Die Blaue Revolution - Peter Staub - E-Book

Die Blaue Revolution E-Book

Peter Staub

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Beschreibung

Die Welt neu erfinden? Ja, denn wie bisher geht es nicht weiter. Es ist an der Zeit, dass wir eine vernünftige Weltordnung aufbauen. «Die Blaue Revolution» zeigt, wie eine globale Demokratie die Probleme unserer Zeit lösen wird. Und wie wir diese globale Demokratie schaffen. Die «Blaue Revolution» wird die Klimakrise überwinden, für weltweite Gerechtigkeit sorgen, die Emanzipation der Frauen durchsetzen und Folgen der Kolonialisierung beseitigen. Um diese Ziele zu erreichen, brauchen wir neben einer globalen Demokratie auch ein neues Wirtschaftssystem, das weltweit Mindestlöhne definiert, Standards für anständige Arbeitsbedingungen schafft und die bisher unbezahlte Care-Arbeit entschädigt. Der Weg dahin ist nicht leicht, aber er ist gangbar. «Die Blaue Revolution» zeigt, wie Menschen eine weltweite, gewaltfreie Revolution in Gang bringen können. Zitate von zahlreichen Aktivist*innen, Intellektuellen und Kulturschaffenden aus der ganzen Welt belegen, dass die daraus hervorgehende nachhaltige und friedliche Welt keine Utopie sein muss. Das Buch bildet damit eine solide Basis für intensive Diskussionen.

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Die Blaue Revolution

Die Blaue Revolution von Peter Staub wird unter Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Keine Bearbeitung 4.0 International lizenziert, sofern nichts anderes angegeben ist.

© 2020 – CC-BY-NC-ND (Werk), CC-BY-SA (Texte)

Autor: Peter StaubVerlag & Produktion: buch & netz (buchundnetz.com)Umschlaggestaltung: Corinne Vonaesch, ZofingenISBN:978-3-03805-304-0 (Print – Hardcover)978-3-03805-303-3 (Print – Softcover)978-3-03805-368-2 (PDF)978-3-03805-369-9 (ePub)978-3-03805-370-5 (mobi/Kindle)Version: 0.52-20201109

Dieses Werk ist als buch & netz Online-Buch und als eBook in verschiedenen Formaten sowie als gedrucktes Buch verfügbar. Weitere Informationen finden Sie unter der URL:

Inhalt

Prolog 1. Eine Nation – eine DemokratieWer ist Peter Staub? Erwachen 2. Die Zeit drängt – die Klimakrise verschärft sichAntimilitarist 3. Flucht und Migration sind DauerbrennerJournalist und Hausmann 4. Die Frauen erkämpfen das MenschenrechtRevolutionär 5. Die Wurzeln der Demokratie reichen tiefTaxi-Chauffeur und Roman-Autor 6. Wie sich die Schweizer Demokratie entwickelt hatIci c’est Bienne 7. Eine nachhaltige Wirtschaft ist möglichNächster Anlauf 8. Was tun?Epilog: Einführung in den VerfassungsentwurfEntwurf: Bundesverfassung der Vereinigten Staaten der Welt

Prolog

Eine andere Welt ist nicht nur möglich. Eine bessere Welt ist machbar. Es ist Zeit, zu handeln.

In den letzten Jahren hat es oft so ausgesehen, als sei es nicht mehr möglich, politische Fortschritte zu machen. In vielen Ländern waren rechtsextreme Parteien im Vormarsch und alte, reaktionäre Männer gaben den Ton an, von den USA über Brasilien und die Türkei bis Australien. Dann tauchte im Herbst 2018 wie aus dem Nichts Greta Thunberg auf. Die junge Frau aus Schweden schaffte es mit ihrem Schulstreik fürs Klima innerhalb weniger Wochen, was in den letzten Jahren weder Umweltorganisationen wie Greenpeace und Aktivist*innen wie Al Gore noch die zahlreichen UNO-Klimakonferenzen erreicht hatten: Plötzlich gingen Millionen von Menschen auf die Strasse, um für eine progressive Klimapolitik zu demonstrieren.

Als sich ab Januar 2020 sich das neue Coronavirus Covid-19 weltweit zu verbreiten begann, war zwei Monate später plötzlich nichts mehr so wie zuvor. Rund um den Globus verfügte ein Land nach dem anderen den Lockdown: Flugzeuge blieben am Boden, Restaurants wurden geschlossen, das öffentliche Leben kam zum Erliegen.

Als in der Schweiz der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» und den Lockdown ausrief, hatte ich bereits seit vier Monaten intensiv an diesem Buch gearbeitet. Unterdessen hat Covid-19 die Welt verändert. Aber die in diesem Buch dargelegten weltweiten Probleme – wie die Klimakrise oder die Millionen Flüchtlinge und die massive Unterernährung von nahezu einer Milliarde Menschen rund um den Globus – existieren weiter. Covid-19 ändert nichts daran, dass wir globale Antworten auf globale Fragen brauchen. Im Gegenteil: Die Coronakrise hat mit aller Deutlichkeit gezeigt, wie eng verbunden wir auf der ganzen Welt sind. Und dass nationale Antworten auf globale Fragen ungeeignet sind, die Probleme tatsächlich zu lösen.

Die Grenzen zu schliessen, war vielleicht psychologisch wichtig und richtig. Mit dieser Symbolpolitik konnten die Regierungen für einen Moment Führungsstärke zeigen und etwas Vertrauen vermitteln. Doch solche Aktionen erinnern eher an mittelalterliche Strategien der Pestbekämpfung, als die Städte die Zugbrücken hochzogen, um die Bevölkerung zu schützen. Allein, gegen das Virus nützten die Grenzschliessungen so wenig wie die Wassergräben gegen die Pest.

Der Mangel an Schutzmasken und Medikamenten, die bis zum Ausbruch der Coronakrise zum grössten Teil in China oder Indien produziert wurden, warfen Fragen nach den Grenzen der wirtschaftlichen Globalisierung, der weltweiten Arbeitsteilung auf. Das ist gut. Denn diese Fragen muss man sich auch im Hinblick auf die Klimakrise stellen: Bei welchen Produkten ist es richtig und wichtig, dass sie lokal oder gar regional hergestellt werden? Bei welchen Artikeln macht es Sinn, dass Teile davon über den ganzen Globus verteilt produziert werden?

Bei der Diskussion über mögliche Antworten stösst man unweigerlich auf die entscheidende Frage: Wer kann diese Fragen überhaupt abschliessend beantworten? Damit sind wir beim Kernthema dieses Buches: Wer ist der Souverän auf dem blauen Planeten? Die amerikanische Regierung? Die G-7? Die G-20? Bisher gibt es keinen definierten globalen Souverän.

In der halbdirekten Demokratie der Schweiz ist die stimmberechtigte Bevölkerung der Souverän. Sie wählt nicht nur das nationale Parlament, also die Legislative. Sie entscheidet auch regelmässig über die entscheidenden Fragen der Politik. Wenn wir in diesem Demokratieverständnis einen globalen Souverän definieren wollen, brauchen wir vorab eine globale Demokratie. Als überzeugter Basisdemokrat behaupte ich, dass wir nur so gewappnet sein werden, um aktuelle und kommende weltweite Krisen intelligent und gerecht zu bewältigen.

Am Anfang dieses Buches steht eine alte Idee: Eine Welt ohne Krieg und Ausbeutung ist möglich. Obwohl man mir schon früh sagte, eine friedliche und gerechte Welt sei eine Utopie und unmöglich zu realisieren, halte ich an meiner Vision fest. Unterdessen sind es rund 40 Jahre, in denen ich mich praktisch und theoretisch damit beschäftige, wie es möglich sein kann, die Welt so zu organisieren, dass wir Armut, Umweltzerstörung und Krieg dauerhaft überwinden können.

Weil ich mich weder von Parteien und Parlamenten noch von der Werbung und der Wirtschaft vereinnahmen liess, ist es mir trotz einiger Schwierigkeiten gelungen, mir den Optimismus aus der Jugendzeit zu erhalten.

Nun steht hier das Wort. «Die Blaue Revolution» legt einen konkreten Plan vor, wie wir gemeinsam den alten Menschheitstraum eines anständigen Lebens für alle realisieren können. Das Buch legt dar, warum wir angesichts des drohenden Klimakollapses keine anständige Alternative haben, als uns zusammenzuraufen und gemeinsam an Lösungen zu arbeiten.

Dieses Buch ist auf der einen Seite bloss ein weiterer Schritt auf einem langen Weg, den in den letzten Jahrhunderten zahllose bekannte und unbekannte Frauen und Männer vorgespurt haben. Auf der anderen Seite zeigt es auf, warum es nun höchste Zeit ist, die Vision einer friedlichen Welt in die Tat umzusetzen und wie das das möglich ist.

