Ministry of Souls – Die Schattenarmee - Akram El-Bahay - E-Book

Ministry of Souls – Die Schattenarmee E-Book

Akram El-Bahay

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Beschreibung

London, 1850: Unbemerkt von der Öffentlichkeit sorgt das Ministry of Souls dafür, die Seelen Verstorbener in die Zwischenwelt zu befördern. Der Soulman Jack und die arabische Prinzessin Naima sind dem mysteriösen Schattenspieler auf der Spur — einem Wesen, das zwischen den Welten wechseln kann und Jack mit einem Fluch belegt, der dafür sorgt, dass er immer mehr an Kraft verliert und so durchscheinend wird wie Glas. Ihnen bleibt wenig Zeit, um nicht nur den Fluch zu brechen, sondern auch die finsteren Pläne des Schattenspielers zu durchkreuzen.

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Seitenzahl: 495

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Motto

Verflucht

Die Rache eines Archivars

Ein verzweifelter Plan

Die Mongolia

Akilah

Die falsche Gasse

Im Palast

Eine Spur des Blutes

Gefangene Geister

Spiel mit dem Feuer

In der Falle

Der Ifrit

Ein Opfer

Hauptmann Smith

Totenstadt

Etwas von mir

Feuer und Gift

Die Spur der Toten

Gefangener im eigenen Leib

Ein selbstloser Wunsch

Ein Funke Liebe

Der neue Minister

Über das Buch

London, 1850: Unbemerkt von der Öffentlichkeit sorgt das Ministry of Souls dafür, die Seelen Verstorbener in die Zwischenwelt zu befördern. Der Soulman Jack und die arabische Prinzessin Naima sind dem mysteriösen Schattenspieler auf der Spur — einem Wesen, das zwischen den Welten wechseln kann und Jack mit einem Fluch belegt, der dafür sorgt, dass er immer mehr an Kraft verliert und so durchscheinend wird wie Glas. Ihnen bleibt wenig Zeit, um nicht nur den Fluch zu brechen, sondern auch die finsteren Pläne des Schattenspielers zu durchkreuzen.

Über den Autor

Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Für seinen Debütroman Flammenwüste wurde er mit dem Seraph Literaturpreis und dem RPC Award ausgezeichnet. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen, deren Mythenwelt ihn gleichermaßen inspirieren. Er ist Mitglied des Phantastik-Autoren-Netzwerkes PAN. Der Autor lebt mit seiner Familie in Nordrheinwestfalen und tauscht sich gern auf Facebook und Instagram mit seinen Lesern aus.

AKRAM EL-BAHAY

DIE SCHATTENARMEE

MINISTRY OF SOULS

Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Michelle Gyo, StuttgartTitelillustration: © shutterstock.com: Brocorwin | cammep | Nimaxs | Altana8 | Anna Poguliaeva | Annartlab | denisik11Umschlaggestaltung: Massimo Peter-BilleeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-0355-0

luebbe.delesejury.de

Aus der Bibliothek der ungeschriebenen Bücher

VERFLUCHT

Ich glaube, er ist tot.«

Jack spürte die Pfote einer Katze, die sich prüfend gegen seine Wange drückte. Die Stimme von Oz hörte er nur dumpf über das Rauschen hinweg, das seinen Kopf erfüllte. Für einen Moment vergaß er fast, wer er war. Wo er war. Und warum er sich fühlte, als würde alles Leben aus ihm heraussickern wie Wasser aus einem löchrigen Eimer. Er schien weder Arme noch Beine zu besitzen.

»Nein, er lebt. Und er wird nicht sterben. Wäre er tot, könntest du doch seine Seele sehen.«

Diese Stimme gefiel Jack weitaus besser als die des Katers. Naima. Er klammerte sich an ihren Namen, während er hastig wie ein Fisch atmete, der unversehens an Land gezogen worden war. Langsam kehrten die Erinnerungen in seinen Kopf zurück. Er begann auch seinen Körper wieder zu spüren. Und eine fremde Menschenhand auf seiner Stirn.

Mühsam öffnete Jack die Augen. Verschwommen erkannte er zwei Gestalten. Eine Frau stand vor dem Bett, auf dem er lag. Und ein Kater saß darauf. »Warum seht ihr mich an, als würde ich im Sterben liegen?« Er zwang sich ein Grinsen ins Gesicht, doch dann schüttelte Jack ein Hustenanfall durch. Und die Blicke seiner Freunde wurden noch besorgter.

»Du verschwindest.« Naima strich sich mit den Fingern eine Strähne ihrer dunklen Haare aus dem Gesicht, während sie mit der anderen weiter seine Stirn befühlte. Ihre Stimme brach, als säße ihr ein Splitter in der Kehle.

»Verschwinden?« Jack atmete tief durch und blickte auf seine Hand. Sie war in der Tat für einen Augenblick durchscheinend. Verflucht, dachte er. Es hatte ihn wirklich übel erwischt. Was immer Jack aber ausbleichte, verlor schnell seine Wirkung. Er wurde wieder normal. Keuchend drückte er sich hoch. Er hatte es schon als Kind gehasst, krank im Bett zu liegen. Vor allem deshalb, da dies in dem Waisenhaus, in dem er aufgewachsen war, bedeutet hatte, dass er sich nicht gegen die anderen hatte wehren können. Und nun hasste er es, weil er vor Naima nicht schwach wirken wollte. Verdammt, Jack, du bist schwach. Du hast kaum Kraft zu atmen, dachte er. Ja, gab er sich selbst die Antwort. Aber das wollte er nicht zeigen. Für einen Moment drehte sich das Bild vor seinen Augen. Naima und Oz. Das Fußende des Bettes, in dem er lag. Der karge Raum. Und Agatha, der Geist der Frau, die bis vor wenigen Monaten hier gelebt hatte und seit ihrem Tod kurzerhand weiter nach ihren Katzen sah. Das Schnurren und Miauen ihrer Lieblinge drang aus dem Wohnzimmer herüber. Die Alte stand inmitten ihrer Babys und lugte zu Jack. »Es geht schon wieder.«

»Du musst liegen bleiben.« Naimas Hand drückte ihn nun sanft, aber bestimmt auf das Kissen zurück. »Der Fluch des Ifriten steckt in dir.«

Ja, der Ifrit. Ein Rachegeist aus dem Orient. Ein Wesen, vor dem Jack die Prinzessin des Emirats Ra’s al-Chaima gerettet hatte. Ein Wesen, das sie – wie zuvor schon fünf ihrer engsten Verwandten – hatte töten wollen, um als von Magie erfüllter Mensch wieder ins Leben zurückkehren zu können. Ein Wesen, das sie hatte verfluchen wollen und statt ihrer Jack zum Tod verurteilt hatte. Ihn und den Commissioner der Metropolitan Police. Vielleicht lebte Jack nur noch, weil er sich den Fluch gewissermaßen mit dem anderen armen Teufel geteilt hatte. Es war in jedem Fall ein Urteil, das er nicht bereute.

»Bitte, übrigens«, murrte Oz. »Ich habe einen Zauber von Ibn Sina gewirkt, der dich wieder ins Leben zurückgeholt hat.«

Jack nickte stumm. Ach ja, Oz. Der tote Archivar, der durch eine Verkettung verrückter Umstände als zaubernde Katze ins Leben zurückgekehrt war. Himmel, was für ein Durcheinander, dachte Jack und kniff die Augen zusammen, um Naima zu fixieren. »Wir können uns nicht ewig verstecken«, brachte er heiser hervor. »Der Ifrit ist nicht besiegt. Er sucht dich. Und wenn wir zu lange hierbleiben, wird er dich am Ende noch finden. Und du«, er sah zu Oz, »darfst nicht mehr zaubern. Außer im Notfall. Sonst kommt er uns auf die Spur.«

»Wir können nichts unternehmen, ehe es dir nicht besser geht.«

Jack konnte die Sorge aus Naimas Worten herausschmecken.

»Wir könnten ihn hierlassen«, warf Oz ein. Die Augen des Archivars im Leib von Naimas Kater schienen zu leuchten.

»Das ist sehr aufmunternd«, brummte Jack. Er hätte Oz am liebsten vom Bett geschüttelt, doch er hatte nicht mal Kraft zum Atmen und begnügte sich damit, ihn böse anzufunkeln. Oz sah mitleidig zurück und sprang erhaben auf den Boden. Verdammt, er hat recht, Jack, sagte er sich. Sie sind besser ohne dich dran. »Es wäre schön, wenn du mich mit deiner tollen Magie ganz und gar retten könntest, du verlaustes Fellknäuel. Aber scheinbar bist du zu schwach, um den Fluch des Ifriten zu brechen.« Er sah Oz empört zu einer Erwiderung ansetzen und blickte zu Naima. »Vielleicht solltest du wirklich ohne mich gehen. Mit dem fetten Kater kommst du womöglich gegen den Ifriten an. Und wenn dich seine Magie nicht retten kann, dann wirf dem verfluchten Geist das Fellknäuel einfach in den Rachen. Vielleicht verschluckt er sich an ihm und seinem Geplapper.«

»Fett?« Ein unheilvolles Knurren erklang irgendwo vom Boden her. »Ich bin in herausragender Form. Und der Ifrit hat schon einmal gegen mich verloren. Fast. Ich könnte …«

»Gibt es niemanden, der uns helfen kann?«, fragte Naima. »Der genug über Ifriten weiß, damit wir seine Schwachstellen aufdecken können? Er muss doch welche besitzen.« Es klang beinahe flehentlich.

