Das Mädchen und die Herzogin - Astrid Fritz - E-Book
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Das Mädchen und die Herzogin E-Book

Astrid Fritz

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Beschreibung

Das Weib sei dem Manne untertan Schon als kleines Mädchen ist die bayrische Fürstentochter Sabina dem Herrscher von Württemberg versprochen. Sie will nicht, doch wen kümmert das, wenn es um große Politik geht? Als Jahre später die Hochzeit mit ungeheurem Prunk begangen wird, ahnt die junge Frau, dass eine furchtbare Ehe auf sie wartet. Denn Herzog Ulrich ist berüchtigt für seine gewalttätigen Launen und seine Eifersucht. Als er in blinder Wut seinen engsten Freund ermordet, schwebt auch Sabina in höchster Gefahr. Sie muss fliehen – ohne ihre Kinder. Ulrich nimmt sich derweil mit Gewalt das Bauernmädchen Maria zur Geliebten. Auch ihr droht der furchtbare Herzog zum Verhängnis zu werden … «Das Mädchen und die Herzogin lässt Landesgeschichte lebendig werden. Figuren, die bisher nur Fakten aus dem Geschichtsunterricht waren, werden in dem Buch zu Fleisch und Blut.» (Stuttgarter Zeitung) «Sehr bewegend!» (Neue Woche)

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Seitenzahl: 644

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Astrid Fritz

Das Mädchen und die Herzogin

Historischer Roman

Prolog

«Nein, den will ich nicht heiraten. Niemals!»

Die Kleine stampfte wütend auf. Dabei rutschte ihr die perlenbesetzte Haube ins Gesicht, das puterrot angelaufen war. In den Fäusten hielt sie eine Miniatur, die einen etwas dicklichen Jungen von etwa zehn Jahren zeigte, im Gewand eines gerüsteten Knappen, dabei in kriegerischer Pose auf das Schwert gestützt. Das seitlich einfallende Licht ließ seine rötlichen Krauslocken wie Kupfer schimmern. Entschlossen reckte er das noch kindlich-zarte Kinn in die Höhe, die Mundwinkel waren leicht herabgezogen, und aus den halb zusammengekniffenen Augen blickte er äußerst missmutig in die Welt. Das fand zumindest Sabina.

Der ganze Abend war ihr verdorben. Dabei hatte er so schön begonnen: Nach langer Zeit wieder einmal hatten die Eltern beschlossen, Karten zu spielen, und sie durfte mitspielen, zum allerersten Mal. Gleich nach dem Nachtessen waren sie alle zusammen hinüber in die Erkerstube marschiert, in beinahe feierlichem Gleichschritt, Sabina an der Hand ihrer Kinderfrau. Sie liebte diesen Raum, den freundlichsten in der düsteren Alten Veste, mit seinen lustigen bunten Butzenscheiben im Erkerturm und dem Kaminfeuer, das winters wie sommers, tags wie nachts flackerte. In fröhlicher Runde hatten sie gespielt und gelacht, Sabina an der Seite ihrer beiden älteren Schwestern, angefeuert von der versammelten Dienerschaft und dem allgegenwärtigen Narren. Die Musikanten spielten ihre Weisen auf Leier und Zwerchflöte, während die beiden Äffchen über Stühle und Bänke tobten. So aufregend und gemütlich zugleich war dieser Abend gewesen, bis vor einer halben Stunde dieser herzogliche Sendbote hereingeplatzt gekommen war, um ihrem Vater mit knapper Verbeugung eine Lederschatulle zu überreichen.

«Aha, endlich zeigt sich uns der junge Recke», hatte ihr Vater ausgerufen, voller Entzücken, wie ihr schien, und aus der Schatulle ein Bildnis gezogen, mit feinem Pinselstrich in Öl gemalt. Und dann hatte ihre Mutter sie zur Seite genommen und ihr in wenigen leisen Worten gesagt, was sie jetzt erst, ganz langsam, zu begreifen begann.

Sabina schob trotzig die Unterlippe vor und warf die Miniatur auf den Tisch. Mit diesem aufgeblasenen Gecken also sollte sie verheiratet werden – sie, eine Prinzessin zu Baiern und Pfalzgräfin bei Rhein, eine direkte Nachfahrin Kaiser Ludwigs des Baiern, Enkelin des verstorbenen Kaisers Friedrich und Schwestertochter König Maximilians, des künftigen Kaisers! Sollte diesen Hanswurst heiraten, der auf dem Bildnis dastand wie einer, der die ganze Welt besiegt hatte und dabei doch nichts war als der künftige Herr über ein jämmerlich verarmtes und verlottertes Herzogtum namens Wirtemberg.

«Allein, wie der ausschaut», stieß sie hervor, «mit diesen blöden Locken.»

Ihre Unterlippe begann zu zittern, und schon rollten ihr die ersten Tränen über die rundlichen Wangen.

«Bitte, liebster Herr Vater, sagt, dass das nicht wahr ist.»

Hilflos sah der dickleibige Herzog Albrecht, genannt der Weise, zu seiner Frau, dann runzelte er die Stirn.

«Nun ja, mein kleiner Schatz – es ist, wie es ist. Die Heiratsabsprache hat bereits Hand und Fuß, will sagen: es ist alles schriftlich fixiert und besiegelt. Aber du hast ja noch zehn lange Jahre Zeit. Du wirst sehen, ganz rasch hast du dich an den Gedanken gewöhnt, dereinst Herzogin von Wirtemberg zu sein.»

Da erst erkannte sie, was hinter all der Geheimniskrämerei der letzten Monate gesteckt hatte. Angefangen hatte es, als König Maximilian im Sommer vom Freiburger Reichstag her direkt zu ihnen nach München angereist kam, um mit seiner Schwester, ihrer über alles geliebten Mutter, tagelange Gespräche hinter verschlossenen Türen zu führen. Herzogin Kunigunde hatte, wenn sie dann zu den Mahlzeiten erschien, gerötete Augenlider gehabt, und Sabina war sich sicher gewesen, dass wohl ein großer Krieg bevorstand und dass sie dann die wehrhafte Alte Veste niemals mehr würden verlassen dürfen. Doch nichts dergleichen war geschehen. Stattdessen war zum Herbstbeginn eine Gesandtschaft von wichtig tuenden, ernst dreinblickenden Herren eingetroffen, die sie und ihre Schwestern umschlichen und beäugten wie das Vieh auf dem Markt. Zur selben Zeit hatte sie dem Hofmaler Modell sitzen müssen, hatte tagelang stillsitzen müssen im zugigen Rittersaal, zitternd und frierend in einer viel zu dünnen schulterfreien Robe und mit einem riesigen albernen Hut auf dem Kopf. Auf die Frage, für wen das Konterfei bestimmt sei, hatte der alte Maler die Schultern gezuckt. Für irgendeinen Fürstenhof eben. Sie sei in dem Alter, wo man sie im Reich bekanntmachen müsse. Danach hatte er noch zwei weitere Miniaturen gefertigt.

Das Kaminfeuer knackte laut, und plötzlich begann sie hemmungslos zu schluchzen. Ihre Schwester Sibille stupste sie in die Seite.

«Stell dich nicht so an. Heiraten müssen wir alle, und dieser Ulrich ist doch ein schneidiger Bursche. Ich weiß gar nicht, was du hast.»

«Jetzt komm einmal her zu mir.» Ihr königlicher Oheim beugte sich aus seinem Lehnstuhl und winkte sie heran. Zärtlich wischte er dem kleinen Mädchen die Tränen aus dem Gesicht.

«Du hast doch mit deinen bald sieben Jahren schon einen wachen Verstand. Gib acht: Wie du weißt, gehört es zu den Pflichten der Fürsten, zu herrschen und zu regieren, nach bestem Wissen und Gewissen, die salus publica fest im Auge.»

Sabina schluckte. Sie verstand kein Wort.

«Euch fürstlichen Frauenzimmern nun gebührt die ehrenvolle Aufgabe, die Männer dabei mit Diplomatie und Herzensgüte zu unterstützen. Und auch», er zwinkerte ihr zu, «ihnen hie und da den rechten Weg zu weisen. Ich habe den jungen Herzog Ulrich unter meine Fittiche genommen, weil ich ihn schätze und noch einiges vorhabe mit ihm, denn er ist gescheit und mit vielerlei Begabungen gesegnet, dabei mutig und stolz. Zu deinem Besten haben wir ihn dir zugedacht.» Versonnen strich er sich über seine lange Nase. «Und natürlich um der Mehrung willen von Freundschaft und Einigkeit zwischen den beiden Fürstentümern Baiern und Wirtemberg. Schließlich», er lächelte, «obliegt mir als künftiger Kaiser der Friede in diesem großen Reich, und dazu müssen Wir die Fäden fest in der Hand halten.»

1

Sabina glitt vom Pferd. Nicht nur von der eisigen Winterluft waren ihre Wangen gerötet. Sie hatte tatsächlich das Wettrennen, drüben in den verschneiten Isarauen, gewonnen – gegen ihre Brüder Wilhelm und Ludwig, die beide als hervorragende Reiter galten. Zufrieden klopfte sie den Hals des Rappen, dann überließ sie das Tier dem Stallknecht.

«Und wo bleibt der versprochene silberne Armreif?» Sie lächelte triumphierend in die Runde.

«Ich fürchte, lieber Wilhelm», Ludwig ließ sich vom Pferd helfen und schüttelte sich den Schnee aus dem Haar, «vor unserer Schwester dürfen wir das Maul nicht mehr so groß aufreißen. Diese Wette haben wir schmachvoll verloren.»

Er war mit seinen dreizehn Jahren ein aufgeweckter, vergnügter Bursche, allerdings recht faul und bequem bei allem, was nichts mit Reiten oder Weidwerk zu tun hatte. Der Vater hatte ihn einst zum Geistlichen bestimmt und damit einen jahrelangen Kampf heraufbeschworen, schließlich stand Ludwig der Sinn nach allem andern, nur nicht nach Entsagung und Gebet. Jetzt bückte er sich nach einer Handvoll Schnee und warf den Ballen seinem älteren Bruder an den Kopf.

