Die Blume von Surinam - Linda Belago - E-Book

Die Blume von Surinam E-Book

Linda Belago

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Beschreibung

Fesselnde Familiensaga in farbenfroher exotischer Landschaft

Surinam, 1876: Julie und Jean führen eine glückliche Ehe und bewirtschaften erfolgreich ihre Zuckerrohrplantage. Doch dunkle Wolken ziehen auf: Es drohen wirtschaftliche Sorgen. Als Abhilfe werden indische Arbeiter in das südamerikanische Land geholt. So kommt die junge Inika mit ihren Eltern auf die Plantage und sorgt für erbitterte Rivalität zwischen Julies Sohn und ihrem Stiefenkel ...

Linda Belago bei beHEARTBEAT: Lesen Sie auch die Vorgeschichte von Julie und Jean im abgeschlossenen Landschaftsroman "Im Land der Orangenblüten".

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Seitenzahl: 916

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Widmung

Stammbaum

Prolog

Ein bisschen weiß

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Es kommt immer anders, als man denkt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Wisse, was du sagst, aber sage nicht alles, was du weißt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Vergiss nicht, zu wem du gehörst

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Der Geist des schwarzen Mannes

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Wohin das Herz dich führt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Nachwort

Dank

Über das Buch

Fesselnde Familiensaga in farbenfroher exotischer Landschaft

Surinam, 1876: Julie und Jean führen eine glückliche Ehe und bewirtschaften erfolgreich ihre Zuckerrohrplantage. Doch dunkle Wolken ziehen auf: Es drohen wirtschaftliche Sorgen. Als Abhilfe werden indische Arbeiter in das südamerikanische Land geholt. So kommt die junge Inika mit ihren Eltern auf die Plantage und sorgt für erbitterte Rivalität zwischen Julies Sohn und ihrem Stiefenkel …

Lesen Sie auch die Vorgeschichte von Julie und Jean im abgeschlossenen Landschaftsroman »Im Land der Orangenblüten« von Linda Belago.

Über die Autorin

Linda Belago ist seit ihrer Kindheit durch ihre Familie mit den Niederlanden verbunden. Ihr besonderes Interesse gilt seit langem der Geschichte dieses Landes. Ihre berufliche Tätigkeit führte sie zunächst quer durch Europa und nach Übersee. Heute lebt Linda Belago mit ihrem Mann nahe der deutsch-niederländischen Grenze.

Linda Belago

Die Blume von Surinam

beHEARTBEAT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Digitale Neuausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln

Lektorat: Melanie Blank-Schröder

Textredaktion: Marion Labonte

Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven © shutterstock: PowerUp | Oleg Golovnev | ludo | fotomak | Nejron Photo | Przemyslaw Skibinski | Anthony Elizabeth James | PornphimonWongsirisup

eBook-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN 978-3-7325-6281-7

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Heimat findet man nicht an Orten, sondern in den Herzen anderer Menschen.

EDITH LINVERS

Zum Gedenken an meine geliebte Großmutter

Prolog

Britisch-Indien 1876

Kalkutta

Meter um Meter kämpften sie sich durch die Menschenmenge am Hafen von Kalkutta. Inika stolperte neben ihrer Mutter vorwärts, umgeben von schiebenden und drückenden Körpern, dass ihr angst und bange wurde. Es war laut, es stank und sie würde bald keine Luft mehr bekommen, so pressten sich die vielen Menschen aneinander. Wenn sie doch nur endlich dieses Schiff erreichen würden! Dort hätten sie Platz und Luft zum Atmen und vielleicht, vielleicht gäbe es auch endlich wieder etwas zu essen.

Das schmächtige Mädchen spürte plötzlich den starken Arm seines Vaters um sich, der sie fest umklammerte und mitzog. Nun war sie ein wenig von den drängenden Menschen abgeschirmt, viel sicherer fühlte sie sich aber nicht. Die Menschenmasse schob sich unaufhaltsam dem Steg des Schiffes entgegen und Inika krallte sich mit aller Kraft am Arm ihres Vaters fest, als ihr Blick auf die Pierkante direkt neben ihnen fiel. Schwarzes, dreckiges Wasser schwappte zwischen der Mauer und dem Schiff hoch und schien nach ihr greifen zu wollen. Inika spürte die Anstrengung ihres Vaters, der versuchte, sie nach vorne zu schieben. Sie begann zu weinen und blickte sich suchend nach ihrer Mutter um.

»Gleich sind wir auf dem Schiff, Liebes, gleich!« Ihr Vater schrie förmlich in ihr Ohr, konnte den Lärm der vielen Menschen aber kaum übertönen.

Das Schiff. Wochenlang war dieses Schiff nun ihre Sehnsucht, ihre Hoffnung gewesen: seit sie ihr kleines Dorf verlassen hatten, auf dem langen Fußmarsch nach Kalkutta, über sumpfige Straßen, in den überfüllten Lagern, in denen es von Ungeziefer wimmelte, und in der Stadt selbst, wo sie nicht einmal mehr einen Schlafplatz bekommen hatten, sondern tagelang auf ihren Gepäckbündeln am Hafen kampieren mussten.

Das Schiff – auf ihm und mit ihm würde alles besser. Sie würden einen trockenen Platz zum Schlafen bekommen, endlich auch Verpflegung – und es würde sie in ein fernes Land bringen, in dem eine sorgenfreie Zukunft auf sie wartete. So hatten es Inikas Eltern ihr immer und immer wieder erzählt.

»Bleib dicht bei mir!«, hörte sie ihren Vater jetzt ihrer Mutter laut zurufen. In seiner Stimme klang Angst mit, und Inika klammerte sich weiter an ihn, als er sich nun dem Strom der drückenden Körper entgegenwandte. Entsetzt bemerkte Inika, wie ihre Mutter mehr und mehr abgedrängt wurde.

»Sarina!« Sie sah, wie ihr Vater mit verbissener Miene versuchte, mit der freien Hand nach ihrer Mutter zu greifen.

Ihre Mutter rief etwas, das Inika aber nicht verstehen konnte, und streckte einen Arm nach ihrer Tochter und ihrem Mann aus.

Inika hörte ihren Vater leise fluchen, dann stieß er barsch ein paar Männer beiseite und bekam im letzten Moment den Arm seiner Frau zu packen. Inika sah, wie ihre Mutter vor Schmerz und Anstrengung das Gesicht verzog, und spürte, wie ihr Vater sie mit dem anderen Arm noch fester an sich drückte. Sein Gesicht war nass von Schweiß, er atmete schwer und ging gebückt unter der zusätzlichen Last des Sackes mit den Habseligkeiten auf seinem Rücken, während er mit aller Kraft seine Familie mit sich zerrte. Erst als sie vom Steg auf das Schiffsdeck gelangten, wo das Gedränge etwas nachließ und von wo aus Matrosen die Passagiere durch eine große Luke und eine steile Stiege hinunter in den Schiffsbau lotsten, lockerte sich sein Griff.

»Sarina, hier, nimm Inika.«

Er löste Inikas angststarren Griff und schob das Mädchen in den Arm ihrer Mutter. Inika war für ihre zwölf Jahre sehr klein und wie ihre Mutter von zarter Statur. Sarina drückte ihre Tochter an sich. Inika lehnte sich an den Sari ihrer Mutter und vergrub das Gesicht in den Falten des üppigen Stoffs. Sarina strich ihr über das lange, schwarze Haar und schob sie sachte weiter.

»Inika, geh, wir müssen noch ein Stück weiter. Irgendwo hier sind unsere Plätze. Kadir?«

»Ich bin hier. Ich glaube, wir müssen bis nach hinten durchgehen.«

Inikas Vater wuchtete den schweren Sack von seinem Rücken. Sie hatten nicht viel mitnehmen können; ein bisschen Kleidung, Mehl und etwas Salz und in weiser Voraussicht einige kleine Säckchen mit Heilkräutern. Die Versorgung sei für die Dauer der Schiffsreise gewährleistet, so hatte man ihnen versprochen, aber wer wusste das schon. Seine letzten Ersparnisse, ein paar Rupien, hatte Kadir sorgsam unter seinen Turban, den pagri, gesteckt.

Schon kam einer der Matrosen und winkte die Passagiere weiter. Nach und nach füllten sich die kleinen, hölzernen Kojen, die in Reihen den Laderaum im Schiffsbauch durchzogen. Für jede Familie gab es nur einen Schlafplatz. Kadir bemerkte Sarinas betroffenen Gesichtsausdruck, zwang sich aber zu einem ermutigenden Lächeln und stopfte den Sack ganz hinten an die Wand. Er wusste, dass man sein Hab und Gut auch hier auf dem Schiff gut bewachen musste.

Sarina bedeutete Inika, in die Koje zu steigen, in der lediglich eine dünne Strohmatte lag, und kletterte dann selbst mit einem Seufzer hinterher. »Komm her …« Sie zog das verstörte Mädchen an sich und wiegte es sanft.