»Terry vielleicht«, murmelte Oz nachdenklich. »Mein alter Vorgesetzter im Archiv des Ministry of Souls. Er hat hoffentlich noch Ibn Sinas Buch des Sterbens. Darin würde ich, wenn ich so nett bin, nach einem Spruch suchen, der ihm hier helfen könnte.«

»Dann gehen wir zu diesem Terry«, hörte Jack Naima entschieden sagen. »Ins Ministerium.«

»Auf keinen Fall«, rief Jack aufgebracht. Er drückte sich wieder hoch. Und das Zimmer und alles darin begannen sich erneut zu drehen. Er merkte, dass er das Bewusstsein verlieren würde. Und begriff, dass er Naima nicht daran hindern konnte. »Trau dort keinem. Die Soulmen könnten glauben, dass ich ein Verräter bin. Wenn Terry dir nicht helfen will, dann gibt es nur einen unter ihnen, der vielleicht auf unserer Seite steht. Der alte Travis kann einem alles besorgen, was man braucht. Selbst Dinge, die verboten sind.« Er hustete. »Aber es ist zu gefährlich für dich.«

»Wenn ich es nicht wage, stirbst du«, erwiderte Naima.

»Na und?«, schnurrte Oz. »Ich bin auch tot. Und guck mich an. Ich sehe großartig aus. So schlimm ist das Sterben nicht.«

»Das stimmt.« Agathas schwarz-weiße Gestalt im Nebenzimmer verschwamm vor Jacks Augen. »Der Tod ist erst der Anfang. Gar nicht so übel, wenn man sich erst mal an ihn gewöhnt hat. Wir zwei könnten viel Spaß haben.«

Nein danke, wollte Jack sagen. Doch seine Zunge gehorchte ihm nicht mehr.

»Pass auf ihn auf, Agatha.«

Die Frauen duzten sich? Jack hatte das Gefühl, dass sie sich gegen ihn verschworen hatten.

»Sehr wohl, Majestät«, erwiderte der Geist der Katzenliebhaberin. »Und was machen du und der Kater, Hoheit?«

»Wir retten ihn«, hörte Jack sie noch sagen. Dann wurde alles schwarz vor seinen Augen.

DIE RACHE EINES ARCHIVARS

Das ist nicht klug.« Oz klang so angespannt, als hätte er die Fährte eines rivalisierenden Katers aufgenommen.

Naima und er traten auf das bucklige Pflaster vor Agathas Haus. Sie hatte sich einige Kleidungsstücke von Agatha genommen und war darin sicher nicht zu erkennen. Dennoch sah sie sich ein paar Mal misstrauisch um, ehe sie losging. Jeder konnte eine Gefahr sein. Ihr war ein Ifrit auf den Fersen. Ein Ifrit, der wie seine Diener in die Schatten der Menschen schlüpfen konnte. Kein Wunder, dass sie kurz davor war, paranoid zu werden. Sie hatte die Tage nicht gezählt, die sie sich in der kleinen, heruntergekommenen Wohnung in Whitechapel versteckt hielten. Nur selten waren Oz und sie hinausgegangen, um etwas zu essen zu kaufen. Und einmal hatten sie sich zu einem Arzt gewagt, der in der Nähe eine … Praxis unterhielt. Naima glaubte nicht, dass er je eine medizinische Ausbildung erhalten hatte und sich tatsächlich Arzt nennen durfte. Doch nach Agathas Auskunft galt er als Künstler mit Nadel und Faden und war sehr beliebt bei allen, die entweder nicht das Geld für einen echten Doktor hatten, oder lieber keine Aufmerksamkeit erregen wollten. Das Pulver, das er Naima garniert mit einem wässrigen Blick gegeben hatte, war nutzlos gewesen. Sie hatte eine übel riechende Paste daraus angerührt und sie Jack auf die Brust geschmiert. Mehr als einen angewiderten Ausdruck auf dem schlafenden Gesicht hatte sie ihm nicht beschert. Naima hatte überlegt, zu einem echten Arzt zu gehen, auch wenn dies bedeutet hätte, durch die halbe Stadt fahren zu müssen und so das Risiko zu erhöhen, vom Ifriten und seinen Dienern entdeckt zu werden. Doch dann hatte sie sich klargemacht, dass Jack an etwas litt, das seinen Ursprung in der Zwischenwelt hatte. In der Welt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Und keine irdische Medizin würde ihn wohl davon befreien können.

»Und denk immer daran«, ermahnte sie Oz, den sie auf dem Arm trug, »keine Aufmerksamkeit.«

Sie winkte eine Droschke heran, die rumpelnd auf sie zukam. »Bishops Walk«, beantwortete sie dem Fahrer die Frage nach ihrem Ziel. »Nahe der Westminster Bridge.«

Der Mann runzelte die Stirn, und erst als Naima ihm eine Münze in die schwielige Hand drückte, schnalzte er mit der Zunge und gab seinem betagten Gaul damit das Signal, dass es weiterging. Viel Geld hatten sie nicht mehr. Jack hatte ohnehin keines mehr in seinen Taschen gehabt. Und Agathas Ersparnisse in ihrem Spukhaus waren mehr als kläglich.

»Ich glaube nicht, dass Terry sehr … glücklich sein wird, uns zu sehen.« Oz wisperte so leise, dass der Fahrer ihn sicher nicht hörte. Er leckte sich die Pfoten und schmiegte sich dann an Naima, auf deren Schoß er majestätisch Platz genommen hatte. »Ich meine, wir haben das ganze Archiv im Ministerium in Schutt und Asche gelegt. Alles durcheinandergebracht. Im Grunde haben wir ihn damit umgebracht. Oder besser, wir hätten es, wenn er nicht schon tot wäre.« Oz kicherte heiser über seinen Scherz.

Naima sagte nichts. Die Sorge um Jack schnürte ihr die Kehle zu. Er würde sterben, weil er sie vor dem Fluch des Ifriten gerettet hatte. Nein, er würde nicht sterben. Sie musste ihn retten. Wieder einmal. Der Abend senkte sich bereits über die Stadt, die von sich behauptete, der Mittelpunkt der Welt zu sein. In den Häusern wurden Lampen und Kerzen entzündet, und noch ehe sie ihr Ziel erreichten, floss blasses Gaslicht durch die Straßen wie verschüttete Milch. Naima ließ den Fahrer einige Meter vor dem Ministerium halten, dann stieg sie aus.

»Wenn Sie wollen, warte ich auf Sie.« Der Mann gab sich keine Mühe, die Gier in seiner Stimme oder seinem Blick zu verbergen.

»Wenn Sie wollen, zaubere ich Ihnen eine Warze an Ihren Hintern, die so groß ist, dass Sie …«

Ehe Oz seine Drohung beenden konnte, hatte Naima ihn schon auf den Arm genommen und hielt ihm mit einer Hand das Maul zu. »Bitte verzeihen Sie«, sagte sie zu dem Kutscher, »aber mein Kater glaubt manchmal, er sei ein Mensch.« Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie sah, dass der Mann mit zitternden Händen ein Kreuz schlug und dann eilig sein schnaufendes Pferd antrieb.

Naima wartete einen Moment, bis die Droschke weit genug entfernt war, und ließ Oz unsanft auf den Boden fallen. »Au!«, empörte sich der Archivar in Katzengestalt, der wenig elegant auf der Seite gelandet war.

»Das nennst du keine Aufmerksamkeit?«, zischte sie ihn verärgert an.

»Er hat dich angesehen, als wärst du eine …«

»Na und?«, erwiderte sie und sah sich rasch um. Niemand in der Nähe. »Du weißt, was geschehen kann, wenn der Ifrit eine Spur von uns findet.«

»Ja, ja«, brummte Oz und streckte sich. »Er schickt einen deiner schattenhaften Verwandten und jagt uns, damit er sich deine Seele einverleiben und als unsterblicher Magier zurückkehren kann.« Oz legte den Kopf schief. »Aber du hast eines vergessen: Du hast einen Kater an deiner Seite. Und zwar nicht irgendeinen. Sondern den besten.«

Naima seufzte und sah zu dem betagten Backsteingebäude hinüber. Das Ministerium für endgültige Angelegenheiten, dessen Aufgabe es war, die Seelen der Verstorbenen zu finden, zu katalogisieren und dann auf die andere Seite in die Zwischenwelt zu bringen. Natürlich firmierte es nicht unter seinem echten Namen. Miller & Miller Nachrichtendienst für interessante Informationen stand in verschnörkelter Schrift über dem Haupteingang, vor dem sich ein nervöser Rothaariger herumdrückte und argwöhnisch jeden anstarrte, der sich dem Bau näherte. Das Misstrauen war durchaus nachvollziehbar. Innerhalb der Behörde hatte der Ifrit einen Verbündeten besessen. Ausgerechnet den Minister selbst. Doch auch wenn dieser während der Zerstörung des Archivs gestorben war und der Ifrit, der Naima nach dem Leben trachtete, nun sicher keinen Diener hinter den Mauern des Ministeriums mehr besaß, erschien ihr dieser Ort unheilvoll. Als würde dort ihr Tod auf sie warten. »Ich dachte«, sagte sie, während sie langsam auf das Gebäude zuging, »dass Katzen immer auf den Pfoten landen.«