«Du Tollhäusler!» Wilhelm griff sich an die Schläfe. «Soll ich dir eine Tracht Prügel anschmieren? Oder hast du vergessen, wer hier der Herzog ist?»

Sabina unterdrückte ein Lachen. Wilhelm Herzog von Baiern! Da musste noch ein gehöriges Quantum an männlicher Reife hinzukommen, wollte man ihm die Herrscherwürde abnehmen. Aber im Grunde war Wilhelm ein braver Kerl, und schließlich blieben ihm ja noch drei Jahre bis zur Volljährigkeit und damit zu seinem Regierungsantritt.

Sie sah den Pferden und Knechten nach, deren Tritte auf dem weichen weißen Teppich kaum zu hören waren. Die ganze Nacht hindurch hatte es geschneit, und nun spannte sich ein leuchtend blauer Himmel über München. Wie sie solche klaren Wintertage liebte!

Unschlüssig blieben ihre Brüder auf dem Platz zwischen Marstall und der Neuveste stehen, dem modernen, prunkvollen Stadtschloss mit allen Errungenschaften der neuen Zeit, wo sie nach Herzog Albrechts Tod ihren Wohnsitz genommen hatten. Nach Wilhelms Willen sollte der Alte Hof nunmehr als Wohnburg für Verwandte und Gäste dienen. Und Gäste würden sie in den nächsten Tagen zuhauf bekommen. Wahrscheinlich waren an diesem Morgen Canzler und Hofmeister rechtschaffen in Harnisch geraten, als ihnen zu Ohren kam, dass der Thronfolger wenige Tage vor dem großen Leichenbegängnis seines Vaters mit den Geschwistern in die Isarauen entflohen war. Sabina verstand ohnehin nicht, wie die Regimentsräte, die für den minderjährigen Herzog die Regierungsgeschäfte führten, die offizielle Trauerfeier so lange hatten hinausschieben können. Bis hinein in diesen bitterkalten Winter! Denn bereits im letzten März war der Baiernfürst verschieden, zehn Monate lag sein Tod nun zurück. Zehn Monate, in denen sich für die Herzoginwitwe Trauer und Schmerz endlich zu einem erträglichen Maß gemindert hatten – jetzt aber würde diese Totenfeier alles wieder aufwühlen.

Als ob Ludwig ihre Gedanken gelesen hätte, fragte er sie: «Kümmerst du dich um unsere Mutter? Mach doch eine Schlittenpartie mit ihr, im Doppelhirsch, unserem neuen Prunkschlitten.»

Sie nickte. Der Ostwind, der plötzlich aufkam, fuhr ihr eisig in die Glieder. Sie zog sich den pelzbesetzten Reitrock enger um die kräftigen Schultern. In der dicken Winterkleidung und ihrer Pelzkappe hatte sie etwas von einem jungen Mann; nicht umsonst bedachte man sie im Schloss neuerdings mit dem Necknamen «Sabina Fortissima».

Drüben am Haupttor herrschte inzwischen die Geschäftigkeit eines Ameisenhaufens. Volle Wagen und Karren fuhren hinein, leere hinaus. Seit Wochen schon wurde in den Wäldern Holz geschlagen und geschossen, was vor Armbrust und Büchse kam, wurde Vieh gemästet und geschlachtet, wurden die Fische aus den Weihern und Flüssen gezogen und in den Ställen Eier gesammelt, um sie in Essig zu legen, und ohne Murren kamen die Bauersleute ihren Frondiensten nach. Tag und Nacht stand neuerdings das Gesinde in den Hofküchen und briet und buk, schmorte und kochte, während sich die Keller und Vorratskammern bis unter die Decken füllten. Doch würde bei diesem Eis und Schnee überhaupt jemand anreisen?

Letztendlich war Sabina das völlig einerlei. Für sie gab es nur eine einzige Frage: Würde er kommen, der Mann, dem sie seit über zehn Jahren versprochen war, den sie indes noch niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte? Wie oft schon hatten die bairischen Unterhändler sein Kommen angekündigt, doch wer nicht erschien, war Herzog Ulrich, den ihr kaiserlicher Oheim zu seinem sechzehnten Lebensjahr vorzeitig für mündig erklärt und damit zum Herrn über Wirtemberg gemacht hatte. Auf jenem Reichstag vor bald sechs Jahren, wo dann auch hochoffiziell ihre Heiratsabrede verlautbart worden war. Von diesem Tag an hatte Herzog Ulrich zwar dem künftigen Schwiegervater ab und an ein Fass Neckarwein geschickt und im Gegenzug dazu aus München feinstes Salz bekommen. Aber sie selbst, die Braut, war dabei nicht einmal mit einem Gruß bedacht worden, geschweige denn mit einem Geschenk.

Und was sollte sie von einem Bräutigam halten, der nicht einmal zur Bestattung ihres Vaters erschienen war, der stattdessen lediglich seinen Canzler nach München gesandt hatte, um in hohlen Worten sein Beileid bekunden zu lassen? Und das, obwohl Sabina nur wenige Wochen später, mit dem sechzehnten Geburtstag, ihr Heiratsalter erreichte und Ulrich sein Versprechen hätte einlösen müssen! Auch dies war nun schon wieder etliche Monate her, und selbst die Mahnungen der bairischen Hofcanzlei nach Stuttgart hatten nichts genutzt.

Sabina stieß mit dem Fuß in eine Schneewehe, dass es staubte. Es gab nur eine einzige Erklärung: Ulrich von Wirtemberg wollte sie gar nicht zur Frau.

«Was bin ich froh, dass ich mit dieser Aufregung drüben im Schloss nichts mehr zu schaffen habe. Wie ich gehört habe, geht alles drunter und drüber mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten.»

Kunigunde von Baiern nippte an ihrem heißen Gewürzwein. Seit dem völlig unerwarteten Tod ihres Gemahls lebte sie zurückgezogen in dieser Kemenate im Püttrich-Seelhaus, von der Neuveste nur einen Steinwurf entfernt. Hier verbrachten Witwen von hohem Stande ihren Lebensabend in mildtätiger Mission.

Müde sah ihre Mutter aus, ihre einstige Schönheit verwelkte zusehends – eine herbe, dunkle Schönheit, die sie von ihrer portugallischen Mutter geerbt hatte. Leider hatte Sabina von diesem Erbe wenig abbekommen, allenfalls das südländische Temperament. Allzu groß und stattlich war sie geraten, um anmutig zu wirken, allzu energisch und ausgeprägt waren ihre Gesichtszüge. Zumindest fand sie selbst das, da konnten ihre Brüder noch so sehr das Gegenteil behaupten.

«Setz dich her, meine Tochter.» Kunigunde, wie immer ganz in Schwarz bis auf den weißen Witwenschleier, der Haar und Stirn bedeckte, zog eine Papierrolle aus der Schublade des Tischchens. Ein Seufzer entwich ihrer Brust, den sie sogleich mit einem Lächeln zu überspielen suchte. «Nun kommt er tatsächlich.»

«Wer?» Sabina biss sich auf die Lippen. Was für eine dumme Frage!

«Dein künftiger Gemahl. Er kommt dich holen. Ganz sicher kommt er dich jetzt holen.» Kunigunde war sichtlich bemüht, Haltung zu wahren.

«Das – das glaube ich nicht.»

Der Wirtemberger hatte doch niemals auch nur einen Funken Neugier oder Aufmerksamkeit ihr gegenüber gezeigt. Und so war Sabina die Vorstellung schließlich immer unwirklicher geworden, ihrem geliebten München eines Tages den Rücken kehren zu müssen. Ihre Wünsche sahen anders aus: Sie würde Wilhelm in seinen Regierungsgeschäften unterstützen, die wichtigsten Korrespondenzen übernehmen und die Audienzen präparieren, und ansonsten mit Ludwig und ihren geliebten Pferden vor den Toren der Stadt herumjagen.

Ganz plötzlich erinnerte sie sich wieder an das kleine Ölbildnis, das sie als Kind in den Händen gehalten hatte und damals am liebsten auf dem Boden zerschmettert hätte. Wie lange das zurücklag! Sabina wusste: Längst war aus dem etwas dicklichen, ungehobelten Waisenknaben, der sich nach Meinung der deutschen Kurfürsten allzu jung den Herzogshut aufgesetzt hatte, ein selbstbewusster Jüngling geworden, dessen Kühnheit ihr Oheim nicht genug rühmen konnte. Dazu sei Ulrich ein Freund der Musik und verstehe es inzwischen, überaus angenehm einen Hof zu machen.

O ja, sie wusste mehr als genug von diesem Wirtemberger. Schon als Knabe hatte er Kaiser Maximilian in den Schweizerkrieg begleitet, hatte sich trotz seiner Jugend in etlichen Schlachten bewährt, um schließlich mit nur siebzehn Jahren für ihren eigenen Vater den Krieg um Landshut zum strahlenden Sieg zu führen. Als Belohnung durfte er einen beträchtlichen Teil der eroberten Gebiete für sich beanspruchen, was für sein kleines Herzogtum einen gewaltigen Zugewinn bedeutete. Und somit auch für das künftige Reich Sabinas. Doch sie wusste auch: Heute noch nagte an ihrem Bruder Wilhelm der Grimm, dass Baiern in der Dankesschuld eines halben Knaben stand.

Spätestens seit jenem siegreichen Feldzug wagte indessen auf den Reichstagen keiner mehr, das Maul zum Spott aufzureißen. Zumal Ulrich jetzt vollends als Günstling des Kaisers in dessen Glanz stand und sein Erfolg als Feldherr überall im Lande verbreitet wurde. Fortwährend sah man den jungen Herzog an der Seite seiner Majestät, ob bei der Jagd oder im kaiserlichen Hoflager, bei Feldzügen oder den Reisen zu Reichstagen. Selbst bei der Kaiserkrönung vor knapp einem Jahr war Ulrich mit großem Gefolge in vorderster Reihe dabei gewesen. Es hieß, Maximilian habe ihn liebgewonnen wie einen eigenen Sohn – vielleicht, weil der einzige Sohn ihm viel zu früh weggestorben war.