Kadir sah, dass seine Frau vor Erschöpfung und Angst den Tränen nahe war und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Auf was hatten sie sich da nur eingelassen? Er wusste, dass er seiner Familie in den letzten Wochen viel abverlangt hatte. Erst der lange Fußmarsch nach Kalkutta, dann die trostlosen Umstände und die Warterei am Hafen. Dass jetzt diese kleine Koje für mehrere Wochen ihr Lager sein sollte, verschlimmerte das Ganze für Sarina noch. Er hätte ihr gerne mehr geboten.

Sarina war vom ersten Tag an gegen die Reise gewesen. Kadir hingegen hatte, wie so viele andere Männer auch, dem Mann mit wachsender Begeisterung zugehört, der eines Tages im Dorf erschienen war und im Auftrag der englischen Kolonialverwaltung um Kontraktarbeiter für die niederländische Kolonie Surinam geworben hatte. Er war auf der Suche nach Männern, die bereit waren, sich in dieses ferne Land verschiffen zu lassen, um dort in Lohn und Brot zu gehen. Der Mann hatte die Zukunft in Surinam in den buntesten Farben gezeichnet und in den höchsten Tönen gelobt: Jeder bekäme dort Arbeit und später auch eigenes Land, die Bezahlung der Niederländer sei ausgesprochen gut und die Reise zudem von Anfang bis Ende von den Engländern organisiert.

Kadir hatte nicht lange überlegen müssen. Was hatten sie in Indien schon für Aussichten? Er war der sechstgeborene Sohn einer Bauernfamilie. Seine Eltern waren arm, es gab unzählige Münder zu stopfen. Kadir konnte sich nicht daran erinnern, dass es seiner Mutter, sosehr sie sich auch bemühte, je gelungen war, all ihre Kinder wirklich satt zu bekommen. Kadir hatte dies nicht noch verschlimmern wollen, und sein Vater hatte ihn zur Heirat gedrängt und ihm auch eine Frau gesucht, Sarina. Sie kam aus einem entfernten Dorf und entstammte einer armen Familie, welche die Brautmitgift fast in den Ruin trieb. Aber so konnten sich die Brauteltern wenigstens der Tochter entledigen. Töchter standen in der Hierarchie weitaus niedriger als Söhne, und einen Mann zu finden, der sie übernahm und versorgte, war ein großes Glück. Die beiden Brautleute sahen sich zum ersten Mal während der Hochzeitszeremonie. Kadir befand, dass er Glück gehabt hatte. Sarina war eine hübsche Frau, mit langem blauschwarzem Haar und sanften dunklen Augen. Sie erwies sich schon bald als kluge, demütige Ehefrau.

Kadir hatte, wie seine Brüder vor ihm, ein Haus auf dem Land seines Vaters gebaut, wie es die dörfliche Tradition verlangte, und versucht, sich und seine kleine Familie mit Hilfsarbeiten auf den großen Teeplantagen zu versorgen. Was ihm eher schlecht denn recht gelang. Die Bezahlung war mehr als dürftig, und die Gesamtsituation im Land war bei Weitem nicht mehr so vielversprechend wie dreißig Jahre zuvor.

Kadir hatte fieberhaft nach einem Ausweg gesucht. In einen anderen Teil des Landes zu ziehen war eine Möglichkeit, aber ob dort die Chancen auf Arbeit und gerechten Lohn besser standen, wusste niemand. Und auch dafür brauchte er Geld, das er sich erst einmal mühsam hätte ersparen müssen. Das Angebot der Engländer kam für ihn gerade im richtigen Moment. Er hatte anschließend nächtelang mit den Männern des Dorfes die Möglichkeiten und Risiken diskutiert. Kadirs Vater hingegen zuckte nur die Achseln. Er hätte seinem Sohn gerne geholfen, sah aber keine Lösung. Kadirs Geschwistern ging es schließlich nicht anders.

Sarina war nicht angetan gewesen von Kadirs Idee, aber ihr stand es nicht zu, sich dagegen aufzulehnen. Trotz der ärmlichen Verhältnisse und der Not, die sie alltäglich ertragen musste, war die kleine Hütte dennoch ihr Heim, waren die Menschen um sie herum ihre Familie. Hier fühlte sie sich sicher. Und dann war da ja noch Inika – so eine weite Reise in ein so fernes Land mit einem Kind?

»Und warum kommen sie dann nach Indien und suchen Arbeitskräfte, wenn dort doch alles so gut ist?«, hatte sie skeptisch gefragt.

»Vielleicht gibt es in diesem Niederland nicht genug Arbeitskräfte, und die Engländer helfen nun aus. Oder … es soll doch ein sehr wohlhabendes Land sein, vielleicht müssen die Menschen dort schon nicht mehr selbst die Arbeit verrichten.«

Kadirs Antwort konnte ihre Zweifel nicht zerstreuen, aber letztendlich musste auch Sarina sich eingestehen, dass die Zukunft nicht viel, sondern eher weniger für sie bereithielt. Und sie hatte ihrem Mann zu folgen, egal, wohin er ging. Sie mussten versuchen, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Also hatte Kadir, gemeinsam mit zwei weiteren Familienvätern aus dem Dorf, den Zweitagesmarsch zur englischen Verwaltung auf sich genommen und sich und seine kleine Familie als Kontraktarbeiter für die niederländische Kolonie Surinam angemeldet.

Ein Vertrag, den Kadir nicht einmal lesen konnte, hatte das Unterfangen besiegelt. Wenige Wochen später waren sie bereits nach Kalkutta aufgebrochen, um das Schiff zu besteigen, das sie ihrer neuen Zukunft im fernen Surinam entgegenbringen würde.

Een beetjewit

Ein bisschen weiß

Surinam 1876–1877Paramaribo, Plantage Rozenburg

Kapitel 1

Karini Rozenberg wippte mit den Beinen. Heute fiel es ihr wirklich schwer, geduldig zu sein. Wie jeden Tag saß sie auf der kleinen Mauer, die den Schulhof umgab, und wartete darauf, dass es zur Pause läutete. Zweimal am Vormittag war es ihre Aufgabe, vom Stadthaus der Plantage Rozenburg in Paramaribo zur örtlichen Schule zu gehen, um den beiden jungen Masras Martin und Henry die Pausenmahlzeit zu bringen, die Karinis Mutter Kiri zuvor zubereitet hatte. Um zehn Uhr jeweils ein Glas Milch und ein Brot. Um zwölf je ein Glas Saft und eine kleine Mahlzeit. Karini war mit dieser Aufgabe nicht allein, um sie herum warteten jetzt mehrere dunkelhäutige Jungen und Mädchen darauf, dass die blanken, wie die Farbigen in Surinam alle Weißen bezeichneten, in die zweite Pause entlassen wurden. Die Gläser auf dem Tablett, das auf ihren Knien lag, gaben ein leises Klirren von sich, weshalb sie mitten in der Bewegung verharrte und ihren Blick über das Tablett gleiten ließ. Erleichtert stellte sie fest, dass alles noch an Ort und Stelle stand, der Inhalt der Gläser nicht übergeschwappt war und die kleinen Mahlzeiten in ansehnlicher Weise auf den Tellern lagen.

Karini seufzte. Gegen Mittag hatte sie es immer besonders eilig. Wenn sie gleich ihren Auftrag erfüllt hatte, würde sie schnell zurück zum Stadthaus laufen, das Geschirr in der Küche abgeben, sich in der kleinen Hütte im Hinterhof, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter bewohnte, waschen, umziehen und dann selbst zum Unterricht in der Missionsschule von Pater Benedikt laufen. Karini wusste, dass diese erst nach der Abschaffung der Sklaverei in Surinam vor fast dreizehn Jahren gegründet worden war; seither musste sich jeder Sklave taufen lassen, was ihm den Besuch von Gottesdiensten und den Kindern den Besuch des Schulunterrichts ermöglichte, zumindest bis zum zwölften Lebensjahr. Gewöhnlich fingen die farbigen Kinder im Alter zwischen zwölf und vierzehn Jahren an zu arbeiten, und nur wenige Kinder hatten wie Karini das Glück, die Schule noch länger besuchen zu dürfen. Manche Eltern, überwiegend ehemalige Sklaven der Plantagen, schickten ihre Kinder auch gar nicht zur Schule, sondern ließen sie in den Häusern oder auf den Pflanzungen schuften. Die wenigsten Plantagenbesitzer nahmen die Schulpflicht für die schwarzen Kinder ernst, und die Kolonialverwaltung hatte nicht viel Einfluss auf die unzähligen Kinder im Hinterland. Misi Juliette und Masra Jean aber, denen die Zuckerrohrplantage Rozenburg gehörte, der auch sie und ihre Mutter angeschlossen waren, bestanden darauf, dass alle Kinder dort Unterricht erhielten.