»Da siehst du einmal, was du alles nicht über Katzen weißt«, erwiderte Oz säuerlich. Er musterte das Ministerium. »Man kann fast gar nicht erkennen, was geschehen ist.«

Naima nickte. An dem Abend, an dem sie sich dem Rachegeist gestellt hatten, waren alle Phiolen, alle Glasfläschchen, in denen die Geister der Verstorbenen eingeschlossen waren, zerstört worden. Die Flut an Seelen hatte den Ifriten und seine schattenhaften Diener, zu denen die toten Verwandten von Naima geworden waren, mit sich gerissen. Sie aus dieser Welt gespült. Die Zerstörung, die das Freilassen so vieler Geister angerichtet hatte, war von außen tatsächlich kaum zu erkennen. Nur ein paar Scheiben waren zerborsten. Einen weit deutlicheren Hinweis darauf, dass hier etwas Ungewöhnliches geschehen war, boten vielmehr die Bobbys, die abseits des Haupteingangs vor dem Gebäude standen und ebenso wie der Rothaarige jeden der wenigen Vorbeilaufenden argwöhnisch anstarrten.

»Durch die Tür können wir schon mal nicht gehen«, bemerkte Oz.

»Das hatte ich auch nicht vor«, erwiderte Naima.

»Und wie willst du dann dort hinein?«

Naima lächelte. »Ich verlasse mich auf den schlauesten Kater dieser Stadt.«

»Dieser Welt, wolltest du wohl sagen.« Oz klang geschmeichelt. »Nun, wir sollten da entlang.« Er wies mit dem Kopf zu der Seite des Gebäudes. Eine Mauer, die in der Höhe kaum zwei Meter maß, schloss dort an die Außenfassade an. Ein kleines, rostiges Tor war in sie eingelassen. »Das ist nichts für Prinzessinnen. Das Tor ist üblicherweise verschlossen. Aber ich kann über die Mauer klettern, den Schlüssel stehlen und ihn dir dann …«

»Nicht nötig«, sagte Naima und schlenderte unauffällig auf die Mauer zu. Sie schenkte ihm einen überlegenen Blick. »Da sieht man mal, was du alles nicht über Prinzessinnen weißt.«

*

Die Mauer war kein ernst zu nehmendes Hindernis für Naima. Ihr Diener Abdal, der zusammen mit ihrem Vater und ihren Verwandten vor vielen Wochen den Tod auf dem Innenhof des Buckingham Palace gefunden hatte, war stets darauf bedacht gewesen, Naima alles beizubringen, was er auch ihren Bruder Amir gelehrt hatte. Sehr zum anfänglichen Missfallen ihres Vaters, der nicht verstanden hatte, warum eine Prinzessin das Kämpfen erlernen sollte. Oder das Klettern. Die Erinnerung an ihren Vater ließ Naima kurz innehalten. Die Wut, ja der Hass auf den Ifriten, der hinter seinem Tod und den anderen schrecklichen Morden stand, loderte heiß in ihr auf. Sie schüttelte die dunklen Gedanken von sich, suchte sich einen vorstehenden Backstein, auf dem ein Fuß Platz fand, und drückte sich nach oben und über die Mauer. Zu Hause in Ra’s al-Chaima war sie mühelos die Außenseite des Palastes emporgeklettert. Die Übung zahlte sich nun aus. »Soll ich dir helfen?«, fragte sie Oz, der unsicher auf ein Fass und dann zu ihr hinaufsprang.

»Nicht nötig. Ich könnte uns auch einfach hinter die Mauer zaubern«, erwiderte er empört. »Aber du weißt ja, dass wir keine Aufmerksamkeit erregen wollen. Erst recht nicht die des Ifriten.« Er sah sich rasch um und nickte zu einer kleinen Tür, die unscheinbar in der Backsteinmauer des Ministeriums lag. »Das da ist der Ausgang für die Putzfrau. Ist natürlich immer abgeschlossen.«

»Aber du zauberst das Schloss auf?«

»Nein, keine Aufmerksamkeit. Heute ist der erste Juni 1850. Samstag, um genau zu sein.« Oz knurrte zufrieden, als er Naimas fragenden Gesichtsausdruck bemerkte. »Samstags kommt die Putzfrau, weil dann fast niemand im Ministerium ist.« Er nickte Naima zu, die sich elegant von der Mauer in den Innenhof gleiten ließ, sprang in ihre Arme und von dort auf den Boden.

Wie aufs Stichwort wurde die Tür von innen geöffnet und eine so graue Frau trat heraus, dass Naima für einen Augenblick glaubte, einen Geist zu sehen. Die Frau schleppte einen Eimer und einen Schrubber und wollte die Tür gerade schließen, als sie Oz bemerkte, der sich leise an sie angeschlichen hatte und nun erwartungsvoll zu ihr hochstarrte. Katzen waren im Ministerium, wie Naima erfahren hatte, nichts Ungewöhnliches. Jack meinte, dass sie immer auch Lebewesen der Zwischenwelt waren und dass die Anwesenheit der Geister sie anziehen würde. Außerdem bekamen sie hier stets etwas zu fressen. Eine Katze aber, deren Miau klang, als würde ein Mensch einen Kater imitieren, war selbst an diesem seltsamen Ort überaus ungewöhnlich.

Naima verbarg sich hinter einem Busch, der gerade groß genug war, sie zu verdecken, und als die Putzfrau wieder im Ministerium verschwand, lief sie, so leise sie konnte, auf die Tür zu.

»Schnell«, zischte Oz. »Sie holt mir irgendetwas zu fressen.«

Naima warf einen raschen Blick ins Innere des Gebäudes. Ein langer Flur, der nur von einer einzelnen Gaslampe beleuchtet wurde. Sie drückte sich in die Schatten, die sich hinter der Tür zusammenballten. Dann hörte sie schon die Putzfrau herbeischlurfen.

»Hier, mein Kleiner. Auch wenn du es eigentlich nicht brauchst, so dick, wie du bist.« Sie ließ Oz etwas aus ihrer Hand fressen und ging hinaus. »Kommst du mit?«, fragte sie. »Oder bleibst du und suchst drinnen nach einem Spielkameraden?«

Naima drückte sich noch tiefer in die Schatten und fürchtete schon, Oz würde der Frau antworten. Doch er ließ nur ein gekünsteltes Miau hören.

»Na dann viel Spaß, mein Dicker. Ich werde wohl nie verstehen, warum ihr Katzen so gerne hier herumstreunt.« Mit diesen Worten schloss die Frau die Tür. Und für einen Moment war nur ein gieriges Schmatzen zu hören.

»Oz? Was hat sie dir …?«

»Frag nicht«, kam die gequälte Antwort aus dem Halbdunkel. »Der Kater hat einen furchtbaren Geschmack. Und er muss etwas mehr auf sein Gewicht achten.«

Mit jedem Schritt, den sie durch den dunklen Flur machten, schien es um sie herum kälter zu werden.

»Es liegt an den Geistern«, raunte Oz, als Naima ihn darauf ansprach.

»Ich dachte, die sind alle fort«, erwiderte sie. Die Luft schmerzte in ihren Lungen, und im fahlen Licht einer weiteren Gaslampe sah sie, wie ihr Atem ein weißes Kleid gebar.

»Oh ja, aber dort, wo sie waren, bleibt die Erinnerung an den Tod. Oder besser: das Versprechen an ihn. Und der Tod ist kalt. Ein einzelner Geist kann dir allenfalls einen leichten Schauer über den Rücken jagen. Doch Tausende lassen dir das Herz gefrieren.«

Naima zog sich die graue Jacke enger um den Leib, die sie trug. Agathas Garderobe passte ihr kaum. Die tote Frau war weit fülliger gewesen. Doch wenigstens hielt der grobe Stoff sie warm. Und in dem türkisfarbenen Kleid, das Naima zuletzt getragen hatte, wäre sie allzu sehr aufgefallen.

Der Flur führte zu einem Durchgang, hinter dem sich ein riesiger Raum erstreckte. Für einen Moment blieb Naima sprachlos stehen. In der Nacht ihrer Flucht hatte sie das Ausmaß der Zerstörung nicht erkannt. Doch nun sah sie, was die Befreiung der eingesperrten Geister zur Folge gehabt hatte. In dem Raum herrschte das reinste Chaos. Zwar hatte man offensichtlich versucht, die Trümmer der hohen Regale und der auf ihnen gelagerten Phiolen beiseitezuschaffen und die Glassplitter zusammenzukehren. Doch einige Regale, auf denen ein paar unbeschädigte Glasfläschchen standen, waren nicht zerstört worden. Sie befanden sich in einer Ecke, die jemand mit einem Band abgesperrt hatte. Das Tor, das zu einer Treppe führte, stand offen. Am anderen Ende des Raums gab es ein weiteres Tor.