Doch nicht nur der Kaiser bewunderte den jungen Herzog. Auch das wirtembergische Volk schien von ihm begeistert. Was hielt man ihm nicht alles zugute: Edelsinn und flinken Verstand, Beredsamkeit und Leutseligkeit, Bescheidenheit, Körperkraft, dazu ein wenig Wildheit und Leidenschaft. Als Draufgänger wurde er durchaus bewundert, sein Mut, sein ritterliches Wesen, sein Blick eines Falken wurde in Liedern besungen. Hatte er nicht bereits als Dreizehnjähriger ein ausgewachsenes Wildschwein mit eigener Hand gefangen?

Sabina ahnte, dass zu einem gut Teil ihr Oheim, Kaiser Maximilian, hinter diesem glanzvollen Ruf steckte – gerade so, als wolle er ihr, seiner Lieblingsnichte, den künftigen Gemahl noch schmackhafter machen.

«Kind, hast du mir zugehört?»

Sabina schrak auf.

«Verzeiht, Mutter.» Sie legte ihre Hand auf Kunigundes Arm. «Was habt Ihr gesagt?»

«Diese Nachricht hier besagt, dass Herzog Ulrich übermorgen bei uns eintreffen wird, mit 380Reitern. Ich bitte dich: Geh hinüber in die Alte Veste und prüf nach, ob alles zum Besten steht für die Ankunft deines Bräutigams.»

Der Tag war nass und windig. Auf den Gassen breitete sich das Schmelzwasser in Lachen und Rinnsalen aus, von den Dächern tropfte es. Der föhnige Wind schlug aufs Gemüt, und nicht nur die Herzoginwitwe hätte sich für den Rest des Tages gern in ihre Gemächer zurückgezogen. Doch der Anstand gebot der herzoglichen Familie, den jungen Ulrich von Wirtemberg noch vor dem offiziellen Beginn des Leichenbegängnisses, zu dem auch der Kaiser erwartet wurde, in allen Ehren willkommen zu heißen.

Der Haushofmeister hatte den Gast und sein Gefolge bereits in die Alte Veste geführt, wo ihnen eine erste Erfrischung gereicht werden sollte, da begann sich Sabina für den großen Augenblick zu richten. Die erste Begegnung des Brautpaars sollte im Ahnensaal vonstatten gehen, jenem ehrwürdigen Saal, der rundum mit den Bildnissen ihrer Väter und Vorväter geschmückt war.

Die Wahl dieses Ortes, das ahnte Sabina, war ein bewusster Schachzug von Wilhelm gewesen. Ein klein wenig sollte der Wirtemberger wohl von seinem hohen Ross geholt werden. Schließlich ließ man eine Familie von so vornehmem Geblüt wie die Wittelsbacher nicht einfach Monat um Monat, Jahr um Jahr warten.

Nachdem ihr das Kammerfräulein einen letzten Hauch Puder auf die Wangen gestäubt hatte, warf sie einen Blick in den Spiegel. Die Dame, die ihr dort entgegenblickte, wirkte wesentlich älter als sechzehn Jahre! Das Festkleid aus Atlas und roter Seide war im Mieder so eng geschnürt, dass es Sabina schier die Luft nahm. Doch es war wunderschön mit seinem dichtgefalteten Rock mit angesetzter Schleppe, den engen, an Ellbogen und Schultern geschlitzten Puffärmeln und dem tiefen Halsausschnitt, der den Blick auf ihre mit Rubinen besetzte Goldkette freigab. Ihr glattes braunes Haar lag, in der Mitte exakt gescheitelt, dicht am Kopf und war im Nacken zusammengebunden. Viel zu streng sah das aus, trotz des Perlenreifs über der Stirn. Unter dem missbilligenden Blick ihrer Dienerin zupfte sie sich zwei Strähnchen in die Stirn. Dann war sie zufrieden und bestieg die Sänfte, die sie über die matschige Straße hinüber in die Alte Veste tragen sollte.

In wenigen Momenten also würde sie ihrem Bräutigam gegenübertreten. Sie schloss die Augen und überließ sich dem sanften Geschaukel der Trage. Zum ersten Mal mischte sich in den kummervollen Gedanken, bald die Heimat verlassen zu müssen, etwas anderes: Sie war ungeheuer gespannt auf den jungen Fürsten, über den so viel Vorteilhaftes berichtet wurde.

Hier in der Residenz war von nichts anderem mehr die Rede als von dessen glanzvollem Äußeren, von seiner stolzen und aufrechten Gestalt, seinem bezwingenden Lächeln. Nur ein paar wenige garstige Zungen gaben vor zu wissen, dass Herzog Ulrich sein Leben am Stuttgarter Hofe ein wenig gar zu großzügig gestalte, und von Weibergeschichten höre man neuerdings auch.

Mir pochendem Herzen folgte Sabina dem Kammerdiener durch die dunklen Gänge des Zwingerstocks bis vor die Tür zum Ahnensaal. Schwungvoll wurden die beiden Flügel aufgestoßen, und Sabina erblickte am andern Ende des Saals ihre Mutter in einem Sessel, zu ihrer Rechten Ludwig und Wilhelm mit ihrem jüngsten Bruder, dem knapp neunjährigen Ernstl, zu ihrer Linken eine kräftige, hochgewachsene Gestalt, halb den Rücken der Tür zugewandt. Das musste er sein – Ulrich Herzog von Wirtemberg!

Er sah aus, als sei er eben erst vom Pferd gestiegen, in seinem kurzen, pelzverbrämten Reitmantel, den Stiefeln aus rotem Leder und den Beinkleidern aus schwerem schwarzem Tuch. Auf dem vollen, recht kurz gehaltenen rotblonden Lockenhaar trug er ein spanisches Barett. Er schien ganz in eine Plauderei mit ihrer Mutter vertieft.

Der Kammerdiener schlug dreimal mit dem Stock auf den Boden:

«Ihre Fürstliche Gnaden, Sabina, Prinzessin von Baiern!»

Da endlich wandte Ulrich sich um und musterte seine Braut, die graugrünen Augen funkelten. Seine scharfgeschnittenen Züge mit der großen, gebogenen Nase und den ausgeprägten Lippen wirkten viel reifer als die bald zweiundzwanzig Jahre, die Ulrich tatsächlich zählte. Was für ein gutaussehender Mann – und dennoch: Sabina wurde es unter diesem stechenden Blick schlagartig eng in der Brust.

Er nahm nicht den Hut vom Kopf, sondern deutete nur eine Verbeugung an und kam dann gemessenen Schrittes auf sie zu.

«Gott zum Gruße, Euer Liebden.»

Wieder verbeugte er sich leicht, ohne auch nur ihre Hand zu nehmen.

«Gott zum Gruße», murmelte Sabina mit erstickter Stimme. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. «Willkommen in unserer Residenz.»

«Wahrlich prachtvolle Schlösser habt Ihr hier in München.» Sein Lächeln wirkte irgendwie kalt, und in seiner etwas zu hellen Stimme schien Spott mitzuschwingen. «Allein dieser eindrucksvolle Saal.»

Sein Blick wanderte über die Wandgemälde, blieb dann ein, zwei Atemzüge lang am Bildnis Kaiser Ludwigs des Baiern hängen. Das Lächeln gefror.

«Welch großartige Ahnengalerie, die Ihr mir hier präsentiert! Wirklich äußerst eindrucksvoll.»

Sein Blick begann zu flackern, und zu Sabinas Erstaunen ballte er jetzt sogar die Fäuste. Ihr entging nicht, wie Wilhelm die Stirn runzelte.

Kunigunde erhob sich und legte dem jungen Herzog die Hand auf die Schulter.

«So mag Euer Liebden ermessen, wie hoch auch wir Eure Person und Euren Stamm erachten, indem wir Euch Prinzessin Sabina zur Frau geben.» In ihren Augen stand mütterliche Wärme. «Seid willkommen im Hause Wittelsbach, als Sohn und Bruder.»

Ulrich entspannte sich. «Habt Dank.» Er schenkte seiner zukünftigen Schwiegermutter ein Lächeln.

«So lasst uns denn», Wilhelm trat neben ihn, «an diesem Ort der Familientradition die Heiratsabsprache mit Handschlag noch einmal bestätigen.»

Da geschah etwas Ungeheuerliches: Ulrich verschränkte die Arme auf dem Rücken.

«Ihr habt mein Wort – reicht Euch das nicht?»

Verblüfft starrte Wilhelm ihn an. In seine Wangen stieg die Röte jugendlichen Zorns. Sabina konnte ihm ansehen, dass er dem Gast am liebsten eine Maulschelle verpasst hätte. Doch Gott sei Dank blieb er gefasst. Schließlich war er kein Edelknabe mehr, sondern das – wenn auch noch minderjährige – Oberhaupt des Hauses Wittelsbach.

«Gut, gut.» Wilhelm räusperte sich. «Wir verlassen uns ganz auf Euer Wort. Und nun lasst uns hinübergehen, in die Neuveste. Ihr könnt sicher eine Stärkung leiden nach der langen Reise.»

«Wenn Ihr verzeiht – Wir möchten uns lieber noch ein wenig in unsere Kammer zurückziehen. In einer Stunde etwa finden Wir uns dann gerne an Eurer Tafel ein.»

Ulrich verbeugte sich in unbestimmte Richtung und verließ dann, ohne seine Braut noch eines Blickes zu würdigen, den Ahnensaal. Mit einem Mal herrschte betroffene Stille im Raum.

