgegnete ihre Mutter tonlos. Sie wirkte plötzlich alt, wie sie da mit gesenkten Schultern hinter der Stuhllehne stand. «Wir können alle nur bei Gott hoffen, dass du in dieser einen Nacht nicht dein ganzes Leben verpfuscht hast. Du wirst ihn nie wieder sehen. Du wirst seinen Namen in diesem Haus nie wieder erwähnen. Hast du verstanden?»

In einem Sturm der Wut und Enttäuschung sah Agnes ihrer Mutter in die Augen. «Wie kannst du nur so reden? Hast du vergessen, dass du selbst einst bei Gauklern gelebt hast? Dass ich bei diesen Leuten aufgewachsen bin? Hast du das alles vergessen?»

«Auf deine Kammer!» Jetzt war es Marthe-Maries Stimme, die bebte. «Sofort! Und für den Rest der Woche verlässt du nicht mehr das Haus.»

Hilfesuchend sah Agnes zu ihrem Vater. Doch auch dessen Blick war starr und abweisend. So verkniff sie sich jedes weitere Wort und ging stumm zur Tür. Ihr Vater fasste sie bei der Schulter.

«Nächsten Sonntag sind wir bei Ulrichs Eltern zum Essen eingeladen. Ich hoffe, du weißt, wie du dich dort zu benehmen hast.»

Ulrich Nägli! Sie musste an sich halten, dass sie nicht hinter sich die Tür ins Schloss krachen ließ. Dann hatten sich die Eltern also schon abgesprochen, war die Heiratsabrede beschlossene Sache. Aber nicht mit ihr. Lieber würde sie konvertieren und zu den Franziskanerinnen ins Kloster gehen.

Agnes kannte Ulrich, den Kaufmannssohn aus der Nachbargasse, seit Kindertagen, und im Grunde mochte sie ihn. Die ersten unbeholfenen Zärtlichkeiten hatte sie mit ihm ausgetauscht, sogar den ersten richtigen Kuss gewagt. Aber er war ein Langweiler, gutmütig, blass und etwas dicklich, der seine Nase nur zum Essen und Schlafen aus dem Kontor seines Vaters steckte. Kein Vergleich mit einem Mann wie Kaspar!

Sie verriegelte die Kammertür und warf sich auf ihr Bett. Wie scheinheilig ihre Eltern waren, scheinheilig und dünkelhaft. Stellten Kaspar als Landstreicher hin. Dabei hatte ihre Mutter selbst einmal in höchster Gefahr Zuflucht gefunden bei einer Komödiantentruppe! Sie war von diesen Menschen aufgenommen worden, als wäre sie eine von ihnen. Agnes selbst konnte sich nicht mehr daran erinnern; sie war ja erst zwei, drei Jahre alt gewesen. Doch Marthe-Marie hatte ihr eines Tages davon erzählt: Wie sie mit ihr aus Freiburg hatte fliehen müssen, als dort einmal mehr der Hexenwahn aufloderte, dieser entsetzliche Wahn, der Marthe-Maries Mutter auf den Scheiterhaufen gebracht hatte. Wie sie außerdem von einem Wahnsinnigen verfolgt worden war, der ihr, der vermeintlichen Hexentochter, nach dem Leben trachtete. Wie sie dann zwei Jahre lang im Schutze von Leonhard Sonntags Compagnie durch die Lande gezogen waren, immer tiefer in Hunger und Elend gerieten, bis Marthe-Marie beinahe vergessen hatte, dass sie eigentlich einer angesehenen Familie entstammte, und sich selbst zu den Unehrlichen, zu den Rechtlosen zählte. Es musste eine schlimme Zeit für ihre Mutter gewesen sein, und doch war es die Zeit, die ihrem Leben schließlich die glückliche Wende gebracht hatte: Hier in Ravensburg war Marthe-Marie überraschend auf ihren verloren gewähnten Vater gestoßen. Und sie hatte auf ihrer Flucht Jonas Marx kennen gelernt.

Agnes schnaubte. Selbst das schienen ihre scheinheiligen Eltern vergessen zu haben: dass auch der Vater eine Zeit lang bei den Gauklern gelebt hatte, aus lauter Liebe zu ihrer Mutter. Und noch etwas wusste Agnes: Beinahe hätte Marthe-Marie ihr Herz an einen echten Gaukler verloren, einen Komödianten namens Diego. Das allerdings hatte sie nicht von ihrer Mutter erfahren, sondern von Lisbeth, Leonhard Sonntags Tochter. Vorletzten Sommer nämlich hatte Sonntags Truppe nach vielen, vielen Jahren wieder in Ravensburg gastiert, und es war zu einem ergreifenden Wiedersehen gekommen. Als Agnes und die gleichaltrige Lisbeth einander als Freundinnen aus frühesten Kindertagen vorgestellt wurden, war der erste Augenblick der Verlegenheit rasch verflogen. Denn zwischen ihr und dem Mädchen mit den kräftigen dunkelroten Haaren und den Sommersprossen auf der spitzen Nase schien eine Art Seelenverwandtschaft zu bestehen – sie lachten über dieselben Dinge, machten sich über dieselben Leute lustig und waren gleichermaßen neugierig auf alles, was sie nichts anging. Es waren herrliche Tage damals, jede freie Minute verbrachte sie mit Lisbeth. Sie lernte die anderen Gaukler kennen, erfuhr alles über den Alltag der Fahrenden, hörte von der unglücklichen Liebe Diegos zu ihrer Mutter und von so manchem Abenteuer aus ihrer eigenen Kindheit, an das sie selbst sich nicht mehr erinnern konnte. Als sie nach zwei aufregenden Wochen Abschied nehmen mussten, war es Agnes, als verliere sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen geliebten Menschen. Was blieb, war ein heimliches Fernweh, eine unbestimmte Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Vielleicht war es das – vielleicht wussten ihre Eltern um diese Unruhe und wollten sie gerade deshalb in den Käfig eines wohlanständigen Lebens sperren. Aber an diesen Stubenhocker Ulrich würde sie sich nie und nimmer ketten lassen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Sie vergrub den Kopf in ihrem weichen Daunenkissen und versuchte, den herben Duft von Kaspars Haut nachzuspüren. Ihr schwindelte. Wie zärtlich und voller Liebe er sie letzte Nacht berührt hatte. Als es dann tatsächlich zu jenem bang erwarteten Moment gekommen war, hatte sie statt der erhofften Lust nur einen kurzen Schmerz verspürt. Doch der Stolz darüber, dass ihr Geliebter sie zur Frau gemacht hatte, ließ sie diesen kurzen Augenblick der Enttäuschung schnell vergessen. Sie und Kaspar gehörten jetzt zusammen. Für immer.