»Wenigstens ist das Zwischenlager noch ganz geblieben«, raunte Oz heiser. Der Anblick des verwüsteten Archivs setzte ihm offenbar zu. »Nicht auszudenken, wenn …«

»Nicht auszudenken?«

Naima und Oz schraken beide zusammen.

Vor ihnen hatte sich wie aus dem Nichts ein Mann aufgebaut, ebenso schwarz-weiß wie Agatha. Der Geist war alt, trug einen grauen, kurz geschnittenen Bart und einen breitkrempigen Hut auf dem Kopf. »Was könnte schlimmer sein als das hier?«

»Terry«, keuchte Oz.

Der Leiter des Archivs schien Naima kaum zu bemerken. Stattdessen stemmte er die Hände in die Hüften und fixierte Oz mit einem so vorwurfsvollen Blick, als sähe er in ihm den alleinigen Schuldigen für das Chaos hinter sich. »Ich hatte euch gesagt, dass nicht eine einzige Phiole nachher am falschen Platz stehen darf.«

»Also streng genommen steht auch keine …« Oz schluckte das Ende des Satzes hinunter, als er Terrys vernichtenden Blick bemerkte. »Daran trägt nur der Ifrit Schuld«, jammerte Oz, der sich klein genug machen wollte, um dem Blick zu entkommen.

»Und wer hat ihn hier hereingelassen?«

»Der Minister.« Oz’ Stimme überschlug sich fast.

Für einen Augenblick war Terry ein wenig verwirrt, dann deutete er anklagend mit seinem geisterhaften Finger auf Oz. »Und wer hat ihn nicht aufgehalten?«

»Streng genommen habe ich das doch.« Oz richtete sich wieder auf und reckte sich. »Ich habe ihn mit Magie besiegt.«

»Aha! Und nun sieh dir an, zu welchem Preis das geschehen ist. Ich könnte euch festnehmen lassen.« Terry verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte Oz unter seinem Hut hervor mit missbilligenden Blicken.

»Das würde das Archiv aber nicht wieder ganz machen«, entgegnete Oz wohl ein wenig zu vorlaut, denn der tote Chefarchivar des Ministry of Souls schien dem Ausdruck auf seinem Gesicht nach ernsthaft zu erwägen, die Bobbys vor dem Ministerium zu rufen.

»Sir«, sagte Naima besänftigend und legte ihm eine Hand auf den Arm. Sofort zuckte sie zurück. Sie hatte noch nie einen Geist berührt. Zum einen waren ihre Finger ein wenig in den Arm hineingeglitten. Zum anderen waren sie einen Augenblick lang so taub, als wäre alles Leben aus ihnen gewichen. »Sir«, begann sie noch einmal und rieb sich die Finger, »damit würden Sie Jack zum Tode verurteilen.«

Diese Worte hatten nicht direkt die gewünschte Wirkung. Von Sorge oder gar Bestürzung konnte sie keine Spur in Terrys Gesicht erkennen. Doch wenigstens sah sie der Geist nun an.

»Warum?«

»Das ist eine dunkle Geschichte«, erwiderte Naima und seufzte, während sie sich in dem Chaos umsah. Hier wollte sie nicht über Jack sprechen. »Gibt es einen freundlicheren Ort als diesen, um zu reden?«

Terry nickte, was seinen Hut so sehr wackeln ließ, als besäße er ein eigenes Leben. »Natürlich. Folgt mir.«

*

Naima war nicht sicher, ob der Raum, in den Terry sie führte, wirklich als ein freundlicherer Ort durchging. An den Wänden standen zwar mehrere Bücherregale, was Naima, die es liebte, sich in Seiten voller Worte zu verlieren, gefiel. Die Glasvitrinen in der Mitte des Raums hingegen gaben ihr das Gefühl, in einer Gruft gelandet zu sein. Sie hatte noch nie so viele Knochen und Totenköpfe auf einmal gesehen.

Terry führte sie zielstrebig in eine Ecke des Raums, in der ein paar gemütliche Lesesessel zusammengeschoben waren. Eine schneeweiße Katze stromerte zwischen den Vitrinen voller Schädel entlang und bedachte Oz mit einem verwirrten Blick.

»Hau ab«, brummte der Archivar im Körper von Naimas Palastkatze.

Die Katze machte einen Buckel und fauchte Oz verärgert an, doch sie rührte sich nicht von der Stelle.

»Bemerkenswert«, kommentierte Naima.

»Ich finde«, sagte Oz und reckte den Kopf, um Naima in die Augen sehen zu können, »dass Prinzessinnen nicht so sarkastisch sein sollten.«

»Da sieht man ein weiteres Mal, was du alles nicht über Prinzessinnen weißt.« Sie setzte sich auf einen der Sessel, während Terry neben ihr Platz nahm. Und dabei so tief einsank, dass er zur Hälfte im Polster saß, ohne darauf zu achten. »Und hier können wir offen reden?«

»Hier kommt niemand her«, meinte Terry. »Dies ist ein Ort des Lernens. Hier gibt es nur Präparate und Bücher. Kein Soulman betritt freiwillig diesen Raum.«

Naima nickte. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, dass sie die Worte nicht über die Lippen bringen könnte. Sie saßen ihr in der Kehle und schienen dort festzustecken. Oz sprang auf ihren Schoß und machte Anstalten, an ihrer Stelle zu berichten, was am Marble Arch geschehen war. Weshalb Jack kraftlos in Agathas Bett lag und schon zweimal regelrecht durchscheinend geworden war. Doch Naima musste es selbst erzählen. Sie war eine Prinzessin. Und auch wenn sie den Titel und die mit ihm verbundenen Privilegien nicht sonderlich mochte, verband sie Verantwortung mit ihrer Stellung. »Der Ifrit wollte mich mit einem Fluch töten«, sagte sie so hastig, als würden die Worte ihr sonst die Zunge verbrennen. »Die Seelen, die in Ihrem Archiv in den Fläschchen eingesperrt waren …«

»… untergebracht waren, um sie für den korrekten Abtransport in die Zwischenwelt zu registrieren«, warf Terry besserwisserisch ein.

»… haben ihn und meine Verwandten, die er als Diener versklavt hat, mit sich gerissen.«

»Der Marble Arch ist ein Schattentor«, schaltete sich Oz in das Gespräch ein. »Wir vermuten, dass der Ifrit über diese Pforte die Welt betreten kann. Und dass dieses Schattentor den Geistern als Zugang in ihre Zwischenwelt dienen kann.«

»Wir vermuten?« Terrys Stimme klang verärgert. »Das ist keine exakte Wissenschaft. Das ist Experimentiererei! Und natürlich betritt ein Ifrit diese Welt durch sein Schattentor. Das ist allgemein bekannt. Ebenso wie die Tatsache, dass auch andere Geister es benutzen können. Und er hat den Marble Arch auserkoren? Wunderbar. Ausgerechnet mitten im Herzen Großbritanniens. Vor der dicken Nase der Queen. Er hätte weiß Gott einen besseren Ort finden können.«

Oz verdrehte die Augen, und Naima sprach rasch weiter. »Sir Hay und Jack haben sich vor mich geworfen und den Fluch auf sich genommen.« Sie hörte ihre Stimme brechen wie Glas. Für einen Moment war sie wieder dort. Der Buckingham Palace. Der Marble Arch. Die Nacht voller Geister. Und der Ifrit, der sich an dem Marmorbogen festgekrallt hatte, um Naima in letzter Sekunde doch noch töten zu können.

»Und warum will er Euch umbringen?« Terry schien nicht sonderlich beeindruckt von dem, was er hörte. Er war offenbar rein wissenschaftlich interessiert. Als sei sie ein absonderliches Geschöpf, das ihm unverhofft unter die Augen gekommen war. Er rückte sich die unwirkliche Brille zurecht.

»Er braucht meine Seele, um als unsterblicher Magier wieder die Welt betreten zu können. Sie ist die Letzte, die ihm fehlt.« Warum du?, fragte sie sich bei ihren Worten. Warum ausgerechnet deine Familie und du? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass er ihr alles genommen hatte. Und nun war er im Begriff, ihr auch noch Jack zu nehmen. Sie presste wütend die Lippen aufeinander. Nein, das würde sie nicht zulassen.

»Das ist sehr ungewöhnlich«, entfuhr es Terry, als ärgere er sich über einen falsch einsortierten Geist in seinem Archiv. »Und was soll ich nun tun?«

»Wir müssen Jack retten. Und Sir Hay. Bitte.«

Fast schien es, dass ihre Worte Terry rührten. »Ich will sehen, ob ich in meiner Bibliothek etwas finde, das uns hilft.«

»In Ibn Sinas Buch des Sterbens«, hörte Naima Oz sagen. »Darin gibt es bestimmt einen passenden magischen Spruch.«

»Genau dort wollte ich nachsehen, du vorlauter Kater«, zischte Terry.

Erleichtert atmete Naima tief durch. »Danke, Sir. Ich wusste, dass Sie ein guter Men… Geist sind.«

»Ach«, hörte sie Oz auf ihrem Schoß grummeln.

»Sie missverstehen«, erwiderte Terry, als er sich erhob. »Ich rette Jack vor der Rache des Ifriten, damit er etwas viel Schlimmeres erleiden kann. Die Rache eines Archivars.«

EIN VERZWEIFELTER PLAN

Terry hatte die Tür auf Naimas Wunsch hin verschlossen, auch wenn er mehrfach betont hatte, dass kein normaler Mensch außer ihm üblicherweise hierherkam.