Sabina presste die Lippen aufeinander. Was dachte sich dieser Kerl eigentlich? Und dann dieses affektierte Gerede in der Wirform – als ob er der Kaiser höchst selbst sei! Brüsk drehte sie sich zur Wand, damit keiner sehen konnte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

«Ich sage euch», platzte Ludwig schließlich heraus, «das war höchst erniedrigend. Und wie er unsere Schwester behandelt hat!»

«Du hast recht, Bruderherz. Gehen wir ihm nach.»

«Niemand wird ihm nachgehen.» Die alte Herzogin erhob sich aus ihrem Sessel. «Zeigen wir ihm lieber, was Anstand und Sitte wirklich bedeuten. Lassen wir ihm seinen Willen und empfangen wir ihn mit aller Herzlichkeit zum Nachtmahl.»

Jetzt konnte Sabina ihre Tränen nicht länger zurückhalten. «Er ist ein Scheusal!», rief sie mit erstickter Stimme.

Besänftigend nahm Kunigunde ihre Hand.

«Nein, Sabina. Er ist kein Scheusal. Er ist noch jung und ohne Eltern, ohne Erziehung aufgewachsen. Sein Dünkel wird sich abschleifen, du wirst sehen.»

«Mutter, ich will diesen Mann nicht heiraten», schluchzte Sabina.

«Aber mein Kind! Die Ehe ist keine Frage des Wollens, sondern eine Frage der Pflicht. Und für uns Frauen, sofern wir uns nicht zum Dienst an Gott berufen fühlen, ist sie eine Lebensaufgabe. Aber glaub mir, die Jahre werden vieles richten, auch bei dem jungen Wirtemberger. Oder meinst du, zwischen deinem Vater und mir hätte immer eitel Wonne geherrscht? Wir brauchten etliche Jahre, um zu unserer Liebe zu finden. Auch ich hatte deinen Vater einstmals nicht heiraten wollen und hatte mich doch ohne Murren gefügt.»

«Ja, weil Ihr ansonsten mit dem Sultan von Byzanz vermählt worden wäret! Das habt Ihr mir selbst erzählt.»

Ihre Mutter versuchte zu lachen, was ihr kläglich misslang.

«Du wirst doch wohl Herzog Ulrich nicht mit einem muselmanischen Sultan vergleichen.»

Sie wollte ihre Tochter in den Arm nehmen, doch Sabina machte sich los und stellte sich vor ihren Bruder.

«Bitte, Wilhelm. Als den Herzog von Baiern flehe ich dich, flehe ich Euch an: Lasst uns die Abrede rückgängig machen. Wenn erst das Jawort vor Gott gefallen ist, ist es zu spät.»

Wilhelms Miene verschloss sich. «Das ist nicht möglich. Vertrag ist Vertrag. Vater hat 32000Gulden vereinbart, die du als dein Heiratsgut in die Ehe mitnimmst. Trittst du zurück, müssen wir die Hälfte der Summe an Ulrich übergeben, als Entschädigung.» Er sah sie mitleidig an. «Ich wollte, ich könnte dir etwas anderes sagen. Aber ich verspreche dir: Wir Brüder werden immer auf deiner Seite stehen.»

2

Womit niemand gerechnet hatte: Ulrich von Wirtemberg besaß die Unverfrorenheit, seine Braut zwei weitere volle Jahre warten zu lassen.

Für die Fürstenhöfe im Reich grenzte das Verhalten des jungen Herzogs an einen Skandal. Nicht nur, dass er nach dem Leichenbegängnis von Albrecht dem Weisen unverrichteter Dinge und ohne Braut ins Schwäbische heimgekehrt war – auch danach hatte er keinerlei Anstalten getroffen, seine vertragliche Pflicht zu erfüllen. Dabei war er geradeso wie Sabina von Baiern an die Heiratsabrede gebunden. Stattdessen ging plötzlich das Gerücht, Ulrich denke an eine Verbindung mit der Tochter des Pfalzgrafen Philipp, und dann wieder, er habe ein Aug auf eine Anverwandte geworfen: auf Prinzessin Elisabeth von Brandenburg, ein Fräulein voll Anmut, das bei seiner Tante in Nürtingen wohnte.

Oftmals sei er dorthin geritten, begleitet von einem Zinkenbläser, der der Prinzessin auf die Nacht ein Ständchen blasen musste. Sogar ein Lied habe Ulrich ihr gedichtet, ein ergreifendes Jagd- und Liebeslied mit dem Titel «Ich schell mein Horn ins Jammertal», das, auf Flugblättern gedruckt, bald die Runde in ganz Schwaben machte! Darin klagte er in wehvollen Worten, wie er von seiner wahren Liebe lassen und eine ihm aufgezwungene Braut heimführen müsse.

Nicht so sehr Sabina, die sich immer noch eine Wende ihres Schicksals erhofft und ihre Zeit im geliebten München genossen hatte, als vielmehr ihre Mutter und ihre Brüder empfanden diese Gerüchte als eine schier unerträgliche Schmach. Dem heldenhaften jungen Fürsten waren die Erfolge und die Gunst des Kaisers ganz offenbar zu Kopf gestiegen, und unter den Ratgebern bei Hofe machte das Bibelwort die Runde: Wehe dem Land, dessen Herrscher ein Kind ist.

Von der schönen Elisabeth ließ Ulrich offenbar erst ab, als diese nach Pforzheim verheiratet wurde an den badischen Markgrafen, und auf heftigen Druck des Habsburger Kaiserhauses schließlich bequemte sich der junge Herzog, Sabina nach Stuttgart zu holen – besser: beordern zu lassen. Denn statt seiner selbst erschien zu Beginn des Jahres 1511 ein reitender Bote in München mit dem herzoglichen Schreiben, dass im März, auf Sonntag Sankt Agnes, die Feierlichkeiten für das herzogliche Beilager in Stuttgart angesetzt seien. Da die bairische Herzogsfamilie zu diesem Zeitpunkt ohnehin im nahen Heidelberg weile, anlässlich der Verheiratung von Prinzessin Sabinas Schwester, würden sich die beiden Ereignisse trefflich verbinden lassen.

Als Sabina an jenem milden Januarmorgen die Nachricht in den Händen hielt, ahnte sie, dass es mit ihrem unbeschwerten Leben vorbei sein würde an der Seite dieses Mannes, in diesem armseligen Land namens Wirtemberg. Längst hatten den Münchener Hof nämlich noch ganz andere Gerüchte erreicht, Gerüchte von Ausschweifungen bei Hofe und ständig wechselnden Mätressen, von Ulrichs zügelloser Leidenschaft für das Glücksspiel und für wochenlange Sauhatzen, für seine Verschwendungssucht anlässlich der zahllosen Festbankette und prunkvollen Turniere, die er, ganz à la mode, mit seinem Bundesgenossen aus Kriegstagen, dem einhändigen Reichsritter Gottfried von Berlichingen, in alter Ritterherrlichkeit veranstaltete. Das Ärgste indessen, was man über Ulrich hörte, waren seine im ganzen Land berüchtigten Anfälle von Jähzorn. Es hieß, er habe einmal einem Trommler seiner Hofkapelle die Stöcke in den Rachen gestoßen, weil der aus dem Takt geraten sei. Das ist nur Tratsch, dachte Sabina immer wieder, das ist bestimmt nur böser Tratsch.

Ein ums andere Mal las sie den Wortlaut von Ulrichs Schreiben, bis ihr die Buchstaben vor Augen zu flimmern begannen. Dann rollte sie das Blatt zusammen und drückte es dem Kammerdiener in die Hand. Ihr war, als weiche alles Licht, alle Farbe aus dieser Welt, die Gobelintapeten und türkischen Bodenteppiche, die Polster der Sessel, die Samtvorhänge – alles wurde blass und fahl, selbst das Feuer im Kamin verlor seine Leuchtkraft, seine Wärme. Wie kalt ihr plötzlich war, wie eng im Hals, kaum bekam sie Luft.

Sie rannte an dem verdutzten Diener vorbei aus dem Zimmer, die langgestreckten Gänge entlang, rasch die Treppe hinunter, hinaus in den trüben Morgen, an die Luft, wo sie tief Atem holte, dann weiter im Laufschritt in ihren Kammerpantoffeln über das schmutzige Pflaster hinüber zum Marstall, wo sie sich ihren Liebling satteln ließ, den hochbeinigen Rappen. Sie schwang sich hinauf im frischgewaschenen, frischgestärkten Hauskleid, mit eilig herbeigeschafften Lederschuhen an den Füßen und einem fleckigen Umhang als Schutz gegen die Kälte – so ritt sie los, in scharfem Trab durch die Gassen, dass die Menschen zur Seite sprangen, durch das Isartor hinunter zur Floßlände, wo die Taglöhner und Floßknechte gerade ihre Arbeit aufnahmen, weiter in die Auen und Wälder, in gestrecktem Galopp und mit Tränen in den Augen.

Bei Einbruch der Dunkelheit erst kehrte sie heim, begleitet von Ludwig und dessen Diener, die sie gesucht und hinter dem Jagdhaus gefunden hatten, wo sie durchgefroren und schmutzig, mit aufgelöstem Haar und tränennassem Gesicht auf einem Baumstamm gekauert saß.

An diesem Tag schwor sie sich, dass keiner bei Hofe sie jemals wieder weinen sehen sollte. Sie würde ihre neue Rolle standesgemäß erfüllen. Mochte da kommen, was wollte.

Draußen tobte ein Vorbote der Frühjahrsstürme, die den Schnee zum Schmelzen bringen würden, und rüttelte an den Fensterläden der Spinnstube.

Marie unterdrückte einen Seufzer. Viel zu bald, Wochen früher als sonst würde die gemütliche Zeit im Lichtkarz des Müllers ein Ende haben. Hier, wo die Frauen und Mädchen des Dorfes im Winter zusammenkamen, um zu spinnen und zu weben, brannte immer ein Feuer, hier war es hell und warm, wenn überall sonst Dunkelheit herrschte. Hier wurde nicht nur gearbeitet, sondern auch gesungen und getratscht. Selbst wenn abends der Rücken schmerzte und sich die Fingerkuppen pelzig anfühlten – es war kein Vergleich zu den Wintertagen in ihrer kalten, zugigen Hütte, in der es nach Ziege und Hühnermist stank.