Um die Blaue Revolution zu realisieren, wird es eine Vielzahl von Menschen brauchen, die sich unerschrocken engagieren. Die den Mut aufbringen, Grenzen zu überwinden. Grenzen, die real existieren, und Grenzen, die wir nur in unseren Köpfen haben. Menschen, die den Mut haben, für ihre Idee den Kopf hinzuhalten. Egal, ob sie ausgelacht oder ob sie verhöhnt werden.

Die Zeit drängt. Wenn es uns gelingen soll, weltweit eine für alle Menschen gerechte und eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft aufzubauen, müssen wir uns beeilen. Denn das Zeitfenster, in dem wir den Klimakollaps noch abwenden können, ist nicht mehr lange offen. Viel länger als zehn Jahre haben wir voraussichtlich nicht mehr, bevor sich das Klima auch ohne unser Zutun weiter erhitzt. Wenn wir unseren Kindern und Kindeskindern eine einigermassen intakte, lebensfreundliche Umwelt hinterlassen wollen, müssen wir jetzt endlich ernsthaft beginnen, die Welt zu verändern.

Wenn die Regenwälder weiter im aktuellen Ausmass und Tempo abgeholzt oder abgebrannt und wenn alle neuen Kohlekraftwerke gebaut werden, die bereits geplant sind, werden wir die sogenannten Kipppunkte allerdings noch früher erreichen, als dies die Klima-Forscher*innen befürchten.

Wenn es uns nicht gelingt, die Klimaerwärmung früh genug zu begrenzen, ist es wahrscheinlich, dass die Menschheit weiter in der Barbarei versinkt, in dem weite Teile der Weltbevölkerung bereits heute leben. Nur wenn es uns gelingt, rechtzeitig eine demokratische Weltgesellschaft zu schaffen, können wir verhindern, dass am Ende alle gegen alle ums Überleben kämpfen.

Dass es innerhalb des herrschenden Systems möglich ist, den Klimakollaps abzuwenden, war schon immer unwahrscheinlich. Heute ist es praktisch unmöglich. Obwohl sich fast alle Staaten im Pariser Abkommen von 2015 weltweit verpflichteten, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen, passierte faktisch nichts. Es gibt nach wie vor keine allgemein bekannte Road Map, die einen Weg aufzeigt, wie es der Weltgemeinschaft gelingen soll, mit der grössten Herausforderung zurechtzukommen, mit der es die Menschheit je zu tun hatte.

Noch aber haben wir die Möglichkeit, dieses System grundlegend zu verändern. Dafür brauchen wir einen überzeugenden Plan. Und wir müssen uns geschickt organisieren. Dann kann es nicht nur gelingen, die Klimaerwärmung zu stoppen, sondern wir schaffen es gleichzeitig auch, die Welt für alle Menschen zu einem besseren Ort zu machen.

Die Menschen werden ihre Gewohnheiten allerdings nur dann ändern, wenn es uns gelingt, ihnen realistische Hoffnung auf ein besseres Leben zu machen. Nur wenn sie daran glauben, dieses Ziel auch tatsächlich zu erreichen, werden sie sich mit uns auf den Weg machen. Deshalb brauchen wir neben dem Ziel und einem Plan auch einen demokratischen Prozess, an dem alle teilnehmen können, die guten Willens sind. Einen Prozess, in den sich alle aktiv einbringen können. Kurz, wir brauchen eine vielfältige, basisdemokratische Graswurzelbewegung, um die Blaue Revolution zu einem Erfolg zu machen. Nur wenn wir die Theorie mit einer lebendigen Praxis verbinden, werden sich die engagierten Menschen als Gewinner*innen fühlen.

Dass die Menschen im globalen Norden materiellen Ballast abwerfen müssen, ist im Sinn der Klimagerechtigkeit unausweichlich, da sind sich die Klimajugend und die Umwelt-Expert*innen einig. Die materiellen Einschränkungen werden uns leichter fallen, wenn sie gerecht geregelt sind. Und wenn wir gleichzeitig das solidarische Zusammenleben neu entdecken.

Dass wir angesichts der Klimakrise die Welt neu denken müssen, ist keine neue Erkenntnis. Einer der populärsten politischen Denker der Gegenwart ist der israelische Historiker Yuval Noah Harari, der mit seinem Buch «Eine kurze Geschichte der Menschheit» global bekannt wurde.

Harari sagte in einem Interview, dass das aktuelle politische System die Fähigkeit verloren habe, «sinnvolle Visionen für die Zukunft zu entwerfen». Während sich die Welt extrem schnell verändere, habe niemand eine Idee, wo wir in 30 Jahren stehen werden. Dass die fortschrittlichen Parteien in Westeuropa und Nordamerika ihren Wähler*innen keine vernünftige Vision mehr glaubhaft machen konnten, ist eine der Ursachen für ihren Krebsgang. Wobei allerdings die konservativen Parteien erst recht keine Zukunft haben, da die Zeit für nationale Lösungen definitiv vorbei ist: «Die drei grössten globalen Probleme lassen sich nur durch weltweite Kooperation lösen: Klimawandel, nukleare Bedrohung und technologische Entwicklung», sagt der Dozent für Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem zu Recht. Denn das Überleben der Menschheit ist nur möglich, «wenn die Menschheit zusammenspannt».

Um den Nationalismus zu überwinden, müssen wir gemeinsam den nächsten Schritt in der menschlichen Evolution machen: weg von nationalen Identitäten hin zur globalen Menschheit. Wir müssen «die Zahl der Fremden, denen wir uns verbunden fühlen, von ein paar Millionen auf acht Milliarden erhöhen.» Das gelingt aber nur, wenn wir unsere bisherigen nationalen politischen Systeme überwinden und über ein globales politisches System, eine globale Verfassung, eine globale Regierung und globale Sozialsysteme nachdenken.

Harari gibt keine Antwort darauf, wie das Problem des Klimawandels international gelöst werden kann. Aber er legt die Spur, in welche Richtung es gehen muss. Für ihn ist die liberale Demokratie das beste Regierungssystem, das die Menschheit je geschaffen hat. Dabei ist diese Demokratie weder naturgegeben noch ewig. Nicht viel älter als 200 Jahre, ist sie an wirtschaftliche, politische und technologische Bedingungen geknüpft. «Wechseln die Bedingungen, muss die Demokratie sich verändern. Wir können nicht erwarten, dass sie so bleibt wie im 20. Jahrhundert», sagt der israelische Historiker.[1]

Und weil sich die Welt in den letzten 200 Jahren fundamental verändert hat, müssen wir die liberale Demokratie revolutionieren. Die Menschheit lebt heute in einer globalen Wirtschaft, in einer globalen Gesellschaft. Deshalb müssen wir die Demokratie globalisieren.

Das scheint zwar eine Utopie zu sein. Aber warum soll eine demokratische Welt nicht funktionieren?

Die verschiedenen Weltgegenden sind heutzutage wirtschaftlich und gesellschaftlich stärker miteinander vernetzt, als es etwa die Schweizer Kantone bei der Gründung des modernen, demokratischen Bundesstaates im Jahr 1848 waren. Wie es vor über 170 Jahren möglich war, dass ein ungebildeter katholischer Bergbauer aus einem Bergdorf im Kanton Graubünden die gleichen Rechte hatte wie ein protestantischer Grossbürger aus der Metropole Genf, der mehrere Sprachen beherrschte und in der Welt herumreiste, ist es heute möglich, einer Bäuerin aus dem Hochland der Anden dieselben politischen und sozialen Rechte zuzugestehen, wie einem Bankdirektor in Zürich.

Auch kulturell ist die Welt heute stärker vernetzt, als dies bei der Gründung der demokratischen Schweiz innerhelvetisch der Fall war: Die Welt hat sich in ein globales Dorf verwandelt, in dem die Jugendlichen nicht nur fast überall die gleiche Musik hören oder die gleichen Netflix-Serien schauen, sondern auch gleichzeitig in zahlreichen Ländern mit ähnlichen Slogans für Freiheit und Gerechtigkeit demonstrieren. Nachrichten verbreiten sich heute rund um den Globus schneller, als sich vor zweihundert Jahren die Meldung herumsprach, dass es im Nachbardorf brannte.

Wir haben heute die materiellen und technischen Fundamente, auf denen wir diese Welt gemeinsam und demokratisch organisieren können. Wir haben die Mittel und Möglichkeiten. Und wir haben das Motiv.