»Also ich war immer sehr gerne hier«, brummte Oz, während der Chef des Archivs mit Naima an den Bücherregalen entlangstrich und ein bestimmtes Buch suchte.

»Siehst du?«, rief Terry, der es schließlich gefunden hatte. »Kein normaler Mensch außer mir.«

»Der ist nicht mal ein Mensch«, meinte Oz und zog beleidigt eine Runde an den Schaukästen vorbei.

Terry beachtete ihn nicht und schlug den Wälzer auf, den er hervorgezogen hatte. »Sehen Sie? Ibn Sinas Buch des Sterbens. Habe es in Oz’ Zimmer gefunden. Lag auf dem Boden herum wie altes Papier.«

»Ich bin gestorben und konnte es nicht zurücklegen«, knurrte Oz.

»Hier stehen natürlich Sprüche. Sicher wird irgendeiner helfen. Ich meine, wenn man an Magie glaubt.«

Oz seufzte, doch er hielt diesmal den Mund.

»Aber vielleicht steht dort auch, wie sich der Fluch dauerhaft, nun, neutralisieren lässt. Ich übersetze es Euch, Hoheit. Es ist in Arabisch geschrieben. In der Sprache des Wissens.«

Naima verkniff sich den Hinweis, dass sie die Prinzessin eines arabischen Emirats war, und lächelte bloß. Sie war es gewohnt, unterschätzt zu werden.

»Es ist eine Sammlung von Wissen über Ifriten«, erklärte Terry, während er mit den Fingern eine Zeile entlangstrich, als könnten sie die Worte besser erfassen als seine Augen. »Würde mich wundern, wenn wir hier nicht etwas finden, das diesen Taugenichts rettet.«

Naimas Herz schlug schneller. Warum waren sie nicht schon früher gekommen? Erst hatten sie gehofft, dass Jack sich von selbst erholte. Dann hatten sie die nutzlose Medizin besorgt und zum Schluss hatte Oz mit mäßigem Erfolg die Magie des Ifriten neutralisiert und war dabei das Risiko eingegangen, dass der Rachegeist den Zauber spürte und so auf ihre Spur kam.

»Ibn Sina hat all das hier zusammengetragen«, fuhr Terry staubtrocken fort. »Er hat es von den Ifriten-Jägern gesammelt. Sie waren eine Art Soulmen. Muss eine aufregende Zeit gewesen sein. Es heißt, keiner von ihnen wurde älter als dreißig.«

»Ich auch nicht«, hörte Naima Oz zwischen den Schaukästen her rufen.

»Da steht es«, sagte Terry und tippte ganz aufgeregt auf eine Textstelle. »Ich übersetze, Eure Hoheit.«

»Nicht nötig«, erwiderte Naima und kniff die Augen zusammen, um die Buchstaben lesen zu können. »Die Flüche der Ifriten finden ihre Macht in der Madinat almutaa, dem Ort, an den die Seelen gehen, um sich von der Welt zu verabschieden. Diese Flüche sind grausam und tödlich.«

»Sie können lesen?«, entfuhr es Terry verblüfft, als würde er erst jetzt bemerken, dass Naima einen Verstand besaß.

»Nicht mal fünfundzwanzig«, hörte Naima Oz rufen.

»Kein irdisches Siegel, keine Arznei und keine von Menschenhand gemachte Erfindung vermag den Fluch eines Ifriten zu brechen. Selbst das Wort Gottes versagt hier. Es ist die Überzeugung der Weisen, dass nur eines gegen die Magie eines Ifriten wirklich hilft.«

»Dreiundzwanzig, um genau zu sein.«

Naima achtete nicht auf Oz. Sie hatte das Ende der Seite erreicht und blätterte aufgeregt um.

Sie blickte auf das Buch, dann sah sie zu Terry, der entschuldigend mit den Schultern zuckte. Wieder starrte sie auf das Buch. »Die letzte Seite fehlt.« Ihre Stimme klang rau vor Enttäuschung. Für einen Augenblick hatte sie tatsächlich geglaubt, dass sie einen Hinweis darauf gefunden hätte, wie sie Jack retten konnte. Und nun griff der Tod noch entschlossener nach ihm.

»Es ist schrecklich«, entfuhr es Terry.

»Danke für Ihr Mitgefühl«, murmelte Naima tonlos.

»Wie kann man so mit einem Buch umgehen.« Der tote Archivleiter schüttelte den Kopf.

Naima blickte ihn irritiert an und schluckte die wenig prinzessinenhaften Worte hinunter, die ihr auf die Zunge sprangen. »Gibt es noch eine Ausgabe?«

»Von diesem Buch?« Terry sah sie an, als hätte sie ihn gefragt, ob er einen Weg zur Unsterblichkeit kannte. »Nicht in dieser Bibliothek. Und sie ist die Umfassendste, wenn es um den Tod geht. Allerdings ist dies nur eine Zweitschrift.« Er klang, als müsse er ein unangenehmes Geständnis ablegen. »Das Original ist irgendwo im Orient zu finden. Ebenso wie die übrigen Zweitschriften, die es davon geben soll. Dort glaubt man aber, dass es Märchen seien. Habe ich zumindest gehört.« Er klang verächtlich, als hielte er Märchen für Unsinn. »Wahrscheinlich ziert es die Bibliothek des Palastes irgendeines Nichtsnutzes, der natürlich keine Ahnung hat, welchen Schatz er da besitzt.«

Naima wollte sich schon abwenden, doch dann hielt sie inne. Eine Bibliothek. Bücher über Ifriten. Wieso nur hatte sie nicht direkt daran gedacht? Die Sammlung im Ministry of Souls mochte die umfassendste sein, wenn es um den Tod ging. Doch die Bibliothek im Palast ihrer Heimat war voll von Märchen. Märchen, die von Ifriten handelten. Naima sah auf das Buch in ihren Händen. Konnte sie dort vielleicht eine Zweitschrift oder gar das Original dieses Buches finden? Umfangreich genug war die Bibliothek. Und wenn nicht, dann gab es dort womöglich andere Erzählungen. Märchen. Und in ihnen vielleicht den Schlüssel für Jacks Rettung. Eine verzweifelte Hoffnung. Aber die einzige, die sie nun noch hatte.

»Was habt Ihr?«, wollte Terry wissen.

»Ich kenne jemanden, der viel gelesen hat. Und dessen Bibliothek zu den prächtigsten unserer Zeit gehört. Er hat sich auch mit … Märchen beschäftigt.«

»Du kennst jemanden?« Oz kam majestätisch um die Ecke gestromert. »Ich hoffe, er wohnt irgendwo in der Nähe und wir müssen nicht weit laufen. Ich bin schrecklich erschöpft.«

Naima lächelte. »In der Nähe? Nein. Und du hoffst vergebens. Wir müssen nicht nur laufen, sondern sogar reisen. Weit reisen.« Bei diesen Worten fiel ihr ein, dass Jack nicht einmal in der Lage war, das Haus von Agatha auf den eigenen Füßen zu verlassen, geschweige denn das Land. Wer konnte nur helfen, ihn wenigstens für eine Weile wieder auf die Beine zu bringen? Sie erinnerte sich an Jacks Worte. Der alte Travis kann einem alles besorgen, was man braucht. Selbst Dinge, die verboten sind. Nun, auch wenn er keine Arznei für Jack auftreiben konnte, dann vielleicht etwas, das ihm aus dem Bett half. »Sagen Sie, Sir«, wandte sich Naima an Terry, »würden Sie Oz bitte einen der Sprüche zeigen, die Jack helfen könnten? Und würden Sie wohl nach einem gewissen Herrn Travis rufen?«

*

Naima konnte später nicht sagen, was es genau für eine Medizin war, die dieser Travis besorgt und zu Agathas Haus gebracht hatte, doch sie hatte geholfen. Und nur das zählte. Naima war bis zuletzt nicht sicher gewesen, ob sie dem Soulman wirklich trauen konnte. Von dem Fluch hatte sie ihm nichts erzählt. Nur, dass Jack alle Kraft verloren hatte. Travis wirkte grob, mürrisch und roch nach Schnaps. Doch er kam alleine und hatte etwas unter seinem Zylinder, das sich der alte Jack dorthin stecken sollte, wo die Sonne nie scheint. Dabei hatte er so dreckig gelacht, dass Naima geahnt hatte, dass er dies durchaus wörtlich verstanden wissen wollte. Auf ihre Frage, welcher Arzt solche Arzneien ausgebe, hatte er sie belustigt angesehen und der schnelle Smith geantwortet. »Der beste Arzt für Rennpferde in dieser verfluchten Stadt. Das hier reicht für ein ziemlich großes Zäpf…, äh, Jack soll alles nehmen. Wenn er davon nicht auf die Beine kommt, ist er tot.«

»Wenn er davon stirbt, sind Sie tot, mein Herr.« Naima hatte freundlich gelächelt, doch Travis verstand offenbar, dass sie das völlig ernst meinte.