Für Karini waren es die letzten Monate in dieser Schule, sie wurde bald vierzehn Jahre alt. Sie liebte den Unterricht und das Lernen und war stolz auf ihre Fortschritte: Sie konnte fließend lesen und schreiben und sogar das Rechnen fiel ihr leicht. Karini war schon immer neidisch auf Masra Henry und Masra Martin gewesen, weil diese jeden Morgen zum Unterricht gehen und den ganzen Vormittag in der Schule verbringen durften. Wie viel Zeit sie zum Lernen hatten! Und wie lange sie lernen durften! Ihr eigener Unterricht beschränkte sich auf wenige Stunden am Nachmittag und das auch nur an drei Tagen in der Woche. Die beiden Jungen allerdings teilten Karinis Begeisterung nur bedingt. Vor allem Masra Martin, der ältere der beiden Jungen, maulte morgens oft, er wäre noch müde und hätte keine Lust. »Ach, nun los«, motivierte Karini ihn dann immer, wenn sie ihm frisches Wasser für die Morgentoilette brachte, die Vorhänge aufzog und den Nachttopf abholte.

»Du hast leicht reden, du musst ja nicht jeden Tag in die Schule«, erwiderte Masra Martin dann oft missmutig.

Karini versetzte diese Antwort immer einen kleinen Stich. Täglichen Unterricht hatte sie nur auf der Plantage.

In der großen Trockenzeit zwischen August und Dezember zog Karini mit ihrer Mutter und den beiden jungen Masras gemeinsam auf die Plantage Rozenburg, die mehrere Stunden flussaufwärts im Hinterland lag. Masra Henry und Masra Martin wurden im Haus von einem eigens dafür eingestellten Hauslehrer unterrichtet, und Karini ging, wie alle Kinder aus dem Arbeiterdorf, bei Tante Fiona zur Schule. Die war nicht ihre leibliche Tante, aber im Plantagendorf sprachen die Kinder alle älteren Frauen mit Tante an.

Vor dem Jahreswechsel, zu Beginn der kleinen Regenzeit, zogen die Jungen mit Karini und ihrer Mutter wieder in das Stadthaus nach Paramaribo, um dort bis August die Schule zu besuchen. Dieser Rhythmus wurde in ganz Surinam vom Klima bestimmt. Die große Regenzeit zwischen Mitte April und August brachte nicht nur schwere Gewitter, sondern auch Heerscharen an Moskitos mit sich, was in der Stadt angenehmer zu ertragen war als auf Rozenburg, das zwischen Wald und Fluss lag. Dort hingegen ließ sich die stetig zunehmende Hitze während der großen Trockenzeit besser aushalten als in der Enge der Stadt. Misi Juliette, die Mutter von Masra Henry und Ziehmutter von Masra Martin, kam zwar im Dezember zunächst mit nach Paramaribo, um die Jungen zu verabschieden und um Geschäftliches zu erledigen, lebte aber die meiste Zeit des Jahres mit ihrem Mann, Masra Jean, auf Rozenburg und reiste nur selten in die Stadt. Der Spagat zwischen Plantagen- und Stadtleben war sicher nicht leicht für die Misi, und die Trennung von den Jungen fiel ihr jedes Mal sichtlich schwer. Aber sich bequem dem gediegenen Stadtleben hinzugeben, wie andere Frauen, ohne auf der Plantage mitzuhelfen, das war nicht die Art von Misi Juliette. Sie bestieg sogar manchmal ihr Pferd und ritt in die Felder. Das war zwar eher unschicklich für eine Dame, aber ihr Einsatz hatte sich gelohnt, das hatte Karini mitbekommen. Rozenburg hielt den schlechten Zeiten in der Kolonie wacker stand. Karini war stolz, den Namen der Pflanzung auch in ihrem Nachnamen tragen zu dürfen. Misi Juliette hatte allen Sklaven Namen mit Rozen... gegeben, und Karini nannte ihren Namen gerne, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Sklaven, deren ehemalige Besitzer ihnen Nachnamen wie Faulermann oder Waschweib gegeben hatten.

Nachnamen trugen die ehemaligen Sklaven überhaupt erst seit ihrer Befreiung, sie waren seither sogar zur Pflicht geworden, auch wenn sich auf der Plantage im Alltag niemand darum scherte. Ebenso wenig wie um die Hautfarbe, die noch zu Zeiten des Sklavenstands eine wichtige Rolle gespielt hatte. In der Stadt hingegen achtete man immer noch sehr darauf, wessen Hautfarbe eine Nuance heller war, hier fühlten sich die hellhäutigeren Mulatten den tiefschwarzen, ehemaligen Arbeitssklaven immer noch überlegen. Trotzdem spürten auch sie den gesellschaftlichen Wandel, denn es ging nicht mehr darum, wer Sklave gewesen oder Mulatte war, sondern vielmehr darum, wer Arbeit hatte und wer nicht. Zumal Mulatten nach wie vor keine niederen Arbeiten und auch, wie schon zur Sklavenzeit, keine Arbeit auf den Plantagenfeldern verrichten durften. Karini wusste nicht genau, warum das so war. Ihre Mutter hatte angedeutet, dass es mit den Vätern der Mischlingskinder zusammenhing, die nicht wollten, dass ihre Kinder Sklavenarbeit verrichteten. Warum das allerdings für die Schwarzen nicht galt, verstand Karini nicht.

Karini fand manche Regelungen in der Kolonie sehr verwirrend. Sie fühlte sich eher den Weißen verbunden, außerdem waren Masra Henry und Masra Martin ihre besten Freunde.

Karinis Mutter Kiri war einmal die Leibsklavin von Misi Juliette gewesen. Nach der Abschaffung der Sklaverei hatte Misi Juliette Kiri einen Arbeitsvertrag angeboten, wie ihn von diesem Zeitpunkt an alle ehemaligen Sklaven für die Übergangszeit von zehn Jahren nachweisen mussten, und Kiri war gerne bei ihr auf Rozenburg geblieben, wie die meisten Sklaven der Plantage. Die Misi hatte einige schlimme Jahre mit ihnen durchgestanden und war immer gut und gerecht zu ihnen gewesen, sie hatte die Lebensbedingungen verbessert und sich sehr um das Allgemeinwohl im Sklavendorf gekümmert. Das war bei Weitem nicht überall so, viele der alteingesessenen Plantagenbesitzer ließen nicht von ihrem brutalen Gebaren gegenüber den ehemaligen Sklaven ab. Die langen, ledernen Peitschen, die noch an vielen Gürteln baumelten, sprachen Bände. Zur Rechenschaft wurde dafür nur selten jemand gezogen, und um die vielen Tausend ehemaligen Sklaven, die weit im Hinterland auf den Pflanzungen lebten, scherte sich in der Stadt und bei der Kolonialverwaltung niemand. Und in den Niederlanden erst recht nicht, denn auch wenn dort, im fernen Europa, die Abschaffung der Sklaverei begrüßt und gefeiert wurde, wie die Zeitungen berichteten, waren die Menschen in den Kolonien am anderen Ende der Welt schnell wieder vergessen.

Mit dem Ende der Vertragspflicht hatten sich die Verhältnisse in den vergangenen drei Jahren weiter verändert. Die ehemaligen Sklaven waren nun nicht mehr an die Plantagen oder ihre Herren gebunden, sie waren freie Einwohner der Kolonie, durften leben, wo sie wollten, und ihre Arbeitgeber selbst wählen.

Kiri war nun Angestellte der Plantage Rozenburg, sie betreute die jungen Masras und führte den Haushalt im Stadthaus. Karinis Vater Dany blieb das ganze Jahr über auf der Plantage, wo er als Vorarbeiter auf den Zuckerrohrfeldern beschäftigt war. Außerdem trieb er Handel mit den Buschnegern, wobei ihm die enge Verbindung zu seinem Vater Aiku zugutekam. Der war ein Maroon, ein freier Buschneger, der als Anführer seines Stammes tief im Regenwald lebte. Karini beschlich in Gegenwart ihres granpapa, den sie nur äußerst selten besuchte, immer ein Gefühl der Unsicherheit. Er war ihr unheimlich, weil er nicht sprach – oder nicht sprechen konnte, das wusste sie nicht so genau. Ihre Eltern verloren nie ein Wort darüber.

Karini mochte sich nicht entscheiden, was ihr besser gefiel: das Leben in der Stadt, wo immer etwas los war, es so viel Neues zu entdecken gab und auch der Unterricht bei Pater Benedikt viel anspruchsvoller war, als der von Tante Fiona, die selbst gerade einmal schreiben und ein wenig rechnen konnte; oder aber das beschauliche Leben auf der Plantage Rozenburg, wenn ihre Familie beisammen war und auch ihr Zusammenleben mit Masra Henry und Masra Martin sich anders gestaltete als in Paramaribo.

