Die Bibliothek der flüsternden Schatten - Bücherstadt - Akram El-Bahay - E-Book

Die Bibliothek der flüsternden Schatten - Bücherstadt E-Book

Akram El-Bahay

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Beschreibung

Sam ist ein Dieb - aber mit einer List gelingt es ihm trotzdem, in die Palastwache von Mythia aufgenommen zu werden. Er träumt von einem neuen Leben, von großen Aufgaben. Vielleicht wird er gar als Wache des Weißen Königs eingesetzt? Doch statt des Königs soll er nur alte, staubige Bücher bewachen, in der riesigen Bibliothek unterhalb der Stadt. Wie langweilig! Sam kann nicht mal lesen. Bald jedoch erfährt er am eigenen Leib, dass die hallenden Bücherschluchten ebenso gefährliche wie fantastische Geheimnisse bergen ...


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Seitenzahl: 519

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Motto

Titel

Impressum

PROLOG

1. NEUE KLEIDER

2. PARAMYTHIA

3. EIN SCHREI IM DUNKELN

4. HAUT UND FEDERN

5. IMMER NOCH EIN DIEB

6. VOM JÄGER ZUM GEJAGTEN

7. KEINE WAHL

8. EIN HERAUS TINTE

9. LAUTE BEUTE

10. DER FÜRST DER DIEBE

11. SAND UND RINDE

12. GESCHICHTSSTUNDE

13. AUFGESPÜRT

14. EIN DUNKLER SOMMERNACHTSTRAUM

15. DIE WAFFEN EINES DIEBES

16. IM HEIM DES BIBLIOTHEKARS

17. TRUGBILD

18. DER PLATZ DER RIESEN

19. SILBERNE SEITEN

20. ASSASIL

21. DUNKLE SCHWINGEN

EPILOG

Über das Buch

Sam ist ein Dieb – aber mit einer List gelingt es ihm trotzdem, in die Palastwache von Mythia aufgenommen zu werden. Er träumt von einem neuen Leben, von großen Aufgaben. Vielleicht wird er gar als Wache des Weißen Königs eingesetzt? Doch statt des Königs soll er nur alte, staubige Bücher bewachen, in der riesigen Bibliothek unterhalb der Stadt. Wie langweilig! Sam kann nicht mal lesen. Bald jedoch erfährt er am eigenen Leib, dass die hallenden Bücherschluchten ebenso gefährliche wie fantastische Geheimnisse bergen …

Über den Autor

Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen. Dies spiegelt sich auch in seinen Romanen wider: klassische Fantasy-Geschichten um Drachen und Magie, die ebenso sehr an den »Herrn der Ringe« wie an orientalische Märchen erinnern. Mit seinem ersten Roman »Flammenwüste« war er für mehrere Preise nominiert, er gewann den Seraph Literaturpreis als bestes Fantasy-Debüt des Jahres. Er schreibt zurzeit an einer Fortsetzung der Geschichte.

Aus der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher

AKRAM EL-BAHAY

Bücherstadt

DIE BIBLIOTHEK DER FLÜSTERNDEN SCHATTEN

Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Michelle Gyo, VillmarUmschlaggestaltung: © Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de unter Verwendung von Motiven von © Jorge Jacinto; Thinkstock/iStock; Thinkstock/iStock; Thinkstock/Hemera;Thinkstock/iStockE-Book-Produktion: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3939-0

www.bastei-entertainment.dewww.lesejury.de

PROLOG

Sabah fühlte die Nacht wie ein Versprechen auf der Haut. Eile dich, sie kommt, rief sich die Beraterin des Weißen Königs ins Gedächtnis. Oh, Sabah musste schnell genug sein. Wie jede Nacht, in der sie die Treppen aus dem Herzen der Bücherstadt hinaufstieg.

Sie strich mit den Fingern über die Einbände der zahllosen Bücher, die ihren Weg säumten. Wie kalt und leblos sie waren. Die einzige Magie, die in ihnen steckte, lag in der Wortgewandtheit der Menschen, die sie geschrieben hatten. Nicht zu vergleichen mit den Büchern, die Sabah selbst las. Bücher, in denen ein Zauber wohnte. Bücher, die besondere Geschichten erzählten.

Sie sah hinauf an die Decke des unterirdischen Bibliothekslabyrinths. Die Bilder, die sie zierten, stammten aus einigen der Geschichten, die in den Büchern hier unten zu finden waren. Die Bilder zeigten allesamt Menschen, die Flügel besaßen. Sie waren so schön, dass es fast schmerzte, sie anzusehen. Die Maler, die sich von den Worten auf den Buchseiten hatten inspirieren lassen, waren offenbar davon ausgegangen, dass der Himmel nur makellose Schönheit gebar. Nun, Sabah wusste es besser. Worte und Bilder verkleideten die Wirklichkeit nur allzu gern. Die Wahrheit war meist so viel hässlicher.

Sabah stieg die lange Treppe hinauf und trat in die Eingangshalle des Palasts. Ihre Füße fanden den Weg, den sie schon so oft gegangen war, von selbst, doch diesmal ließ etwas sie innehalten. Eile dich, sie kommt. Sabah spürte, dass diese Nacht eine besondere war. Das erste Mal seit einer Ewigkeit nahm sie nicht die Treppe hinauf zu ihrem Gemach, sondern trat auf das Tor zu. Die Wachen blickten sie so verunsichert an, als könnte Sabahs Blick sie zu Stein werden lassen. Hastig öffneten die Männer das Portal, und sie trat hinaus auf den Platz vor dem Palast.

Die Nacht gehörte nicht ihr. Sie ließ Sabah husten und schmeckte bitter auf der Zunge. Und doch atmete Sabah sie tief ein. Da war etwas in der Luft. Sabah roch es. Und sie hörte es. Jemand. Er brachte ein Versprechen auf Veränderung. Auf eine neue Zeit.

Eile dich, sie kommt.

1. NEUE KLEIDER

Samirs Herz schlug so schnell, als wollte es aus seiner Brust entkommen. Der Moment, in dem er seine Beute in Besitz nahm, war für jeden Dieb der Höhepunkt der Jagd. Sam, wie er von seinem Cousin Majid genannt wurde, schloss seine Finger vorsichtig um das hauchdünne Krönungsei aus Kristall, das auf dem Nachttisch des Schlafenden lag. Es gehörte zu den Insignien des Weißen Königs, und der Hofjuwelier, in dessen Schlafzimmer Sam eingebrochen war, hatte es aus dem Palast erhalten, um einige der Rubinsplitter zu ersetzen, die sich im Lauf der Jahre aus ihren Fassungen gelöst hatten. Die Edelsteine brachen das silberne Mondlicht und glitzerten so aufdringlich, als wollten sie Sam zu sich locken. Wieso nur waren die wertvollsten Kunstwerke oft so hässlich? Das Kristallei sah für Sam wie etwas aus, das man auf schlechten Marktplätzen erstehen konnte, doch es war so unbezahlbar, dass der Hofjuwelier es nicht einmal im Schlaf von seiner Seite lassen wollte. Der Schlafende bewegte stumm die Lippen, als wollte er Sam davor warnen, das Ei zu berühren. Doch Sam hob es vom Nachttisch und ließ es unter seinem Gewand verschwinden.

Sam hätte am liebsten tief durchgeatmet, doch er durfte kein Geräusch von sich geben. Noch nicht. Schlechte Diebe wurden allzu schnell unvorsichtig, sobald ihre Beute den Besitzer gewechselt hatte. Sam aber war einer der besten. Er bewegte sich so lautlos, dass der Hund, der vor dem Bett des Hofjuweliers schlief, nicht einmal mit dem Schwanz zuckte. Das Schlafzimmer lag im obersten Stock eines hohen Hauses, und die Fenster öffneten sich zu einem Dach, das zu steil war, um es zu erklettern. Es sei denn, der Dieb, der das Wagnis auf sich nahm, trug Handschuhe, die mit einem sehr seltenen und äußerst klebrigen Harz bestrichen waren.

Das Seil, mit dessen Hilfe Sam in das Zimmer eingestiegen war, hing wie eine leblose Schlange von einem der geöffneten Deckenfenster herab. Vorsichtig zog er sich an dem dicken Strick zum Dach hinauf. Auf halbem Weg nach oben hielt er inne, da er glaubte, ein leises Tapsen hinter sich zu hören. Sam wagte kaum zu atmen, während er nach unten sah und versuchte, in dem dunklen Schlafzimmer die Ursache für das Geräusch zu erkennen. Der Mond schien schwach hinter einigen Wolken hervor und tauchte das Zimmer in einen silbrigen Glanz, der es seltsam unwirklich erscheinen ließ. Sam wollte schon weiterklettern, als er das vierbeinige Geschöpf sah, das sich aus den Schatten löste.

Die Katze, die in Sams Blickfeld kam, schritt so erhaben über den Steinboden, als sei sie die wahre Besitzerin des Schlafzimmers. Ihre Augen leuchteten ihn an. Für einen Moment musterten die beiden sich. Sam musste sich meist mit Hunden herumschlagen, doch diese Katze war mindestens ebenso gefährlich. Sie mochte ihn zwar nicht verletzen, doch wenn sie ihren Herrn weckte, würde das Sam mehr Schaden zufügen als der Biss eines Wachhundes. Sie blieb stehen und musterte ihn so bewegungslos, als wäre sie zu Stein geworden.