Übermorgen, nach Maria Lichtmess, sollte es losgehen, hatte die Stubenälteste am Morgen verkündet. Dann würde sie mit den andern Kindern und Frauen des Dorfes bei diesem Mistwetter durch die Wälder ziehen und Brennholz zusammenklauben. Nicht für den eigenen Bedarf, sondern für die größte Hochzeit aller Zeiten, für das fürstliche Beilager des Herzogs mit einer Prinzessin aus Baiern.

Sie wickelte einen neuen Wollstrang um den Rocken, dann legte sie die Hände in den Schoß und streckte ihre Finger.

«He, Faulpelz.» Ihre Base Irmel stieß sie in die Seite. «Wenn das Mutter sieht.»

Marie sah hinüber zu ihrer Tante Berthe, die mit den anderen alten Weibern beim Kämmen an den Krempelbänken saß und lautstark herumstritt, welches Lied als nächstes gesungen werden sollte.

«Dämliche Hochzeit!», entfuhr es Marie. «Jeden Tag Holz sammeln, und dann auch noch bis ins Böblinger Forsthaus schleppen. Als ob die rund um die Residenz nicht genug Wälder hätten.»

«Haben sie nicht.» Jetzt legte auch Irmel ihre Spindel beiseite. «Nicht für die vielen tausend Gäste, die kommen sollen.»

«Was weißt du schon darüber.»

«Einiges.»

Ihre Base verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Ein böser Geist hatte Irmel bei der Geburt eine leichte Hasenscharte beschert, und Fremde hatten oft Mühe, sie zu verstehen. Dies und ihre plumpe, untersetzte Gestalt mit dem viel zu großen Busen würden es ihr wohl unmöglich machen, jemals aus der elterlichen Haushaltung wegzuheiraten. Dabei war sie schon fünfzehn, drei Jahre älter als Marie.

«Ich hab gehört, dass im Schloss alle Gemächer eigens für die hohen Gäste ausgemalt worden sind. Mit goldenen Blumen und Sinnbildern und so. Und dass zweiundzwanzig verschiedene Gänge zu jeder Mahlzeit gereicht werden. Vorweg Hühner in einer weißen Brühe, dann Grünkraut mit Bratwürsten, gebratene Spanferkel», Irmel leckte sich die Lippen, was bei ihrem missgestalteten Mund einigermaßen komisch aussah, «heißgesottene Forellen, gebackenes weißes Ochsenfleisch, eingelegte Flusskrebse – au!»

Im selben Augenblick erhielt auch Marie einen schmerzhaften Schlag gegen den Hinterkopf. Der Wollflausch am Rocken verschwand hinter einem Schleier winziger Sternchen im Raum herrschte Totenstille. Nicht mal das Surren der Spinnräder war mehr zu hören.

«Missratenes Lumpenpack! Was gehn euch die reichen Hansen in Stuttgart an? Haltet euer Maul und schaffet!» Tante Berthe stand dicht hinter ihnen, vor lauter Schwatzen hatten sie sie nicht kommen hören. Marie roch deutlich ihren sauren Atem.

«Keinen Mucks mehr bis Feierabend, sonst prügle ich euch die Flausen eigenhändig aus dem Hirn, verstanden?»

Mit geducktem Kopf machte Marie sich wieder an die Arbeit. Kaum wagte sie einen Seitenblick auf ihre Base zu werfen, der die Tränen über das feiste Gesicht rannen. Irmel tat ihr leid. Sie war zweifach gestraft: Einmal mit ihrem missratenem Äußeren, zum andern mit dieser groben Frau, die ihre Mutter war. Ansonsten war Irmel kein schlechter Mensch. Ein wenig einfältig vielleicht und ungeschickt, dafür umso gutmütiger: Nicht ein einziges Mal hatte sie Marie, die doch so viel schmächtiger und zarter war, in all den Jahren schlecht behandelt oder gar geschlagen, nicht mal in ihrer größten Wut. Dabei hätte sie allen Grund gehabt, eifersüchtig zu sein auf Marie und ihre kleine Schwester Nele, die vor drei Jahren in ihr Elternhaus hereingeschneit kamen, nur mit einem Bündel unterm Arm. Eifersüchtig auf diese beiden Mädchen, die so viel Platz auf ihrem Bettlager beanspruchten und die kargen Mahlzeiten noch karger werden ließen. Stattdessen hatte Irmel sie sogar verteidigt, im Dorf, gegen die anderen Kinder, die sie als Reingeschmeckte quälten und piesackten.

«Los, los, zusammenräumen. Es ist Feierabend.»

Die Müllersfrau war eingetreten und trieb die Dorffrauen zur Eile an. Kurz darauf standen sie alle in der tiefschwarzen Nacht, durch die der Sturm seine regennassen Böen fegte, dass der Wald ringsum ächzte und stöhnte.

«Warte.» Irmel hielt sie zurück. «Lass sie vorausgehen. Dann können wir ein bisschen schwatzen.»

Unwillig blieb Marie stehen und zog sich den Umhang tiefer ins Gesicht. Er war ein zerschlissenes, mehrfach geflicktes Stück Stoff, ein besserer Lumpen, und wärmte kein bisschen.

Irmel hakte sich bei ihr unter. «Was gäbe ich drum, beim Einzug der Braut dabei zu sein. Einmal nur rauskommen aus diesem Drecksloch hier.»

Marie nickte stumm. Wahrscheinlich würde ihre Base niemals aus diesem Dorf herauskommen, sondern ihrer hartherzigen Mutter bis zum bitteren Ende ausgeliefert sein. Um wie viel freundlicher sah Marie da ihre eigene Zukunft, auch wenn es sie vor drei Jahren mit dem plötzlichen Tod ihrer Eltern so hart getroffen hatte. Irgendwann würde sie in ihr Heimatdorf zurückkehren, nach Beutelsbach, einem Winzerdorf im hellen, lichten Remstal, zwei Tagesmärsche von hier. Und dort wartete jemand auf sie.

«Woran denkst du?»

«An Beutelsbach. Im Remstal ist es viel schöner als hier, in diesem blöden, düsteren Wald. Viel sonniger und wärmer.»

«Ach – und du meinst wohl, dass dein Balthus auf dich wartet, bis du ihn endlich heiraten darfst? Dass ich nicht lache! Bis dahin wird der längst eine andre haben.»

«Er hat es mir versprochen. Außerdem heißt er nicht Balthus, sondern Vitus.»

«Ist doch eh wurscht. Kein Bursche wartet vier Jahre lang auf seine Braut.»

«Du bist gemein!»

Marie schüttelte den Arm ihrer Base ab und rannte los. Der geschmolzene Schnee hatte den Weg durchs Dorf in ein einziges Schlammloch verwandelt, in dem man bis zu den Knöcheln stecken blieb. Sie unterdrückte ein Fluchen. Natürlich würde Vitus auf sie warten, schließlich waren sie von Kindesbeinen an unzertrennlich gewesen. Nichts und niemand konnte sie auseinanderbringen. Und nach der Hochzeit würde er den Weinberg seines Vaters übernehmen. Das hatten sie alles abgesprochen, damals beim Abschied, als man sie zu ihrer Verwandtschaft in den Schönbuch gebracht hatte.

Endlich stand sie vor dem Haus der Schechtelins, einer schäbigen Hütte am äußersten Dorfrand. Ihre Zieheltern waren einfache Seldner, ohne Stimmrecht im Dorf, sie besaßen nichts als dieses Häuschen und ein kleines Ackerstück hinten am Waldrand. Wollten sie nicht verhungern, waren sie auf Allmende und Zubrot angewiesen, wie jetzt im Winter aus den Handarbeiten der Frauen. Außerdem waren sie, das hatte Marie längst bemerkt, nicht sehr angesehen in der Gemeinde. Unter ihnen standen nur noch das Gesinde der reichen Vollbauern und das gute Dutzend Taglöhner, die bei der Dorfversammlung nicht mal den Mund aufmachen durften.

Fast gleichzeitig mit Marie kam Berthe bei der Türschwelle an.

«Wo ist Irmel?», herrschte ihre Muhme sie an.

«Weiß nicht.»

«Dann kriegt sie halt nichts zu essen, wenn sie so trödelt.»

Sie betraten die Hütte, die von einer Tranfunzel über dem Tisch in spärliches Licht getaucht war. Abgestanden und schwer hing die Luft in dem einzigen Raum, es stank nach gekochtem Kohl. Am Herd stand Nele und rührte im Kessel die Suppe. Das zierliche, für seine acht Jahre viel zu kleine Mädchen war seit diesem Winter für Kochen und Hausarbeit verantwortlich.

«Hockt ihr euch jetzt endlich auf euern Arsch?», schnauzte Utz Schechtelin und holte den Kessel vom Herd. Der Hausvater war ein kräftiger Mann mit Vollbart und struppigem langem Haar, in dem schon graue Strähnen schimmerten. «Die Suppe ist längst verkocht.»

Rasch hängte Marie den Umhang an den Haken und quetschte sich neben Michel und Lenz, den beiden Schechtelin-Söhnen, auf die Bank. Die lümmelten wahrscheinlich schon seit Stunden faul am Tisch, mit ihren Holzlöffeln in den Fäusten. Im nächsten Moment ging die Tür auf, und – dem Himmel sei Dank – mit einem Schwall feuchter Abendluft trat Irmel ein. Einen Atemzug später, und sie hätte hungrig zu Bett gehen müssen.

«Na endlich.»

Sie falteten die Hände, murmelten ihr Gebet.

«Amen.»

Utz schöpfte erst sich, dann seiner Frau den Napf voll.