Auf der Plantage waren die beiden Jungen wie zwei große Brüder für Karini. Masra Henry war nur ein Jahr älter als sie, er war eher nachdenklich, liebte Bücher und konnte viele spannende Geschichten erzählen. Masra Martin hingegen gab sich mit seinen fast sechzehn Jahren schon mächtig erwachsen und war stets auf Abenteuersuche, dabei aber immer darauf bedacht, Masra Henry und sie selbst zu beschützen.

Hier in der Stadt aber war ihr Verhältnis anders. Die Jungen trafen sich mit ihren weißen Freunden, spielten mit ihren Mitschülern und mussten gewissen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen, während Karini arbeitete oder die Schule besuchte. Karini war manchmal traurig, dass sie nicht dabei sein durfte, wenn die Kinder der blanken sich trafen. Sie verbrachte bei Weitem nicht mehr so viel Zeit mit den jungen Masras wie früher. Aber sie waren keine kleinen Kinder mehr, jeder hatte seine Aufgaben zu erfüllen. Sie sahen sich im Moment wirklich nur kurz in den kleinen Schulpausen der Masras. Und da war es Karinis Aufgabe, ihnen das Tablett zu reichen, zu warten, bis die beiden aufgegessen und ausgetrunken hatten, und dann das Geschirr wieder mit nach Hause zu nehmen. Mehr als das Nötigste durfte sie nicht mit ihnen reden, das war hier auf dem Schulhof unerwünscht. In der Stadt waren Kontakte zwischen den blankenund den Schwarzen immer noch nicht gerne gesehen. Die blanken blieben unter sich und hier war Karini eben nur die Tochter der schwarzen Haushälterin. Dabei war ihre Mutter ebenfalls sehr stolz auf sie, immerhin gehörte sie selbst noch zu der Generation, die auf keinen Fall hatte lesen und schreiben lernen dürfen und es bis heute nicht konnte. Nicht einmal Niederländisch hatten die Sklaven bis 1863 sprechen dürfen, obwohl es die offizielle Sprache in der Kolonie war. Auch heute noch hielt Kiri an der Sklavensprache taki-taki fest, sie sprach diese mit ihrer Tochter und mit den blanken.

Karini fiel es manchmal schwer zu verstehen, dass ihre Mutter so stark an traditionellen Sitten festhielt und nicht von sich aus neue Wege ging. So lief sie weiterhin stets barfuß und hatte auch Karini nie Schuhe gekauft. »Die brauchen wir nicht«, hatte sie lapidar geantwortet, als Karini als kleines Mädchen einmal deswegen gequengelt hatte. Sklaven war das Tragen von Schuhen stets verboten gewesen, und wie ihre Mutter hatten viele der Älteren sie später ausprobiert, für unbequem befunden und als Fußbekleidung verworfen. Auf der Plantage störte es Karini nicht, barfuß herumzulaufen, aber in der Stadt beäugte sie die Hausmädchen mit ihren glänzenden schwarzen Lackschuhen manchmal schon mit einem Gefühl von Neid.

Erleichtert bemerkte sie jetzt, dass sich endlich die große Eingangstür öffnete und eine Schar Schüler aus dem Schulgebäude strömte. Sie hüpfte vorsichtig von der Mauer und hielt das Tablett für Masra Henry und Masra Martin bereit.

Nicht mehr lange, dann würde sie nach Hause laufen können und von dort zu ihrem eigenen Unterricht.

Kapitel 2

Wie kommt dieses Tier hier nur immer herauf?« Juliette Riard schnappte sich die große Schildkröte und trug sie mit ausgestreckten Armen vor sich her, die Stufen der vorderen Veranda des Plantagenhauses hinunter. Das Tier wog schwer und strampelte eifrig mit seinen kurzen Beinen. Julie, wie sie in ihrer Kindheit gerufen worden war und heute noch von ihrem Mann genannt wurde, setzte das Reptil in den Schatten unter einen großen Busch und ließ den Blick über die Front des Haupthauses von Rozenburg schweifen. Das weiß gestrichene Holz glänzte in der Sonne und hob den Bau farblich vom satten Grün der umliegenden Landschaft ab. Ein paar Ausbesserungen waren an der Fassade nötig, bemerkte sie wieder einmal, als sie an einer Hausecke leicht grünliche Flecken entdeckte. Das Klima in diesem Land nagte auch an den Bauwerken. Und die starken Regenfälle der letzten Wochen hatten ein Übriges getan. Es war Ende Mai, und die Regenzeit würde noch einige Wochen andauern. Julie beschloss, die Arbeit in Auftrag zu geben, sobald das Wetter es zuließ. Ein paar Gulden würden sie dieses Jahr in das Haus investieren müssen.

Dann blieb ihr Blick an ihrem Mann Jean hängen, der auf der Veranda über seine Unterlagen gebeugt saß. Kurz blitzte die Erinnerung an ihre ersten Zusammentreffen auf. Sie musste unwillkürlich lächeln. Damals hatten sie oft stundenlang auf dieser Veranda gesessen, Julie noch als Ehefrau von Karl Leevken und Jean als Buchhalter der Plantage Rozenburg. War es wirklich schon siebzehn Jahre her, seit sie an einem heißen Märztag das Schiff verlassen hatte? Manchmal kam es ihr wie eine Ewigkeit vor, manchmal aber auch, als wäre es erst gestern gewesen. Und noch jemand war damals auf der Veranda zugegen gewesen: Nico, der Papagei, der Julie in ihren ersten Jahren als einzig guter Geist auf der Plantage begleitet hatte. Julie seufzte. Nico hatte die Plantage verlassen wie andere Geister auch. Dafür gab es nun die Schildkröte, die auf der Plantage herumkroch. Julie beobachtete, wie das Tier sich zwischen die Blätter zurückzog. Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Sohn, der der Schildkröte sogar einen Namen gegeben hatte, Monks. Nach einer zwielichtigen Gestalt aus einem Abenteuerbuch, das er gerne las. Julie fand den Namen durchaus passend für das Tier, das die Angewohnheit hatte, immer wieder an Orten aufzutauchen, an denen man eine Schildkröte nicht unbedingt erwartete. Wie das Tier es schaffte, die Veranda zu erklimmen, war Julie nach wie vor ein Rätsel, es gelegentlich irgendwo im großen Plantagenhaus vorzufinden, schon keine Überraschung mehr. Als die Schildkröte es eines Tages sogar bis auf die Arbeitsplatte in Livs Küche geschafft hatte, was die schwarze Haushälterin mit lautem Gezeter und der Drohung quittiert hatte, eine schmackhafte Suppe aus dem Tier zu kochen, dünkte Julie, dass irgendjemand auf der Plantage diesem Tier bei seinen Ausflügen behilflich war. Vielleicht die Jungen? Diese hatten Monks auf jeden Fall mit angstvollem Blick schnell vor Livs Kochtopf gerettet.

Die Jungen. Ging es ihnen in der Stadt gut? Die Monate ohne sie auf der Plantage kamen Julie immer unendlich lang vor; waren sie dann vor Ort, schien die Zeit förmlich zu rasen. Julie vermisste sie schrecklich, und auch wenn sie versuchte, sich abzulenken, erinnerten überall kleine, alltägliche Dinge an die beiden und füllten ihr Herz mit Sehnsucht und, wie sie sich mehr als einmal eingestanden hatte, mit Trauer, begleitet von einem schlechten Gewissen. Julie seufzte leise, raffte ihren Rock und stieg die Stufen der Veranda wieder empor.

»Bald sind sie doch wieder da, Julie.« Jeans Stimme war voller Zärtlichkeit und Julie warf ihm einen dankbaren Blick zu. Er hatte wieder einmal erraten, was sie bedrückte, und hob nun den Blick von seinen Abrechnungsbüchern.

»Ja, ich weiß … aber die letzten Wochen bis zu ihrer Ankunft kommen mir jedes Jahr wie eine Ewigkeit vor«, sagte sie leise. Sie setzte sich zu ihm und ließ ihren Blick zum Fluss gleiten. Die Regenfälle hatten für heute aufgehört, und die Sonne brachte die Luft über dem Fluss zum Dampfen. Es waren diese kurzen Momente nach den markerschütternden Gewittern der Regenzeit, in denen das Klima sich halbwegs erträglich gestaltete und an einen hitzigen Sommertag in Europa erinnerte. Allerdings würde durch die Trockenzeit schon bald die geballte Wucht der Tropenhitze zurückkommen, an die Julie sich in all den Jahren nur schwer hatte gewöhnen können. Sie brachte in ihren Augen nur ein Gutes: Die Jungen kamen nach Rozenburg.