So vorsichtig er konnte, zog sich Sam weiter hinauf, den Blick starr auf die Katze gerichtet. Doch kaum geriet das Seil, an dem er hing, in Bewegung, rührte sich das Tier wieder. Sam unterdrückte einen stummen Fluch, als die Katze anfing, nach dem losen Ende des Seils zu springen. Sam kletterte schneller, doch das brachte das Seil nur umso mehr in Bewegung. Schließlich entfuhr der Katze ein Miauen, das in der Nacht so laut klang, als hätte Sam die Scheibe des Fensters, durch das er sich hastig zog, in tausendundeine Scherben zerbrochen.

Der Hofjuwelier fuhr mit einem Grunzen aus dem Schlaf, das sich übergangslos in einen Schrei wandelte, als er bemerkte, dass das Ei fort war. Nur einen Lidschlag später wurde die Tür aufgerissen, und der Leibwächter des Alten erschien im Zimmer. Die meisten Wächter verloren irgendwann in der Nacht den Kampf gegen die Müdigkeit, doch dieser hatte offenbar sehr aufmerksam vor der Tür gewacht. Mit einem Einbruch über das Dach hatte er sicher nicht gerechnet, doch er fasste sich schnell.

Sam hatte das Dach erreicht. Er zog sein Messer, um das Seil zu durchtrennen, als der Wächter es auch schon packte und sich daran hochzog. Verdammt, er konnte mindestens ebenso gut klettern wie Sam. Noch ehe der das feste Seil durchtrennen konnte, hatte der Leibwächter die behandschuhten Finger um den Rand des Fensters geschlungen. Für einen Moment war Sam versucht, dem Mann die Klinge in die Hand zu rammen, doch er hatte auf seinen Raubzügen noch nie jemanden verletzt, und er hatte nicht vor, heute damit zu beginnen. Dafür war die Situation nicht aussichtslos genug. Noch nicht.

Eine Wolke schob sich vor den Mond, und es wurde so dunkel, dass Sam die fremden Hände kaum noch erkennen konnte. Er streifte in aller Eile die Handschuhe wieder über, die er auf dem Dach am Rand des Fensters hatte liegen lassen. Dann presste er die Handflächen auf das spiegelglatte Dach und vertraute sein Gewicht ganz dem klebrigen Harz an. Das Dach war fugenlos gearbeitet und so steil, dass Sams Herz noch schneller schlug als in dem Moment, da er das Ei eingesteckt hatte. Aus der Fensteröffnung schob sich der Kopf des Wächters. Die Haut war in der Nacht so dunkel, als wäre sie mit Kohle gefärbt. Sam hatte davon gehört, dass einige reiche Kaufleute und Händler Krieger aus fernen Ländern als Wächter beschäftigten. Doch noch nie war er auf einen von ihnen getroffen. Die dunkelhäutigen Männer, deren Heimatdörfer jenseits der Berge und der angrenzenden Wüste lagen, galten als besonders unerbittliche Kämpfer.

Für einen Moment maßen sich die beiden. Dann stemmte sich der Mann auf das Dach.

»Tu das nicht, sonst sterben wir beide«, zischte Sam ihm zu. Seine Worte gingen in dem Geschrei des Juweliers beinahe unter. Es gehörte viel Erfahrung dazu, die richtige Menge an Harz auf den Stoff zu streichen. Nahm man zu viel, bekam man die Handschuhe nicht mehr abgelöst. War es zu wenig, hafteten sie nicht stark genug. Das Harz reichte für einen Körper, für zwei aber war es auf jeden Fall zu wenig. Die Handschuhe würden sie nicht beide halten können.

»Ich sterbe, wenn du entkommst«, erwiderte der andere ungerührt.

Und ehe Sam reagieren konnte, hatte sich der Dunkelhäutige auf das Dach geschwungen und schoss auf ihn zu.

Sam versuchte noch, sich zur Seite zu werfen, aber bevor er beide Handschuhe vom Dach lösen konnte, hatte ihn der Wächter gepackt. Sams Hände verloren den Kontakt zu der spiegelglatten Fläche, und er wurde mitgerissen. Gemeinsam schlitterten sie das Dach hinab. Der Nachthimmel und das verfluchte Dach verschwammen ineinander. Sam unterdrückte den Schrei, der ihm über die Lippen drängte, und versuchte verzweifelt, den Wächter abzuschütteln. Doch der hielt ihn eisern fest.

Sam streckte die Finger aus und presste seine Hände mit aller Kraft auf das Dach. Sie rutschten jedoch so schnell, dass er keinen Halt fand. Erst als Sam aus den Augenwinkeln Äste und Blätter sah, wurden sie ein wenig langsamer.

Die Korkeiche, die in der Nähe des Hauses wuchs, war weit höher als zwanzig Meter und griff mit den äußersten Ästen bis an die Kante des Dachs. Sam hatte die Eiche als Leiter genutzt, um von dort auf das Dach zu springen. Verdammt, der Wächter und er waren zu schnell, um rechtzeitig abzubremsen. Sie mussten langsamer werden. Sie …

Sam stockte der Atem, als der Wächter mit einer Hand Sams Linke packte und von den Schindeln riss. Sie wurden noch schneller. Ein Ast streifte sie. Und dann schossen sie mit Schwung über die Dachkante hinweg.

Wir sterben, schoss es Sam durch den Kopf, während sie durch die Luft flogen. Der Wächter ließ Sam endlich los, und für einen Moment fühlte er sich ganz leicht. Zu seiner Verblüffung genoss er diesen Moment des Fliegens, auch wenn der Tod auf ihn wartete.

Der Augenblick endete jäh, als die Äste des Baums Sam griffen. Hölzerne Finger stachen ihm in die Haut, zerrissen seine Kleider. Und retteten ihn. Er fiel durch die Äste und blieb schließlich wie ein Kind in den Armen seiner Mutter in ihnen hängen. Die Äste schaukelten bedenklich unter der Last seines Gewichts. Neben ihm erkannte er eine Bewegung. Der Wächter.

Der Mann richtete seinen Blick auf Sam und griff an seinen Rücken. Die Klinge, die er hervorzog, schimmerte im Mondlicht, das durch das Blätterdach fiel. Und dann warf sich der Wächter nach vorne auf ihn zu. Er ist lebensmüde, schoss es Sam durch den Kopf.

Sam sah nur einen Ausweg: Er ließ sich fallen. Der Schrei, den er zuvor noch zurückgehalten hatte, verließ seine Lippen und scheuchte einen Schwarm Finken auf, die kreischend in die Nacht flogen. Er bekam einen Ast zu fassen und zog sich auf ihn, als er das Zischen vernahm. Selbst der beste Dieb, der mit der Nacht verschmelzen konnte als wäre er ein Teil von ihr, bekam es irgendwann zu hören. Das Geräusch einer Klinge, die nach ihm schlug.

Ohne nachzudenken ließ Sam den Ast wieder los. Er stürzte einige Meter tiefer und bekam nur mit Mühe einen weiteren Ast zu fassen. Über ihm hieb die Klinge nur in Rinde statt in Haut. Blätter regneten auf Sam herab, und der Wächter stieß einen Fluch aus. Seine Stimme klang so dunkel wie die Nacht. Sam riskierte einen Blick nach oben. Der Wächter war ihm erschreckend nahe. Und er sprang zwischen Ästen hindurch, als bedeutete ihm das eigene Leben gar nichts. Sam tat es ihm gleich. Das Astwerk breitete sich unter ihm aus wie das Netz einer riesigen Spinne. Einige Augenblicke lang fiel er, dann rissen Äste seine Kleider auf, fanden die Haut darunter und stachen ihm ins Fleisch. Doch Sam spürte den Schmerz kaum. In seinem Kopf hatte nur ein Gedanke Platz. Finde einen Halt, Sam!

Unter ihm wurde das Astwerk dichter. Gleich mehrere armdicke Triebe hatten sich ineinander verflochten. Sam fand mit Glück und Geschick einen Halt auf ihnen und sah sich hektisch um. Er war etwa auf halber Höhe des Baumes. Noch immer waren es gut zehn Meter bis zum Boden. Zu tief für einen Sprung. Aus einiger Entfernung drangen leise Rufe zu ihm herauf. Vermutlich scheuchte der Hofjuwelier seine Diener aus den Betten, um nach dem Dieb zu suchen. Wenn Sam Glück hatte, war kein weiterer Wächter unter ihnen. Kümmere dich lieber um diesen einen, Sam, ermahnte er sich. Wenn du ihm nicht entkommst, musst du dir um alles andere keine Gedanken mehr machen.

Wo war der Wächter? Die Baumkrone war so dicht, dass kaum noch Mondlicht zwischen den Blättern und Ästen hindurchfiel. Vielleicht war er hängengeblieben und …

Das erneute Zischen alarmierte Sam und ließ ihn zur Seite fahren. Er fiel nicht, sondern blieb an einigen Trieben hängen, während die Klinge des Wächters wieder in Rinde schlug. Verdammt, der Kerl war so leise wie ein verfluchter Fuchs.