Den Gedanken an die möglichen Folgen ihrer Liebesnacht hatte sie verdrängt. Zumal Kaspar ihr versprochen hatte, er werde schon Acht geben, was auch immer er darunter verstand. Doch war ihr das in dieser wundervollen Nacht ohnehin gleich, sie würde bei ihm bleiben, da konnten ihre Eltern noch so zetern und zürnen. Schließlich hatte Marthe-Marie ihre Entscheidungen dazumal auch allein getroffen, hatte weder Vater noch Mutter um Einverständnis bitten müssen.

Jetzt galt es nur noch, die Zeit bis November hinter sich zu bringen – vielleicht konnte sie bis dahin ein paar Schillinge zusammensparen, indem sie öfter als bisher für die alte Grete aus dem Nachbarhaus Botengänge und Einkäufe erledigte. Das musste natürlich heimlich geschehen, denn für die Haustochter eines Schulmeisters schickte es sich nicht, Geld für Gefälligkeiten anzunehmen. Doch sie war fest entschlossen, Kaspar bei seinen Zukunftsplänen zu unterstützen. Sie zweifelte keine Sekunde an seinen Worten: Noch vor dem ersten Schneefall werde er eine feste Stellung an der herzoglichen Residenz in Stuttgart antreten, hatte er gesagt. Der Siegeszug der italienischen Oper an den Fürstenhöfen sei unaufhaltsam, und er habe fast ein Jahr bei einem Chor- und Kapellmeister in Mantua gelernt. Nur aus der Not habe er sich dieser Gauklertruppe angeschlossen, doch jetzt sei seine Zeit gekommen. «Nie wieder will ich auf einem verlotterten Bühnenkarren von diesen albernen Zeitungen singen oder mich in Schäferlumpen zum Hanswurst machen. Ich bin kein Gaukler, Agnes, ich bin ein Mann der Kunst.»

Das waren seine Worte gewesen. Agnes lächelte versonnen. Bei Hofe würde er zu den geachteten Leuten gehören, mit festem Einkommen und frei vom Makel der Rechtlosigkeit und Unehrlichkeit. Dann würden nicht einmal mehr ihre Eltern etwas gegen eine Heirat einzuwenden haben.

«Und du willst wirklich, dass ich mit dir komme?», hatte sie ihn am Vorabend gefragt. Nassgeregnet bis auf die Haut standen sie vor seinem Wagen am Ufer der Schussen, und Agnes hatte ein letztes Mal gezögert, ob sie tatsächlich das Nachtlager mit ihm teilen sollte.

«Aber ja, meine Prinzessin. Du musst! Du wirst mir Glück bringen.»

«Warum ziehst du dann erst mit den anderen weiter? Warum gehst du nicht gleich nach Stuttgart und sprichst bei Hofe vor?»

«Ach Agnes, das weißt du doch! Ich habe mit dem Prinzipal einen Kontrakt bis Martini, und es würde mich meinen letzten Heller kosten, wenn ich den breche.»

Bis Martini! Agnes seufzte. Und wenn ihn nun seine Reisen ganz woanders hinführten? Oder er bis dahin eine andere Frau kennen lernte? Ach was – sie musste Kaspar vertrauen. Er meinte es ernst. Warum sonst hätte er sein Vorhaben bis ins Kleinste mit ihr besprochen? Ihr ein ums andere Mal versichert, dass er den Neubeginn nur mit ihr wagen wolle? Hatte er nicht sogar, als es endlich soweit war und sie eins mit ihm wurde, geflüstert: Ich liebe dich? Und hatte ihr die Wahrsagerin nicht neulich aus der Hand gelesen, ihr sei Eheglück und Kindersegen in einer fernen Stadt beschieden?

Sie sprang vom Bett auf und ging zum Waschtisch, um sich zu kämmen und zurecht zu machen. Aus der Küche hörte sie das Klappern der Töpfe. Ihre Mutter begann das Mittagsmahl vorzubereiten, und es war Agnes’ Aufgabe, dabei zu helfen. Trotzig verzog sie das Gesicht. O ja, sie würde ihren Pflichten nachkommen, ganz die folgsame Tochter, und Kaspar nie wieder erwähnen. Denn nur eines zählte: An Martini würde sie ihren Geliebten wiedersehen.

Der Sommer hatte dieses Jahr nur ein kurzes Gastspiel gegeben. Auf den heftigen Gewittersturm Ende August war ein kühler September gefolgt, mit einer kraftlosen Sonne am dunstigen Himmel, und hernach ein feuchter, nebliger Oktober. Auch jetzt, an diesem Sonntagvormittag, zeigte sich die Welt grau in grau.