«Was für ein Scheißwetter.» Er reichte den Schöpfer an Nele, die die Suppe dem Alter nach verteilte. «Wie heißt es doch: Ist es zu Lichtmess grün und mild, die Heuernte ins Wasser fällt.»

«Solange es nur die Heuernte ist.» Berthe redete und schlürfte gleichzeitig. «Drei Jahre in Folge war die Ernte miserabel. Wenn das so weitergeht, werden wir der Reihe nach verhungern. Aber vorher setze ich diese beiden Bälger hier eigenhändig vor die Tür.»

Sie warf Marie und Nele einen giftigen Blick zu.

«Still, Weib! Das sind die Kinder meiner Base, Gott hab sie selig, und beide arbeiten hart für ihr Brot. Oder hast du vergessen, dass du ohne Neles Hilfe gar nicht den ganzen Tag rüber in den Lichtkarz könntest? Also halt dein lästerliches Maul.»

«Hör mir bloß auf mit dem Lichtkarz. Unser Zubrot mit Weben und Spinnen hat ab heute auch ein Ende – was sollen wir nur machen?» Berthes Stimme wurde weinerlich. «Das Geld wird uns fehlen, stattdessen sollen wir Tag für Tag Brennholz aus dem Wald schleppen, und das neuerdings auch noch ohne Zehrung, wie ich von der alten Wonnhardt gehört hab. Als ob wir nicht genug Frondienste übers Jahr hätten. Und Brennholz könnten wir selbst am nötigsten brauchen.»

«Lass das Jammern. Wir müssen froh sein, dass wir bis zum Gertrudistag mit der Fron fertig sind und sollten dafür unserem Herzog dankbar sein. Er hat die Hochzeit nur um uns Bauersleut willen auf die Zeit vor Beginn der Feldarbeit festgelegt. Das sagt jedenfalls unser Schultes.»

«Dass ich nicht lache.»

«Wie dem auch sei – wir werden zur rechten Zeit mit Pflügen und Säen dran sein.»

Er stand auf und streckte sich. «Gehen wir schlafen.»

Die beiden Schechtelin-Buben grinsten sich an, und auch Marie wusste, was nun folgen würde: Wie jedes Mal auf die Nacht zum heiligen Sonntag würde Utz sich draußen am Trog waschen, das einzige Mal in der Woche gründlich, mit Bimsstein und viel Wasser, würde sich das widerspenstige Haar durchkämmen und dann mit einem fröhlichen Lied auf den Lippen in seiner Schlafecke verschwinden, hinter dem zugezogenen speckigen Vorhang. Ein wenig schneller als er brachte in der Regel Berthe ihre Waschungen zu Ende. War auch sie schließlich hinter dem Vorhang verschwunden, dauerte es kein Paternoster lang, bis jenes leise klatschende Geräusch einsetzte, das bald schneller und schneller wurde, begleitet von einem keuchenden «Ho, ho, ho» des Hausvaters, das schließlich in ein tiefes, langgezogenes «Haaaah!» überging. Dann war es still.

Marie konnte sich annähernd denken, was da hinter dem Vorhang geschah. Sie kannte das von den Ziegen im Dorf und von Mutz, dem Köter des Dorfschulten, der den ganzen Tag nichts andres tat. Sie fragte sich nur, warum man nie etwas von ihrer Muhme hörte.

Als auch an diesem Samstagabend endlich nur noch das zufriedene Schnarchen ihres Oheims durch die Stille der Nacht tönte, flüsterte Irmel neben ihr:

«Würdest du mitkommen?»

«Wohin?»

«Zur Hochzeit nach Stuttgart.»

«Bist du närrisch?»

«Psst, nicht so laut. Wir könnten noch vor Morgengrauen los, dann wären wir zu Mittag in der Residenz.»

«Deine Mutter schlägt uns tot.»

«Ach was. Sie braucht uns noch. Also, was ist?»

«Weiß nicht. Mal sehen.»

3

Ein schier endloses Band von Reitern und Kutschen näherte sich von Norden her der Residenzstadt Stuttgart. Es war ein frischer Sonntagmorgen, der zweite Märztag, und die Eskorte der bairischen Fürstenfamilie kam geradewegs von der Heidelberger Hochzeit. Im Schloss zu Markgröningen hatten sie genächtigt, dort waren auch der weitberühmte Katzbalger und Haudegen Georg Truchsess von Waldburg zu ihnen gestoßen, ebenso der Bischof von Konstanz, der sie trauen sollte.

Vorweg, der Morgensonne entgegen, ritt der junge Wilhelm Herzog von Baiern, flankiert von Leibwache, Fahnenträgern und den beiden jüngeren Brüdern. Immer deutlicher glich er seinen Vätern und Vorvätern. Die melancholischen dunklen Augen, die braunen Haare und markanten Gesichtszüge verrieten eindeutig das Geschlecht der Wittelsbacher. Aufrecht saß er auf seinem gerüsteten Apfelschimmel. Jedes Mal, wenn Sabina ihn so sah, erfüllte sie Stolz auf ihren fast gleichaltrigen Bruder und tiefe Zuneigung. Wie rasch war doch aus dem ungestümen Knaben ein Mann geworden, ein sehr kluger und besonnener obendrein.

Sabina selbst reiste mit ihrer Mutter, der Hofmeisterin und ihrer alten Kinderfrau in einer gefederten rotgoldenen Prunkkarosse, die von sechs Goldfüchsen gezogen wurde und sich dicht beim Herzog hielt. Hinter ihnen folgte, über eine halbe Meile mindestens, der herzogliche Tross aus Hof- und Ehrendamen, Kavalieren und Knechten, Dienern, Pagen und Gerüsteten. Die Damen reisten in Kutschen, die Herren hoch zu Ross, das Gesinde auf seinen rumpelnden Kastenwägen oder zu Fuß. Mit dabei waren auch gut fünf Dutzend Streitrösser in Rüstung, mit seidiger Mähne, die bis zum Boden reichte. Die hatte ihnen Ulrich nach Heidelberg geschickt.

Den vierten Tag nun waren sie unterwegs, vier Tage immer dicht am Neckarstrom. Ihr Weg führte sie durch eine bezaubernde Landschaft, aber Sabina hatte kein Auge dafür und konnte auch sonst diese Reise keinen Deut genießen – sie, die sonst nichts mehr liebte, als neue Orte kennenzulernen. Zu sehr nagte in ihr der Abschiedskummer, seitdem sie ihre geliebte ältere Schwester ein letztes Mal vor dem Heidelberger Schloss umarmt hatte, um sie dort in der Fremde zurückzulassen. Da Sibille von einem leichten Katarrh ergriffen war, hatte sie die Hochzeitseinladung nach Stuttgart schweren Herzens ausschlagen müssen.

Das nächste Mal, wenn ihre Familie weiterzog, würde sie selbst zurückbleiben, allein, ohne Freunde und Familie, bei diesem blasierten Herzog von Wirtemberg, mit dem sie fortan ihr Leben teilen sollte. Doch sie hatte sich geschworen, keine Regung zu zeigen, keine Träne zu vergießen. Sie hatte auch ihren Stolz!

Als sich das Waldstück oberhalb des Neckars lichtete und in eine freundliche Hügellandschaft aus Wiesen und Weingärten überging, tauchte zu ihren Füßen im milden Licht der Frühjahrssonne Stuttgart auf. Weit streckte Sabina den Kopf aus dem Fenster der Kutsche: Wie klein und unbedeutend die Stadt wirkte, viel kleiner als München, kleiner selbst als die Reichsstadt Ulm. Es war nicht zu fassen!

Wilhelm ließ anhalten, als ein Zug mit bestimmt tausend Reitern sich ihnen näherte. Der Wirtemberger kommt, der Wirtemberger kommt, hörte man die Menschen rundum aufgeregt rufen. Oben auf der Höhe des Pragsattels begegneten sich die Züge. Musik grüßte von beiden Seiten, die Menge begann zu jubeln – da entdeckte Sabina ihren Bräutigam: Er löste sich aus einer Traube von Reitern, sprengte auf seinem Ross in waghalsigem Galopp nach vorne, ihrer Karosse entgegen. Als er neben den Kutschpferden zum Stehen kam, öffnete Sabina den Schlag und starrte ihn ungläubig an: Der junge Herzog lachte nämlich über das ganze Gesicht.

Ein Diener half ihr herunter – ihre Beine zitterten vom langen, unbequemen Sitzen–, während Ulrich vom Pferd sprang und ihr entgegenlief, mit ausgebreiteten Armen. Sie wusste nicht was tun, blieb einfach stehen und wartete. Schloss die Augen und spürte, wie sich kräftige Männerarme um ihre Schultern legten, hörte, wie die Menge in Freudenrufe ausbrach. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie vor sich Ulrich, einen ganz anderen Ulrich als in ihrer Erinnerung, einen, auf dessen Miene sich eine Mischung aus kindlicher Freude und männlichem Stolz ausgebreitet hatte. Dann gaben sie sich, wie es das Volk erwartete, einen Kuss, unter ohrenbetäubendem Jubelgebrüll.

Auf dem Weg hinunter zur Stadt säumten immer noch mehr Menschen den Weg, unter ihnen Musikanten, Kunstreiter und Jongleure, die der künftigen Herzogin zu Ehren ihre Künste darbrachten. Alles war in Bewegung, ein ungeheurer Lärm erfüllte die Luft, und Sabina streckte den Kopf in den Wind, um tief durchzuatmen. Auch sie saß nun hoch zu Ross, damit die Landeskinder sie betrachten konnten, auf einem Paradepferd mit schwarz-roter Schabracke und schwarzen und roten Federbüschen – den Farben des Hauses Wirtemberg. Ulrich blieb dicht an ihrer Seite, grüßte voller Stolz nach rechts und links, dabei immer umgeben von einer Handvoll Edelknaben, deren blendend weiße Damastgewänder sich im Wind bauschten.