Der Wächter hockte kaum einen halben Meter über Sam, ein Schatten in der Nacht. Er sprang wortlos neben ihn auf die Äste, die unter dem Gewicht zweier Männer bedrohlich schaukelten.

»Gib mir das Ei«, zischte der Wächter, der nur mit Mühe die Balance auf den schaukelnden Ästen hielt. »Dann überleben wir vielleicht beide.«

Es war eine Lüge. Sam musste nicht einmal das Gesicht des Mannes sehen, um sie zu erkennen. Er schmeckte sie in seinen Worten. Sobald der andere das Ei hätte, würde sich sein Schwert in Sams Fleisch bohren. Ich sterbe, wenn du entkommst. Der Wächter hatte es selbst gesagt.

Sam wich zurück, bis ihn das Geflecht der Zweige endgültig stoppte. »Ich …«, begann er, als ihn ein Kreischen plötzlich unterbrach. Offenbar waren sie in den Nistplatz eines weiteren Finkenschwarms geraten. Einige der Tiere stießen so plötzlich zwischen den Ästen hervor, als hätte der Baum sie den beiden Eindringlingen zu seiner Verteidigung entgegen geschickt. Sam warf sich mit aller Kraft gegen die Äste in seinem Rücken und scheuchte die verängstigen Vögel damit endgültig auf. Rasch duckte er sich, und die Finken schossen in Panik über ihn hinweg. Geradewegs auf den Wächter zu.

Unwillkürlich schlug der Mann mit seiner Klinge nach den dunklen Leibern. Doch es waren zu viele. Sam sah, wie der Wächter die Arme hochriss und einen Schritt nach hinten machte. Ein Fehler. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit einem Schrei hinab, während die Vögel in die Nacht stoben. Sam hörte ein dumpfes Geräusch, und der Schrei starb so schnell wie der Mann, der ihn ausgestoßen hatte.

*

Sam war dem Baum ebenso entkommen wie den Dienern, von denen zwei angsterfüllt vor der Leiche des Wächters gestanden hatten. Sie hatten es nicht gewagt, Sam aufzuhalten. Ein Sprung von der Mauer des Gartens und er war in das angrenzende Häusermeer eingetaucht. Sam hatte das erste brauchbare Dach erklommen. Für Diebe gab es mehr Wege als nur gepflasterte Straßen. Während er über die Dächer balancierte, strich er über das Ei, das er unter seinem Gewand verborgen hatte. Es schien unbeschädigt. Du hast es geschafft, sagte er sich, um sich zu beruhigen. Das Stehlen war wie eine Jagd, und jeder Dieb kannte diesen Moment, wenn sich die Anspannung legte, aber das Herz noch immer von der Aufregung erfüllt war. Sam genoss ihn mehr als alles andere an seiner Arbeit. Auch jetzt, obwohl in dieser Nacht jemand den Tod gefunden hatte. Koste es dennoch aus, sagte er sich. Es ist das letzte Mal.

Mit traumwandlerischer Leichtigkeit fand er seinen Weg über Schindeln und Giebeln, wich steinernen Wasserspeiern aus, die mit blinden Augen in die aufziehende Dämmerung blickten, und sprang über den Spalt zwischen zwei Häusern, der sich vor ihm auftat. Leise wie ein Fuchs auf der Jagd landete er auf einem Flachdach und atmete tief durch. Das Haus war so hoch, dass Sam die wenigen Geräusche, die die Straßen in der frühen Stunde erfüllten, kaum hören konnte. Auf den Dächern war es manchmal so still, dass er glaubte, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, wenn er einen Auftrag erfüllte. Dein letzter Auftrag, Sam, machte er sich klar.

Ein Knurren ließ ihn herumfahren. Der magere Hund, der aus den Schatten auf ihn zu schlich, erregte mehr Mitleid als Furcht. Rasch griff Sam in eine Tasche und holte zwei kleine Knochen hervor, an denen noch genug Fleischreste klebten, um den Wachhund für einige Minuten zu seinem Verbündeten zu machen. Hunde waren weit einfacher zu lenken als Katzen.

Sam sah einen Moment lang zu, wie der Hund gierig an den Knochen nagte, dann wandte er sich ab, trat an den Rand des Flachdachs und sah hinaus auf Mythia, das Herz des größten Stadtstaats der Welt. Der Morgen kündigte sich an und mischte Grau in das Schwarz der Nacht. Zahllose Straßen liefen unter Sam entlang, einige erleuchtet von Laternen, die von den Lichtmeistern fortwährend mit Kienspänen oder Öl gefüttert wurden. Andere erfüllt von der Dunkelheit, die noch zwischen den Gebäuden nistete. Sam war in Mythia geboren und aufgewachsen, doch selbst er kannte nicht jede Straße dieser gigantischen Stadt, die sich von den Bergen und der Wüste jenseits von ihnen im Süden bis hin zum Meer im Westen erstreckte. Sie schien noch immer zu wachsen, obwohl sie schon so viele Jahrhunderte alt war, dass die Geschichten aus ihren Anfangstagen wie Märchen klangen.

Der gewaltige Palast von Mythia, in dem der Weiße König regierte, zeichnete sich wie ein Schatten in der Ferne ab und die ersten Strahlen der Morgensonne spiegelten sich auf seiner Fassade.

Es schien Sam, als würde in diesem Moment nicht nur die Welt die Kleider wechseln. Er tat es ihr gleich. Dein letzter Auftrag, Sam, dachte er noch einmal. Die letzte Nacht als Dieb. Wenn die Sonne ihren Platz am Himmel eingenommen hatte, würde er nicht mehr Sam sein. Der neue Tag würde ihm ein neues Leben und einen neuen Namen bringen. Sam strich noch einmal über sein Gewand. Doch diesmal tasteten die Finger nicht nach der Beute, sondern nach einem Stück Papier, das für Sam wertvoller war als das Krönungsei.

Den Namen, der darauf zusammen mit einer Empfehlung stand, hatte er, wie so vieles in den fünfundzwanzig Jahren seines bisherigen Lebens, gestohlen. Dem Herrn des Leibwächters, zu dem der Name eigentlich gehörte, hatte Sam vergangenes Jahr ein vierhundert Jahre altes Gemälde geklaut. Der arme Mann, den es zeigte, lag in einer einfachen Kammer umgeben von Büchern auf seinem Bett und versuchte Worte auf Papier zu bannen. Ein Büchernarr. Damals hatte Sam dem Kaufmann nicht nur das Bild, sondern auch gleich einen seiner Siegelstempel entwendet. Er hatte nicht sofort gewusst, wozu er ihn einmal gebrauchen konnte, doch hilfreich waren die Stempel bei vielen Gelegenheiten. Vor allem bei dieser. Der Stempel machte die gelogenen Worte, die auf dem Papier standen, zur Wahrheit. Worte, die für Sam, der weder lesen noch schreiben konnte, ein Geheimnis waren. Er hatte den Text des Dokuments einer der Schreiberinnen im Mercat de la Mythia, dem größten Handelsplatz der Stadt, diktiert. Die Schreiberin, die, was das Alter anbelangte, Sams Großmutter hätte sein können, hatte sich die Gefälligkeit mit einem leidenschaftlichen Kuss auf die spröden Lippen entlohnen lassen. Sam hätte den Preis lieber in Silber entrichtet. Noch jetzt schüttelte er sich, wenn er an den Moment zurückdachte. Aber es war ein geringer Preis für ein neues Leben, dachte er bei sich.

»Du keuchst wie ein alter Mann und humpelst auch genauso über die Dächer.«

Sam musste sich nicht umwenden, um zu sehen, von wem die Worte stammten. Er hätte die Stimme unter Hunderten herausgehört. Sein Cousin Majid glitt so lautlos neben ihn, wie es nur ein Dieb konnte.

»Und wie du aussiehst! Was hat dich angefallen? Ein Wachhund? Oder die Tochter des Juweliers?« Majid grinste ihn an.

»Sein Baum«, erwiderte Sam trocken.

Majid und Sam gehörten beide zur selben Diebesorganisation. Sam hatte sich auf dem Dach dieses Hauses mit ihm verabredet, um ihm seine Beute zu übergeben. Denn heute Nacht würde er nicht in das Haus zurückkehren, in dem er aufgewachsen war. Dort wartete nur die Erinnerung an jemanden, den er verloren hatte. Erinnerungen, die nach Tod und Verlust rochen. Sam fühlte den Schmerz, den diese Gedanken in sein wild schlagendes Herz pumpten wie ein Gift. Nein, seine Zeit als Dieb war vorüber. Er musste alles hinter sich lassen.

Einen Moment lang blickten sie stumm auf das Geflecht der Straßen, die sich unter ihnen entlangwanden. Dann zog Sam das Ei hervor und reichte es Majid.

»Oh, das ist ja wirklich so sensationell scheußlich, wie man sich erzählt«, bemerkte Sams Cousin leichthin und ließ es unter seinem Gewand verschwinden. Die kleine Tasche aber, die Sam ihm als Nächstes reichte, zauberte nachdenkliche Falten auf seine Stirn. »Das war also wirklich deine Abschiedsvorstellung? Willst du tatsächlich nie wieder das Fieber der Jagd fühlen, Sam?«, fragte Majid, als er Sams Einbruchswerkzeug entgegennahm.