Das Ziel dieses Buches ist es, die politische Situation nicht nur zu analysieren, sondern mit einem konkreten Plan die Diskussion anzuregen: Wie können wir die Welt grundlegend und gewaltfrei verändern? Wie können wir möglichst viele Menschen dazu bewegen, sich für eine globale Demokratie zu engagieren?

Der Plan, wie wir eine gerechte, soziale und umweltverträgliche Verfassung für die «Vereinigten Staaten der Welt» erreichen, hat einen Namen: die Blaue Revolution. Die Blaue Revolution öffnet die Türe zu einem neuen Zeitalter der Menschheit. Die Blaue Revolution sorgt dafür, dass die Kinder künftig überall auf der Erde in einer Welt aufwachsen, in der Armut und Krieg, Ausbeutung und Umweltzerstörung der Vergangenheit angehören. Das «Blau» bezieht sich auf den blauen Planeten, zeigt also die globale Dimension der Revolution auf.

Keine Angst: Wir schaffen das. Yes, we can.

Auch nach der Blauen Revolution wird die Erde kein Paradies sein, in dem die Lämmer neben den Löwen liegen. Aber der blaue Planet wird allen Menschen ein Zuhause bieten, in dem sie frei, gleichberechtigt und anständig leben können. Er wird ein Ort sein, wo die Menschen unter sich solidarisch sind und zu den Tieren, zu den Gewässern, zum Boden und zur Pflanzenwelt Sorge tragen.

Noch kann man diese Vision als Utopie bezeichnen. Aber sie ist keine Spinnerei. Sie ist eine konkrete Utopie, die wir gemeinsam realisieren können. Es ist eine Vision einer neuen Welt, die wir uns erarbeiten müssen. Anders werden wir die grösste Herausforderung, vor der die Menschheit je gestanden hat, nicht friedlich bewältigen können.

Von selbst jedoch passiert gar nichts. Um die Blaue Revolution zum Erfolg zu führen, braucht es auch dich. Braucht es deinen Mut, deine Fantasie und dein Engagement. Aber für die Blaue Revolution braucht es keinen «Neuen Menschen». Und die Blaue Revolution braucht erst recht keinen Leader.

Obwohl wir Neuland betreten und neue politische Initiativen entwickeln werden, ist die Blaue Revolution kein waghalsiges politisches Experiment, das in Chaos oder Diktatur enden wird. Denn die Blaue Revolution baut auf die Erfahrungen, welche die Menschen in den letzten 200 Jahren in demokratischen Gesellschaften gemacht haben.

Die Blaue Revolution zählt auf den universellen Freiheitswillen, der die Menschen in den letzten Jahren von Santiago de Chile über Beirut, Bagdad und Teheran bis Hongkong auf die Strasse getrieben hat. Und die Blaue Revolution vertraut auf die menschliche Empathie und die soziale Verantwortung, die Millionen von Jugendlichen rund um den Globus an den Fridays for Future-Kundgebungen für eine nachhaltige Klimapolitik demonstrieren lassen.

Die Blaue Revolution ist nicht nur von der Amerikanischen, der Haitianischen oder der Französischen Revolution inspiriert, sie beruft sich auch auf Befreiungskämpfe in den ehemals kolonialisierten Staaten, auf die Bürgerrechtsbewegungen und auf die emanzipatorischen Kämpfe der Frauen, der Lohnabhängigen, der Indigenen und der Homosexuellen. Deshalb steht die Blaue Revolution auch auf den Schultern von Gigant*innen der Menschheitsgeschichte, die für Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit gekämpft haben. Über Jahrhunderte hinweg bezahlten Millionen Frauen und Männer weltweit mit ihrem Leben für den Kampf für Gerechtigkeit und Solidarität. Sie alle haben den Weg bereitet, auf dem wir nun in eine demokratische Zukunft schreiten werden. Menschen wie Spartakus, Rosa Luxemburg, Simone de Beauvoir, Mahatma Ghandi oder Martin Luther King kämpften für eine gerechte Welt, so wie sich heutige Held*innen wie Greta Thunberg oder Megan Rapinoe für sozialen und ökologischen Fortschritt einsetzen.

Am Schluss des Kommunistischen Manifestes aus dem Jahr 1848 heisst es: «Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.» Die Ketten beziehen sich auf ein Zitat des schweizerisch-französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau, der bereits im Jahr 1762 im «Gesellschaftsvertrag» analysierte: «Der Mensch ist frei geboren, und überall ist er in Ketten.»

Diese Ketten will die Blaue Revolution sprengen. Aber nicht «durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung», wie das die Parteikommunisten beabsichtigten. Nicht nur, weil es im Zeitalter der Atombomben fahrlässig wäre, mit dem Feuer zu spielen. Zu viele emanzipatorische Revolutionen, die sich mit Gewalt durchsetzten, vernichteten nicht nur ihre Gegner, sondern frassen am Ende auch die eigenen Kinder.

Deshalb ist es nicht mehr als bloss vernünftig, klar zu sagen: Die Blaue Revolution muss gewaltfrei sein, wenn sie eine gewaltfreie Gesellschaft etablieren will.

Mit dem Erfolg der Blauen Revolution werden wir die Fahne der Französischen Revolution von halbmast ganz nach oben ziehen. Die universell gültigen allgemeinen Menschenrechte werden nicht mehr bloss für die Angehörigen einer bestimmten Nation, sondern für alle Menschen gelten: Egal, wo sie geboren wurden, welches Geschlecht oder welche Hautfarbe sie haben.

Wie kann das gelingen?

Die Blaue Revolution wird dafür sorgen, dass die Menschheit den Nationalismus überwindet und sich in einer globalen, grenzenlosen Demokratie organisiert, die ihre Wurzeln in demokratischen Kommunen hat. Die Armut und Ausbeutung weltweit zu überwinden, gelingt nur, wenn wir einen entsprechenden politischen Rahmen bauen. Dafür braucht es den entsprechenden politischen Willen. Es ist ein Ziel von «Die Blaue Revolution» aufzuzeigen, wie dieser Willen organisiert werden kann, damit er eine Mehrheit erreicht. Dazu braucht es keine Einheitspartei. Aber es braucht Menschen, die sich in vielen verschiedenen demokratisch organisierten Gruppen und Gremien dafür einsetzen.

Eine globale Demokratie zu erreichen, welche die Macht der bisherigen Herrscher*innen einschränkt und die Weltbevölkerung zum Souverän macht, wird nicht einfach sein. Nicht wenige, die von der bisherigen politischen und wirtschaftlichen Unordnung profitieren, werden sich gegen den politischen Wandel zu mehr Gerechtigkeit wehren. Obwohl sie praktisch uneingeschränkte Machtmittel verfügen, werden sie uns höchstens bremsen können: Nichts kann eine Idee aufhalten, deren Zeit gekommen ist.

Die Idee einer globalen Demokratie ist nicht neu. Der französische Schriftsteller Victor Hugo sprach bereits im 19. Jahrhundert von der Idee der «Vereinigten Staaten der Welt»[2]. Und der Schweizer Dichter Friedrich Dürrenmatt prognostizierte in seinem 1985 veröffentlichten Kriminalroman «Justiz» sogar, dass die Welt entweder «verschweizern» oder untergehen werde.[3]

Die Blaue Revolution nimmt die Ideen dieser Schriftsteller auf und konkretisiert sie für die Umsetzung im 21. Jahrhundert: eine globale Demokratie in Form der Vereinigten Staaten der Welt mit einer globalen Verfassung, die auf jener der Schweizerischen Eidgenossenschaft basiert.

Die Verfassung der Confoederatio Helvetica ist in der aktuellen Variante allerdings nicht zukunftsfähig. Die Schweiz ist auch keine Musterdemokratie. Darüber kann ich selbst ein Liedchen singen, wurde ich doch in den 1980er-Jahren vom Schweizer Staatsschutz überwacht und registriert, bloss weil ich meine verfassungsmässigen Rechte wahrgenommen hatte.

Andere litten jedoch ungleich stärker unter den Mängeln der Schweizer Demokratie. Zum Beispiel die sogenannten Verdingkinder. Bis ins 20. Jahrhundert liessen Schweizer Behörden Jugendliche auf Dorfplätzen versteigern. Dabei wurden nicht nur Kinder Opfer von Zwangsarbeit oder Vergewaltigungen. Auch Mütter wurden zwangssterilisiert, Ungeborene zwangsabgetrieben, Kleinkinder zwangsadoptiert. «Selbst Jugendliche landeten in geschlossenen Anstalten – ohne Gerichtsurteil, bis 1981».[4] Wie viele Betroffene es gab, ist nicht bekannt. Allein im letzten Jahrhundert waren es Hunderttausende.