Matthes trat vom Fenster zurück und setzte sich in Jakobs alten Lehnstuhl. Er war gerade mit der Familie vom Gottesdienst zurückgekehrt. Keiner hatte ein Wort gesprochen, als sie den Marienplatz überquerten, auf dem seit gestern die Stände und Lauben für den Martinimarkt aufgebaut waren. Er fragte sich, was wohl in seiner Schwester vorgegangen sein mochte, als sie am Bühnenwagen der Gaukler vorbeikamen. Von der Truppe war niemand zu sehen gewesen, doch Agnes war ohnehin mit erhobenem Kopf, ohne nach rechts und links zu blicken, daran vorbeimarschiert.

Seit jenem schlimmen Streit mit den Eltern war seine Schwester eine andere. Ihr Gesicht war zu einer Maske erstarrt, ihr Blick abwesend und ernst. Sie kam nicht mehr vor dem Schlafengehen zu ihm und Jakob herunter, wie sie es sonst getan hatte, um mit ihnen eine halbe Stunde zu würfeln oder Karten zu spielen, beteiligte sich kaum noch an den Tischgesprächen und stürzte sich stattdessen verbissen in ihre Haus- und Flickarbeiten. Und bei den wechselseitigen Sonntagsbesuchen mit der Familie Nägli benahm sich Agnes wie eine mustergültige junge Dame. Wahrscheinlich sah sich der dicke Ulrich schon als ihr Gatte.

Matthes hatte längst begonnen, Agnes’ frechen Spott und ihre Neckereien zu vermissen, von ihrem lauten, fröhlichen Lachen ganz zu schweigen. Manchmal fragte er sich, ob sie was im Schilde führte.

Anfangs war ihm dieser Streit gerade recht gekommen – schienen doch seine Eltern über jene unerhörte Geschichte mit Agnes und diesem singenden Possenreißer den Ärger über ihn vollkommen vergessen zu haben. Niemand hatte mehr auf ihn geachtet, weder hatte der Vater das Gespräch mit seinem Meister gesucht noch den angedrohten Hausarrest wahr gemacht. Matthes zog ein finsteres Gesicht. Wenn er, Matthes, anstelle seines Vaters gewesen wäre, er wäre noch am selben Morgen zum Gauklerlager hinaus und hätte Kaspar die Seele aus dem Leib geprügelt. Er war sich sicher, dass dieser Hundsfott jede Nacht über ein anderes Weib stieg.

Doch ihn hatte niemand gefragt, und sich einzumischen hätte er nicht gewagt. So ging der Alltag für ihn bald wieder seinen gewohnten Gang: Frühmorgens verließ er das Haus, um in die ungeliebte Werkstatt zu trotten, wo er bis zum Feierabend nichts anderes tat, als Rinder- und Ziegenhörner zu entschlauchen und zuzurichten und die Hohlstücke aufzuschneiden. Nicht ein einziges Mal hatte ihn der Meister bisher an die Drehbank gelassen, obwohl er bereits seit einem Jahr in Lehre war. Stattdessen fluchte der Alte über sein Ungeschick und seinen Widerwillen bei der Arbeit und prophezeite ihm ein ums andere Mal, aus ihm werde nie ein ordentlicher Handwerker. Womit er nicht falsch lag, denn Matthes hatte längst andere Pläne. Mit diesem weibischen Kram wie Frisier- und Zierkämmen, Haarnadeln, Knöpfen, Spielmarken und anderem Schnickschnack hatte er ohnehin nichts am Hut. Wenn schon jahrelang als Lehrbub ochsen, dann wollte er wenigstens einen Beruf für richtige Männer erlernen.

Er beugte sich über die Armlehne und tastete unter sich über die Dielenbretter, bis er die lose Stelle fand. Vorsichtig zog er den Stapel Flugblätter hervor. Plötzlich stand Jakob hinter ihm.

«Was schleichst du dich herein wie ein Strauchdieb?», herrschte Matthes seinen jüngeren Bruder an.

«Vielleicht hast du vergessen, dass das auch meine Kammer ist? Los, zeig schon her.»

Mit einem Ruck entriss Jakob ihm das oberste Blatt. Glorreicher Sieg der Bayerisch-Kaiserlichen über die calvinischen Ketzer prangte fett über einem Bildnis des so genannten Winterkönigs Friedrich. In frechem Strich hatte der Zeichner den Pfälzer barfuß, in Lumpen und mit zerbrochener Wenzelskrone auf dem lockigen Haupt dargestellt.

«In der Nacht vom siebenten zum achten November – die Böhmischen vernichtend geschlagen – Schlacht am Weißen Berge–», murmelte Jakob halblaut vor sich hin. «Kühn und voller Wagemut– Tillys tapfere Mannen– Prag vom Joch der Ketzer befreit.» Er sah auf. «Ich dachte, der Mansfelder hätte die Bayern bei Pilsen zurückgeschlagen?»

«Seit wann interessiert dich der Krieg?»

Jakob zuckte die Achseln. «Das tut er nicht, aber ich habe halt Augen und Ohren. Was mich interessiert, sind die Menschen.» Er gab ihm die Flugschrift zurück. «Von wem hast du das?»

«Von Gottfried. Hat er mir heute in der Kirche zugesteckt.»

«Der großgoscherte, aufgeblasene Gottfried Gessler? Das scheint ja dein neuester Spezi zu sein. Und woher hat der die Blätter?»

«Sein Vater lässt sie sich kommen.»