Einen Universalschlüssel für die meisten Schlösser und einen kunstvoll geschliffenen Dietrich für die wenigen, die dem Schlüssel trotzen. Eine Lupe, eine winzige Säge und einen kleinen Hammer für die seltensten Härtefälle, die nach Gewalt statt nach Geschicklichkeit verlangten. Majid hielt die Tasche einen Moment lang in der Hand, als wollte er Sam die Gelegenheit geben, es sich noch einmal zu überlegen. Doch dann steckte er sie seufzend ein. Er griff in eine Falte seines Gewands und gab Sam einen Beutel. Seinen Lohn. Für das Ei hatte der Sammler, der ihnen den Auftrag erteilt hatte, bereits bezahlt. Sam warf einen kurzen Blick in den Beutel und strich mit den Fingern über die Silberstücke darin. Dann sah er seinem Cousin in die Augen. Kein anderer wusste von seinem Plan, sein altes Leben hinter sich zu lassen. Und kein anderer durfte ihn Sam nennen.

Majid strich sich das dunkle Haar aus der Stirn, das ebenso schwarz war wie das von Sam. Es war nicht lange her, da hatte Sam es genossen, mit ihm nach einem erfolgreichen Beutezug den Morgen anbrechen zu sehen und den Duft des ersten Brotes in der Luft zu kosten. Doch in jenen Tagen waren sie nicht zu zweit, sondern zu dritt gewesen. Sam ertappte sich dabei, dass er sich umwandte, in der törichten Hoffnung, aus den Schatten würde sich derjenige lösen, der zwischen ihnen fehlte. »Dies ist meine letzte Nacht«, sagte Sam. »Und ich werde nichts vermissen.«

»Ich glaube nicht, dass du die Jagd so einfach hinter dir lassen kannst. Ich kenne dich besser als du selbst. Aber wenn du meinst! Doch was wirst du jetzt tun, Samir?« Wie immer, wenn Majid seinen vollen Namen aussprach, klang es wie ein Tadel.

»Ich wechsele die Kleider«, gab Sam zurück. »Das muss dir als Antwort genügen.«

»Du wechselst die Kleider? Du sprichst wie eine verdammte Wahrsagerin. Mehr verrätst du nicht? Du willst also wirklich nicht sagen, was du vorhast? Wo du hinwillst? Bleibst du wenigstens in Mythia?«

Sam wandte den Kopf ab und versuchte angestrengt, nicht zum Palast zu blicken. »Wir werden uns wiedersehen, wenn es an der Zeit ist.«

»Oh, wie geheimnisvoll«, erwiderte Majid mit einem spöttischen Lächeln. »Du kannst vor vielem davonlaufen. Vor Wächtern, bestohlenen Händlern oder betrogenen Ehemännern.« Majid zwinkerte Sam zu.

Sam wusste, worauf Majid anspielte. Vor einem Monat wäre er beinahe erwischt worden, als er einem Goldschmied nicht nur eine Kette mit einem rubinverzierten Anhänger stahl, sondern auch seiner Frau einen heimlichen Besuch abstattete. Die Erinnerung an Sams unbekleidete und überstürzte Flucht, die mit einem Sprung vom Dach auf einen vorbeifahrenden Wagen geendet hatte, ließ sie beide lächeln. Vor allem, weil dessen Ladung aus dampfendem Mist bestanden hatte.

Dann aber wurde Majids Miene ernst. »Das alles kannst du hinter dir lassen. Doch du kannst nicht vor dir selbst davonlaufen.«

Oh doch, dachte Sam. Das konnte er. Und er musste gar nicht weit laufen.

Er nahm Majid zum Abschied in den Arm. Wortlos lösten sie sich voneinander, und Sam wartete, bis sein Cousin erneut mit den Schatten verschmolzen war. Dann stieg er vom Dach des Hauses. Er musste zunächst Ersatz für seine zerrissenen Sachen besorgen.

Auf der Suche nach etwas zum Anziehen kaufte er einem alten Straßenhändler ein paar Bananen ab. Er hätte sie ihm ohne Mühe stehlen können, doch er zählte dem Mann eine Münze in die faltige Hand, die mehr wert war, als all dessen Früchte zusammen. Sam stahl immer nur von denen, die mehr als er besaßen. So wie das Geld für sein Frühstück, das er auf dem Weg einem Mann aus der Tasche gezogen hatte, der zusammen mit seinem Diener so herrisch über das Pflaster stolziert war, als gehörte die Stadt ihm allein. In einer Nebenstraße fand Sam den Hintereingang einer Wäscherei, der offen stand, und als er gut angezogen wieder hinaustrat, hatte er seine Worte wahr gemacht und die Kleider tatsächlich gewechselt.

Er ging eine Weile umher, während um ihn herum Mythia zum Leben erwachte. Der erste Tag in seinem neuen Leben. Sam hatte einen genauen Plan, was nun geschehen sollte. Und wen er dazu treffen musste. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Sam eine der zahlreichen Tabaginen im Zentrum Mythias betrat. Viele der Offiziere aus der Palastgarde kamen hierher, um ihren Sold gegen den dichten Rauch einer Tonpfeife zu tauschen. Sam hatte bereits vor Tagen den Mann ausfindig gemacht, der für die Palastwache zuständig war. Nun sah er ihn an einem der kleinen Tische, in der Hand eine der feinverzierten Tonpfeifen, aus der der Qualm grau und dicht in die Luft stieg.

»Kann ich dir helfen?«, fragte der Mann wenig freundlich, als Sam sich vor ihm aufstellte. Der Offizier war sicher zwanzig Jahre älter als Sam. Graue Strähnen mischten sich wie Silberfäden in das dunkle Haar.

Sam hatte die Worte in Gedanken immer und immer wieder geübt, doch nun klang seine Stimme seltsam fremd, als er sie wirklich aussprach. »Mein Name ist Hârun ar-Raschīd«, log Sam. »Ich möchte mich der Palastgarde anschließen.« Er hielt ihm das Papier hin, das ihn den Kuss gekostet hatte, der ihm noch immer auf den Lippen brannte.

Soweit Sam wusste, befand sich der echte Hârun ar-Raschīd mit seinem Herrn derzeit auf einem Handelsschiff, das noch einige Wochen lang über den Ozean fahren würde, ehe es sein Ziel auf der anderen Seite der Welt erreichte. Keine Gefahr also, dass jemand Rückfragen zu der gefälschten Empfehlung des Kaufmanns stellte, der darin bat, seinen treuen Diener in der Palastwache einzusetzen.

Der Offizier nahm das Schreiben wortlos entgegen. Sein Mund formte stumm die Worte, die die Alte darauf geschrieben hatte.

»Du willst in die Palastwache?«, fragte der Offizier mit einem amüsierten Ton in der Stimme. »Zur Garde des Weißen Königs?«

Sam nickte. »Ja. Ich möchte dem Weißen König dienen.« Die Worte kamen ihm wie von selbst über die Lippen. Und sie waren nicht einmal gelogen. Sam wollte tatsächlich das Leben als Dieb hinter sich lassen. Den Schmerz, den es ihm in den letzten Wochen gebracht hatte, aus seinem Herzen tilgen. Ein neues Leben beginnen, das seinem alten so fremd war wie nur irgend möglich. Und was konnte sich mehr von dem Leben eines Diebes unterscheiden als das eines Elitewächters?

»Dafür braucht es Jahre, Junge.« Der Offizier nahm einen Zug aus seiner Pfeife und stieß dichten Rauch aus. »Hier steht, du hättest deinem Herrn das Leben gerettet.«

»Drei Mal sogar«, meinte Sam. Er konnte die Worte auswendig, die er der Alten diktiert hatte.

Der Offizier nickte. »Ja, so steht es hier. Nun, mutig bist du, wie es scheint. Aber dennoch reicht das nicht, dass dir direkt die Ehre zuteilwird, mit deinem Leib den des Weißen Königs zu beschützen.« Das Gesicht des Offiziers verschwand für einen Moment hinter dem Rauch, den er in die Luft stieß. »Aber es gibt einen Ort, an dem ich dich gebrauchen kann. An dem du dich bewähren kannst.« Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen des Offiziers.

Kein Posten in der Leibgarde. Sam schluckte die Enttäuschung wie etwas Bitteres hinunter. Was hast du erwartet, Sam?, fragte er sich still. Dass sie dich direkt zu den Besten stecken? Nun, gut genug wäre er, da war er sich sicher. Seine eher bescheidenen Künste mit dem Schwert machte er durch seine Geschicklichkeit und seine Schlauheit allemal wieder wett. »Ich würde überall in Mythia dienen«, sagte er mit so viel Nachdruck in der Stimme, dass er sich fast selbst überzeugt hätte.