Ihr war es nicht leichtgefallen, die Jungen in der Stadt in die Schule zu schicken. Aber die Möglichkeit, sie ganzjährig auf der Plantage unterrichten zu lassen, hatte ihr auch missfallen. Kinder in diesem Alter brauchten Kontakt zu Gleichaltrigen. Hier auf der Plantage verlief das Leben in eintönigem Gleichmaß, und Julie hatte oft genug beobachtet, dass sich die Isolation auf den Plantagen bei Heranwachsenden nachteilig auswirkte. Die eigenbrötlerischen und verzogenen Sprösslinge einiger anderer Plantagenbesitzer waren ihr Grund genug gewesen, für ihre Jungen einen anderen Weg zu wählen. Also hatte sie schweren Herzens beschlossen, Henry und Martin zumindest einen Teil des Jahres in Paramaribo wohnen und die dortige Schule besuchen zu lassen. Und sie hatte beide Jungen gleichzeitig eingeschult. Wie schnell sie doch groß geworden waren! Was sie wohl nach ihrer Schulzeit machen würden? Sie konnte sich gut vorstellen, dass Henry auf der Plantage bei Jean in die Ausbildung gehen würde, das hatte er schon mehrfach angesprochen. Aber ob Martin auch auf der Plantage bleiben wollte? Julie wusste es nicht. Es fiel ihr schwer, den Jungen zu deuten, Martin war ihr, obwohl sie ihn aufgezogen hatte, immer ein wenig fremd geblieben. Sosehr sie sich auch bemüht hatte, hatte sich der Junge ihr nie ganz geöffnet und war ein Stück unnahbar geblieben. Sie beide hatten zudem einen schwierigen Start gehabt, trotzdem liebte sie ihn so wie ihren eigenen Sohn.

Martin war damals, als die Schulzeit begann, klaglos in die Stadt gezogen. Julie hatte es nicht anders erwartet, trotzdem hatte seine spürbare Kälte sie verletzt. Henry hingegen war es sichtlich schwergefallen, sich von seinen Eltern und der Plantage zu lösen. Julie selbst ging es nicht anders, und so war sie schon im ersten Jahr zunächst mit in die Stadt gereist, ein Ritual, das sie bis heute beibehalten hatte. Sie blieb dann zumeist einige Wochen, erledigte Geschäftliches und erfüllte gesellschaftliche Verpflichtungen, bevor sie auf die Plantage zurückkehrte, um ihre Aufgaben dort wahrzunehmen. Der Abschied fiel ihr heute noch schwer, auch wenn sie jedes Mal froh war, die Stadt verlassen zu können. Sie fühlte sich dort nie besonders wohl, ließ sich das in Gegenwart der Jungen aber nicht anmerken. Die Erinnerungen an die schwere Zeit ihrer ersten Jahre in Surinam drohten sie in Paramaribo manchmal zu überwältigen, insbesondere im Stadthaus lauerten zuweilen dunkle Schatten, die sie jagten. Erinnerungen an ihren gewalttätigen ersten Mann Karl, dessen Rufe manchmal noch durch die Räume zu hallen schienen. An den Raum, in dem ihre Stieftochter, Martins Mutter Martina, gestorben war, und die Angst, welche die damalige Entführung der Kleinkinder Martin und Henry durch Martins leiblichen Vater wie einen dünnen, aber zähen Nebel hinterlassen hatte. Jean schien das Ganze nicht mehr zu berühren, doch Julie konnte das Geschehene einfach nicht vergessen.

Die Jungen hingegen kamen in der Stadt gut zurecht. Das lag nicht zuletzt an Kiri, die gut für sie sorgte und über sie wachte. Kiri … der Gedanke an sie erfüllte Julie mit Liebe und Sehnsucht. Kiri war früher ständig in ihrer Nähe gewesen, ihre Beziehung war schon immer weit mehr als eine zwischen Bediensteter und Herrin gewesen. Sie hatten so viele gute und schlechte Zeiten gemeinsam durchlebt, so viele Hürden genommen, und Julie wusste, dass sie sich auf ihre ehemalige Leibsklavin verlassen konnte, deren menschliche Wärme ihr hier auf der Plantage so oft fehlte, gerade in Momenten wie diesen. Julie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete, und schüttelte den Gedanken ab. Meine Güte, was war sie doch sentimental! Wie oft hatte sie sich schon geschworen, nicht so zu klammern! Henry, Martin, Kiri und Karini fühlten sich wohl in der Stadt, und Julie hatte in all den Jahren nie einen wahren Grund zur Sorge haben müssen. Zumal auch ihre Freundin Erika in Paramaribo lebte, die im Notfall sofort zur Stelle wäre. Aber Julie hatte in ihrem Leben schon so viele geliebte Menschen verloren. Jetzt, da sie seit einigen Jahren in Frieden im Kreis ihrer Familie lebte, spürte sie immer noch die Angst, all dies könnte sich zerschlagen, den Jungen, ihrem Mann, oder auch Kiri, Karini und Dany könnte etwas zustoßen. Julie spürte wie häufiger in den letzten Wochen einen Anflug von Panik. Nichts wird passieren! Alles ist gut!, sagte sie wieder und wieder. Doch irgendwo in ihrem Kopf meldete sich eine dumpfe Vorahnung, die sich sogleich mit dem flauen Gefühl im Magen paarte.

Das energische Geraschel von Jeans Unterlagen holte sie aus ihren Gedanken. Sie hob den Blick und sah, wie er die Papiere zu einem ordentlichen Stapel zusammenschob und anschließend sein Schreibzeug danebenlegte. Er wirkte angespannt, und seine Mimik verriet ihr, dass ihm etwas auf dem Herzen lag.

»Wir müssen uns etwas überlegen«, begann er mit ernster Stimme. »Es haben schon wieder drei Arbeiter gekündigt, um zu ihren Familien zurückzukehren. Wenn das so weitergeht, geraten wir womöglich in Schwierigkeiten.« Jean lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich glaube nicht, dass wir so schnell neue Arbeiter anwerben können«, fuhr er sichtlich bedrückt fort. »Jetzt, da sie selber entscheiden können, sind manche Möglichkeiten einfach interessanter. Ich kann verstehen, dass sie nach so langer Zeit den Drang verspüren, ihre weitversprengten Familien zusammenzuführen, sich keinem Herrn unterordnen zu müssen, oder dass die Arbeit in der Stadt oder auch die Goldsuche sie lockt, wo sie vielleicht sogar mehr Geld verdienen können als mit den Mindestlöhnen auf den Plantagen.«

Er brach ab und warf ihr einen Blick zu, in dem Julie so etwas wie Hilflosigkeit zu erkennen meinte. Ein Ausdruck, den sie bei Jean nicht allzu häufig gesehen hatte, doch sie musste sich eingestehen, dass sie genauso empfand. Dies waren keine guten Neuigkeiten. Sie seufzte.

»Ja, dabei rennen sie doch gerade dort in ihr Unglück. Hier können wir ihnen eine sichere Arbeitsstelle und ein festes Gehalt bieten, das gibt es auch nicht überall. Man hört so viele schlimme Dinge, und die wachsenden Armenviertel am Rande der Stadt sprechen doch Bände!« Dieses Thema brachte Julie wie so oft in Rage. Sie hatten häufig über die vielen verstreuten Armensiedlungen gesprochen, die sich im Laufe der letzten drei Jahre gebildet hatten. Das Ende der zehnjährigen Vertragspflicht hatte vielen der ehemaligen Sklaven nicht nur Segen gebracht. Solange ein ehemaliger Sklave gesund und kräftig genug war, um einen Vertrag mit einer Plantage abzuschließen, war alles in Ordnung. An den vielen Alten, Kranken und Schwachen aber hatte die Kolonialverwaltung kein Interesse. War früher ein Plantagenbesitzer dazu verpflichtet gewesen, die Sklavenfamilien zusammenzuhalten und nicht mehr arbeitsfähige Menschen in den Sklavendörfern mitzuversorgen, setzte man Letztere in den vergangenen Jahren vermehrt einfach vor die Tür. Hinzu kam nun seit drei Jahren, dass zahlreiche ehemalige Arbeiter ihr Glück lieber selbst in die Hand nahmen, als sich von einem Weißen auf einer Plantage unterjochen zu lassen. Zwar versprach man diesen freien Menschen neues Land und die Möglichkeit der Ansiedlung; aus welchen Töpfen man zukünftig und langfristig die Mittel für ein solches, in Julies Augen schöngeredetes Projekt schöpfen wollte, das wusste allerdings keiner der weißen Obrigkeit. «Da hält man die Menschen mit Hoffnung an der Leine«, pflegte Julie zu sagen. Sie wusste, dass Jean dieses Thema ebenso echauffierte wie sie selbst. Jetzt runzelte er die Stirn und strich sich eine verirrte blonde Haarsträhne hinter das Ohr.