Auch gab es in der Schweiz viel zu lange die Geschlechter-Apartheid: Während die Männer seit der Gründung der demokratischen Schweiz im Jahr 1848 abstimmen und wählen durften, galten die Frauen lange als Menschen zweiter Klasse: Bis zur Revision des Schweizer Eherechtes im Jahr 1988 galt der Mann als gesetzliches Oberhaupt der Familie; eine verheiratete Frau durfte nur mit der Zustimmung ihres Ehegatten einer Lohnarbeit nachgehen. Noch heute verdienen Frauen in der Schweiz bei gleichwertiger Arbeit 20 Prozent weniger als Männer, obwohl die Frauen seit 1996 rechtlich den Anspruch auf gleichen Lohn haben.[5]

Trotzdem hat die Verfassung der Schweiz gegenüber anderen Demokratie-Modellen einige bemerkenswerte Vorteile, sodass sie geeignet ist, um für die globale Demokratie Pate zu stehen. Dazu gehören vor allem das Rätesystem und die direktdemokratischen Instrumente.

Das Rätesystem gilt für die Regierungen von den Gemeinden über die Kantone bis hin zum Bund. Es ist für eine demokratische Weltregierung viel praktischer als ein Präsidialsystem, wie es etwa die USA oder Frankreich kennen. In einem siebenköpfigen Weltbundesrat könnten so beispielsweise alle Weltregionen, alle Geschlechter und die relevanten Weltanschauungen angemessen vertreten sein. Und weil im Weltbundesrat wie im Schweizer Original das Präsidium jedes Jahr wechseln würde, gäbe es statt eines Personenkults immer wieder Abwechslung an der Spitze der Weltregierung.

Mit Mitwirkungsmöglichkeiten à la mode helvétique könnte die Weltbevölkerung beispielsweise via Volksinitiativen und Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen direkt politisch Einfluss nehmen.

Eine demokratische Weltordnung kann aber nicht nur die Projektion eines nationalen Demokratiemodells sein, sie muss die liberale Demokratie gleichzeitig modernisieren. Deshalb schlägt «Die Blaue Revolution» ein paar ganz neue Verfassungsartikel vor.

Zu den Grundübeln bürgerlicher, demokratischer Gesellschaften gehört beispielsweise die äusserst ungleiche Verteilung der Vermögen. Wenn das reichste Prozent der Gesellschaft gleich viel Vermögen besitzt wie die gesamte ärmere Hälfte der Gemeinschaft, kann von Gleichheit und Demokratie höchstens in Anführungszeichen gesprochen werden.

In der Weltwirtschaft sorgen zudem die für den globalen Süden höchst unvorteilhaften Terms of Trade dafür, dass die industrialisierten Staaten den globalen Reichtum unter sich verteilen. Auch die Unart, allgemeine Güter wie Wasser und Grund und Boden als Privateigentum zu betrachten, ist bis heute für Ungleichheiten verantwortlich, welche die Demokratie ad absurdum führen.

Deshalb nehme ich beim Entwurf für eine globale demokratische Verfassung im Anhang dieses Buches gegenüber dem schweizerischen Original ein paar wichtige Änderungen vor, die in den vorhergehenden Kapiteln von «Die Blaue Revolution» ausführlich begründet werden.

Mit seinem konkreten Vorschlag für eine demokratische, gerechte und nachhaltige Weltordnung bietet die Blaue Revolution den Menschen eine neue positive Vision. Eine solche ist dringend nötig, denn «der Linken mangelt es an einer glaubwürdigen Geschichte als Alternative zum Neoliberalismus», wie etwa der deutsche PR-Profi Imran Ayata sagt.[6]

Auf den folgenden Seiten lege ich dar, wie wir der Hoffnung auf ein besseres Leben wieder Nahrung geben können. Wie wir es noch rechtzeitig schaffen, das Ruder herumzureissen und unser gemeinsames Boot in eine neue Richtung lenken können, sodass wir gemeinsam das Ufer einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft erreichen werden.

Weil ich weder durch Funk noch durch Fernsehen oder Film bekannt bin, erzähle ich zwischen den einzelnen Kapiteln ein wenig aus meinem Leben.

Die Zukunft des blauen Planeten ist hoffentlich weiblich geprägt. Deshalb hat in diesem Prolog die nigerianische Autorin Ndidi Okonkwo Nwuneli das letzte Wort: «Damit wir in Frieden zusammenleben können, braucht es Gerechtigkeit in einer Gesellschaft: Gendergerechtigkeit, Klimagerechtigkeit und Gleichberechtigung von Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe.»[7]

«NZZ am Sonntag», Zürich, 30. September 2018 ↵dicocitations.lemonde.fr/blog/je-represente-un-parti-qui-nexiste-pas-encore-le-parti-revolution-civilisation-ce-parti-fera-le-vingtieme-siecle-il-en-sortira-dabord-les-etats-unis-deurope-puis-les-etats-unis-du-monde↵Dürrenmatt, Friedrich, «Justiz», Zürich, 1985, Seite 41 ↵www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/verdingkinder-in-der-schweiz-wir-kindersklaven-a-1111341.html↵www.amnesty.ch/de/themen/menschenrechte/dok/2018/70-jahre-allgemeine-erklaerung-der-menschenrechte/buch/frauenrechte-in-der-schweiz-menschenrechte-im-schneckentempo↵«Der Bund», Bern, 5. November 2019 ↵«Sonntagsblick», Zürich, 3. November 2019 ↵

1

Eine Nation – eine Demokratie

Der Saal im ehrwürdigen «Kaufleuten» in Zürich kocht. Seit rund zwei Stunden fegt das internationale Ensemble von Incognito an einem Novemberabend 2019 über die Bühne. Das international gemischte Publikum tanzt ausgelassen zum Soul und Jazz der fast 20-köpfigen Band. Die Stimmung ist energiegeladen und entspannt zugleich. Bandleader Jean Paul «Bluey» Maunick strahlt ins Publikum und ruft zum Ende des Konzerts: «We are one nation, we are one family.» Das Publikum stampft, klatscht, jubelt.

Der in Mauritius geborene englische Musiker weiss, wovon er spricht. Schliesslich spielt er seit fast 40 Jahren rund um die Welt Konzerte. Dabei wollte «Bluey» Maunick aber nicht nur der musizierende Magier auf der Bühne sein, der die Leute zum Tanzen brachte: «Ich wollte, dass die Welt meine Band ist», sagt er. So waren bei Incognito seit Gründung der Band insgesamt über 1500 Musiker*innen und Sänger*innen dabei. «Blueys» Idee war es von Anfang an, «ein musikalisches Kollektiv» aus den unterschiedlichen Menschen aus ganz verschiedenen Ländern zu bilden.[1]

Also ist es für ihn nicht einfach eine Floskel, wenn er «We are one nation» so locker dahinsagt. Für Jean Paul «Bluey» Maunick ist es eine Lebenseinstellung. Für die meisten seiner Fans ist diese Aussage wohl eine Selbstverständlichkeit. Denn sie wissen: Wir Menschen haben alle die gleichen Wurzeln, wir alle haben das gleiche Blut in den Adern, wir alle haben grundsätzlich die gleichen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Egal, aus welchem Schweizer Kanton sie stammen, egal, in welchem Land sie aufgewachsen sind, egal, welche Hautfarbe sie haben, egal, ob sie sich als Frau, Mann oder Transmenschen bezeichnen, egal, ob sie an einen Gott glauben oder nicht: Alle zusammen bilden die Menschheit, sind eine Nation.

Darum geht es der Blauen Revolution: Die Spezies Mensch muss in der Entwicklung endlich einen Schritt weiterkommen. Wir müssen die Erkenntnis, dass wir uns von den Inuit in Kanada über die Einheimischen der Zentralschweiz bis zu den Maori auf Neuseeland alle so ähnlich sind, dass unsere Organe problemlos ausgetauscht werden können, endlich ernst nehmen. Und diese Erkenntnis in die reale Politik umsetzen. Genauso wenig, wie es jemanden in den Sinn kommen würde, die Menschen nach ihren verschiedenen Blutgruppen in «Rassen» einzuteilen, macht es Sinn, Menschen nach dem Ort ihrer Geburt oder der Farbe ihrer Haut zu schubladisieren.

Abgesehen davon, dass «Blueys» Wort der «one nation» also grundsätzlich Sinn macht, gibt es zu Beginn des dritten Jahrtausends mehrere Gründe, aus der wissenschaftlichen Erkenntnis, dass alle Menschen gleich sind, die politischen Konsequenzen zu ziehen.