»In Mythia sagst du?« Der Offizier nahm einen weiteren Zug aus der Pfeife. »Nein, ich schicke dich woanders hin.« Er lachte, als er Sams verwirrten Blick bemerkte. »Tatsächlich kann ich gute Leute brauchen. Aber ich suche niemanden für einen Posten in der Stadt. Sondern für die Straßen unter ihr. Wenn du mir beweist, dass du gut genug für meine Wache bist, schicke ich dich nach Paramythia, Junge. Mitten hinein in die Bücherstadt.«

2. PARAMYTHIA

Ein unheimliches Wispern hallte Sam einige Tage später entgegen. Leise Stimmen, die durcheinander raunten, als wollten sie ihn all die Worte hören lassen, die er an seinem Ziel finden würde. Die Luft war von ihnen ebenso erfüllt wie vom fernen Rascheln der Buchseiten. Der Duft von altem Papier stieg ihm in die Nase, und fast glaubte er die Geschichten, von denen sie erzählten, riechen zu können. Wie eine Decke legte sich dieses Aroma um ihn, als er die Stufen zum Bibliothekslabyrinth hinabstieg.

Paramythia, die Stadt der Bücher unter der Stadt der Menschen. Selbst Sam hatte von dem unterirdischen Labyrinth bislang nur gehört. Noch nie hatte er einen Fuß in die Gänge unter der Stadt gesetzt. Wozu auch sollte ein Dieb, der nie den Auftrag erhalten hatte, eines der Bücher zu stehlen, die der Weiße König in den endlosen Katakomben hortete, diesen Ort aufsuchen? Es hieß, die Gänge, die sich unter den Straßen und Plätzen der großen Stadt Mythia entlangzogen, seien voll von uralten Schriften. Werke aus allen Teilen der Welt, gesammelt im Verlauf zahlloser Generationen. Wissenschaftliche Diskurse, Mythen, Erzählungen. Fein säuberlich nebeneinander aufgestellt in riesigen Regalen, die das ganze gigantische Geflecht aus Höhlen und Gängen füllten, das sich unter Mythias Grundmauern entlangzog. Zwischen den Regalen verliefen schmale Gänge und breite Tunnel. Manche Menschen, die einen Blick auf Paramythia hatten werfen können, erzählten, auf jeden der beinahe eine Million Einwohner von Mythia kämen fünf Bücher. Andere behaupteten, es seien zehn. Mindestens. Einig waren sie sich alle in einem: Paramythia war eine Stadt der Bücher. Die Regalstraßen breiteten sich unter denen der Menschen wie ein geheimes Wegenetz aus, öffneten sich zu schattengetränkten Plätzen, um anschließend weiterzuziehen und sich im Schoß der Erde zu verlieren.

Sam folgte dem tattrigen Bibliothekar, in dessen Hand die Fackel so sehr zitterte, dass man glauben konnte, ihr Schein würde sich vor der Dunkelheit fürchten, die in dem düsteren Gang vor ihnen nistete. Die Stufen hinab waren alt und rau. Ganz anders als der Rest des Palastes, in dem die Treppe ihren Anfang nahm. Dort oben, zwischen den glänzenden Marmorsäulen, die die mit zahllosen Bildern verzierte Decke der Eingangshalle trugen, und den breiten samtbeschlagenen Stufen, die in die oberen Stockwerke führten und problemlos zehn Männern nebeneinander Platz boten, fiel die schlichte Treppe nach Paramythia hinunter kaum auf.

»Wie war noch dein Name?«, fragte der Alte, dessen Robe ebenso grau war wie sein spärliches Haar. Nicht nur seine Hand zitterte. Die Worte, die ihm über die Lippen strichen, taten es auch. Und bei jedem einzelnen schnaufte er, als müsste er mit Sam um die Luft zum Atmen ringen. Kein Wunder, die Treppe, der sie folgten, war lang.

»Hârun ar-Raschīd«, log Sam. Der Name fühlte sich noch immer fremd an wie ein gestohlenes Kleidungsstück.

»Hârun«, wiederholte der Alte bedächtig, als müsste er den Namen erst kosten. Er verzog das runde Gesicht, in dem zwei große Augen und eine kleine spitze Nase steckten. Sam hatte das Gefühl, er würde ihn eine in die Jahre gekommene Eule anblicken. »Du kommst von der anderen Seite?«

Die andere Seite. Sam presste die Lippen aufeinander, um die Erwiderung zurückzuhalten, die ihm auf der Zunge lag. Das mächtige Kataluna-Gebirge teilte die Welt für die Menschen hier in die richtige und die andere Seite. An einigen Stellen waren die Bergpässe so schmal, dass Mythias Handwerker aus ihnen kurzerhand eine Festung gemacht hatten. Schießscharten zogen sich wie ein tödliches Muster durch den Fels, Fenster blickten hinaus in die Wüste, die sich auf der anderen Seite an das Gebirge schmiegte. Der Weg von dort herüber zur richtigen Seite, wie man in Mythia sagte, wurde durch gewaltige Tore versperrt. Nur Händler und Reisende mit den richtigen Papieren durften passieren. Aber auch wer hindurchgelassen wurde, blieb in Mythia immer einer von der anderen Seite. Sogar wenn er wie Sam in der Stadt geboren worden war. Denn Sams Mutter, seine einzige Verbindung in die Welt der Beduinen und Karawanen, war als Kind mit Handelsreisenden nach Mythia gekommen. Und ganz gleich, wie gut sie sich hier eingelebt hatte, ihre braune Haut und ihre dunklen Locken hatten all die Zeit über an ihre Heimat erinnert. Beides hatte Sam von ihr geerbt, wenngleich sich ihr Braun mit der hellen Farbe seines Vaters gemischt hatte, der rot wie ein gekochter Krebs wurde, sobald er sich Mythias Sonne zu lange aussetzte. Und obwohl der Ton von Sams Haut verhinderte, dass er es auf ehrliche Weise in Mythia zu etwas bringen konnte, war er ebenso stolz darauf wie auf den Wüstennamen, den ihm seine Mutter gegeben hatte. Samir. Er nickte dem Bibliothekar dennoch zu. Sollte der doch denken, was er wollte.

»Ihr seid gute Soldaten«, meinte der Alte.

Sam runzelte zweifelnd die Stirn. Als ob der Alte je einen der berühmten Schwertkämpfer aus Kaffa, einen der kunstfertigen Bogenschützen aus Punt oder gar einen Stockkämpfer aus Sumuru mit eigenen Augen gesehen hätte. Doch die Kunstfertigkeit der Kämpfer jenseits der Berge war in Mythia Legende. Kein Wunder: Wer von klein auf gegen Hitze und Durst kämpfen musste, war zäh.

»Du kennst deine Aufgabe?«, fragte der Bibliothekar, während endlich das Ende der langen Treppe in Sicht kam.

»Ich bewache Bücher«, erwiderte Sam ein wenig gleichgültig. Er hatte sich am Tag nach dem Gespräch mit dem Offizier an einem der Seitentore des Palastes gemeldet. Der Rauch der Tonpfeife hatte dem anderen Mann noch immer wie klebriger Pollen auf der Haut gehaftet. Sam hatte dem Offizier sein Können mit dem Schwert demonstrieren müssen, und das, was er in all den Jahren als Dieb gelernt hatte, war genug gewesen, um tatsächlich den Platz in der Wache der Bücherstadt zu erhalten. Aber eben auch nicht mehr.

Nacht für Nacht auf stumme Bücher aufzupassen klang nach Stunden voll tödlicher Langeweile. Aber es war ein Anfang. Und wer weiß? Vielleicht führte Sams Weg irgendwann aus der Bücherstadt empor in den Palast, und er würde statt alter Bücher schließlich doch noch den Weißen König bewachen. Er hatte Zeit.

Vor ihnen öffnete sich ein riesiger Raum. Sam trat an dem Bibliothekar vorbei. Und war sprachlos.

Er sah in eine riesige Halle, deren Gewölbedecke von so dicken Säulen getragen wurde, dass fünf Männer sie nicht gemeinsam hätten umfassen können. Der Schein der Fackel mischte sich in das warme Licht zahlloser Öllampen, die an den Säulen hingen. Die Halle war mehrere Stockwerke hoch. Mit offenem Mund sah Sam sich um. Und erkannte im ersten Moment nichts als Bücher. Nie hatte er in seinem Leben mehr davon gesehen. Die Wände der Halle wurden von Regalen gesäumt, die sich so hoch hinaufstreckten, als würden sie am Stein entlangwachsen wie Ranken. Einige Meter über Sams Kopf wurden sie von einem hölzernen Weg unterbrochen, der über Messingleitern erreichbar war. Von diesem ersten Stock aus führten weitere Leitern zu noch höher liegenden Wegen. Der oberste musste gut fünfzig Meter über dem Boden entlanglaufen. Sam wurde schwindlig, als er versuchte die Zahl der Bücher abzuschätzen, die in dieser Halle untergebracht sein mussten.

Der Bücherduft, der Sam auf der Treppe in die Nase gestiegen war, lag hier schwer wie Weihrauch in der Luft.

Zwischen den Säulen befanden sich einige steinerne Lesepulte. An dem, das der Treppe am nächsten war, standen mehrere Bibliothekare, ebenso wie der Alte vor ihm in schmutziges Grau gehüllt. Sie flüsterten miteinander, und ihre leisen Stimmen krochen über die Wände.