Auf Jakobs schmalem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. «Büchsenmacher Gessler, der brave Lutheraner. Hält Ausschau, an wen er seine Feuerrohre verscherbeln kann. Und wenn’s an die Katholischen ist, die damit seine Glaubensbrüder über den Haufen schießen.»

«Du kleiner Klugscheißer! Wehe, du verpfeifst mich bei Vater.»

Jakob schüttelte den Kopf. «Keine Sorge. Ich frag mich bloß, ob du immer noch abhauen willst. Aber wie du siehst, gewinnt der große Tilly seine Schlachten auch ohne dich.»

«Halt’s Maul. Du redest schon so blöd daher wie Agnes.»

Sein Bruder brauchte ja nicht zu wissen, wie froh er im Nachhinein war, dass der Vater ihn an jenem Sommerabend erwischt hatte. Damit hatte er sich eine Blamage vor all den anderen Burschen der Stadt erspart. Denn als sein Freund Gottfried Gessler, mit dem er auf der Kuppelnau verabredet gewesen war, vor den Musterschreiber getreten war, hatte der ihn als Erstes nach seinem Alter gefragt. Achtzehn, hatte Gottfried gesagt. Da war der Mann in schallendes Gelächter ausgebrochen und hatte ihm mit den Worten «Da hast du dein Handgeld» vor allen anderen kräftig eins hinter die Ohren gegeben. Unter einem Schwall von Spott und Häme hatte er den Heimweg antreten müssen.

Matthes verstaute die Blätter wieder in ihrem Versteck.

«Hör zu, Jakob: Bevor du dich vielleicht doch vor deiner geliebten Schwester verschwatzt – ich will bloß auf dem Laufenden sein. Mehr noch als der Krieg interessiert mich das Büchsenmachen. Mit ein wenig Glück werde ich bei Gessler nächstes Jahr die Lehre beginnen.»

Jakob sah ihn aus seinen hellen Augen erstaunt an. «Du willst schon wieder eine neue Lehre anfangen?»

«Was heißt schon wieder? In der Kunstschlosserei unseres Oheims war ich nur zu einer Probezeit.»

Jakob grinste spöttisch und schwieg.

«Denk doch, was du willst. Der alte Gessler jedenfalls meint, die Zeiten seien formidabel. Die Büchsenmacherzunft wird bald die Königin der Zünfte sein.»

3

Seit Kaspar wieder in der Stadt war, fand Agnes nachts keinen Schlaf. Ihre Eltern ließen sie nicht aus den Augen, und wenn Agnes außer Haus ging, schickten sie Jakob mit, dem die Eltern wohl mehr Familien- und Verantwortungssinn zutrauten als dem Älteren.

Als Agnes am vierten Tag seit Beginn des Jahrmarkts noch eben zu den Brot- und Fleischbänken im Waaghaus eilte und sich in die Schlange einreihte, zupfte sie jemand am Ärmel.

«Von deinem Schatz», flüsterte die Tochter des Prinzipals, drückte ihr einen Zettel in die Hand und verschwand. Agnes hielt die Luft an. Kaspar hatte sie nicht vergessen! Rasch warf sie einen Blick auf Jakob, der vor der Stadtwaage auf sie wartete, doch der schien nichts bemerkt zu haben. Oder er tat zumindest so, denn jetzt winkte er ihr freundlich zu.

Die Minuten dehnten sich zu Stunden. Endlich hatte sie die Einkäufe hinter sich gebracht und stand bei ihrer Mutter in der Küche.

«Ich gehe nur eben meine Schürze holen», murmelte sie und rannte die Stiege hinauf in ihre Kammer. Ihr Herz raste, als sie das Papier auseinander faltete und die ungelenken Buchstaben wieder und wieder las:

Herzallerliebste Agnes! Meine Prinzessin!

Es ist so weit. Wenn du mich noch immer liebst, komm morgen früh zur achten Stunde ans Frauentor. Nimm nur das Notwendigste mit dir, sodass wir gleich nach Stuttgart aufbrechen können.

Dein Kaspar, der dich innig und über alles liebt.

Ihre Finger verkrampften sich. Seit sie denken konnte, war sie nie weiter aus der Gegend herausgekommen als bis Buchhorn am Bodensee oder bis Waldsee im Norden. Wo lag Stuttgart überhaupt? Wie viele Tage würde die Reise dauern? Wo würden sie übernachten in diesen kalten Herbstnächten?

Was sie am meisten verwirrte, war der plötzliche Schmerz, der in ihrem Inneren aufflammte – der Schmerz, dass sie mit dieser Flucht ihrer Mutter so unsägliches Leid zufügen würde. Dass sie mit Kaspar fortgehen würde, stand für sie dennoch außer Frage.

Zugleich erkannte sie, dass sie all die Tage, all die Wochen darauf gehofft hatte, Marthe-Marie würde sie noch einmal auf ihre Liebe zu Kaspar ansprechen. Ihr war längst deutlich geworden, welche Sorgen ihre Eltern gequält haben mochten bei dem Gedanken, ihre Tochter würde mit einem Gaukler davonziehen. Es war ja nicht nur die Schande, die Ungeheuerlichkeit, die bürgerliche Ehre wegzuwerfen wie einen alten Lumpen. Ihre Eltern kannten die schrecklichen Gefahren und Nöte des Wanderlebens zur Genüge. Gleichwohl: Hätte ihre Mutter auch nur ein einziges Mal das Wort an sie gerichtet, so hätte Agnes ihr alle Zweifel an der tiefen und ehrlichen Verbundenheit zwischen ihr und Kaspar genommen. Hätte sie überzeugt, dass Kaspars einziges Ziel es war, sesshaft und ehrbar zu werden.