Neben älteren moralischen Appellen wie «Proletarier aller Länder vereinigt euch» aus dem Manifest der Kommunistischen Partei von 1848[2] oder neueren Aufrufen wie jenem von Jean Ziegler – politisches Enfant terrible der Schweiz –, wonach «das tägliche Massaker des Hungers der absolute Skandal unserer Zeit» ist[3], ist es heute vor allem die Frage nach dem Überleben der menschlichen Zivilisation, die auf eine globale Antwort drängt. Dass durch die globale Klimaerwärmung das Überleben der zivilisierten Menschheit auf dem Spiel steht, ist heute weitgehend unbestritten. Natürlich gibt es Menschen, die das bestreiten. Mit diesen dürfen sich gerne jene auseinandersetzen, die auch mit Menschen diskutieren, die behaupten, dass die Erde eine Scheibe ist.

«Unser Planet steht in Flammen», sagte UNO-Generalsekretär António Guterres in seiner Neujahrsbotschaft Anfang Januar 2020. Er sprach damit die Klimaerwärmung an, die sich damals mit gigantischen Waldbränden in Australien manifestierte. Seine Aussage war aber auch eine vieldeutige Metapher. So sprach Guterres ebenfalls davon, dass sich die Welt in Aufruhr befinde, und dass die geopolitischen Spannungen so stark seien wie noch nie im 21. Jahrhundert. Die Menschen seien zornig und verstört. So könne es nicht weitergehen, sagte er. Sein verzweifelter Aufschrei war auch das Eingeständnis der Ohnmacht der Vereinten Nationen und damit der gesamten Staatengemeinschaft.[4]

Die Metapher des UNO-Generalsekretärs orientierte sich dabei nicht zufällig an der Botschaft der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg, die diese knapp ein Jahr zuvor am World Economic Forum (WEF) in Davos an die führende Mangager-Guilde gerichtet hatte: «Das Haus brennt».[5]

Seit dem flammenden Appell Thunbergs an die selbsternannte Wirtschaftselite sind die Monate ins Land gegangen, ohne dass sich eine funktionstüchtige Feuerwehr formierte. Thunbergs Schulstreiks fürs Klima haben zwar Millionen von jungen Menschen motiviert, regelmässig für eine politische Lösung des Klimaproblems auf die Strasse zu gehen, doch ausser der öffentlichen Erkenntnis, ein gravierendes Problem zu haben, hat sich wenig verändert.

Immerhin haben zahlreiche Städte in der Schweiz, in Europa und rund um den Globus unterdessen den Klimanotstand ausgerufen. Und selbst das EU-Parlament schloss sich Ende November 2019 diesem Trend der Symbolpolitik an und verlangte von der EU-Kommission, dass die EU bis 2050 klimaneutral wird.[6]

Doch getan hat sich nichts: Trotz im Vorfeld wohlwollend formulierter Verlautbarungen ging die 25. UNO-Weltklimakonferenz in Madrid im Dezember 2019 ohne Fortschritte zu Ende. Das Plenum erinnerte die rund 200 Staaten bloss an ihre Zusage, im nächsten Jahr ihre Klimaschutzziele für 2030 möglichst zu verschärfen. Aktivist*innen waren zurecht empört, dass das Pariser Abkommen von 2015 weiterhin ein Papiertiger blieb: «Diese Klimaschutzkonferenz war ein Angriff auf das Herz des Pariser Abkommens. Sie verrät all jene Menschen, die weltweit längst unter den Folgen der Klimakrise leiden und nach schnellen Fortschritten rufen», sagte Greenpeace-Deutschland-Geschäftsführer Martin Kaiser. Für den WWF war die Konferenz «ein gruseliger Fehlstart in das für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens so entscheidende Jahr 2020». Auch für die internationale Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan war das Ergebnis «völlig inakzeptabel.»[7]

Dabei aber einfach mit dem Finger auf Staaten wie die USA oder Brasilien zu zeigen, die mit ihren reaktionären Präsidenten zweifellos zu den Bremsern einer nachhaltigen Klimapolitik gehören, wäre zu billig. Selbst die reiche Schweiz, die sich gerne als Klima-Musterschülerin verkauft, ist weit davon entfernt, die eigenen, für einen wirksamen Klimaschutz immer noch ungenügenden Ziele einzuhalten. Sie rutschte 2019 im internationalen Klima-Länderrating gegenüber dem Vorjahr gar um sieben Plätze ab und belegt nur noch Rang 16. Vor der Schweiz liegen nicht nur Länder wie Schweden oder Dänemark, sondern auch Marokko und Indien. Grund dafür ist die schwache Klimapolitik der Eidgenossenschaft. Obwohl der Schweizer Bundesrat im August 2019 das Netto-Null-Ziel bis 2050 ankündigte, fehlt es an einer verbindlichen Umsetzungsstrategie. Auch das Ziel, die Inlandsemissionen bis 2030 um 30 Prozent zu reduzieren, war bloss eine Absichtserklärung.[8]

Nicht nur Umweltorganisationen sind besorgt. Auch das World Economic Forum (WEF) hatte die Krise auf dem Radar. Eine Woche vor dem Jahrestreffen in Davos stellte das WEF Mitte Januar 2020 die wichtigsten Risiken der Zukunft vor. Der «Global Risk Report» zeichnet vor dem Hintergrund zunehmender politischer Spannungen, drohendem wirtschaftlichem Abschwung und Umweltrisiken ein düsteres Bild. Und das war noch bevor die Coronakrise überhaupt ein Thema war. Sorgen machen sich die Entscheidungsträger*innen aus Politik und Wirtschaft insbesondere wegen extremer Wetterereignisse, dem Verlust von Biodiversität und der von Menschen verursachten Umweltkatastrophen. Der Risikoreport folgert, dass wegen des Klimawandels die Migration zunehmen wird und sich die geopolitischen Spannungen weiter verschärfen werden. Neben der Klimakrise wird auch der Verlust der Biodiversität, die so schnell schwindet wie noch nie in der Geschichte der Menschheit, als grosses Risiko für die künftige Entwicklung bezeichnet.

Für den «Global Risk Report» wurden rund 750 Personen befragt, darunter auch sogenannte «Global Shapers», Menschen ab Jahrgang 1980. Diese sorgen sich noch stärker um die Umwelt. Sie sehen im Klimawandel nicht nur langfristige Risiken, sondern gehen vielmehr davon aus, dass bereits ab 2020 Umweltkatastrophen wie extreme Hitzewellen oder unkontrollierbare Waldbrände ansteigen werden.[9] Angesichts der massiven Brände im Amazonasgebiet und in Australien im Jahr 2019 ist das keine allzu gewagte Prognose.

Zu diesen Erkenntnissen passte, dass sich kurz vor dem WEF auch der Schweizer Tennisspieler Roger Federer aus der Deckung wagte und zum Klimanotstand ein klares Statement abgab. Federer war von der Klimajugend mit dem Hashtag #rogerwakeupnow aufgefordert worden, sich gegen die Politik einer seiner wichtigsten Sponsoren auszusprechen.

Ende November 2018 hatten zwölf Aktivist*innen auf die umweltschädliche Investitionspolitik der Schweizer Grossbank Credit Suisse (CS) aufmerksam gemacht, als sie in Vorraum einer Bankfiliale als Sportler verkleidet Tennis spielten. Für diese Aktion des zivilen Ungehorsams wurden sie von der Staatsanwaltschaft wegen Hausfriedensbruchs angeklagt, Mitte Januar 2020 in erster Instanz von einem Bezirksrichter aber überraschend freigesprochen. Der bürgerliche Einzelrichter attestierte den Demonstrierenden, angesichts eines realen Notstandes gehandelt zu haben. Dafür dürfte nicht zuletzt Roger Federer mitverantwortlich gewesen sein. Denn der Richter geisselte nicht nur die ineffiziente Politik, er wies auch explizit darauf hin, dass Federer am Wochenende zuvor auf die Forderungen der Aktivist*innen reagiert hatte.[10] Dieses juristische Wunder hielt allerdings nicht lange. Mitte September hob das Waadtländer Kantonsgericht die Freisprüche auf und verurteilte die Aktivist*innen zu Bussen um 200 Franken und zur Übernahme der Gerichtskosten.[11]

Dass Weltstar Federer Stellung nahm, ist auch Greta Thunberg zu verdanken, die seine Zusammenarbeit mit der CS auf Twitter thematisierte. Federer reagierte schliesslich mit einem klaren Statement: «Ich nehme die Auswirkungen und die Bedrohung durch den Klimawandel sehr ernst, zumal meine Familie und ich inmitten der Zerstörung durch die Buschbrände in Australien ankommen», schrieb er, als er gerade zum Australian Open unterwegs war. Als Vater von vier Kindern und leidenschaftlicher Befürworter der universellen Bildung habe er grossen Respekt und Bewunderung für die Jugendklimabewegung. «Ich bin den jungen Klimaaktivisten dankbar, dass sie uns alle dazu zwingen, unser Verhalten zu überprüfen und nach innovativen Lösungen zu suchen. Wir sind es ihnen und uns selbst schuldig, zuzuhören.» Er sei sich seiner Verantwortung als Privatperson, als Athlet und als Unternehmer «sehr bewusst». Er «möchte diese privilegierte Position für den Dialog in diesen wichtigen Fragen mit meinen Sponsoren nutzen», schrieb Roger Federer.[12]

Wie ernst es um den ökologischen Zustand der Welt tatsächlich steht, wissen nicht nur Federer oder die Autor*innen des «Global Risk Report». Ein Beispiel aus Zentralafrika schildert die Geografin und Umweltaktivistin Hindou Dumarou Ibrahim im Vorwort zu Carola Racketes Buch «Handeln statt hoffen»: Seit Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Durchschnittstemperatur im Tschad um mehr als 1,5 Grad Celsius angestiegen. Was auch für die meisten Länder Afrikas gelte. «Unsere Bäume brennen. Unsere Wasservorkommen versiegen. Unsere fruchtbaren Äcker verwandeln sich in Wüste.»