»Sie hat diese Wirkung auf alle, die sie das erste Mal sehen.«

Sam wandte dem Bibliothekar verwirrt den Kopf zu.

»Die Große Galerie von Paramythia.« Jacobus, wie die Eule hieß, lächelte zufrieden, dass der Anblick der Bücher Sam die Gleichgültigkeit aus dem Gesicht gewaschen hatte. »Sie ist ein Wunder. Der wahre Palast, wenn man mich fragen würde. Ein Tempel des Wissens.«

»Ich hätte nicht gedacht, dass es in Paramythia so viele Bücher gibt«, sagte Sam beeindruckt und ließ seinen Blick wieder über die Regale schweifen. Auch auf den einzelnen Stockwerken erkannte er nun grau gekleidete Gestalten. Einige balancierten hohe Bücherstapel, andere schienen in die Suche nach einem bestimmten Exemplar vertieft. Fast glaubte Sam zu spüren, wie die Geschichten ihm etwas zuraunten. Lies mich. Aber das konnte er ja nicht.

Jacobus’ spöttisches Lachen unterbrach seine Gedanken. »Wenn dich das hier beeindruckt, wird dir der Atem stocken, wenn du erst Paramythia in seiner ganzen Größe erfasst. Aber dazu braucht es Jahre. Nur wenige haben je alle Bücherstraßen, alle Wege und alle Plätze zu Gesicht bekommen.«

Jacobus führte Sam zwischen den Säulen entlang in den hinteren Teil der Großen Galerie. An einem der Lesepulte stand eine Gruppe schwarz gekleideter Männer in einen Disput vertieft. Ihre Stimmen wurden immer lauter, bis sie Jacobus erblickten und schlagartig verstummten.

»Manche der Gelehrten, die diesen Ort aufsuchen, vergessen, dass Bücher in absoluter Stille studiert werden sollten«, sagte er missbilligend und führte Sam an das Ende der Großen Galerie. In die hohe Wand, vor der sie zu stehen kamen, waren acht kunstvolle Bögen eingelassen, und von jedem führte ein Tunnel tiefer unter die Erde. »Hier nehmen die Bücherstraßen ihren Anfang«, erklärte der Alte. »Acht Straßen für die acht Viertel der Bücherstadt. Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Historie, Musik, Sprachen, Geographie sowie die Rechtswissenschaften. In der Großen Galerie hingegen finden sich die Bücher, die zu keinem der Viertel gehören. Aber ganz egal, wo sie stehen, sie alle müssen streng bewacht werden.«

»Eure Bücher sind bei mir in Sicherheit«, sagte Sam. Aus einer der Bücherstraßen kam eine Gruppe verschleierter Dienerinnen heraus und ging so lautlos an ihnen vorbei, als würden ihre Füße kein Gewicht tragen. In den Händen trugen sie leere Schüsseln und Tabletts voller Teller. Draußen ging gerade die Sonne unter. Vermutlich hatten sie den Wächtern und Bibliothekaren das Nachtmahl gebracht.

Der Alte sah ihn tadelnd an, ohne auf die Dienerinnen zu achten, die ihm ausweichen mussten. »Du darfst diese Aufgabe nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hier befindet sich die größte und wichtigste Sammlung von Wissen, die es auf der Welt gibt. Bücher aus allen Himmelsrichtungen. Schriften, die als Geschenke aus Ländern jenseits des Ozeans kommen, deren Namen du vermutlich noch nie gehört hast. Und auch solche, die aus Zeiten stammen, die so weit zurückliegen, dass es an ein Wunder grenzt, dass das Papier noch nicht von den Jahren gefressen wurde. Schätze, wertvoller als alles Gold, das du dort oben«, der Alte deutete zitternd hinauf zur mosaikverzierten Decke, »finden kannst.«

Sam nickte stumm, auch wenn er eine ganz andere Meinung über den Wert von Gold und den von Papier hatte. Er konnte sich verschwommen daran erinnern, wie ihm seine Mutter früher aus Büchern vorgelesen hatte. Damals, vor ihrem Tod, waren die Worte Schätze für ihn gewesen. Doch noch vor seinem fünften Geburtstag war sie für immer verstummt, und sein Vater hatte Sam andere Reichtümer gezeigt. Solche, die seine Finger ertasten konnten. Und die er den Unachtsamen mit Geschick aus ihren Taschen und Häusern stehlen konnte. Worte spielten in Sams Welt keine besondere Rolle mehr, auch wenn er sich manchmal gern an die Momente zurückerinnerte, in denen ihn die Stimme seiner Mutter fort in andere Gegenden und Zeiten geführt hatte.

»Ist die Treppe der einzige Weg hinab?« Sam betrachtete die Halle noch immer mit den Augen eines Diebes. Wo ging es hinein, wo standen die Wachen, und wie kam man wieder heraus?

Jacobus hob eine Augenbraue. »Die Bücherstadt, mein Junge, ist beinahe so groß wie Mythia selbst. Natürlich gibt es weitere Eingänge. Doch die meisten wurden im Lauf der Jahre zugemauert. Die Bibliothekare hüten die Lage der Pforten nach Paramythia, die noch offen stehen.« Der Alte ging auf eine der acht breiten Bücherstraßen zu. Bevor sie einen Fuß auf die blassblauen Fliesen setzten, deutete er nach oben auf den Spruch, der in den steinernen Bogen über ihnen gemeißelt war. »Es ist nicht ihr Ziel, der unendlichen Weisheit eine Tür zu öffnen, sondern eine Grenze zu setzen dem unendlichen Irrtum«, las er vor. »Dieser Teil der Bücherstadt gilt der Wissenschaft. Wie überall in Paramythia haben auch dort nur ausgewählte Gelehrte oder Gäste des Weißen Königs Zugang. Und natürlich wir Bibliothekare.«

Die Dienerinnen und Wächter unterschlägst du, alte Eule, dachte Sam bei sich.

Während der Bibliothekar darüber dozierte, welche Weisheiten sich zwischen den zahllosen Buchdeckeln befanden, folgten sie dem Weg aus Fliesen, der von deckenhohen Regalen begrenzt wurde. In ihnen lagen Bücher über Bücher über Bücher. Schmale Nebenwege führten durch mannshohe Öffnungen zwischen den Regalen hindurch, doch die Hauptstraße war breit genug für wenigstens zehn Männer, und die Regale an den Seiten erhoben sich wie die Flanken gewaltiger Berge. Sam fragte sich, wer nur für Bücher einen so breiten Weg in die Erde gegraben hatte. Säulen, fein verziert mit Mustern, wie Sam sie noch nie gesehen hatte, wuchsen baumgleich zwischen den Regalen empor. Sie endeten jedoch nicht an der Decke, sondern krochen an ihr entlang wie die Bögen von Rippen, um an der anderen Seite wieder dem Boden entgegenzustreben. Paramythia. Bücherstadt. Sam hatte das Gefühl, er würde sich im Inneren eines gewaltigen Tieres mit einem Herz aus Papier befinden. Ein Herz, dessen Schlag aus dem Rascheln von Buchseiten bestand.

Mit einem Ohr lauschte er den monotonen Ausführungen des Bibliothekars, während sie der scheinbar endlosen Straße folgten. »… ist die Abteilung der Elemente. Jedes von ihnen wird bis in das letzte Detail in den Werken besprochen, die du hier findest. Sauerstoff, Schwefel, Gold, Silber. Aber auch die Elemente, die nicht sichtbar sind. Sophium, der Stoff der Weisheit. Oder Vivum, der Lebensfunke. Manche dieser Werke sind mehr wert als ganze Länder.« Der Alte holte nur kurz Luft, dann fuhr er unverdrossen fort.

Mehr wert als ganze Länder. Sam erwiderte nichts. Wenn dem so wäre, dann hätte ihn sein Weg, auf dem er so oft dafür gesorgt hatte, dass Reichtümer den Besitzer wechselten, längst einmal hierhergeführt. Sam wusste nicht, wie weit sie bereits gegangen waren, als der Alte schließlich, ohne auch nur einen Moment in seiner Beschreibung innezuhalten, in einen Weg abbog, der sich rechts von ihnen zwischen zwei riesigen Bücherregalen öffnete.

Dieser Gang war weit schlichter als der vorherige, die Steinwände glatt und schmucklos. Die Fackel des Bibliothekars warf ein schwaches Licht auf die Mauern und ließ Schatten auf ihnen tanzen. An den Tunnel schloss sich eine von Säulen gesäumte Halle an. Sie war so hoch, dass Sam nur undeutlich die Bilder erkennen konnte, die über ihm an die Decke gemalt waren. Er erkannte Figuren, die aus einem Märchenbuch zu stammen schienen. Menschen, aus deren Rücken Flügel wuchsen.

»Ist dies auch eine Galerie?«, fragte er.

»Dies hier? Nein. Nur ein Platz, an dem Diener und Wächter zusammenkommen.« Jacobus’ Stimme verriet, dass er es als Verschwendung ansah, den Raum für etwas anderes zu nutzen als für das Unterbringen von Büchern.