Stattdessen hatte man sie behandelt wie ein kleines Kind, das sich verbotenerweise an Naschwerk vergriffen hatte. Oder, noch schlimmer, und sie wagte es kaum zu denken, wie eine leichtfertige Metze, die nur ihr Vergnügen im Sinn gehabt hatte. Aber die anderen mochten denken, was sie wollten; niemals würde sie Kaspar gehen lassen und sich stattdessen in eine Ehe mit Ulrich fügen. Niemals. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, band sich die frisch gewaschene Schürze vor und ging nach unten.

Im Treppenhaus traf sie auf Jakob.

«Mein Gott, Agnes, was ist mit dir?» Fast erschrocken sah er sie an.

«Nichts. Was sollte sein?»

«Ich weiß nicht. Du wirkst so – so verzweifelt.»

«Was für ein Firlefanz», fauchte sie. Dann nahm sie seine Hand, drückte den kleinen Bruder fest an sich und strich durch sein strohblondes Haar. Wieder musste sie gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfen.

«Ist es wegen diesem Kaspar?», flüsterte er.

«Glaubst du auch, dass ich eine Dirne bin?», fragte sie mit erstickter Stimme zurück.

«So was würde ich nie von dir denken.» Er machte sich los. «Bitte, Agnes, geh nicht fort.»

Dichter Nebel stand in den Gassen, als Agnes mit ihrem Bündel unter dem Arm das kurze Wegstück zum Frauentor rannte, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Zu ihrer Erleichterung war der Wächter in ein Gespräch mit Passanten vertieft, sodass er nicht einmal bemerkte, wie sie das offene Tor passierte. Hinter dem aufgeschütteten Stadtgraben sah sie die schlanke Gestalt Kaspars stehen. Er hob den Arm zum Gruß, aber noch bevor sie ihn erreicht hatte, eilte er los, einen schmalen Pfad hügelaufwärts.

«Kaspar, was soll das? So warte doch.» Endlich hatte sie ihn eingeholt. Warum nahm er sie nicht in die Arme?

«Gleich, meine Liebe. Gleich sind wir da.»

Unruhig blickte er sich um, dann zog er sie hinter sich her bis zu einem Buchengehölz. Das war nicht Kaspars Wagen, der da stand, das war ein zweirädriger Maultierkarren, notdürftig mit einer Plane überspannt.

«Was soll das, Kaspar? Und was ist mit deiner Stirn? Du blutest ja.»

Statt einer Antwort schob er sie hastig auf den Kutschbock, der kaum Platz bot für zwei. «Meine Prinzessin, meine Liebste. Fast hatte ich geglaubt, du würdest nicht die Courage aufbringen.»

Vom Stadttor her war Pferdegetrappel zu hören, das rasch näher kam.

«Schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren.»

Der Nebel legte sich wie ein nasses Tuch auf Haut und Kleidung. Agnes hätte losheulen können vor Enttäuschung. Wo waren das Glücksgefühl und die Wiedersehensfreude, die sie so lange ersehnt hatte?

«Warum dieser Karren?», fragte sie mit heiserer Stimme.

«Du willst doch wohl nicht zu Fuß nach Stuttgart.» Kaspar lächelte breit und trieb das Maultier in Trab. «Den Wagen habe ich im Lager gelassen. Es soll schließlich niemand von unserer Reise erfahren.»

Agnes sah ihn misstrauisch an. «Hattest du Ärger mit dem Prinzipal? Stammt daher deine Schramme?»

«Aber nein. Ich hab mich heute Morgen gestoßen. Weil ich es so eilig hatte, zu dir zu kommen.»

Etwas in seiner unverdrossenen Fröhlichkeit ließ sie aufhorchen. Doch ein Blick in seine hellbraunen Augen zerstreute Agnes’ Zweifel. Zärtlich schaute er sie an: «Vertrau mir. Eine wunderbare Zukunft liegt vor uns, und wir sind zusammen. Allein das zählt. Aber du zitterst ja!»

Er nahm die Zügel in eine Hand und legte ihr eine schwere Decke um die Schultern. Sie schloss die Augen. Jetzt erst spürte sie die Erschöpfung der vielen ruhelosen Nächte. Sie ließ sich an Kaspars Schulter sinken, spürte das unregelmäßige Rumpeln des Wagens, sah das kindliche Gesicht Jakobs vor sich, wie er sie anflehte, nicht fortzugehen, dann schob sich das ihrer Mutter dazwischen, vorwurfsvoll und aufgelöst vor Schmerz. Du hast Schande über uns gebracht, waren ihre lautlosen Worte, wieder und wieder hallten die stummen Klagen Agnes im Kopf. Endlich fiel sie in tiefen, traumlosen Schlaf.

Als sie erwachte, holperte der Karren durch eine karge Moor- und Riedlandschaft. Zwischen mannshohen Gräsern hingen Nebelfetzen, hier und da erhob sich eine Birke gegen den grauen Himmel, Heidekraut stand in seiner letzten fahlen Blüte.

Agnes streckte sich. In östlicher Richtung glaubte sie die Türme einer Stadt zu erkennen. «Wo sind wir?»

«Dicht bei Waldsee.» Kaspar strich ihr über die kalte Wange, dann zog er sie an sich. «Wir müssen eine Unterkunft suchen, es wird bald dunkel.»

«Dann muss ich ja stundenlang geschlafen haben.»

«Das hast du tatsächlich. Wie ein Stein. Hinter dir liegt ein Beutel mit Brot und Käse, du wirst hungrig sein.»