Als indigene Frau lebt und arbeitet Hindou Dumarou Ibrahim mit ihrer Gemeinschaft im Einklang mit der Natur. Die Jahreszeiten, die Sonne, den Wind und die Wolken sehen sie als Verbündete. «Inzwischen sind sie zu Feinden geworden.» Als Beispiel der verheerenden Veränderung erwähnt die Koordinatorin der Organisation «Femmes Peuples Autochones du Tchad» den Tschadsee, der früher einer der fünf grossen Süsswasserspeicher Afrikas war. «Als ich vor gut 30 Jahren geboren wurde, hatte der See eine Fläche von 10 000 Quadratkilometern. Heute sind es noch 1250.» Allein in ihrer Lebenszeit verschwanden also fast 90 Prozent des Sees.[13] Zum Vergleich: Der grösste See der Schweiz, der Bodensee, hat eine Fläche von rund 530 Quadratkilometern. Der Tschadsee schrumpfte also um eine Fläche, die 16 Mal so gross ist wie der Bodensee.

Während sich die Klimaerwärmung seit Jahren bereits deutlich manifestiert, kommt die Erkenntnis, dass wir das herrschende System grundlegend verändern müssen, erst langsam in der Mitte der Gesellschaft an. Obwohl der damalige Präsident der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich, Joël Mesot, Ende 2019 nicht glaubte, «dass alles realistisch ist», was die Klima-Aktivist*innen auf der Strasse forderten, fand er Greta Thunbergs Engagement immerhin «hoch interessant». Die ETH wolle zwar Technologien anbieten, um den Klimawandel zu bekämpfen. «Aber Technologie allein genügt nicht. Es braucht auch Veränderungen in der Gesellschaft und den Willen aller Staaten, am gleichen Strick zu ziehen», sagte Mesot.[14]

In welche Richtung die Veränderungen der Gesellschaft und insbesondere das Wirtschaftssystem gehen müssen, formuliert die ehemalige Basler Ständerätin Anita Fetz. In ihrem Essay mit dem Titel «Kann die Demokratie den Kapitalismus zivilisieren?» schreibt Fetz, dass die modernen bürgerlichen Demokratien «nicht nur aus dem Prinzip des one woman one vote» bestehen, sondern «ganz entscheidend auch im Selbstverständnis, dass alle Menschen gleich viel wert sind und dass der Rechtsstaat die Minderheiten schützt». Die Sozialdemokratin windet der Schweizer Demokratie ein Kränzchen: «Kaum ein Land hat eine so weitgehende direkte Demokratie auf allen Staatsebenen verwirklicht wie die Schweiz. Wir können mitbestimmen von der Gestaltung des Dorfplatzes bis zur ökologischen und sozialen Verantwortung der Konzerne, die ihren Hauptsitz in der Schweiz haben.»

Fetz plädiert als fortschrittlich denkende Politikerin und Unternehmerin für eine ökosoziale Marktwirtschaft, um «das Verhältnis von Mensch und Wirtschaft wieder vom Kopf auf die Füsse» zu stellen. Die Wirtschaft sei für die Menschen da und nicht umgekehrt. Dafür brauche es nicht nur eine geschlossene Kreislaufwirtschaft, in der die Ressourcen konsequent wiederverwendet werden, sondern auch alternative Arbeitsformen und die Ausdehnung der Demokratie. Das heisst neben der verstärkten «Partizipation für die Mitarbeitenden» in den Unternehmen auch daran zu denken, dass «die nicht vermehrbare Natur wie Wasser und Boden allen gehören.» Anita Fetz fordert nicht nur deren «Vergemeinschaftung», sie blickt auch über die Grenzen: «Für eine starke Demokratie ist das Schweizer Modell der direkten Demokratie eine gute Ausgangslage.» Und mit Blick auf das weltweite Engagement der Jugend gegen den Klimawandel zeigt sie sich optimistisch. Die Jugendlichen seien einerseits «digital global vernetzt», gleichzeitig aber auch «analog vor Ort sichtbar in ihren Städten.» Fetz ist überzeugt, dass die Klimajugend die Zukunft verändert.[15]

Weil ihr die vielen Jahre als linke Politikerin in bürgerlich dominierten Parlamenten den Hang zum Träumen offenbar ausgetrieben hatten, spinnt sie den Faden nicht weiter. Sonst wäre sie zwangsläufig bei einer globalen, direkten Demokratie gelandet, deren Wirtschaftssystem sich auf eine ökosoziale Kreislaufwirtschaft stützt und als eine wesentliche Bedingung dafür den Grund und Boden sowie das Wasser vergesellschaftet hat.

Jugendliche Klima-Aktivist*innen argumentieren ähnlich wie die erfahrene Feministin Fetz. So schreibt beispielsweise Nadia Kuhn, dass der Kampf gegen den Klimawandel «Hand in Hand» gehen müsse «mit dem Kampf für mehr Demokratie und mehr Gerechtigkeit in allen Lebensbereichen.» Technokratische Scheinlösungen reichten nicht aus, um die drohende Umweltkatastrophe aufzuhalten, schreibt die Co-Präsidentin der Jungsozialist*innen des Kantons Zürich.[16] Und ihr Kollege Luzian Franzini, Co-Präsident der Jungen Grünen Schweiz, weist darauf hin, dass die Schweiz nicht nur in Sachen Demokratie etwas zu bieten hat, sondern auch eine besondere Verantwortung trägt: «Aus internationaler Perspektive ist die Schweiz als reichstes Land der Welt prädestiniert dafür, eine globale Führungsrolle im Kampf gegen die Klimakrise wahrzunehmen.» Für ihn ist klar, dass die Klimabewegung Geschichte schreibt. Der Kampf gegen die Klimaerwärmung sei die Chance, «die grundlegenden Machtstrukturen zu verändern und eine Welt zu gestalten, welche allen ein würdiges Leben garantiert – auch den künftigen Generationen.»[17]

Noch konkreter wird die Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin Carola Rackete, als sie eine Regierung fordert, die «auf allen Ebenen viel mehr Demokratie zulässt. Wir brauchen echte Demokratie in der Wirtschaft, in der Politik und in der Gesellschaft.»[18] Gleichzeitig müssten wir aber ebenfalls «den Überkonsum beenden und der globalen Ungerechtigkeit und dem Verfall der Menschenrechte etwas entgegensetzen», verlangt sie. So wie sie im Juni 2019 als Kapitänin der Sea-Watch 3 nicht ewig warten konnte, bis sie die geflüchteten Menschen an Bord in Italien in Sicherheit brachte, so könne auch die Menschheit nicht darauf warten, «dass sich die Staaten selbst verpflichten.»[19]

Carola Rackete will mehr Demokratie, viel mehr Demokratie. Zu Recht. Obwohl nach dem Ende der Sowjetunion Ende der 1980er-Jahre von den Siegern des Kalten Krieges ein neues Zeitalter der Demokratie ausgerufen wurde, hat der Begriff im 21. Jahrhundert für viele Menschen den guten Ruf verloren. Zu viele wurden enttäuscht. Zu viele Zivilist*innen und Soldat*innen starben im Namen der «Demokratie» auf den Schlachtfeldern des Mittleren Ostens. Zu viele Menschen wurden in den demokratischen Staaten der EU oder in den USA wirtschaftlich abgehängt, damit deren Regierungen die Reichen noch reicher machen konnten.