Nach einem letzten Steilstück durch die Weinberge hinab erreichten sie zwei dunkle, nach Moder und totem Fisch stinkende Weiher, die offenbar als Pferdeschwemmen dienten und die Ulrich tatsächlich als Seen bezeichnete! Zwischen ihnen führte auf einem Knüppeldamm der Weg in die obere Vorstadt der Residenz, die noch nicht einmal einen geschlossenen Mauerring besaß: Auf weite Strecken sah man hinter den unbefestigten Gräben nur löchrige Plankenzäune und Dornverhaue. Auch ein Großteil der Häuser schien unfertig, überall standen Baukräne herum, eine einzige Gasse nur war gepflastert. Auf dieser durchquerten sie die Vorstadt zügig und ohne Halt, unter dem Lärm der Wagenräder und Pferdehufe. Herzog Ulrich sah sich veranlasst, eine Erklärung abzugeben.

«Hier war einstmals der herzogliche Turnieracker.» Seine Stimme klang ein wenig rau, aber nicht unangenehm. «Bald aber wird sich rund um das Kloster dort drüben eine Vorstadt erheben, die im Reich ihresgleichen sucht. Unsere besten Baumeister sind hier zugange, alles ist sorgfältig geplant mit lauter winkelrecht gehenden Gassen wie bei einem Schachbrett.»

Sabina nickte nur stumm, denn sie näherten sich der inneren Ringmauer, die von Türmen und stolzen Bürgerhäusern überragt wurde. Deutlich erkannte sie, vor den Umrissen der trutzigen Burg, eine Basilika mit einem hübschen schlanken Turm und einem zweiten, unfertigen, der einer Ruine glich. Halb Stuttgart scheint eine Baustelle, dachte sie. Und dann, mit halbem Schrecken: Jetzt ist es so weit. Als Erstes nämlich, so sah es das Zeremoniell vor, würde die Trauung stattfinden, vor dieser Kirche dort mit dem halben und dem ganzen Turm.

«Wo bleiben sie nur?»

Irmel trat ungeduldig von einem Bein aufs andere. Längst hatten sie den fürstlichen Tross in der Ferne entdeckt, oben in den Hügeln, hatten den dumpfen Schall der Pauke, den hohen Klang der Zinken und Trompeten vernommen. Aber der Zug schien sich keinen Hufschlag vorwärtszubewegen. Langsam begann Marie zu frieren. Sie hatten sich einen Platz erkämpft in vorderster Reihe am Straßenrand, dicht beim Obertor, durch das Braut und Bräutigam einziehen sollten. Und diesen Platz würden sie auch nicht aufgeben, selbst wenn sie sich noch Stunden die Füße in den Leib stehen mussten. Das hatte zumindest Irmel, als die Ältere, so bestimmt.

Für Marie war das alles immer noch wie ein Traum: Sie hatte sich tatsächlich, in der vergangenen Nacht erst, überreden lassen, ihre Base bei dieser verwegenen Unternehmung zu begleiten. War mit ihr vor Morgengrauen aus dem Dorf geschlichen, in den Lederschuhen von Irmels Brüdern, die sie mit Lappen ausgestopft hatten und die ihnen nun schmerzende Blasen bescherten. Dafür würden die Buben den ganzen Tag barfuß laufen müssen und fluchen, was das Zeug hält. Allein das freute Marie ungemein.

Unbehelligt und ohne Zwischenfälle waren sie in nur einer Stunde bis Böblingen gelangt. Wobei Marie in den dichten Wäldern des Schönbuchs, dazu noch im fahlen Zwielicht des anbrechenden Tages, fast gestorben wäre vor Angst. Nicht so Irmel. Wie ein Wolf seiner Fährte folgte sie einem unsichtbaren Wegenetz, das nur sie allein kannte. Und wie ein Tier des Waldes schien sie sich weder vor knackenden Zweigen noch vor kreischenden Rabenvögeln zu fürchten. Dem Himmel sei Dank waren auf dem Fahrweg, den sie dann am frühen Morgen erreichten, erstaunlich viele Menschen unterwegs, und je näher sie Stuttgart kamen, umso mächtiger wurde der Menschenstrom. Da vermochte Marie endlich aufzuatmen und sich dem Zauber des größten Abenteuers ihres zwölfjährigen Lebens hinzugeben.

Was sie hier in der Residenzstadt schließlich zu sehen bekamen, würde ihnen in ihrem elenden Dorf keiner glauben. Die Stadt platzte aus allen Nähten, so viel Volk war auf den Beinen. Aus dem ganzen Land war man gekommen, um der neuen Herzogin zu huldigen – oder auch, weil man sich ein Geschäft versprach. Überall in den Gassen wimmelte es von Vaganten, Gauklern und Taschenspielern, die ihre Künste und Kniffe darboten, von Trommlern, Pfeifern und Sängern, von fahrenden Scholaren, Bettelmönchen und Wanderpredigern. Krüppel streckten ihre schmutzigen Hände nach Almosen aus, reisende Garköche priesen lautstark ihre überteuerten Suppen, Dirnen im Flüsterton ihre Liebesdienste, und mitten im größten Gedränge versuchten Taschendiebe ihr Glück.

Zu Maries Erstaunen hatten die Torwächter sie alle ohne viel Aufhebens in die Stadt gelassen, mit freundlichem Gruß und lächelndem Gesicht. Auch jetzt, zur Mittagsstunde, strömten immer noch mehr Neugierige zu den Toren herein. Viele hielten kleine Geschenke in den Händen oder Sträuße mit den ersten Veilchen und Primeln, in die bunte Schleifen geflochten waren.

Vom Obertor bis zum Marktplatz waren rechts und links der Gasse die prächtigen hohen Fassaden der Bürgerhäuser mit schwarz-roten Bändern und Fähnchen behängt, auf jedem Stockwerk hatte man Girlanden aufgezogen, aus jedem geöffneten Fenster zwängten und drängten sich die Köpfe der Zuschauer. Das Unglaublichste indessen: Die Mitte der Gasse war mit roten und schwarzen Teppichen bedeckt! Selbst ohne die waffenstarrenden Männer der Scharwache, die alle paar Schritte postiert waren, hätte keiner gewagt, diesen makellosen, kostbaren Pfad zu betreten.

Auch Irmel hielt einen Gruß in der Hand, den sie allen Ernstes der Prinzessin von Baiern in die Hand zu drücken gedachte: einen kleinen Strauß mit Himmelschlüsseln vom Wegesrand. So viel Mut hatte Marie der Base gar nicht zugetraut.

«O mein Gott – da kommen sie!»

Fanfarengeschmetter ertönte vom Torturm, dann schob sich zwischen zwei Standartenträgern eine mächtige Heerpauke aus dem Schatten des Torbogens. Ihr dröhnender Bass ließ die Menge ehrfurchtsvoll verstummen. Gleich dahinter folgten die Brautleute auf ihren tänzelnden, reichgeschmückten Rössern.

Sie kamen nur im Schneckengang voran, da alle naselang jemand ein Geschenk überreichte oder ein Kind ein kleines Gedicht vortrug. Der Herzog warf derweil Münzen unters Volk, die er aus einem Beutel am Sattelknauf zog.

«Sieh nur – die Prinzessin ist ja fast größer als der Herzog», flüsterte Marie und zerrte sich und der Base den schmuddligen Umhang von den Schultern. Zum Glück waren wenigstens ihre dunkelgrünen Sonntagskleider halbwegs ordentlich, und unterwegs hatte sie sich sogar gründlich an einem Bach gewaschen und gekämmt und sich blaue Bänder ins Haar geflochten.

Irmel starrte mit offenem Mund. «Wie schön sie ist. Allein dieses Kleid! Eine Robe ganz aus Goldbrokat, mit Seidenschleppe, die das halbe Pferd bedeckt! Hat man so was schon gesehen?»

Marie indessen hatte vor allem Augen für Herzog Ulrich. Sie war hin- und hergerissen zwischen Bewunderung und Widerwillen: Fast weibisch hatte er sich herausgeputzt in seinem roten Festgewand, das von Gold und Edelsteinen prunkte, mit dem wallenden Federbusch über dem breitkrempigen Hut, dem blitzenden Degen und den Halbstiefeln aus Silberstoff mit goldenen Sporen. Doch dann dieser durchdringende Blick unter den rotblonden Locken, dieses selbstbewusste, siegesgewisse Lächeln in dem jungen und bartlosen Gesicht – es war ein Zauber, der von Herzog Ulrich ausging, wie Marie ihn in ihren jungen Jahren noch nie gespürt hatte. Ein Schauer fuhr ihr über den Rücken.

Im nächsten Augenblick blieb ihr fast das Herz stehen. Der Fürst zügelte sein Pferd vor ihren Füßen und blickte ihr fest in die Augen.

«Wie heißt du, mein Kind?»

Sie schluckte. «Marie, mein gnädiger Fürst und Herr.»

Rasch gab sie ihrer Base einen Stoß in die Seite. Das war die Gelegenheit. Irmel stolperte ein paar Schritte nach vorne und hielt dem Fräulein von Baiern ihren Veilchenstrauß entgegen, stumm und mit hochrotem Kopf, der noch röter anlief, als der Blick der Prinzessin einen Moment zu lange auf ihrem schiefen Mund verharrte.

Marie nahm allen Mut zusammen. «Euer Fürstlich Gnaden zum Willkomm», stotterte sie an Irmels Stelle, und Irmel nickte dazu.

Als Antwort lächelte die junge Braut. Ein trauriges Lächeln. Marie fragte sich, ob dies an Irmels Hasenscharte lag. Herzog Ulrich griff in den Beutel und warf ihr eine Kupfermünze zu.

«Was hast du nur für schönes Haar, mein Kind», rief er. «Wie reines Gold.»

Jetzt war es Maries Gesicht, das entflammte. Sie bedankte sich mit einem Knicks und trat rasch zurück in den Schutz der Menschenmenge, mit gesenktem Kopf und in fast schmerzhafter Verlegenheit. Da sah sie zwischen den Pflastersteinen etwas glitzern. Sie bückte sich und klaubte eine silberne Gewandnadel mit drei winzigen, leuchtend weißen Perlen aus den Ritzen. Die hatte die Herzogin eben noch an ihrer Robe getragen!