Julie betrachtete ihn liebevoll. Er trug seine Haare, im Gegensatz zur europäischen Mode, eher kurz und verzichtete, vornehmlich durch das Klima bedingt, auch auf einen Bart. Julie war nicht böse darum, im Gegenteil, sie mochte sein auffallend jugendliches Aussehen und hatte ihn schon das eine und andere Mal damit geneckt. Jean ging stets auf die Spielerei ein und hob dann zumeist gespielt erbost den Zeigefinger, schalt sie der Eitelkeit oder Ähnlichem, Julie aber kannte ihn gut genug um zu wissen, dass er ihre Bemerkungen als Kompliment auffasste. Jean war gewiss nicht eitel, auch wenn er sich seiner Anziehungskraft auf Frauen sicherlich bewusst war. Dennoch konnte Julie sich sicher sein, dass er nie in fremden Teichen fischen würde. Jetzt jedoch lag Jeans Stirn in tiefen Falten, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er zutiefst besorgt war. Das Thema Arbeitskräfte verlangte eine Entscheidung.

Julie nahm sich die Liste der Angestellten, die Jean eben noch bearbeitet hatte, oben vom Stapel. Einhundertsechsundfünfzig Namen standen darauf. Einhundertfünfzig war die entscheidende Zahl; so viele Arbeiter brauchten sie mindestens, um den Betrieb der Zuckerrohrplantage zu gewährleisten, unvorhergesehene Ausfälle aufgrund von Krankheiten nicht mitbedacht. Optimal waren rund zweihundert Arbeiter. Julie seufzte. Sie wusste sehr wohl, was das bedeutete, diese Ziffern waren weit mehr als schwarze Zahlen auf weißem Papier: In Surinam standen die Zeichen seit dreizehn Jahren auf Veränderung – und nun erreichte die Welle auch Rozenburg.

Julie und Jean hatten sich damals, als die Sklavenhaltung aufgehoben wurde, zur Weiterführung der Plantage entschieden. Anders als viele andere Besitzer, fürchteten sie keine Aufstände oder Übergriffe, sondern boten den ehemaligen Sklaven Arbeitsverträge an, die fast alle, sehr zu ihrer Freude, dankend annahmen. Sie trieben die Plantage gemeinsam weiter voran und hatten auch die Änderungen vor drei Jahren weitestgehend ohne Verluste überstanden. Julie und Jean waren mit ihren ehemaligen Sklaven immer gut zurecht gekommen – zu gut, wie man ihnen gegenüber häufiger zu bedenken gab. Sogar mit den Maroons standen sie in Kontakt, diesen ehemals aufständischen Buschnegern, die schon lange ein freies Leben in den Tiefen der Wälder führten, und bei deren Anblick so mancher Kolonist eher sofort zur Waffe gegriffen hätte, als sich mit ihnen gut zu stellen.

Mittlerweile hatten die Maroons im Zuge der Sklavenemanzipation neues Selbstbewusstsein erlangt und bewegten sich inzwischen in der Hauptstadt ganz selbstverständlich als Handeltreibende. Die Gesellschaft bekam eine völlig neue Ordnung. Die zahlreichen freien Arbeiter drängten in sämtliche Berufsgruppen und Handelszweige in dem Versuch, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Viele alteingesessene Kolonisten bangten um ihre vorherrschende Stellung in der Kolonie und taten es ihren Gesinnungsgenossen gleich, die vor dreizehn Jahren schon nach Europa oder Nordamerika geflüchtet waren. Man munkelte, dass es insgesamt überhaupt nur noch knapp tausend Europäer im Land gab, denen über fünfzigtausend ehemalige Sklaven, freie Schwarze, Mulatten, Chinesen und befriedete Indianer gegenüberstanden.

Julie hatte in letzter Zeit immer wieder gehört, dass Plantagen aufgegeben wurden. Glaubte man den neuesten Zahlen der Kolonialverwaltung, so gab es noch knapp einhundertfünfzig größere Kakao- und Zuckerrohrplantagen, kleinere Pflanzungen, die im Laufe der letzten drei Jahre von freien Mulatten und Schwarzen übernommen worden waren, nicht mitgerechnet. Überall im Land eroberte sich der Regenwald verlassene, ehemals florierende Pflanzungen zurück. Die Tabak- und Baumwollkulturen waren fast gänzlich verschwunden, der Export nach Europa von ehemals Hunderten Schiffen im Jahr auf wenige Frachtkähne geschrumpft. Und obwohl die Plantagenwirtschaft am Boden lag, holte man nun neue Arbeitskräfte aus Indien ins Land, in dem verzweifelten Versuch, den großen Bedarf an billigen Arbeitskräften zu decken. Die ehemaligen Sklaven stellten heute Forderungen, die in Julies Augen zwar gerechtfertigt waren, die Kassen der Plantagen jedoch zusätzlich belasteten, und so manche Plantage in den Ruin trieben. Sie selbst versuchten natürlich, den Arbeitern ihre Löhne zu zahlen, aber es war eine ewige Gratwanderung. Es musste etwas passieren. Auch auf Rozenburg.

Julie legte das Papier mit den Namen beiseite. »Ja, du hast recht. Wir müssen uns etwas einfallen lassen, sonst haben wir bald nicht mehr genug Arbeiter.« Sie wusste um Jeans Bemühungen, die Arbeiter zu halten und neue anzuwerben. Sie hatte dennoch gehofft, die Anzahl der Arbeiter, die bleiben wollten, würde ausreichen. Aber nun lag es schwarz auf weiß vor ihnen. Jeans akkurat geführtes Abrechnungsbuch mahnte zu schnellem Handeln.

»Wir sollten es uns noch einmal überlegen.« Jean schob Julie einen Zettel über den Tisch. »Renzler hat gesagt, noch sind nicht alle indischen Kontraktarbeiter vergeben.«

Julie spürte sofort einen heftigen Widerwillen. Sie mochte diesen Renzler nicht, der seit Wochen von Plantage zu Plantage fuhr, um seine Kontraktarbeiter anzupreisen wie Orangen auf dem Markt. Renzler vermittelte die indischen Arbeitskräfte, die ins Land kamen, und nun war bereits das vierte Schiff mit neuen Menschen vor Paramaribo vor Anker gegangen. Julie hatte von einigen Plantagen gehört, die inzwischen ausschließlich indische Arbeiter beschäftigten. Jung, kräftig und arbeitswillig. Gefügiger als die Neger und von ruhigem Temperament, so stand es auf dem Flugblatt, das Renzler ihnen bei seinem letzten Besuch übergeben hatte und das Julie nun in den Händen hielt. Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und blickte nachdenklich auf die Zeilen. Sie wusste, welche Antwort Jean von ihr erwartete, und ihr war nicht wohl dabei. Den Kontraktarbeitern dieselben Versprechungen zu machen wie den ehemaligen Sklaven – gesicherte Löhne, Land und Unterkunft – war in Julies Augen nicht mehr als ein Luftschloss.

»Ich habe Angst, dass es diesen Menschen dann ähnlich ergeht wie den Sklaven. Ich meine, die einen sind gerade frei, da kommen schon die nächsten … ich weiß nicht.«

»Du hast doch gehört, was Renzler gesagt hat. Und«, Jean beugte sich über den Tisch und tippte von hinten an das Blatt Papier, das Julie noch in der Hand hielt, »da steht es doch auch: Diese Arbeiter verpflichten sich für fünf Jahre und bekommen dann entweder die Rückreise in ihre Heimat bezahlt oder die Möglichkeit, sich hier auf einem Stück Land niederzulassen. Das sind doch ganz gute Bedingungen.«

»Du glaubst doch wohl nicht, dass sich dieser Plan zur Zufriedenheit aller in die Tat umsetzen lässt!«

»Julie, den Menschen wird es gut gehen auf Rozenburg! Wir brauchen dringend Arbeitskräfte, und wir können ihnen hier Unterkunft und Versorgung bieten, und ob Sklave oder Inder – wir haben genug Platz auf der Plantage.«

Julie warf ihm einen strafenden Blick zu, dem er aber auswich. Das Wort Sklave, das so viele immer noch verwendeten, hatte für sie einen bitteren und bösen Beigeschmack. Viele der anderen Plantagenbesitzer oder Geschäftsleute in der Stadt waren der festen Überzeugung, dass Gott den schwarzen Mann geschaffen hatte, um den Weißen untertan zu sein. Sie wusste, dass Jean diese Einstellung nicht teilte, ärgerte sich aber darüber, dass er so unbedarft mit den Begriffen umging. Dennoch verzichtete sie darauf, ihn deswegen zu tadeln. Sie hatten wirklich andere Probleme.

»Ich weiß nicht …« Julie ließ resigniert das Flugblatt sinken. Ihr widerstrebte der Gedanke zutiefst, das Angebot mit den Kontraktarbeitern in Anspruch zu nehmen, doch Jean hatte recht: Sie hatten eigentlich keine andere Wahl, wenn sie die Wirtschaft auf Rozenburg erhalten wollten. Sie hob den Blick und sah geradewegs in Jeans lächelndes Gesicht. Als er sich vorbeugte und seine Hand auf ihren Arm legte, breitete sich ein wohlig warmes Gefühl in ihr aus.