»Sie gefallen mir, Prinzessin. Eine Frau mit Temperament. Hier sind noch ein paar Phiolen. Denke, der gute Jack wird sie brauchen können, was auch immer er vorhat. Kein Soulman sollte das Haus ohne sie verlassen. Kann sie sich ja nicht selbst besorgen. Im Ministerium ist man nicht besonders gut auf ihn zu sprechen, aber ich glaube die furchtbaren Dinge nicht, die man über ihn erzählt. Übrigens, der schnelle Smith hat noch ein wenig Liebestoll im Sortiment. Nicht dass ich das bräuchte, um eine Frau glücklich zu machen. Aber es erhöht die Ausdauer. Und falls Jack und Sie …«

»Ein verlockendes Angebot. Ich werde es mir überlegen.« Ohne das Lächeln abzulegen, hatte Naima die Tür geschlossen und Jack die Medizin und die Phiolen gebracht. Anschließend hatte Oz den Spruch benutzt, den Terry ihm aufgeschrieben hatte. Und dann hatten sie gewartet.

»Eure Idee ist völliger Unsinn.« Jack wiederholte die Worte immer wieder, seit er das Bett verlassen und erklärt bekommen hatte, was sie vorhatten. Seine Stimme klang so rau, als hätte er sie seit Monaten nicht gebraucht. Eine lange Nacht lag hinter Naima. Zahllose Male hatte sie voller Sorge nach ihm gesehen und schon beinahe die Hoffnung verloren, dass die Pferdemedizin ihm wirklich helfen würde. Doch mit dem Morgengrauen hatte er die Augen aufgeschlagen. Und war aufgestanden. Gut, er bewegte sich, als hätte der Fluch des Ifriten ihn um Jahrzehnte altern lassen. Aber nach einem Frühstück, das er als zu karg beklagte, hatte er mit jeder Stunde an Kraft gewonnen.

»Ich finde, sie ist sogar sehr sinnig«, erwiderte Naima. Sie saß mit Jack in Agathas einfacher Küche. Eine Schar Katzen umringte sie, mitten unter ihnen war Oz. Die Sonne schien durch ein Fenster im Dach in das Haus und malte ein helles Muster auf den fleckigen Boden. Die Luft roch nach Leben. Und für einen verrückten Moment hatte Naima das Gefühl, dass sie und Jack hinausgehen und dieses Leben genießen könnten. Sie, die Prinzessin aus der Wüste, und er, der Mitarbeiter eines streng geheimen Ministeriums. Doch dann schüttelte ein Hustenfall Jack durch, und Naima wurde daran erinnert, dass nur Oz’ Magie und Travis’ Arznei ihn vor einem raschen Tod bewahrten.

»Was musste ich mir da eigentlich … ich meine, was hat Travis dir für mich gegeben?« Jack blinzelte in das helle Licht. Dann winkte er ab. »Vielleicht weiß ich es besser nicht. Wie gesagt, die Idee ist Unsinn. Wir müssen nicht mich retten. Sondern dich.«

Eine der Katzen sprang auf Naimas Schoß. Sie fuhr mit den Fingern über das weiche Fell. In seiner verzweifelten Entschlossenheit, sie zu schützen, wo er doch selbst alle Hilfe brauchte, gefiel ihr Jack noch besser. »Dann lass uns beide Rettung finden.« Sie lächelte ihn an, während er in ein Brot biss, das sie heute Morgen bei einem Straßenhändler gekauft hatte. »In der Bibliothek meines Vaters steht womöglich eine der Zweitschriften des Buchs, das von den Flüchen der Ifriten berichtet. Er hatte viele Werke zu diesem Thema gesammelt. Und vielleicht finden wir einen Weg, ihn selbst zu besiegen.«

»Dazu müssen wir nicht ans Ende der Welt reisen«, hörte sie Oz aus dem Katzenpulk rufen. »Das kann ich bestimmt auch so.«

»Meinst du wirklich, dass wir in alten Büchern etwas finden, das uns helfen kann?« Jack beachtete Oz’ Einwand nicht einmal. Seine Skepsis ihrem Vorschlag gegenüber war noch immer da. Doch sie verblasste langsam in der Morgensonne. »Ich meine, nur weil irgendwelche Schlauköpfe glauben, etwas zu wissen, heißt das nicht …«

»Es sind die Berichte von Ifriten-Jägern«, fiel ihm Naima ins Wort. »Sozusagen Soulmen.«

Diese Antwort schien Jack zu gefallen. »Gut, nehmen wir mal an, dass sich der ganze Aufwand lohnt, dann müssen wir aber erst mal in deine Heimat. Wir brauchen ein Schiff. Und Tickets. Und etwas zum Anziehen. Und …«

»Wird alles gerade erledigt.« Erneut fiel Naima ihm ins Wort. Sie musste lachen, als sie sein verblüfftes Gesicht sah. »Meine Vertraute ist in diesem Moment dabei, in den Docks das nächste Schiff ausfindig zu machen, das Richtung Ägypten fährt. Von dort aus gibt es mehrere Verbindungen nach Ra’s al-Chaima. Und was unser Gepäck betrifft, so ist dein Freund Travis so nett und besorgt uns etwas.«

»Vertraute? Etwa Agatha? Und du hast Travis losgeschickt?« Jack verschluckte sich fast an seinem Bissen. »Du lässt dir von ihm etwas kaufen? Und wovon eigentlich?«

»Oz kann Dinge in Gold verwandeln.«

Für einen Moment war Jack sprachlos. »Im Ernst?« Er suchte mit seinen Blicken den Kater unter den zahllosen Katzen. »Ich wusste immer, dass viel in dir steckt, mein Bester.«

»Komm nicht auf falsche Gedanken«, zischte Oz. »Ich werde nicht anfangen, für dich zum Betrüger zu werden. Und lange hält die Wirkung des Spruchs auch nicht an. Ein paar Stunden, und das Gold verwandelt sich wieder in Steine. Wenn dieser nach Schnaps stinkende Soulman also alles besorgt hat, sollten wir uns rasch aus dem Staub machen.«

Einen Moment lang sah Jack nachdenklich aus dem Fenster in den Himmel. »Er wird uns irgendwann finden«, murmelte er.

Naima wusste sofort, von wem er sprach. »Er wird mich jagen«, sagte sie. »Und ich muss mich ihm stellen. Aber wenn ich das tue, dann in meiner Arena. Und nicht hier. Hier bin ich fremd.«

»Er auch«, warf Jack ein. »Wir wissen nicht, wo er herkommt. Oder warum ausgerechnet deine Familie so wichtig ist, um ihm zu einem unsterblichen Leben zu verhelfen.«

»Das werden wir herausfinden«, sagte sie so überzeugt, dass endlich auch Jack lächelte. »Und vielleicht erfahre ich auch, ob sich mein Vater vor dem Ifriten hatte retten können und Frieden gefunden hat. Du wirst sehen, alles wird gut.«

DIE MONGOLIA

Nichts würde gut. Jack starrte jedem Mann, jeder Frau, die ihren Weg kreuzte, misstrauisch hinterher. Nicht dass er jemanden für einen Spion des Ifriten hielt. Doch er wusste, dass der verfluchte Wüstengeist jederzeit auftauchen konnte. Und nicht nur er. Auch seine unheilvollen Diener vermochten von der Zwischenwelt in diese hier zu gelangen. Sie mussten bloß den Schatten eines arglosen Menschen annehmen und konnten sich anschließend in dieser Gestalt frei durch die Welt bewegen. Vorausgesetzt, sie töteten den armen Teufel, dessen Schatten sie stahlen. Warum so pessimistisch, Jack?, fragte er sich. Naima lebt. Du lebst. Oz … ist auch da. Du wirst sehen, alles wird gut. Ja, wenn dies hier ein Märchen wäre. Dennoch konnte er sich ein wenig Optimismus sicher erlauben. Es war nun eine Woche her, dass Agatha die Tickets erstanden hatte. Eine Woche des Versteckens in ihrer kleinen Wohnung. Die Freiheit tat gut. Tief atmete er ein. Der Junimorgen versprach heiß zu werden. Keine Wolke war am blauen Himmel zu erkennen. Doch noch lag die Kälte einer klaren Nacht in der Luft.

Jack griff nach Naimas Hand und schloss seine Finger so kräftig um ihre, als wollte er sie nie mehr loslassen. Sie erwiderte den Druck und erhöhte ihn sogar, was ihn kurz zusammenzucken ließ. Naima hatte sich einige von Agathas Sachen genommen. Nichts passte ihr, doch mit der fleckigen Jacke und dem zerschlissenen Rock sah sie so wenig wie eine orientalische Prinzessin aus, dass weder Ifrit noch Schattengeist auf sie aufmerksam werden würden. Überdies hatte sie sich Agathas Hut übergezogen. Das unförmige Ding sah aus, als wäre es einmal ein Tier gewesen. Und zwar eines, das einen besonders unerfreulichen Tod gestorben war.

Jack ließ sich von Naima mitziehen durch die Menge der Leute, die wie sie zum Hafen gingen. Ihr Ziel waren die West India Docks. Dort lag die Mongolia vor Anker. Der moderne Dampfer würde in wenigen Stunden in Richtung Port Said auslaufen. Jack hatte den Namen mehrere Male aufsagen müssen, ehe er ihm im Gedächtnis geblieben war. Port Said in Ägypten. Ein Land, das so fern wie der Mond schien. Und doch in weniger als einer Woche erreichbar war. Es waren moderne Zeiten. Und die Welt schrumpfte immer mehr zusammen, bis man sie vermutlich binnen achtzig Tagen umrunden konnte.