«Euer Fürstlich Gnaden! Ihr habt–» Sie wollte der Herzogin nach, aber sofort trat ihr einer der Büttel in den Weg und schlug nach ihr, wie man eine lästige Fliege verjagt. «Fort mit dir, aus dem Weg. Lass unsere Herzogin in Frieden.»

Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Base, dann ließ sie das Schmuckstück unbemerkt in ihrer Rocktasche verschwinden. Am besten verriet sie Irmel nichts von der Nadel. Vielleicht fand sich ja eine andere Gelegenheit, der Herzogin das Schmuckstück zurückzugeben.

Noch ganz im Banne dessen, was eben geschehen war, ließ sie sich von Irmel beim Arm nehmen und hinter den Massen herzerren.

«Hast du gehört, was der Herzog mir gesagt hat?», fragte sie atemlos.

«Bild dir bloß nix ein. Der Herzog ist bekannt als rechter Weiberheld. So was sagt der zu jeder.»

Es ging in Richtung Kirche, nicht ohne dass der Zug immer wieder ins Stocken geriet, zuletzt auf dem Marktplatz. Eine Handvoll Knaben führte dort halsbrecherische Ritterspiele auf. Unter einsetzendem Glockengeläut schließlich erreichten die Brautleute das Portal der Stiftskirche, wo am Ende des Spaliers aus Prälaten und Geistlichen der Bischof höchstselbst, mit Mitra und Stab, auf sie wartete.

Von den Scharwächtern wurden die Zuschauer zu einem weitläufigen Rund zurückgedrängt. «Macht Platz! Platz da!», brüllten sie, trennten die Spreu vom Weizen, denn nur die geladenen edlen Gäste durften dicht beim herzoglichen Gefolge stehen oder gar auf der Ehrentribüne sitzen. Doch erneut hatten Irmel und Marie Glück: Recht nahe der Kirchenmauer kamen sie zum Stehen, und wenn sie den Hals reckten, vermochten sie sogar einen Blick auf die Braut zu werfen, die unter der Obhut ihres Brautführers inzwischen vom Pferd gestiegen war.

Der Bischof, ein hagerer, langer Mensch mit dem Profil eines Raubvogels, stellte sich auf die oberste Treppenstufe und erhob seine Stimme, predigte erst auf Latein, dann auf Oberdeutsch, dann wieder auf Latein, bis die Zuhörer zu husten, scharren und schwatzen begannen. Da winkte er die Brautleute heran und fragte, ob sie einander zur Ehe nehmen wollten. Auf ihr Jawort hin erbebte die ganze Stadt vor Jubel, der erst verebbte, als der Bischof den Herzog um den Brautring bat.

«Wie dieser Ring so rund und von reinem Golde», er steckte ihn der Braut an den Finger, und seine durchdringende Stimme nahm einen fast drohenden Tonfall an, während aus der Menge die ersten Schluchzer zu hören waren, «so soll endlos und rein Eure Liebe bleiben.»

Damit vereinigte er ihre Hände und sprach den Segen über sie. Aus dem Innern der Kirche hub der Chor an zu singen, und unter einem feierlichen «Te Deum laudamus» zog das Paar in das Gotteshaus ein, das Gefolge und die Gästeschar hinterdrein, bis hinter dem Letzten das Kirchenportal krachend ins Schloss fiel. Hier hatte der gemeine Mann keinen Zutritt.

«Was machen wir jetzt?», fragte Marie.

Irmel wischte sich die Tränen aus den Augen.

«Ich weiß schon, was. Dort drüben, am Eingang zum Burgschloss, soll es Wein für jedermann geben. Also los, bevor alle dahin rennen.»

«Wein für jedermann? Das glaub ich nicht. Außerdem – sollten wir uns nicht besser auf den Weg machen? Damit wir vor der Nacht zu Hause sind?»

«Machst du Witze? Es ist längst später Nachmittag. Wir müssen die Nacht in Stuttgart verbringen.»

Mit einem Schlag verlor ihr abenteuerlicher Ausflug allen Zauber. Marie schüttelte heftig den Kopf. «Nein! Ich will nicht in dieser fremden Stadt über Nacht bleiben.»

«Du Dummkopf! Das hättest du dir früher überlegen müssen. Außerdem hab ich gehört, dass für diese eine Nacht alle Wirte kostenlos Quartier geben. Also komm, wir werden schon ein Dach überm Kopf finden.»

Nachdem Geschützdonner die erfolgreiche Vermählung der beiden fürstlichen Ehegefährten verkündet hatte, erfasste das Volk ein wahrer Freudentaumel, und alles stürzte sich in die Festlichkeiten. Für jeden war gesorgt. In einem Akt schier unglaublicher Großzügigkeit hatte der junge Fürst vierzehn Garküchen überall in der Stadt aufstellen lassen, in denen sich der gemeine Mann um Gotteslohn den Napf füllen lassen konnte, mit dickem Getreidemus oder gar mit Erbsensuppe samt Speck. Und wer seine Ellbogen ausreichend einsetzte, vermochte sich am Burgtor auch die Kehle zu erquicken: Aus einem achtröhrigen Brunnen floss weißer und roter Wein in Strömen. Dazu gab es überall Reiterspiele und Pferderennen, Glücksräder und Krambuden. Ganz Stuttgart war ein einziger Jahrmarkt. Alle tanzten und spielten, sangen und musizierten, fraßen und soffen – ungeachtet der frühen Dämmerung und der Märzenkälte.

Sabina konnte sich der Bewunderung ob der herzoglichen Freigebigkeit gegenüber den Untertanen nicht erwehren, als sie das ausgelassene Treiben rundum betrachtete. Viel größeren Anteil nahm das Volk hier an der fürstlichen Hochzeit, als sie es etwa in Heidelberg erlebt hatte. Das kurze Stück von der Stiftskirche zum Vorhof des Burgschlosses gingen sie zu Fuß, eskortiert von Wachsoldaten, allesamt schmucke junge Männer, allesamt in weiten Hosen und Wämsern aus rotem Tuch, nach der neuesten Mode aufgeschlitzt und mit gelbem Stoff unterfüttert. Dazu trugen sie hübsche Samtbarette mit weißem Federbusch.

«Achthundert Wächter habe ich für die Festtage aufstellen lassen», erläuterte ihr Gemahl, der ihre Blicke wohl bemerkt hatte. «Ausgewählt aus Tausenden junger Männer aus dem ganzen Land, die sich um diese Aufgabe gerissen haben. Obwohl sie ihre Helmbarten und Spieße aus eigener Schatulle bezahlen mussten.» Er lachte herausfordernd. «Ihr seht also, wie groß ihre Liebe ist zu diesem Land – und zu ihrem Regenten!»

Als sie bei der Zugbrücke beim Burggraben anlangten, hatten sich die hohen Gäste zu einem Spalier aufgereiht und klatschten Beifall. Ihr Brautführer, der kaiserliche Gesandte Felix Graf von Werdenberg, hatte Mühe, mit Sabina Schritt zu halten, da er fast einen Kopf kleiner war als sie. Jetzt, auf der Brücke, geriet er gar ins Stolpern und richtete sich mit hochrotem Kopf wieder auf.

«Streck dich halt, Werdenberg, dann bist du größer», hörte Sabina jemanden lachen. Werdenberg wollte tatsächlich mit gereckter Faust auf den Spötter losgehen, doch Sabina hielt ihn am Arm fest.

«Beruhigt Euch, lieber Graf», flüsterte sie. «Der Kerl ist nicht mal Eurer Spucke wert.»

Felix von Werdenberg nickte gehorsam, dafür schien nun Herzog Ulrich verstimmt: Er warf Sabina einen finsteren Blick zu, und das Strahlen, das seit ihrer Begegnung auf seinem Gesicht lag, war schlagartig verschwunden.

«Was habt Ihr da zu flüstern?», zischte er. Dann wandte er sich abrupt um und reckte das Kinn in die Luft. Ganz so wie auf jenem albernen Kindheitsbildnis, dachte Sabina plötzlich.

Ihr Weg führte nun ohne weitere Umwege ins Innere des Burgschlosses, das wie ein plumper Klotz gegen den Abendhimmel emporragte. Nach der Trauung musste die Ehe vollzogen werden, so wollte es der Brauch. Ulrich ging voraus, eine endlose Treppe hinauf, dann noch eine, und sie standen vor den geöffneten Türflügeln des ehelichen Gemaches, das von einem Dutzend Fackelträgern erleuchtet wurde. Mitten im Raum thronte das kunstvoll geschnitzte Paradebett, ein Himmelbett mit roten Seidenvorhängen, auf elfenbeinernen Füßen und mit Goldbrokat und rotem Atlas ausgekleidet.

Der Hofkaplan gebot ihnen zu warten, dann ging er voraus, das Bett zu segnen. Im nächsten Augenblick wurde Sabina von ihren drei Brüdern schwungvoll in die Luft gehoben, ihr Gemahl von seinen Freunden desgleichen, und unter dem Gelächter, den Glückwünschen und den groben Scherzen der Gäste und des halben Hofstaates wurden sie beide zu Bett getragen. Unsanft kam Sabina neben Ulrich zum Liegen. Ihr dichtes braunes Haar hatte sich gelöst und ergoss sich wie eine Kaskade auf das minzgrüne Seidenlaken.

Da traf ihr Blick den eines Mannes.

Er war etwa dreißig Jahre alt und von aufrechter, kräftiger Statur, dem Gewand nach ein Ritter. Der Mann sah sie unverwandt an. Seine tiefblauen Augen standen in auffallendem Kontrast zu dem dunklen Haar, und Sabina las darin eine Mischung aus neugieriger Bewunderung und Erstaunen. Wer war der, dass er es wagte, sie so unverhohlen anzustarren?