Agnes schüttelte den Kopf. Ihr Magen zog sich zusammen, wenn sie nur an ihre Familie dachte. Ihre Brüder hatten inzwischen gewiss die ganze Stadt nach ihr abgesucht, und ihre Eltern waren von Sinnen vor Sorge. Vielleicht hatte Jakob bereits die Botschaft unter seiner Bettdecke entdeckt – doch die, da machte sie sich nichts vor, würde ihre Eltern kaum beruhigen. Sie hatte geschrieben, dass sie Ulrich niemals heiraten könne und dass sie ihnen, sobald sie an ihrem Ziel angelangt sei, einen Brief senden würde. Weiter nichts. Nur noch den Zusatz, dass sie sie alle von Herzen liebe.

Verstohlen wischte sich Agnes die Tränen aus dem Gesicht.

«Weinst du?» Auf Kaspars schönem Gesicht zeigte sich eine Mischung aus Ratlosigkeit und Verwunderung.

«Unsinn – das ist nur diese Kälte, die Erschöpfung.» Sie schämte sich plötzlich maßlos vor ihm. Schließlich war sie kein Kind mehr. Sie war eine erwachsene Frau, Kaspars Frau, und in Stuttgart würden sie ein neues, gemeinsames Leben beginnen.

Mit einem trotzigen Lächeln legte sie ihre Hand auf seinen Arm. «Erzähl mir von Stuttgart.»

«Es wird dir gefallen. Die Stadt ist sehr anmutig gelegen, inmitten von Bergen, Wiesen und Wäldern. Dazu ein gesundes Klima, in dem Früchte und Wein gedeihen wie fast nirgendwo sonst. Und vor dem Schloss erstreckt sich ein einzigartiger Lustgarten. Mit Wasserspielen, Orangerie und Blumenrabatten, soweit das Auge reicht. Weißt du, wie die Schwaben Stuttgart nennen? Das Paradies der Erde!»

Sie kreuzten einen Feldweg, der nach rechts in Richtung der Stadt führte. Doch zu ihrer Überraschung lenkte Kaspar den Karren weiter geradeaus.

«Fahren wir denn nicht nach Waldsee?»

«Nein. Noch ein Stück weiter liegen große Schafweiden. Da findet sich immer ein leerer Stall zum Übernachten.»

Agnes starrte ihn an. «Wir übernachten hier? In dieser Ödnis?»

Kaspar lachte sein breites, betörendes Lachen. «Wir müssen unser Geld zusammenhalten. Und du glaubst gar nicht, wie gemütlich es in einem Schafstall sein kann. Frieren wirst du ganz bestimmt nicht.»

Er begann von der herzoglichen Residenz zu schwärmen, von ihren prunkvollen Festen mit Tausenden von Gästen aus den Fürstenhäusern ganz Deutschlands, von ihrem Reichtum, von dem auch bald sie ihr Scherflein abbekommen würden.

«Der Herzog ist ein Förderer der Künste. Seine Musiker erhalten ein stattliches Salär und sind bei der Bevölkerung hoch geschätzt. Du wirst sehen – wenn ich erst eine Anstellung bei der herzoglichen Hofkapelle habe, suchen wir uns ein respektables Häuschen und heiraten. Und dann schicken wir einen Geldboten nach Ravensburg, damit deine Familie in einer bequemen Reisekutsche zu unserem Hochzeitsfest kommen kann.»

«Und wo werden wir zu Anfang wohnen?»

«Bei guten Freunden. Ich kenne zwei Brüder, Melchert und Lienhard Steiger, bei denen bin ich bisher immer untergekommen. Ihre Behausung ist vielleicht nicht jedermanns Geschmack, ein wenig eng und recht einfach, aber es ist ja nur vorübergehend. Der eine, Lienhard, kennt den Hofkapellmeister Salomo. Über Lienhard ist es sicher ein Leichtes, bei Salomo vorstellig zu werden. Und dann–» Er zügelte das Maultier vor einem Schuppen. «Nun, das sieht mir doch nach einem passablen Quartier aus.»

Er reichte Agnes die Zügel und sprang vom Karren. Dann zog er unter der Plane einen furchteinflößenden Vorderlader hervor.

«Man weiß nie, was für Gesindel sich an solchen Orten rumtreibt.»

Als er ihr erschrockenes Gesicht sah, grinste er. «Das Ding ist nur ein Requisit», flüsterte er, nachdem er sich nach allen Seiten umgeblickt hatte. «Ich weiß doch nicht mal, wie man mit einer Büchse umgeht.»

Wie beruhigend, dachte Agnes, während Kaspar wie ein Heckenkrieger auf Beutezug zu dem windschiefen Schuppen schlich. Die Tür war aus den Angeln gerissen, an einigen Stellen hingen Bretter lose herunter. Beklommen sah sie ihm nach. Worauf hatte sie sich nur eingelassen?

Ein Schrei entfuhr ihr, als ein plötzlicher Schlag, dann ein Fluch aus dem Schafsstall drangen. Doch es war nur ein Wildkaninchen, das mit angelegten Ohren zur Tür herausraste und im Zickzack das Weite suchte. Kurz darauf erschien Kaspar.

«Niemand da. Wir können es uns kommod machen.»

Sie schleppten ihre Decken und das Gepäck ins Halbdunkel des Schuppens. Während Kaspar das Maultier ausspannte, klaubte Agnes halbwegs sauberes Stroh zusammen und richtete das Nachtlager. Sie mochte kaum Luft holen, so scharf stank es nach altem Schafs- und Ziegenmist. Ein Rascheln und das hohe Pfeifen von Ratten ließen sie zusammenfahren.