Es ist insofern keine grosse Überraschung, dass Wendy Brown, Professorin für politische Theorie an der Universität Berkeley, konstatiert: «Die Demokratie, die wir einst hatten, ist tot.» Weil die Neoliberalen die Demokratie als störend empfinden, sollte sie «auf ein Kreuzchen auf einem Wahlzettel» reduziert werden, schimpft sie. Doch die linke amerikanische Intellektuelle belässt es nicht dabei, sich zu beklagen. Obwohl die Demokratie in einer globalisierten Welt nicht mehr wie früher funktionieren könne, sei das auf einer lokalen oder regionalen Ebene noch möglich. Gefragt, ob die direkte Demokratie der Schweiz «ein Rezept für die Welt» wäre, setzt die Aktivistin für Frauenrechte zu einem Loblied an: «Das wäre phänomenal», sagt sie. Die Schweiz habe eine direkte Demokratie, die «an öffentliche Interessen und das Gemeinwohl glaubt. Eine Demokratie, die die Debatten öffentlich austrägt.» Dass die Ergebnisse der Abstimmungen nicht alle glücklich machten, sei halt Demokratie. «Ja, die Welt wäre in einem guten Zustand, wenn sie verschweizern würde», sagt Wendy Brown.[20]

Damit nimmt die kalifornische Professorin den Begriff von Friedrich Dürrenmatt auf. Wendy Browns Votum wird in progressiven Kreisen in der Eidgenossenschaft nicht besonders geschätzt, leidet doch die Linke in diesem kleinen, reichen Land daran, praktisch immer in der Minderheit zu sein. Während sich Schweizer Grossbanken und multinationale Konzerne, die aus Steuergründen ihren Sitz in der Schweiz haben, mit der Unterstützung des Bürgertums am Elend der Welt bereichern.

Denn die Schweiz hat nicht nur ein ausgeklügeltes politisches System, das der erwachsenen Bevölkerung mit Schweizer Pass weitgehende Mitsprachemöglichkeiten einräumt. Die Schweiz ist auch ein Land, das von der weltweiten Ausbeutung profitiert. Natürlich ist sie damit nicht allein. Sie profitiert im Verbund mit den anderen Staaten des globalen Nordens, die der Welt die Handelsbedingungen diktieren. Der ehemalige Berner SP-Nationalrat Rudolf Strahm beschreibt die Verhältnisse so: «Die in den internationalen Handelsabkommen und der WTO (Word Trade Organization) festgeschriebene Freihandelsdoktrin hat stets soziale Fragen ignoriert, etwa Kinderarbeit und Lohndumping. Ökologische Kritik wurde beiseitegeschoben, etwa Überfischung, Gentechnologie, Klima- und Atmo­sphärenschutz. Der doktrinär durchgesetzte Freihandel ist sozial und ökologisch blind.»[21]

So ist es nicht verwunderlich, dass auch die sozialdemokratische Zürcher Nationalrätin Jacqueline Badran dafür kämpft, das herrschende Wirtschaftssystem «zu einer postkapitalistischen Gesellschaft, die nicht mehr den Wachstumszwang unterworfen ist», umzubauen. «Nur weil wir die Ausbeutung nicht mehr vor der eigenen Haustür haben, ist sie nicht verschwunden – wir haben sie einfach ins Ausland ausgelagert», analysiert die oppositionelle Unternehmerin. Deshalb «müssen wir jetzt die Köpfe zusammenstecken – und eine neue Geschichte entwickeln, welche die globalen Probleme angeht.»[22] Ganz ähnlich sieht das Strahm: «Die sozialen und ökologischen Schutzregeln, die in den zivilisierten westlichen Nationen über hundert Jahre hinweg schrittweise installiert worden sind, braucht es auf globaler Ebene.»[23]

Doch damit wäre es nicht getan: Es reicht nicht, bloss ökologische und arbeitsrechtliche Regeln erfolgreicher Staaten wie jene der Schweiz global umzusetzen. Unabhängig davon, dass die Gewerkschaften zu Recht darauf hinweisen, dass es etwa beim Kündigungsschutz oder bei der fehlenden Demokratie auf Betriebsebene in der Schweiz noch grosse Defizite gibt. Angesichts der sich weiter verschärfenden Klimakrise braucht es einen fundamentalen Umbau des herrschenden Wirtschaftssystems. Darauf weisen auch die jugendlichen Klima-Aktivist*innen immer wieder hin, wenn sie den «system change» fordern.

In progressiven Kreisen der USA, und seit Beginn des Jahres 2020 auch in der Kommission der Europäischen Union, ist viel von einem grünen New Deal die Rede, mit dem der Umbau der Wirtschaft vorangetrieben werden sollte, um das Leben in den reichsten Ländern der Welt CO2-neutral zu organisieren. Für viele kritische Wirtschaftsfachleute oder Aktivist*innen gehen diese Pläne allerdings zu wenig weit. Abgesehen davon, dass sie bloss auf dem Papier existieren.

Für Niko Paech beispielsweise braucht es einen Aufstand und «Gruppen von Menschen, die eine Lebensweise praktizieren, die übertragbar ist auf 7,5 Milliarden Menschen.» Für den Professor für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen ist der von der EU-Kommission angekündigte Green Deal und der New Green Deal, wie ihn die amerikanischen Demokrat*innen propagieren, «eine Mogelpackung, die das Unmögliche verspricht: keine Wohlstandsreduktion bei gleichzeitig hinreichendem Umweltschutz.» Bestandteile einer ökologisch vertretbaren Wirtschaft sieht er etwa im Verbot «aller Urlaubsflüge, Kreuzfahrten und anderem schamlosen Luxus». Und in der Einführung einer 20-Stunden-Arbeitswoche, «um bei halbierter Produktion dennoch Vollbeschäftigung zu erreichen».[24]

Paech nennt sein Wirtschaftsmodell «Postwachstumsökonomie». Er argumentiert, dass man Wertschöpfung nicht von ökologischen Schäden entkoppeln dürfe und dass ab einem gewissen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau «mehr Einkommen und Konsum nicht zu mehr Lebenszufriedenheit» führe. Ständiges Wachstum führe sogar zu kontraproduktiven sozialen Effekten in Bezug auf Hunger, Armut oder Verteilungsgerechtigkeit. Paech bleibt allerdings die Antwort auf die Frage schuldig, wie sich der globale Süden auf diese Weise wirtschaftlich so entwickeln könnte, dass die Menschen auch dort über genügend sauberes Wasser und gesunde Nahrung verfügen und nicht weiterhin auf ausreichende Bildung, vernünftige Transportmöglichkeiten oder eine anständige Gesundheitsversorgung verzichten müssen.[25]

Da ist sein amerikanischer Kollege Jeremy Rifkin optimistischer. In seinem Buch «The Green New Deal»[26] kommt der Ökonom und Publizist zum Schluss: «Es gibt Zeiten in der Geschichte, die zum Zusammenbruch einer Zivilisation führen, weil neue Revolutionen in den Bereichen Kommunikation, Energie, Mobilität und Logistiktechnologie nicht in Sicht sind. Glücklicherweise treibt diesmal eine neue, leistungsstarke grüne Infrastruktur-Revolution die alte Infrastruktur beiseite und schafft gleichzeitig die Möglichkeit, auf der Erde einfacher und nachhaltiger zu leben.»[27]

Für Rifkin ist der Green New Deal, wie ihn auch die US-amerikanische demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez fordert, «ein starkes Plädoyer für die jüngeren Generationen». Denn diese sei es, die Amerika umzuwälzen werde, um mit einer wichtigeren Agenda voranzukommen: «Nicht nur um die sozialen Perspektiven und das wirtschaftliche Wohlergehen aller Amerikaner*innen zu verbessern, sondern auch, um Amerika und seine Bevölkerung als Vorreiter zu positionieren, den Klimawandel zu begrenzen und das Leben auf der Erde zu retten.» Für Rifkin ist deshalb der Aufbau einer emissionsfreien Infrastruktur für die dritte industrielle Revolution «der Kern des Green New Deal.»[28]

In seinem Plädoyer für eine grüne Ökonomie legt er einen mitreissenden Optimismus an den Tag, wie man ihn auch von amerikanischen Sportler*innen gewohnt ist. Ein Optimismus, der auch den diesbezüglich zurückhaltenderen Europäer*innen guttun würde. Dieser Optimismus, dass es genüge, die Ärmel hochzukrempeln, habe die USA während mehr als zweihundert Jahren durch schwierige Prüfungen geführt. «Dies liegt in unserer kulturellen DNA», schreibt Rifkin als Nachfahre eingewanderter Europäer. Die andere Sicht der Native Americans auf die Geschichte der USA wird später in diesem Buch thematisiert.