»Wie schade, dass ich nicht mit euch kommen kann.« Agatha hüpfte so aufgeregt wie ein kleines Mädchen voran und gab sich wenig Mühe, leise zu sein. Sehen konnte sie keiner außer Jack und Oz. Und es erklangen viel zu viele Stimmen um sie herum. Niemand würde daher auf die Idee kommen, dass sich ein plappernder Geist zwischen die Leute gemischt hatte. Es sei denn, ein Soulman wäre hier. Wie jeder von ihnen erkannte auch Jack die Seelen der Toten klar und deutlich. Ebenso wie die Pforten. Die Durchgänge, die sich für die Verstorbenen öffneten und sie in die Zwischenwelt führten, wo sie Abschied von der echten Welt nehmen konnten.

»Ja«, knurrte Jack missmutig, während er sich weiter umsah. »Ich wünschte, du würdest auch noch mitkommen. Eine Prinzessin, ein Soulman und ein sprechender Kater. Mit dir wäre der Zirkus wirklich komplett.«

Agatha schenkte seinen Worten keine Beachtung. Sie streifte einen Mann im Gehrock gleich zweimal, der sich daraufhin verwirrt umwandte. Wenig verwunderlich. Die wiederholte Berührung eines Geistes verursachte bei den meisten Menschen ein Déjà-vu.

»Verdammt, was wollen die alle hier?« Jack strich sich nervös das braune Haar aus der Stirn.

»Warst du denn nie am Hafen, um die Schiffe beim Auslaufen zu beobachten?« Oz tippelte neben Jack her und sah zu ihm. Wenn gerade keiner nach unten blickte, während der Kater sprach, würde er in dem Stimmgewirr hoffentlich ebenso wenig auffallen wie der Geist.

»Nein«, erwiderte Jack. »Wozu auch?«

»Weil es Spaß macht?« Selbst in seiner derzeitigen Katzengestalt gelang es Oz, verständnislos zu wirken.

»Für so etwas hatte ich keine Zeit.« Tatsächlich hatte er, auch wenn er in London geboren worden war und die Stadt nie verlassen hatte, außer für seine Gänge auf die andere Seite, den Hafen nur selten betreten. Dort hatte es kaum Gelegenheit für den aus dem Waisenhaus geflüchteten Jungen gegeben, sich mit mehr oder weniger legalen Jobs über Wasser zu halten. Und später, als er sich mehr auf die weniger legalen Tätigkeiten spezialisiert hatte, war das Stadtzentrum der ertragreichere Teil der Stadt gewesen. Einem Dampfschiff aus reinem Vergnügen beim Ablegen zuzusehen erschien ihm reichlich sinnlos. Jacks Blick fiel auf eine Familie, die sich ganz in ihrer Nähe durch die Menge quälte. Der Vater war bemüht, einigermaßen würdevoll voranzugehen, während er immer wieder von seinen quengelnden Mädchen gebremst wurde, die vehement darauf hinwiesen, dass sie Hunger hätten. Bei diesen Worten warfen sie sehnsüchtige Blicke zu einem Mann mit Bauchladen, der geröstete Nüsse verkaufte. Die Mutter der beiden sagte etwas mit ernster Miene, und ihr Mann sah so genervt aus, dass Jack Mitleid mit ihm verspürte. Und Neid. Trotz allem schienen sie eine glückliche Familie zu sein. Die Kinder trugen die Vorfreude auf das Spektakel eines ablegenden Dampfers deutlich auf den vor Aufregung geröteten Gesichtern. Und der Mann war bei aller Genervtheit auch erkennbar stolz darauf, seine Familie auszuführen. Es war Sonntag. Die beste Gelegenheit für einen kleinen Ausflug in die Docks und anschließend vielleicht noch in einen der Londoner Parks.

»Das da wäre dir zu langweilig.« Oz konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Er hatte Jack offenbar die Gedanken vom Gesicht abgelesen. »Und glaubst du ernsthaft, die Prinzessin würde dich … au!« Der Kater sah Jack vorwurfsvoll an, weil dieser ihm wie beiläufig einen kleinen Tritt verpasst hatte.

Eines der Mädchen blickte entsetzt zu Jack und Oz.

»Bin gestolpert«, meinte Jack und lächelte entschuldigend.

»Miau«, machte der Kater grummelig und klang dabei wie ein Mensch, der eine Katze imitierte.

»Sieh doch!« Naima ging einen Schritt zur Seite und zog Jack mit sich. Die Leute strömten aus der Straße hinaus auf einen weiten Platz, der an einer Reling endete. Und da, in einiger Entfernung, lag sie. Die Mongolia. Unwillkürlich blieb Naima stehen und sah mit offensichtlich gemischten Gefühlen zu dem Dampfer, der majestätisch am Dock ankerte. Die meisten anderen Schiffe in seiner Nähe waren klassische Segler mit zwei oder drei Masten. Sie waren für sich schon ein atemberaubender Anblick. Selbst wenn die Segel eingeholt waren und die Schiffe wie ungeduldige Tiere nebeneinanderlagen, darauf wartend, dass sie wieder hinaus auf das Meer gelassen wurden. Die Mongolia aber übertraf auch die Prächtigsten von ihnen. Sie schien groß wie ein Häuserblock. Und in ihrer Mitte ragte ein so gewaltiger Schornstein in die Höhe, als beherbergte sie in ihrem Inneren eine Fabrik.

»Was hast du?«, fragte Jack sie und sah sich dabei um. Schon seit sie losgegangen waren, hatte er ein ungutes Gefühl. Es klebte wie Pollen an ihm. Natürlich, Jack, sagte er sich. Euer Feind könnte aus jedem Schatten herauswachsen. Aber dazu müsste der Ifrit wissen, dass Naima hier war. Die Frau, die sterben sollte, damit der Rachegeist leben konnte.

»Wir sind mit einem ganz ähnlichen Schiff hergekommen«, murmelte sie ein wenig gedankenverloren. »Mein Vater, meine Onkel und Tanten. Und Amir.«

»Hieß dein Diener nicht Abdal?«, fragte Jack etwas abwesend, während eines der Mädchen, die nun endlich wenigstens eine Tüte geröstete Nüsse erquengelt hatten, an ihnen vorbeiging und Oz dabei einen prüfenden Blick zuwarf.

»Miau?«

Jack widerstand der Versuchung, dem vorlauten Archivar noch einen sanften Tritt zu verpassen.

»Amir ist mein Bruder.« Wie immer, wenn sie von ihrer Familie sprach, war da eine Traurigkeit in ihrer Stimme. Eine Traurigkeit, die dort keimte und sich dann auf ihrem Gesicht ausbreitete. Bei diesem Namen aber erkannte Jack noch etwas anderes. Erleichterung.

»Er war auch da?«, fragte er.

»Nein. Amir war schon fort, als es passierte«, erwiderte sie.

Es. Ein denkbar kleines Wort für den Mord an ihrer Familie. Jack würde den Anblick nie vergessen. Die Leichen von Naimas Verwandten, wie die Ziffern einer Uhr angeordnet. Und in ihrer Mitte der verbrannte Körper des Emirs, der von den Flammen besonders schlimm zugerichtet worden war. Der tote Diener hatte abseits gelegen. Und in dem Kreis hatte Jack Naima atmen gesehen. Ganz leicht nur. Und er hatte sie vor dem Ifriten gerettet, ehe dieser sein grausames Werk vollenden konnte.

»Es gab Unruhen zu Hause. Wie üblich. Die Wesire meines Vaters, die in seiner Abwesenheit mit der Führung der Staatsgeschäfte betraut waren, müssen schon kurz nach unserer Ankunft in London ihre Nachricht geschickt und darin um Unterstützung gebeten haben. Da mein Vater aber selbst nicht sofort zurückkommen konnte, hat er Amir losgeschickt. Es war am Tag des …«, sie stockte, als säßen ihr die Worte wie Splitter in der Kehle, »… Mordes. Die Männer deiner Königin haben dafür gesorgt, dass Amir einen Platz auf dem nächsten Schiff bekommt. Er hat protestiert. Er wollte wie ich London sehen. Die moderne Welt und ihre Wunder erleben. Doch mein Vater blieb hart. Ich danke Gott, dem Allmächtigen, dass er ihm diese Weisheit schenkte. So überlebte wenigstens auch er. Das Schiff mit Amir hatte vermutlich bereits abgelegt, als es geschah.«

»Und gleich wird dieses Schiff ablegen.« Etwas Tröstenderes fiel Jack nicht ein. Er brauchte aber auch nicht mehr als das sagen. Er sah es Naima an. Die Aussicht, nach Hause zu kommen, hatte ihr neue Kraft gegeben. Zuversicht. Sie mussten nur unerkannt auf das Schiff gelangen. Dann war alles gut. Und sie lebten glücklich in der Wüste bis ans Ende ihrer Tage, Jack. Warum nicht?