«Beim besten Willen – aber hier kann ich nicht schlafen», sagte sie, als Kaspar zurück war und sie mit sich auf das Lager ziehen wollte. «Lass uns in die Stadt fahren. Ich habe Geld dabei.»

«Dazu ist es zu spät.»

Er küsste sie zärtlich auf die Lippen. Dann hakte er ihren Umhang auf, öffnete ihr Mieder, ihr Hemd. «Wie schön du bist!»

Ein wohliger Schauer erfasste Agnes, als seine Finger über ihre bloßen Brüste strichen. Sie hielt seine Hand fest.

«Wie viele Nächte sind wir noch unterwegs?», fragte sie und versuchte streng zu klingen.

«Schwer zu sagen. Wir müssen über Biberach, Ehingen, dann über die Alb, Urach, Nürtingen, Esslingen – sechs, sieben Nächte werden es schon sein.»

«Versprich mir, dass wir künftig in Herbergen absteigen. Ich gebe auch von meinem Geld dazu.»

«Verschwendung.» Er versuchte sein Handgelenk freizubekommen, doch ihr Griff war fest. «Und außerdem: Die Liebe in einem überfüllten Schlafsaal hat so gar nichts Berauschendes.»

«Versprich es. Sonst halte ich die ganze Nacht über deine Hand fest.»

«Was habe ich mir da nur für einen Dickschädel zur Frau erwählt! Na gut – ich verspreche es. Bei meiner Ehre als Gaukler.»

Mochte diese Ehrbeteuerung für einen Fahrenden auch recht fragwürdig erscheinen – keinen Zweifel gab es für Agnes darüber, dass Kaspar sie liebte. Noch nie hatte ein Mann sie so zärtlich, so leidenschaftlich geküsst und berührt. Es schien, als habe er ein Feuer in ihr entfacht, wo bislang nur schwache Glut geschwelt hatte.

Dennoch fand sie bis tief in die Nacht keinen Schlaf. Jedes Knacken, jedes Rascheln schreckte sie auf. Sie, die sonst über jeden Hasenfuß ihren Spott ausgoss, hatte Angst. Angst vor den Ratten, Angst vor den Gefahren, die auf einer so langen Reise drohten, Angst vor der fremden großen Stadt. Und am meisten Angst vor dem Augenblick, wo sie erstmals wieder ihren Eltern gegenübertreten würde.

4

Die freie Reichsstadt Esslingen lag hinter ihnen. Sie hatten in einer Fremdenherberge unterhalb des Zollbergs genächtigt, in einem heruntergekommenen Fachwerkbau nahe der mächtigen steinernen Neckarbrücke. Nun reihten sie sich ein in den Zug der Kaufleute, Kleinkrämer und Handwerksgesellen, die auf dieser bedeutenden Fernstraße im Herzen Württembergs immer zahlreicher wurden und den Neckar entlang in Richtung Residenz marschierten oder noch weiter, bis an den Rhein oder gar bis Flandern.

Kaspar hatte sein Versprechen tatsächlich gehalten. Außer auf der Alb, wo sie in einer Scheune hatten nächtigen müssen und vor Morgengrauen von aufgebrachten Bauern verjagt worden waren, hatten sie jeden Abend eine Herberge aufgesucht. Zu Agnes’ Enttäuschung indes keines der schmucken Gasthäuser an den Marktplätzen, vielmehr einfache Unterkünfte mit Schlafsaal oder Strohsäcken in der Schankstube, die wohlfeil waren und auch noch zu später Stunde den Reisenden offen standen. Sie fanden sich überall in den Vorstädten oder entlang der Landstraßen. Meist waren die Stuben schmutzig und überfüllt, doch nach jener ersten Nacht im Schafstall hatte sich Agnes an Gestank und Kakerlaken kaum noch gestört. Wenigstens lagen sie warm und trocken und waren vor Wegelagerern geschützt. Ohnehin hatten die Ausgaben für Brücken- und Wegezoll, für Ufer-, Grenz- und Pflastermaut den Inhalt ihrer Reisekasse empfindlich geschmälert, und so war Agnes für dieses Mal beinahe froh, dass sie ihren Kopf nicht durchgesetzt hatte.

Jetzt, da sie nahezu am Ziel ihrer Reise waren, dankte sie Gott, dass er sie vor Heimsuchungen wie Unwetter, Überfällen oder durchziehenden Kriegsvölkern bewahrt hatte. Selbst das Wetter hatte sich zusehends zum Besseren gewandt: Nach zwei trüben, regnerischen Tagen war es endlich trocken, wenngleich kälter geworden, und heute Morgen schien sogar die Sonne auf die Weingärten, die sich hier überall die Hügel hinauf zogen.

Agnes schlang sich die Reisedecke fester um die Schultern und dachte daran, wie sie sich am Vortage auf einer dieser Terrassen, mitten zwischen den kahlen Rebstöcken, geliebt hatten. Sie musste lächeln und warf einen Seitenblick auf Kaspar. Zum ersten Mal nahm sie so etwas wie Anspannung in seinem Gesicht wahr. Gewiss drehten sich seine Gedanken um die Audienz beim herzoglichen Kapellmeister.

Am Rande eines hübschen Weingärtnerdorfs machten sie Rast. Vor ihnen, am jenseitigen Ufer, erhob sich die Ruine der Burg Württemberg hoch über dem Neckartal.