Um aber bei Rifkins Optimismus zu bleiben: Er hofft, dass «die Graswurzelbewegung für einen Green New Deal, die sich jetzt in ganz Amerika ausbreitet», es schafft, in den Vereinigten Staaten eine grüne Infrastruktur für die dritte industrielle Revolution aufzubauen, um so den Klimawandel zu begrenzen «und eine gerechtere und humanere Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen.»[29]

Eine solche «gerechtere und humanere» Gesellschaft müsste natürlich auch jenem grossen Teil der Menschen im globalen Süden zugutekommen, die in bitterster Armut leben. Wollte man den aktuellen Lebensstandard der Mittelklasse Europas oder Nordamerikas zum Massstab eines guten Lebens für alle Erdenbürger*innen machen, bräuchten wir über den Daumen gepeilt zwei bis drei Planeten, um die Nachhaltigkeit zu garantieren. Selbst wenn der Green New Deal so umgesetzt würde, wie sich das Rifkin und Ocasio-Cortez vorstellen.

Deshalb werden wir nicht um die Einsicht der Umwelt-Aktivistin Carola Rackete herumkommen, wonach es dringend erforderlich ist, «dass wir Gesetze einführen, die den Ressourcenkonsum der Menschen in der Wohlstandsgesellschaft bremsen.»[30] Wobei dieses Limit des Ressourcenverbrauchs durchaus global gemeint ist. Und zwar beileibe nicht nur für Privatpersonen. «Unternehmen müssen daran gehindert werden, aus der Zerstörung der Natur Profit zu schlagen», fordert Rackete.

Um den Profit, wie er bisher erzielt wurde, künftig in ökologischere Bahnen zu führen, fordert der Schweizer Ökonom Ernst Fehr «eine allgemeine Klimasteuer, die alle Produkte proportional zu den verursachten Treibhausgasemissionen besteuert.»[31] Im Gegensatz zu Rackete kann der 63-jährige Professor für Mikroökonomik an der Universität Zürich kaum als Antikapitalist bezeichnet werden, schliesslich setzt er mit der Klimasteuer auf ein marktkonformes Instrument: «Mit einer Klimasteuer würde der Markt die Treibhausemissionen stark reduzieren», sagt Ernst. Dabei reiche eine CO2-Abgabe, wie sie etwa im Schweizer Parlament Ende 2019 diskutiert wurde, nicht aus. Ernst sieht die Klimasteuer breiter, nur so wäre es möglich, «die hohe Emissionen verursachende Fleischproduktion» zu verringern, «weil sich das Fleisch verteuern würde.»

Obwohl es aus ökologischen Gründen sinnvoll ist, den weltweiten Fleischkonsum zu reduzieren, würde eine «Fleischsteuer» allerdings dazu führen, dass sich die Ungleichheit weiter zuspitzte: Wer reich ist, könnte Fleisch essen, ohne sich einschränken zu müssen. Die Armen hingegen müssten sich mit Reis begnügen.

Hier würde nur eine Kontingentierung Abhilfe schaffen. Allenfalls in Kombination mit einer Fleischbörse. In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung könnte das beispielsweise über eine Art CO2-Kreditkarte laufen. Die Wissenschaft könnte berechnen, wie viel Fleisch ein Mensch im weltweiten Durchschnitt pro Woche essen darf, damit eine nachhaltige Landwirtschaft möglich wäre. Nehmen wir an, dass dieser Wert bei 100 Gramm Fleisch pro Person liegen würde. Alle die weniger verbräuchten, könnten ihr «Fleischguthaben» an die internationale «Fleischbörse» bringen, um es dort an jene zu verkaufen, die mehr als die ihnen zustehenden 100 Gramm pro Woche essen wollen. Damit wäre gewährleistet, dass jede Person so viel Fleisch essen könnte, wie ihr zusteht. Mit dem netten Begleiteffekt, dass Vegetarier*innen mit dem Verkauf ihrer Kontingente sogar noch Geld verdienen würden.

Damit sind wir mitten in der Diskussion der sozialen Frage. Wie sich von der Obrigkeit verfügte Preiserhöhungen bei Bürger*innen, die sich ihrer Demonstrationsmacht bewusst sind, aber in den Entscheid nicht einbezogen werden, auswirken können, haben die Gilet Jaunes in Frankreich gezeigt. Nach einer ökologisch begründeten Preiserhöhung des Treibstoffs legten sie Frankreich über Monate teilweise lahm. Jeremy Rifkin zitiert in «The Green New Deal» zu Recht den Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes Sharan Burrow, der davor warnt, dass der «wirtschaftliche Wandel, mit dem wir konfrontiert sind, sich in einem Ausmass und innerhalb eines Zeitrahmens vollzieht, der schneller als jeder andere in unserer Geschichte.» Burrow verlangt deshalb, dass in allen Ländern und für benachteiligte Gemeinden, Regionen und Sektoren «gerechte Übergangsfonds» eingerichtet werden, um Investitionen in Bildung und Umschulungen zu finanzieren. «Der soziale Schutz der Arbeiter*innen muss gewährleistet werden.»[32]

Auch die linken Parteien in der Schweiz arbeiten zusammen mit den Gewerkschaften darauf hin, dass nicht die Lohnabhängigen die Zeche des ökologischen Wandels bezahlen müssen. Beat Ringger, damals geschäftsführender Sekretär des linken Schweizer Thinktanks Denknetz, hat das in seinem System-Change-Klimaprogramm so formuliert: «Alle Versuche, die Kosten des Klimaschutzes auf die breite Bevölkerung abzuwälzen und gleichzeitig grosse Vermögen vor dem Zugriff zu bewahren sowie wichtige Machtzentren unangetastet zu lassen, werden scheitern – zu Recht.»[33]

Bei der Verknüpfung von ökologischen und sozialen Fragen geht es aber nicht nur darum, den alten Traum einer gerechten Gesellschaft mithilfe der neuen grünen Welle auf der Ebene der Nationalstaaten zu erreichen. Der Umbau der Wirtschaft hin zu einer weltweit nachhaltigen Ökonomie ist nur möglich, wenn er sowohl für die gewöhnlichen Menschen im globalen Norden als auch den breiten Massen im globalen Süden einen positiven Wandel verspricht. «Eine bessere Ökonomie muss sich am guten Leben für alle orientieren», schreibt Carola Rackete.[34] Um weltweit soziale Gerechtigkeit herzustellen und zeitgleich die grassierende Armut zu überwinden, müssen allgemeine Güter wie «die Atmosphäre, die Polarregionen, die Weltmeere, das All, aber auch das Internet» allen Menschen zur Verfügung gestellt werden. Genauso wichtig ist allerdings, dass gleichzeitig die sozialen Güter verbessert würden: «Gesundheitsversorgung oder Bildung, bezahlbares Wohnen und öffentlicher Nahverkehr.» Ein solches Wirtschaftssystem braucht klare Regeln. Rackete plädiert deshalb für ein «Kontrollgremium, das dafür sorgt, dass die Regeln eingehalten werden und die Nutzung gerecht ist.»

Damit ein solches Gremium weltweite Durchsetzungskraft hat, braucht es allerdings den entsprechenden demokratischen Unterbau. Um die menschliche Zivilisation trotz der sich verschärfenden Klimaerwärmung zu bewahren, braucht es nicht nur bei der Produktion ein anderes Wirtschaftssystem. Es braucht auch «eine markante Änderung der Lebensgestaltung und der Konsumgewohnheiten», wie Ringger postuliert.[35]

Um dahin zu kommen, müssen wir aber über den «Elefanten in unseren Wohnzimmern sprechen», wie der deutsche Soziologe und Autor Harald Welzer sagt. Denn das Problem ist nicht die Not oder die Armut, sondern der Wohlstand. Während Durchschnitts-Schweizer*innen im «Turbokapitalismus» wie Maden im Speck leben, ist das aktuelle System «darauf angewiesen, dass Menschen ohne Unterlass neue Bedürfnisse entwickeln und dass es Wirtschaftszweige gibt, die diese neu entwickelten Bedürfnisse befriedigen.» Dass dies zum Kollaps führt, wird ausgeblendet: Jedes Produkt braucht Rohstoffe und Energie und richtet so Zerstörung an. «Hinterher muss der ganze Kram noch entsorgt werden. Über diesen Elefanten in all unseren Wohnzimmern sprechen wir nicht.» Um das System umzubauen, empfiehlt Welzer kleinere «konkrete Utopien». Zusammen könnten diese das grosse Ganze nachhaltig verändern. Allerdings rechnet er mit Widerstand bei der Umsetzung dieser konkreten Utopien: «Der Prozess, da hinzukommen, verläuft über Konflikte. Denn Menschen möchten ihre Besitzstände, ihre Gewohnheiten ungern freiwillig aufgeben. Aber Modernisierung bedeutet immer Konflikt.»[36]