In der Mitte der Halle standen massive Tische aus dunklem Holz, an denen vor nicht allzu langer Zeit mehrere Menschen gegessen haben mussten. Einige der verschleierten Dienerinnen waren noch damit beschäftigt, die zahlreichen Teller und Schüsseln einzusammeln. Sam blickte wieder empor zur Decke, bis ihm bewusst wurde, dass sich etwas verändert hatte. Der Redeschwall neben ihm war abgeebbt.

Irritiert sah er den Alten an, der nun stehen geblieben war und Sam mit hochgezogener Augenbraue musterte. »Du scheinst dich mehr für Bilder als für Worte zu interessieren, wie? Sie entsprechen wohl mehr deinen … Interessen.« Der Tonfall des Alten machte deutlich, was er von solch einer Einstellung hielt.

Sam lag die Erwiderung bereits auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter. »Die Malereien sind wunderschön«, gab er so gelassen wie möglich zurück. »So wie diese ganze Bibliothek. Es muss viel Zeit gebraucht haben, all dies hier entstehen zu lassen.«

Der Alte verzog spöttisch die Mundwinkel. »Steine, Farbe, nichts weiter. Selbst wenn die Bücher in einer schmucklosen Höhle aufbewahrt würden, wären sie ehrfurchtgebietend. Nun, dieser Ort vermag zumindest der Schönheit der Bücher einen angemessenen Rahmen zu bieten. Du wirst sehen, dass es noch mehr zu entdecken gibt als die wenigen Regale, die du bislang gesehen hast. Viel mehr.« Damit setzte sich der Bibliothekar wieder in Bewegung.

Ehe der Alte erneut seine monotonen Ausführungen über die Elemente und deren Beschreibung in den alten Wälzern herunterleiern konnte, erhob Sam rasch die Stimme. »Was sind das dort oben für Wesen?«, fragte er und deutete zur Decke. »Sollen das Asfura, die Flügelmenschen aus den Märchen, sein?« Das Bild erinnerte ihn an die Geschichte, die ihm seine Mutter immer und immer wieder aus einem abgegriffenen Buch vorgelesen hatte. Der geflügelte König, dessen Reich der Himmel war. Sam hatte seinem Vater nie verziehen, dass dieser das Buch fortgeworfen hatte, nachdem seine Mutter gestorben war. Nur eines von vielen Dingen, die du ihm vorhältst, Sam. Ob es hier wohl ein Exemplar davon gab?

»Flügelmenschen?« Der Alte kleidete das Wort in so unverhohlenen Spott, dass Sam seine Frage bereute. »Wer weiß schon, was Maler antreibt, auf meterhohe Gerüste zu klettern und ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um Fantasiebilder an Decken zu pinseln. Sie sollten lieber Buchseiten mit Illustrationen verzieren.« Der Bibliothekar überquerte mit erstaunlich schnellem Schritt den Platz. Offenbar sah er keinen Sinn darin, an einem Ort, an dem es keine Bücher gab, auch nur einen Moment länger zu verweilen als nötig. Und tatsächlich verfiel er wieder in einen langsamen Trott, sobald sie den Platz passiert und hinter einem Durchgang in der gegenüberliegenden Wand einen neuen Raum voller Bücher erreicht hatten.

Dieses Gewölbe unterschied sich grundlegend von dem Teil Paramythias, den sie bereits gesehen hatten. Sam fühlte sich unwillkürlich an ein Hospital erinnert. Nicht, dass er je die Hilfe eines Arztes hatte in Anspruch nehmen müssen. Aber er war einmal in ein Hospital eingebrochen. Ein Kunde hatte Drachenblut haben wollen, das Harz des gleichnamigen Baumes, der jenseits der Berge in der Wüste wuchs. Drachenblut war ein ebenso seltenes wie kostbares Elixier, von dem es hieß, es heile nicht nur hartnäckige Warzen an delikaten Stellen, sondern verlängere, in Maßen eingenommen, auch das Leben. Sam wusste nicht, ob etwas an der Geschichte dran war, doch für das Drachenblut war er so großzügig entlohnt worden, dass er einen Monat lang keine Aufträge hatte annehmen müssen.

In diesem Hospital wurden jedoch keine menschlichen Patienten behandelt. Auf den Tischen lagen stattdessen Bücher. Wälzer, deren Seiten sich aus dem Einband lösten. Fleckige Seiten, auf denen sich Schimmel ausbreitete, und solche, an denen sich offenbar Würmer zu schaffen gemacht hatten. Ein bärtiger Mann, das Gesicht von so vielen Falten durchzogen, als wüchse ihm ein vertrockneter Apfel auf dem Hals, war gerade damit beschäftigt, vorsichtig einige dunkel gefleckte Seiten nebeneinander auf einem Tisch auszubreiten. Auf der Platte lagen Werkzeuge, die Sam so noch nie gesehen hatte: Pinsel, langgezogene Knochenstücke und mehrere feine Messer, die ungeachtet ihrer geringen Größe sicher einigen Schaden anrichten konnten, wenn sie statt Papier Haut zerschnitten.

Beim Anblick des Buchpatienten offenbarte das Eulengesicht des Bibliothekars einen Ausdruck so grenzenlosen Mitleids, dass Sam dem Drang widerstehen musste, ihm tröstend auf die Schulter zu klopfen. »Die Werkstatt«, sagte der Alte mit gepresster Stimme. Er blieb an dem Tisch stehen, auf den der Mann die Seiten legte, und strich mit einer Hand sanft über eine von ihnen. Neben verschnörkelten Buchstaben, die sich auf dem Papier drängelten, erkannte Sam auch das verblasste Bild eines dunkelhäutigen Mannes. »Völker der Wüste«, murmelte der Alte. »Gerade einmal einhundert Jahre alt und schon gebeugt vom Alter. Der Besitzer hat offenbar nicht darauf geachtet, wo er dieses Meisterwerk aufbewahrt hat. Als es hier ankam, trug es bereits den Krankheitskeim in sich. Doch die Heilkunst unserer Restauratoren ist unübertroffen.« Trotzige Hoffnung mischte sich in sein Jammern.

Der Bärtige hielt inne und hob den Kopf. Er schien erst jetzt wirklich wahrzunehmen, dass er nicht mehr allein war. »Jacobus, Ihr braucht Euch keine Sorgen machen«, sagte er mit so leiser Stimme, als müsste er Rücksicht auf seinen Patienten nehmen. »Schon bald werdet Ihr die Völker der Wüste wieder an ihren angestammten Platz stellen können.« Sam schien der Bücherdoktor nicht für wichtig genug zu erachten, um das Wort an ihn zu richten.

Der alte Bibliothekar nickte langsam. »Hoffentlich.« Er seufzte und bedeutete Sam, ihm zu folgen. »Komm, unser Weg führt uns noch ein wenig weiter. Das Tor, das du zu bewachen hast, ist nicht mehr weit entfernt.«

»Das Tor?« Sam runzelte die Stirn. Meinte der Alte einen der Eingänge in die Bibliothek? Aber waren die nicht geheim? Sam war davon ausgegangen, dass er zwischen den Regalen nach dem Rechten sehen sollte. Aufpassen, dass niemand eines der zahllosen Bücher des Weißen Königs heimlich mitnahm. Für Sam keine große Herausforderung. Es würde ihm nicht allzu schwerfallen, einen anderen Dieb zu erkennen.

»Ein Tor zum innersten Teil der Bücherstadt. Zu ihrem Herz«, erklärte Jacobus, während er Sam aus der Werkstatt in eine weitere Halle führte, die einen großen Platz beherbergte. Diese Halle war sogar noch größer als die vorherige und gesäumt von mächtigen Bücherregalen. Nur wenige Lampen hingen an riesigen Säulen, die wie Baumstämme aus dem Boden wuchsen. Trotzig warfen sie ihr Licht den tiefen Schatten entgegen, die sich von den mosaikgeschmückten Wänden her ausbreiteten. Figuren aus Stein, die Menschen nachempfunden waren, denen Flügel aus dem Rücken wuchsen, lugten aus dem Dunkel hervor. Sie ähnelten denen, die Sam zuvor an der Decke gesehen hatte.

Jacobus führte Sam an den Mosaiken und Statuen vorbei, ohne ihnen besondere Beachtung zu schenken. Er deutete auf eine Reihe von Zugängen, die auf den Platz führten. »Es gibt Verbindungswege von allen Vierteln hierher. Jeder Platz vor einem der Tore ist ein solcher Knotenpunkt.« Während er redete, hielt er auf ein geschwungenes Tor zu, das an der gegenüberliegenden Wand lag und so hoch emporreichte, als wäre es für Riesen gebaut. Der Wächter, der davorstand, wie Sam in eine scharlachrote Robe gehüllt, erschien gegen das Tor so winzig, dass Sam ihn beinahe übersehen hätte. Auch wenn Sam mehrere Lampen an den Säulen erkannte, brannten nur die zwei, die in Haltern links und rechts des Tores hingen. Offenbar sollte Paramythia nur am Tag erstrahlen. Die beiden Flügel des Tores waren aus einem Metall gefertigt, das so blau war, als wäre es aus dem Abendhimmel herausgeschnitten worden. In das Metall der Torflügel waren mit feinem Strich ein Paar Schwingen geritzt, die aussahen, als gehörten sie einem Falken. Zu beiden Seiten wurde das Tor von gewaltigen Fassadentürmen eingefasst, die von tiefblauen Ziegeln geschmückt wurden. Die Türme ragten bis fast zur Decke hinauf, und ihre Spitzen waren gezackt, als trügen sie jeder eine Krone. An die Türme schlossen sich links und rechts ebenso hohe Regale an, die wie diejenigen, die Sam in der Großen Galerie gesehen hatte, von Stockwerken unterbrochen waren.