«Noch drei oder vier Wegstunden, und wir sind da», sagte Kaspar, während er das Maultier zum Grasen ausspannte. Dann hielt er inne. «Die Steiger-Brüder – ihre Eltern waren Spielleute wie die meinen. Ich kenne sie seit meiner Kindheit.» Er räusperte sich. «Weißt du, sie sind aus grobem Holz geschnitzt, vielleicht etwas ungehobelt, aber sie haben einen guten Kern.»

Agnes musste lachen. «Schaust du deshalb so gramvoll? Was kümmern mich diese Brüder. Ich hatte schon gefürchtet, du bereust es, mich mitgenommen zu haben.»

«Aber du bist doch meine Glücksgöttin, meine Fortuna.» Er ließ das Maultier stehen, wo es stand, noch halb im Geschirr, und riss sie stürmisch in seine Arme, bedeckte ihren Hals, ihren Nacken mit Küssen, bis Agnes ihn schließlich von sich schob.

«Siehst du nicht die Frauen dort hinten am Brunnen? Wie sie sich die Augen ausstieren nach uns. Lass uns rasch etwas essen und dann weiterfahren.»

Noch vor der Abenddämmerung erreichten sie von Norden her die Residenz, die zu drei Seiten von Weinbergen und Waldstücken überragt wurde. Das trutzige Schloss des Herzogs mit seinen mächtigen Rundtürmen beherrschte die Stadtsilhouette. Ihr Weg führte am Bachufer entlang bis zu einer hohen, weiß gekalkten Mauer. Dahinter verbarg sich der fürstliche Lustgarten, erklärte Kaspar ihr. Zu sehen von der Pracht war nur das kahle Geäst riesiger Pappeln und Platanen, die hier und da über die Mauer ragten.

Die Esslinger Vorstadt, in der die Gebrüder Steiger wohnten, zeigte wenig vom Glanz einer Residenzstadt. Zwischen niedrigen, nicht gerade ansehnlichen Holzhäusern führten Gassen ohne Pflaster, eng, krumm und holprig. An den Ecken häufte sich Mist, in dem frei laufende Schweine wühlten. Agnes rümpfte die Nase.

«Wart nur, wenn an heißen Tagen der Nesenbach zu stinken beginnt.» Kaspar lenkte den Karren in eine finstere Sackgasse, die so eng war, dass kein Kind mehr zwischen Radnabe und Häuserwand gepasst hätte. «Die Stuttgarter nennen ihn ‹Wälzimdreck›. Aber keine Sorge, wir werden bald oben in der Liebfrauenvorstadt wohnen. Da ist die Luft rein, und die Gassen werden jeden Tag zweimal gekehrt. So, da wären wir.»

Sie hielten vor einem verwitterten Lattenzaun, der nur noch durch Brombeergestrüpp zusammengehalten schien. Dahinter drängten sich fünf, sechs Häuschen und Schuppen um einen mit Unkraut überwucherten Hof, wobei kaum auszumachen war, was davon Schuppen, was Wohnhaus war. Neben einem Haufen altem Gerümpel und Gerätschaften nahm eine Frau in fleckigem Kittel und Kopftuch gerade die Wäsche von der Leine.

«Warte hier.» Kaspar sprang vom Karren. «Ich will unseren Besuch erst anmelden.»

Das sollte indes nicht nötig sein. Die hagere Frau hatte sich umgedreht und sah sie misstrauisch an. Dann stieß sie einen Schrei aus. «Jesses! Dass mich der Donner und Hagel erschlag – der Gaukler-Kaspar!»

Sie kam zum Zaun geschlurft und stemmte die Arme in die Hüfte. Ihr Gesicht war faltig wie ein alter Mostapfel, dabei von ungesunder grauer Farbe. Unterhalb ihrer langen Nase prangte eine Warze, die sich wohl durch häufiges Kratzen entzündet hatte. Agnes kauerte sich auf dem Kutschbock zusammen, als hätte ein Flurschütz sie beim Äpfelklau erwischt.

«Jetzt sag bloß», begann die Alte zu meckern, «du willst dich wieder mal bei uns einquartieren. Das kannst du dir gleich aus dem verlausten Hirn schlagen. Wir haben kein Fleckchen mehr frei. Und wer ist die da?» Sie wies mit dem Kopf zu Agnes. «Noch eine Gauklerin? Was bringst du diesmal – eine Tierbändigerin? Eine Wahrsagerin?»

Kaspar duckte sich wie unter einem Schlag, sein Lächeln gefror.

«Jetzt hör auf, Else. Agnes ist meine künftige Frau.»

Die Alte lachte höhnisch auf. «Deine künftige Frau. Und dazu eine Bürgerstochter, wenn ich mir das hübsche Gewand und die feinen Schuhe recht besehe. Einen sauberen Fang hast du da gemacht.»

«He, Weib, was zeterst du so herum?» Im Türrahmen einer der Hütten erschien ein untersetzter Kerl, kaum jünger als Else, barhäuptig, mit ungekämmtem langen Haar und Vollbart und der roten großporigen Nase eines Trinkers. Wie es schien, war er eben erst aus dem Bett gestiegen.

Kaspar stieß die Gartenpforte auf und lief auf ihn zu, ohne sich weiter um die Alte zu kümmern.

«Melchert!»

«Ja, Sackerment– Kaspar! Alter Fatzvogel! Endlich mal ein Lichtblick in unserer trübseligen Hütte.»

Der Mann breitete die Arme aus und zog Kaspar an sich. Er schien sich aufrichtig zu freuen, und Agnes entspannte sich ein wenig. Trotzdem hätte sie am liebsten die Zügel aufgenommen und wäre auf und davon. Was für ein Rattenloch!

Kaspar und Melchert schlenderten Arm in Arm heran.

«Das ist Agnes, meine Braut.»