»Wir können doch einfach mal nach Paramaribo fahren und uns diese Leute ansehen, wenn das Schiff kommt«, sagte er sanft, und das leichte Aufblitzen seiner blauen Augen verriet ihr, dass er noch nicht fertig war. »Und die Jungen werden sich sicher freuen, wenn wir zu einem kleinen Überraschungsbesuch in die Stadt kommen!«

Julies Herz machte einen Sprung. Natürlich brannte sie darauf, die Jungen wiederzusehen.

Als Julie wenige Tage später vom Boot aus endlich die ersten Häuser Paramaribos sichtete, schwankten ihre Gefühle wieder zwischen Freude und einer dumpfen, alten Angst. Sie war wie jedes Mal erleichtert, die mühselige Reise bald beenden zu können.

Die Fahrt mit dem Boot in die Stadt dauerte viele Stunden und war stark abhängig von den Gezeiten. Drückte das Meer bei Flut das Wasser in den Surinamfluss, kam man nur in Richtung Landesinnere gut voran. Flussabwärts dagegen war die Fahrt dann unbehaglich und langwierig. Also machte man möglichst Rast, bis das Wasser wieder in Fahrtrichtung floss. Wo und an welcher Plantage man dabei anlegte, war zumeist unvorhersehbar, für Julie in den meisten Fällen aber eine Qual. Viele der Pflanzungen waren verwaist, und die wenigen Besitzer, die Julie noch aus früheren Zeiten kannte, bedachten sie mit misstrauischen Blicken. Immer noch kursierten Gerüchte und alte Geschichten über Julie und ihren ersten Mann. Julie hatte stets das Gefühl, beobachtet zu werden, und so mied sie den Kontakt zu anderen Weißen, so weit es ging.

Der Surinam war ein breiter Strom, der mit seinem trüben Wasser immer etwas bedrohlich wirkte. Julie selbst hatte bereits einige Male erlebt, wie unberechenbar das Wasser sein konnte und wie verheerend sich der Fluss bei Überflutungen ausbreitete.

Noch bedrohlicher erschien ihr aber immer noch die Stadt. Bei ihrer Ankunft fühlte sie sich jedes Mal fremd, auch wenn Paramaribo in den letzten dreizehn Jahren durchaus einen Aufschwung erlebt hatte. War der Handel zuvor fest in der Hand der Weißen gewesen, so hatten sich nach und nach Chinesen und Farbige dazugesellt. Die Chinesen, allgemein als kulis bezeichnet und ebenfalls als Arbeitskräfte ins Land geholt, stellten sich schnell für die Plantagenarbeit als ungeeignet, jedoch als äußerst geschäftstüchtig heraus. Und seit den ehemaligen Sklaven ein Lohn für ihre Arbeit zustand, florierte der Handel mit den zahlreichen neuen Kunden.

Jetzt, da das Boot den Anleger ansteuerte, versuchte Julie, sich auf das Wiedersehen mit den Jungen zu konzentrieren. Jean hatte sich bereits erhoben und den Platz unter dem schützenden Zeltdach verlassen, welches das Boot am Heck überspannte. Er saß auf der Bank hinter den rudernden schwarzen Männern.

»Schau, wir sollten beizeiten darüber nachdenken, ein neues Boot anzuschaffen.« Er zeigte auf einige vertäute Boote am Anleger. Diese Boote waren deutlich größer als die Zeltboote gebaut und hatten anstatt des Lagers unter den Planen stabile Holzaufbauten am Heck, mit kleinen Kabinen für die Reisenden. Früher hatte man diese Boote nur bei sehr wohlhabenden Einwohnern gesehen, heute schienen sich mehrere solch ein Boot leisten zu können.

Julie zuckte mit den Achseln. Abgesehen davon, dass Jean genau wusste, dass die Plantage momentan kein Geld in ein neues Boot investieren konnte, mochte Julie die Zeltboote lieber. Auch wenn gelegentlich der Regen unter die gewachsten Segeltuchplanen schlug, war die Luft darunter erfrischend kühl, wenn die Sonne brannte, und selbst die allgegenwärtigen Mücken schienen sich nur ungern dorthin zu verirren.

Nun erhob sie sich vorsichtig von ihrem Platz. Jean reichte ihr die Hand, und Julie setzte sich dankbar neben ihn, während die Männer an den Rudern nach einem freien Platz am Anleger Ausschau hielten.

»Misi Juliette, Masra Jean.« Kiri stand in ihrer Hausuniform in der Eingangshalle des Stadthauses und begrüßte Julie und Jean mit einem kurzen Lächeln.

»Kiri, wie schön! Alles in Ordnung? Wo sind die Jungen?« Julie freute sich sehr. Sie nahm sich die Freiheit und drückte Kiri kurz freundschaftlich mit den Händen die Oberarme. Kiri war nun siebzehn Jahre bei ihr. Auf der Plantage hatten sie ein recht freundschaftliches Verhältnis, aber hier in der Stadt verwandelte sich ihre ehemalige Leibsklavin in eine eher streng und distanziert anmutende Haushälterin, die sich allerdings ihrer Verantwortung für die Jungen sehr bewusst war. Es entging Julie nicht, dass Kiri sich ebenfalls über das Wiedersehen freute, auch wenn sie ihrem Stand gemäß versuchte, es mit keiner Miene zu zeigen.

»Masra Henry und Masra Martin müssten jeden Moment nach Hause kommen. Dann gibt es Essen. Wenn Misi Juliette erlauben, gehe ich wieder in die Küche«, sagte sie nüchtern, aber ihre Augen blitzten. Julie kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich auf die Begegnung der beiden Jungen mit ihrer Mutter freute.

Kaum war Kiri in Richtung Küche verschwunden, ertönte ein Poltern im hinteren Flur des Hauses, und Henry und Martin kamen durch die Tür in die vordere Eingangshalle gerannt.

»Mama! Jean?«, einen kurzen Moment sah Henry sie verblüfft an, fiel seiner Mutter dann aber sichtlich begeistert um den Hals. Julie genoss die Umarmung – wie sehr hatte sie diesen Moment herbeigesehnt! Sie atmete seinen Duft ein und bemerkte erstaunt, dass er schon wieder ein Stück gewachsen war.

Henry löste sich schließlich aus der Umarmung. Sein Gesicht glühte förmlich, sein ganzer Körper schien von Freude erfüllt zu sein. »Was macht ihr denn hier? Wir wussten gar nicht, dass ihr kommt! Ich muss dir unbedingt etwas zeigen! Und in der Schule …«, stammelte er atemlos.

Jean zerzauste sanft Henrys blonden Haarschopf, und Julie war tief berührt von der Zärtlichkeit dieser Szene. »Nun warte mal, wir sind doch auch gerade erst angekommen. Martin?«

»Jean, Tante Juliette.«

Julie registrierte den nüchternen Tonfall und trat einen Schritt auf Martin zu, der wie immer auf Distanz geblieben war. Er stand mit verschränkten Armen im Flur und machte eine ausweichende Bewegung, als Julie ihm zur Begrüßung die Hand auf die Schulter legen wollte. Julie spürte, wie sich Enttäuschung in ihr ausbreitete. Jedes Mal hoffte sie inständig auf ein wenig Nähe und Wärme, jedes Mal wurde sie wieder enttäuscht. Der Junge war so anders als Henry! Natürlich, sie hatte kein Recht, Nähe zu fordern, trotzdem schmerzte sie der Mangel daran. Das fing schon bei der Anrede an. Natürlich war Julie nicht seine Tante. Aber sich von Martin mit Großmutter anreden zu lassen, das hatte Julie nie gewollt. Martins Mutter war damals schließlich kaum jünger als Julie selbst gewesen, als Julie deren Vater, Martins Großvater, geheiratet hatte.

Nach dem Tod von Martins Mutter hatte sich Julie des Kindes angenommen, wie sie es ihrer Stieftochter auf dem Sterbebett versprochen hatte. Martins Vater wurde vor vierzehn Jahren nach grausigen Vorfällen zu Gerichtsverhandlungen in die Niederlande geschickt, und Julie hoffte insgeheim, dass er nie wieder auftauchen würde. Diesen Wunsch hielt sie vor Martin natürlich geheim, ebenso wie die Details über die damaligen Ereignisse. Der Junge selbst fieberte dem Tag entgegen, an dem er seinen Vater wiedersehen würde, und Julie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Er war damals ein Kleinkind gewesen und hatte die Geschehnisse nicht verstehen können. Trotzdem hatte Martin mit zunehmendem Alter ein durchweg positives Bild und eine starke Sehnsucht nach seinem Vater entwickelt, was Julie zwar verstehen konnte, was ihr aber in gleichem Maße Angst einflößte. Mit Martin selbst hatte sie nie darüber geredet, es waren Henry und Karini, die ihr hin und wieder Bruchstücke von Martins Hoffnungen preisgaben. Die beiden genossen sein Vertrauen mehr als Julie und Jean es je tun würden. Julie aber wusste, dass Martins Bild von seinem Vater irgendwann zerbrechen würde, und sie fürchtete sich vor dem Moment, in dem er Fragen stellen würde. Auch wenn sein Vater ihm zweimal im Jahr einen Brief schrieb und augenscheinlich bemüht war, den Kontakt zu ihm zu halten, wusste Julie nur zu genau, dass es dem Vater dabei nicht um seinen Sohn ging, sondern vielmehr um etwas ganz anderes. Und davor würde sie nicht nur Martin, sondern auch ihren eigenen Sohn beschützen müssen.