»Es gibt sieben Tore wie dieses«, erklärte der Alte. »Jedes ist genau einhundertundelf Fuß hoch und vierzig Fuß breit. Sie alle führen in das Herz der Bücherstadt. Und vor diesem hier wirst du Wache halten.«

Sam runzelte die Stirn. Wozu sollte er es bewachen? »Was ist hinter dem Tor?«, fragte er.

In den Blick, den Jacobus dem Tor zuwarf, mischte sich für einen Moment Abneigung. »Etwas, das du vermutlich nie zu Gesicht bekommen wirst, denn der Zutritt zum Herz ist nur Wenigen gestattet. Dort findet man die liebsten Bücher unseres Königs. Märchen und Sagen. Bücher, die in keines der acht Viertel passen und auch nicht in die Große Galerie. Sie kommen aus allen Teilen der Welt. Es heißt, keine Erzählung, die je niedergeschrieben wurde, fehlt in der Sammlung. Einige der Bücher sind viele hundert Jahre alt. Doch es sind zuletzt doch nur Märchen. Geschichten ohne Wert, sieht man von der Kunstfertigkeit ab, mit der sie gebunden wurden. Sie …«

Jacobus verstummte, als sich die Flügel des Tores urplötzlich einen Spalt weit öffneten, gerade breit genug für einen Menschen. Der Wächter trat beiseite. Sam aber legte unwillkürlich die Hand auf den Griff des Schwertes, das man ihm zusammen mit der Robe der Scharlachroten gegeben hatte.

Jacobus schüttelte den Kopf. »Lass die Waffe stecken. Es ist die Beraterin des Weißen Königs, Sabah. Jeden Abend betritt sie das Herz Paramythias und sucht sich ein Buch für die Nacht aus.«

Sam starrte auf den Spalt, aus dem jedoch keine Frau, sondern eine große, schwarzgekleidete Gestalt trat. Er kannte diesen Mann, auch wenn er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Assasil, der Herr der Wache. Unter den Dieben Mythias nannte man Assasil nur die Maske. Der goldene Helm, der Kopf und Gesicht des Mannes verbarg, ließ ihn selbst wie eine Gestalt aus einem Märchen erscheinen. Um den Grund, weshalb er den Helm trug, rankten sich unter den Dieben zahllose Gerüchte. Sam vermutete, dass Assasil hinter dem Metall ein entstelltes Gesicht verbarg. Vielleicht die Folge einer schrecklichen Verletzung. Andere glaubten, der Helm verberge nur Leere und unter der schwarzen Robe stecke ein Geist, körperlos wie der Wind.

Und hinter ihm erschien eine Gestalt, die ganz und gar in Weiß gekleidet war. Dies musste Sabah sein. Sie schien über den Boden zu gleiten, und ihre Schritte verursachten nicht das geringste Geräusch. Ihr Gesicht war lang, schmal und zeitlos. Sam vermochte nicht zu sagen, ob Sabah zwanzig oder fünfzig Jahre alt war. Ihre ungeheure Schönheit wurde nicht einmal durch den Ernst gemildert, der ihre Züge hatte erstarren lassen. Sie wirkte so zerbrechlich, dass Sam Anstalten machte, auf sie zuzulaufen, um ihr das schwere Buch abzunehmen, das sie in den feingliedrigen Fingern hielt. Er hatte bereits einen Schritt gemacht, als Assasil ihm warnend den behelmten Kopf zuwandte. Unwillkürlich blieb Sam stehen.

Und Sabah blickte ihn an.

Bernsteinfarbene Augen. Die langen schwarzen Haare flossen ihr wie Wasser über die Schultern und malten Muster auf ihr wolkenweißes Kleid. »Wer ist das?« Ihre Stimme war so dunkel wie die Nacht und gleichsam so unschuldig wie die eines Kindes.

»Der neue Mann für das Marduk-Tor, Herrin.« Jacobus klang heiser vor Aufregung. Offenbar war er es nicht gewohnt, das Wort an Sabah zu richten.

Sie legte den Kopf schräg, und Sam hatte das Gefühl, sie würde ihm bis ins Herz blicken. »Wie heißt du?«, fragte sie.

Unschuldig wie ein Kind? Nein, ihre Stimme klang alt wie die Zeit selbst. »Hârun«, antwortete Sam, und er musste alle Kraft in seine Stimme legen, damit sie nicht zitterte.

Sabah öffnete die Lippen einen Spalt breit, als würde sie den Klang des Namens schmecken. Dann trat sie auf Sam zu. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jacobus der Mund aufklappte.

Sabah blieb kaum einen Schritt vor Sam stehen. »Der Name«, wisperte sie, »er passt nicht zu dir.«

Sam spürte, wie ihm Schweiß auf der Stirn perlte. Wusste sie etwa …?

»Namen passen so oft nicht zu denen, die sie tragen«, fuhr Sabah nachdenklich fort. »Jeder hat eine Bedeutung. Hârun. Der Name bedeutet Überbringer von Nachrichten. Er ist aber auch der, der die Dunkelheit besiegt. Vielleicht auch der Auslöser von … Veränderung.« Sie musterte ihn eindringlich. »Du siehst jedoch nicht aus wie ein Bote.« Ihr Blick fiel auf seine Hand, die noch immer auf dem Griff des Schwertes lag. »Und auch nicht wie ein Kämpfer.«

Sam räusperte sich, als säße ihm der falsche Name wie eine Gräte im Hals, und lockerte die Finger. »Ich werde dieses Tor mit meinem Leben bewachen, Herrin.«

Ein flüchtiges Lächeln flog über ihr Gesicht. »Dein Leben willst du geben? Nun, wir werden sehen, Mann mit dem falschen Namen. Wir werden sehen.« Dann trat sie zurück. Auf ein Nicken von ihr schob Assasil den Torflügel zu. Es schien ihm keine Mühe zu bereiten, den Spalt zu schließen. Wie stark war er? Das Tor sah so schwer aus, dass Sam vermutlich all seine Kraft hätte aufwenden müssen, um es überhaupt in Bewegung zu setzen.

Sabah trat neben den Herrn der Wächter. Sie zog einen Schlüssel hervor und versperrte die Tür. Dann drückte sie ihren Kopf an den geschlossenen Spalt zwischen den Torflügeln und wisperte etwas, das Sam nicht verstand. Er begriff nicht, warum sie das tat, doch er wagte nicht, den Mund aufzumachen. Sabah begutachtete das Tor, dann wandte sie sich um und schritt davon.

Assasil wandte sich Sam und dem anderen Scharlachroten zu. »Ihr seid beide neu hier unten, und die Nächte werden lang in Paramythia. Doch keiner verlässt seinen Posten. Ihr bleibt beide am Tor.«

»Ja, Herr«, sagte der Wächter neben Sam, und Assasil ging wortlos davon, während Jacobus ihm eilfertig folgte.

Sabah wandte sich noch einmal um, ehe sie mit den Schatten verschmolz. Ihre bernsteinfarbenen Augen leuchteten wie die einer Katze. Sam glaubte wieder, dass sie ihm bis ins Herz blicken konnte. Was würde sie dort lesen können? Dass er einen falschen Namen trug? Mach dich nicht lächerlich, Sam, tadelte er sich. Wie sollte sie das können? Er blickte ihr nach, bis seine Augen nur noch Dunkelheit sahen und seine Ohren bloß noch das eigene Herz schlagen hörten. Mann mit dem falschen Namen.

3. EIN SCHREI IM DUNKELN

Du kommst von der anderen Seite?« Der Scharlachrote gab sich keine Mühe, seine offensichtliche Abneigung gegen Wüstenmenschen zu verbergen, sobald sie alleine waren.

Sam sah ihm in die Augen. Das Haar des anderen war blond und seine Haut weiß wie die der Nachtschnecken, die sich erst nach Sonnenuntergang aus ihren Verstecken trauten.

»Ja, ich heiße Hârun.« Der Name fühlte sich auch dieses Mal fremd an. Erst recht nach den Worten Sabahs. Noch immer war sich Sam nicht sicher, ob sie wirklich gemerkt hatte, dass er einen falschen Namen verwendete. Aber woher sollte sie das wissen, Sam?

»Odalric«, stellte sich der Wächter kurzangebunden vor und strich sich das lange Haar aus der Stirn. Selbst im Halbdunkel vor dem Marduk-Tor glänzte es wie Gold. Odalric sah so aus, wie Sam sich einen Prinzen vorgestellt hätte. Indes fehlte ihm der lebende Vergleich, da der Weiße König weder Frau noch Kind besaß. »Du hältst hier Wache.« Arrogant genug für einen Prinzen klang Odalrics Stimme auf jeden Fall.

»Und du?«, fragte Sam kühl, als Odalric Anstalten machte zu gehen.