Jack griff in eine Tasche seiner Jacke. Es war seine Dienstjacke. Er hatte in ihr die Uhr und den Kompass, den alle Soulmen besaßen, um im Notfall in der Zwischenwelt den Weg nach Hause finden zu können. Ein paar Phiolen, um Geister einsperren zu können. Und zwei Tickets für die Überfahrt mit einem der modernsten Schiffe der Welt. Ob das Gold, mit dem Travis für sie die Fahrscheine erstanden hatte, schon wieder zu Stein geworden war? Jack würde es hoffentlich nie erfahren. Den Zylinder, den jeder Soulman besaß, hatte er in seiner Reisetasche verstaut. Es wäre zu auffällig, ihn hier zu tragen. Jack kam sich daher vor, als sei er nackt. Trotz der hässlichen Kappe, die er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Er wurde noch immer als vermeintlicher Terrorist gesucht, dem man die Verbrechen des Ifriten in London ankreidete. Die verdammten Fahndungsplakate waren nicht abgehängt worden, auf denen sein gezeichnetes Konterfei abgebildet war. Und das, obwohl der Commissioner der Metropolitan Police wusste, dass Jack unschuldig war. Vielleicht hatte der Fluch des Ifriten Sir Hay so schlimm erwischt, dass er sich noch nicht um die Plakate hatte kümmern können. Nun, vermutlich würde Jack umgehend freigelassen werden, wenn man ihn irrtümlich verhaftete. Doch der Tumult könnte ihre Feinde auf ihre Spur bringen. Besser, niemand erkannte ihn.

Ein lautes Signal vom Schiff ließ die Menge vor Überraschung ausrufen und dann klatschen. Die Abfahrt war wirklich ein Ereignis.

»Kommt«, drängte Jack und drückte mit der Tasche, in die er neben dem Zylinder auch ein paar Wechselsachen für Naima und sich gepackt hatte, die vor ihm Gehenden sanft nach vorne. Das schlechte Gefühl wurde stärker. Es schien ihm, dass verborgene Augen nach ihnen suchten. Vielleicht war er ein wenig paranoid. Andererseits hatte er das schon einmal gefühlt, als der Ifrit ihn heimlich in der Zwischenwelt verfolgt hatte. In einiger Entfernung erkannte Jack den mit blauen und weißen Fahnen geschmückten Steg, der zum Schiff führte.

Nun war er es, der Naima zog. Agatha hüpfte aufgedreht umher. Oz jammerte, weil ihm jemand auf eine der Pfoten getreten war. Und die beiden Mädchen stritten sich so heftig um die letzten Nüsse, dass sie anfingen, sich zu schubsen. Eine stieß dabei Naima gegen ihre Mutter. Der hässliche Hut löste sich von ihrem Kopf und fiel wie ein erschossenes Tier zu Boden.

In diesem Moment schien niemand Naima zu beachten, die nun gut erkennbar im Sonnenlicht stand.

Nicht den Schatten eines Hafenarbeiters, der sich nur einen Lidschlag später erhob.

Und auch nicht den Kater, der entgeistert Jack anstarrte und rief: »Verdammt, tu was. Sie sind da.«

Der Arbeiter starrte den eigenen, plötzlich zum Leben erwachten Schatten an, als könnte er seinen Augen nicht trauen.

Die Schreie der Mädchen ließen den Moment zerspringen wie eine Phiole, die zu Boden gefallen war.

Verdammt, sie waren da. Zumindest einer von ihnen. Zu Jacks Erleichterung war es immerhin nicht der Ifrit selbst. »Tante Alima?«, fragte er Naima, während er ihre Hand griff, um sie fort von dem Schatten zu ziehen.

Um sie herum begannen die Leute unruhig zu werden. Die Schreie der Mädchen hatten ein paar der Umstehenden aufgeschreckt. Doch offenbar erkannten sie nicht die Gefahr.

»Nein«, keuchte sie. »Onkel Abbas. Er hat mir früher immer Süßigkeiten geschenkt.«

Für einen Moment warf Jack der Prinzessin einen irritierten Blick zu. »Wie nett von ihm. Aber ich glaube, heute hat er nichts dabei, was du probieren solltest.« Er rammte dem Mann vor ihm den Ellenbogen hart ins Kreuz und schob ihn grob zur Seite. Sie mussten fort. An einen Platz, an dem sie sich dem Schatten stellen konnten. »Los, Katze!«, rief Jack und stieß einen weiteren Schaulustigen fort, der ihm und Naima im Weg stand. »Tu was.«

Schon nach ein paar Schritten wurde Jack schwindlig. Kein guter Moment, um das Bewusstsein zu verlieren, Jack, dachte er bei sich.

»Natürlich«, hörte er Oz hinter sich sagen, »der Kater muss es richten.«

Das Gedränge war immer noch viel zu groß, um voranzukommen. Und die Leute begriffen nicht, was gerade geschah. Jack blickte sich kurz um. Einer der Männer, die er aus dem Weg geräumt hatte, wollte ihn wütend packen. Und erstarrte, als mit einem Mal sein Schatten lebendig wurde.

»Verdammt, noch einer.« Jack sah sich kurz um. Nein, es war kein neuer Verfolger. Der Schatten sprang einfach nur von einem Menschen zum nächsten. Hier gab es genug Passanten. Er musste sich nicht mal die Mühe machen, einen von ihnen zu töten, um seinen Opfern zu folgen. Onkel Abbas sprang weiter und wurde bei einem kleinen Mädchen lebendig, das Jack aus großen Augen anstarrte.

»Oz!«, rief er und wich den nebelhaften Fingern gerade noch aus.

Das Kind schrie so schrill, dass die Leute glauben mussten, Jack hätte ihm etwas antun wollen. Und sein Anfall wurde schlimmer. Er bekam kaum noch Luft. Alles drehte sich. Der Schatten sprang wieder weiter. Diesmal heftete er sich an eine Frau, die einen weißen Sonnenschirm in der Hand hielt und ihn Jack entgegenstreckte wie einen Degen.

In diesem Moment kam wie aus dem Nichts ein so starker Windstoß auf, dass die Frau beinahe über die nahe Kaimauer geschleudert wurden. Ihr Schrei ging im Tosen des Sturms unter. Eines Sturms, der alle bis auf Jack und Naima erfasst hatte. Die Menschen wurden fortgedrückt. Von den Beinen gerissen. Bis sich um ihn und die Prinzessin ein so großer Kreis gebildet hatte, dass kein Schatten ihnen zu nahe kommen konnte.

Nie in der Öffentlichkeit. Eine der Regeln der Soulmen. Sie durften unter keinen Umständen von Menschen dabei beobachtet werden, wenn sie die Seelen in Phiolen sperrten. Jack hatte sich immer daran gehalten. So gut es eben ging. Allerdings war er vermutlich kein offizieller Soulman mehr, seit der Zerstörung des Archivs. Und er hatte verflucht noch mal keine Zeit, sich um Regeln zu scheren. Also konnte er sie auch brechen. Mit geübtem Griff holte er eine der Phiolen hervor. Aus dem Augenwinkel sah er, dass sich die Leute abwandten, um sich zu schützen. Der Sturm, der sich nur auf diesem Teil der Straße wie ein wildes Tier austobte, biss sie offenbar so fest in die Augen, dass niemand den Blick auf Jack richten konnte. Und auf den Schatten, der sich hinunterbeugte, um der zu Boden gestürzten Frau den Hals umzudrehen. Wenn sie starb, war er frei. Und kein noch so starker Wind konnte ihn dann noch aufhalten.

»Onkel Abbas«, rief Jack.

Der Schatten hielt inne und blickte ihn an.

»Eine kleine Aufmerksamkeit.«

Die Phiole glitzerte hell im Licht der Morgensonne. Jack hatte nie ganz begriffen, was ihnen die Macht verlieh. Er wusste nur, dass der Sand, aus dem sie gemacht waren, aus der Wüste kam. Und er wusste, was sie ausrichten konnten.

Der Schatten zischte, als er die Phiole auf sich zufliegen sah. Er versuchte weiterzuspringen. Dem Glasfläschchen zu entgehen. Doch er war zu langsam. Es traf ihn genau am Kopf und riss ihn auseinander. Wie Jack mittlerweile wusste, vernichtete die Phiole den Schatten nicht. Aber sie schleuderte ihn fort aus dieser Welt.

Jack hielt sich dennoch nicht damit auf, Luft zu holen. Er zog Naima schon wieder mit sich auf das Schiff zu, das immer dunkleren Rauch in den Himmel pustete.

»Sie … werden … uns auch dort finden.« Naima keuchte vor Anstrengung.

Ja, dachte Jack. Sie hatte recht. Es sei denn … Die Mongolia war nicht das einzige Schiff in der Nähe. »Oz!«

»Kannst du bitte aufhören, nach mir zu rufen wie nach einem Hund.« Der Kater klang tatsächlich beleidigt. »Reicht der Sturm nicht?«

»Los, es muss dunkel werden. So dunkel, dass man nichts mehr sehen kann.«

Oz setzte zu einer Erwiderung an, doch dann schien er zu begreifen, dass Jack nicht in der Stimmung für Diskussionen war. Der Sturm ebbte so plötzlich ab, wie er gekommen war. Und einen Augenblick später wurde es finster. Schreie erhoben sich um sie herum.