Julie seufzte. Lange Zeit hatte ihr das verworrene Familiengeflecht Bauchschmerzen bereitet. Denn genau genommen war Henry Martins Onkel. Karl hatte Henry immer für seinen Sohn gehalten. Dass in Wirklichkeit Jean der Vater von Henry war, das wussten nur sie und Jean – und das musste auch so bleiben, denn nur so war Henry der rechtmäßige Erbe der Plantage, die Karl damals nur hatte halten können, weil Julies großes Vermögen hier investiert worden war. Daher empfand sie Rozenburg absolut als ihren Besitz und so sollte es bleiben.

Doch es bedrückte sie, dass ihr Sohn zu seinem leiblichen Vater nie Vater sagen würde. Henry hatte Jean dennoch immer als seinen Vater erlebt, auch wenn er ihn nur beim Vornamen nannte. Erst als sie Jean nach Ablauf ihrer offiziellen Trauerzeit und einer angemessenen Zeitspanne schließlich geheiratet hatte, war ein wenig Last von ihren Schultern gefallen. Julie war erleichtert gewesen, den Namen Leevken ablegen zu können. Aber Henry trug ihn weiterhin, und dies sollte auch so bleiben, solange es jemanden gab, der Julie und Henry die Plantage streitig machen konnte: Martins leiblichen Vater. Pieter Brick.

Kapitel 3

Die Lalla Rookh schob sich langsam in die Mündung des Surinamflusses. Es war Anfang Juni, und nach den langen Wochen auf See breitete sich unter den Passagieren beim Anblick von Land freudige Stimmung aus.

Inika stand auf wackeligen Beinen an der Hand ihres Vaters an der Reling. Nur schaute Inika nicht, wie die meisten Passagiere um sie herum, erwartungsvoll auf das Land, sondern war in Gedanken bei ihrer Mutter, die unter Deck lag, zu schwach, um aufzustehen. Die schlechte Verpflegung, die Enge des Schiffsbauchs und die lange Reise über das Meer hatten Krankheit und Elend an Bord heraufbeschworen. Inika war schon nach kurzer Zeit aufgefallen, dass einige bekannte Gesichter unter den Passagieren plötzlich verschwanden. Sie hatte ihren Vater gefragt, wo diese Leute geblieben waren, er hatte aber nur ausweichend geantwortet.

Gestorben seien sie, hörte sie die Frau aus dem Nachbarlager flüstern, gestorben. Inika bekam es mit der Angst, als es ihrer Mutter immer schlechter ging. Auch Inika selbst litt unter Übelkeit und Durchfall, was in der Enge unter Deck ein sehr beschämender Zustand war. Es gab nur wenige Aborteimer, und diese waren stets besetzt. Waschen konnten sie sich nur mit salzigem Wasser, und das rationierte Trinkwasser aus den Fässern hatte schon nach den ersten zwei Wochen einen fauligen Geschmack angenommen. Inika hatte gelitten wie nie zuvor. Inzwischen war sie zwar wieder genesen, wenn auch noch recht schwach. Sie hatte Schmerzen gehabt und sich schmutzig gefühlt, am Schlimmsten aber war es für sie gewesen, die besorgten Blicke ihrer Eltern auszuhalten. Sie hatte deshalb auch in der größten Not versucht, stark zu sein, ein Blick in die Augen ihrer Eltern aber verriet ihr, dass ihr das eher schlecht als recht gelang. Ihre Mutter hatte sie unablässig mit Kräutern behandelt, dabei aber ihren eigenen Zustand missachtet. Seit über einer Woche lag sie nun auf den schmutzigen Decken im Dämmerschlaf, blass und mit eingefallenen Wangen und wurde nur noch selten wach.

»Alles wird gut, Inika, alles wird gut. Wir sind bald an Land. Da wird man deiner Mutter … da wird man uns helfen.« Kadir strich seiner Tochter immer und immer wieder über das lange schwarze Haar. Auch er sah mager und mitgenommen aus. Inika sah den Schmerz in seinen Augen und hörte die Zweifel in seiner Stimme, seine Worte beruhigten sie nicht. Und das Land, auf das sie jetzt zufuhren, erschien ihr nicht besonders freundlich. Je weiter sie den Fluss hinaufkamen, desto zäher wurde die warme, feuchte Luft. Auch in Indien war es warm, aber hier schien die Feuchtigkeit gleich in jede Falte der Kleidung zu dringen und Unmengen von stechenden Insekten, die Inika riesig vorkamen, mit sich zu bringen, die auf der Haut landeten und juckende Pusteln hinterließen. Nein – das war kein schönes Land! Während Inika versuchte, die lästigen Blutsauger zu vertreiben, zeigten andere Passagiere auf die ersten Häuser, die nun auftauchten. »Große Häuser, anders als die der Engländer«, murmelten sie und waren sich schnell einig, dass die Niederländer wohl noch reicher sein mussten als die Engländer. Das wiederum führte an Bord zu einer euphorischen Stimmung.

Inika ließ ihren Blick zum Ufer wandern. Tatsächlich, dort erstreckten sich große weiße Gebäude, mit üppigen Parkanlagen davor. Sie trat einen Schritt näher an die Reling, um besser sehen zu können, und hielt sich mit beiden Händen am vom Seewind glatt geschliffenen Holz fest. Im selben Augenblick schrak sie zurück. Neben ihrem großen Schiff tummelten sich unzählige kleine Boote mit schwarzen Männern, die mit großen, weiß leuchtenden Augen zu ihnen heraufspähten und unverständliche Dinge riefen. Inika hatte noch nie Menschen mit so tiefschwarzer Haut gesehen. Ängstlich klammerte sie sich an den Arm des Vaters.

»Das sind vermutlich … Einheimische«, versuchte er zu erklären.

»Fahren wir wieder nach Hause?« Während der ganzen Reise hatte sie versucht, artig zu sein und nicht zu klagen. Doch jetzt übermannte sie die Angst und mit ihr die Sehnsucht nach ihrer alten Heimat, denn nun, da sie bald das Schiff verlassen würden, wurde ihr schlagartig bewusst, dass hier nichts so sein würde wie in Indien.

»Irgendwann fahren wir wieder nach Hause, Inika, aber erst einmal müssen wir arbeiten und Geld verdienen.«

Ihr Vater hatte es ihr oft erklärt, doch Inika hatte immer noch nicht verstanden, warum sie dafür so weit reisen mussten. Jetzt griff er nach ihrer Hand und drückte sie.

»Komm, es kann nicht mehr lange dauern, wir packen unsere Sachen zusammen, holen deine Mutter und stellen uns schon einmal bereit, dann kommen wir als Erste vom Schiff.«

Die Lalla Rookh ging in der Mitte des Flusses vor Anker. Ein Matrose erklärte den Passagieren, dass es noch dauern würde, bis sie zum Festland übersetzen könnten, und mahnte zur Ruhe. Doch jeder auf dem Schiff wollte so schnell wie möglich wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Sarina wurde von ihrem Mann mehr getragen, als dass sie selbst stand oder lief. Ihr Gesicht zeigte eine ungesunde graugrüne Farbe, ihr Sari war zerknittert und beschmutzt, und sie konnte kaum die Augen aufhalten, so schwach war sie. Kadir drängte trotzdem weit nach vorne, an die Stelle der Reling, wo die Boote vermutlich zum Übersetzen festmachen würden. Es dauerte aber noch eine scheinbare Ewigkeit, bis sich aus dem Hafen weitere kleine Boote dem Schiff näherten. Das Gedränge an Bord wurde immer stärker, und Inika fühlte sich zunehmend unwohl.

Plötzlich spürte sie die Hand ihrer Mutter auf der Schulter. Mit glasigem Blick fixierte Sarina ihre Tochter und flüsterte: »Das kleine Säckchen, Inika, hinter der Planke, hast du es mitgenommen?«

Inika wusste im ersten Moment nicht, wovon ihre Mutter sprach. Dann kam ihr ein Bild aus den ersten Tagen auf See in den Sinn, als ihre Mutter das kleine Beutelchen mit ihrem Schmuck unter einer losen Planke der Bettstatt versteckt hatte. Sie hatte Inika angesehen, den Zeigefinger auf die Lippen gelegt und auf die anderen Passagiere gedeutet. Jeder wusste, dass es schon zu Diebstählen gekommen war, selbst die Matrosen standen im Verdacht, sich am Gepäck der Passagiere zu schaffen zu machen.