Die Brücke der Gezeiten 1 - David Hair - E-Book

Die Brücke der Gezeiten 1 E-Book

David Hair

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Beschreibung

Auf der Brücke der Gezeiten wird sich das Schicksal der Welt entscheiden …

Die Mondflutbrücke liegt tief unter der Ozeanoberfläche. Aber alle zwölf Jahre erhebt sie sich aus den Fluten und verbindet die beiden Kontinente Yuros und Antiopia. Zweimal schon hat Yuros seine Armeen von Kriegern und Magiern über die Brücke geführt, um das Nachbarreich zu unterwerfen. Jetzt naht die dritte Mondflut, und der Westen rüstet sich zum finalen Schlag. Aber es sind drei unscheinbare Menschen – ein gescheiterter Magie-Schüler, eine Spionin und Mörderin, die ihr Gewissen entdeckt, und ein einfaches Marktmädchen –, die über das Schicksal der Welt entscheiden werden …

Der Auftakt zu einem atemberaubenden Epos.

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Seitenzahl: 627

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DAVID HAIR

Ein Sturm zieht auf

DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 1

Übersetzt von Michael Pfingstl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Mage’s Blood« (Pages 1-319 + Appendix) bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.2. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2012 by David Hair

Originally entitled MAGES’S BLOOD

First published in the UK by Quercus Editions Ltd.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Penhaligon Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sigrun Zühlke

Lektorat: Hannah Jarosch

Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-10977-6V003www.penhaligon.de

Dieses Buch ist meiner Frau Kerry gewidmet: Was habe ich für ein Glück!Ebenso in Liebe meinen Kindern Brendan und Melissa; meinen geduldigen Testlesern (ihr wisst, wer gemeint ist) und Freunden und Familie überall. Und Hallo zu Jason Isaacs.

Inhalt

Karte: Antiopia

Prolog: Ein Netz aus Seelen

1 Die Plagen Kaiser Constants (Teil 1)

2 Trag dein Amulett

3 Die Standarten von Noros

4 Was kostet die Hand deiner Tochter?

5 Die pflichtbewusste Tochter

6 Worte aus Feuer und Blut

7 Verborgene Gründe

8 Ein Akt des Verrats

9 Reicher Lohn

10 Kämpfer der Fehde

11 Abschluss

12 Kriegsrat

13 Feindkontakt

14 Die Straße nach Norden

15 Magusgambit

16 Ein Stück Bernstein

17 Wüstenstürme

Anhang

Die Geschichte Urtes

Zeitrechnung auf Urte

Die Hauptreligionen in Yuros und Antiopia

Die Gnostischen Künste

Die Studien:

Glossar

Handelnde Personen

Danksagung

Prolog Ein Netz aus Seelen

Das Schicksal der Toten

Was erwartet uns, wenn die Seele den Körper verlässt? Paradies oder Verdammnis? Wiedergeburt? Einssein mit Gott oder Vergessen? Die Religionen der Menschen vertreten diese und noch viele andere Theorien, aber wir vom Ordo Costruo lehren dies: Nachdem die Seele den Körper verlassen hat, bleibt sie als körperloser Geist noch eine gewisse Zeit hier auf Urte. Ob sie sich schließlich auflöst oder an einen anderen Ort weiterwandert, entzieht sich jeglicher Kenntnis. Was wir jedoch wissen, ist, dass ein Magus mit jenen Geistern kommunizieren und sich so Zugang zu allem verschaffen kann, was sie wahrnehmen. Millionen dieser Geister streifen durch unsere Welt, und so ist es theoretisch möglich, über alles unterrichtet zu sein, was auf Urte geschieht.

Ordo Costruo, Pontus

Nimtaya-Gebirge, AntiopiaJulsept 9271 Jahr bis zur Mondflut

Von Osten drangen die ersten Sonnenstrahlen über die zerklüfteten Berge, ein dünner Schrei ertönte aus einem Misthaufen an der windabgewandten Seite einer Ansammlung heruntergekommener Lehmhütten. Zitternd hing der Schrei in der Luft, eine Einladung für jedes Raubtier. Schon bald tauchte ein Schakal auf und schnupperte vorsichtig in der Luft. In der Entfernung jaulten und kläfften noch andere, doch dieser, so nahe an seiner Beute, huschte lautlos dahin.

Da: ein zuckendes Stoffbündel zwischen Unrat und Müll. Kleine braune Gliedmaßen, die sich freistrampelten.

Der Schakal beobachtete es, dann kam er vorsichtig näher. Das hilflose Neugeborene rührte sich nicht mehr, als der Schakal sich über es beugte. Es war noch zu klein, um zu verstehen, dass das warme, fürsorgliche Wesen, in dessen Armen es vor Kurzem noch gelegen hatte, nicht wiederkommen würde. Es hatte Durst, und die Kälte begann wehzutun.

Der Schakal sah kein Kind, er sah Nahrung. Seine Kiefer öffneten sich.

Einen Wimpernschlag später wurde er durch die Luft gewirbelt, seine Hinterläufe schlugen gegen einen Fels. Er wand sich vor Schmerz und versuchte zu fliehen, schlitterte den Abhang hinunter, den er zuvor so lautlos und grazil heraufgekommen war. Sein Blick schoss hin und her auf der Suche nach der unsichtbaren Gefahr. Ein Hinterbein war gebrochen; er kam nicht weit.

Eine unförmige in Stofffetzen gehüllte Gestalt erhob sich und glitt auf das Tier zu. Der Schakal knurrte und schnappte nach der Hand mit dem großen Stein, die sich über ihm hob. Ein gedämpftes Knacken, Blut spritzte. Ein Gesicht schälte sich aus den Lumpen. Ledrige Haut, drahtiges, stumpfes Haar. Eine alte Frau. Sie beugte sich herab, bis sie die Schnauze des Schakals beinahe mit den Lippen berührte.

Dann atmete sie ein.

Später am selben Tag saß die alte Frau im Schneidersitz in einer Höhle hoch über einem ausgetrockneten Tal. Die Landschaft unterhalb war rau und karg, ein Wechselspiel aus Licht und Schatten zwischen kantigen Felsvorsprüngen. Sie lebte allein, niemand rümpfte die Nase über den Gestank ihres ungewaschenen Körpers oder wandte die Augen von ihrem verschrumpelten Gesicht ab. Ihre Haut war dunkel und spröde, das verfilzte Haar grau, ihre Bewegungen jedoch, als sie Feuer machte, waren elegant. Der Rauch stieg in eine Felsspalte und zog von dort nach draußen – einer ihrer zahllosen Großneffen hatte den Kamin für sie in den Fels geschlagen. Und auch wenn die Frau sich an seinen Namen nicht erinnern konnte, hatte sie doch ein Gesicht vor Augen.

Mit einem Löffel träufelte sie Wasser in den geschürzten Mund des Neugeborenen. Es war eines von Dutzenden, die die Dörfler jedes Jahr aussetzten, unerwünscht und zum Tode verdammt vom ersten Atemzug an. Alles, was sie von ihr wollten, war, dass sie die Babys auf ihrer Reise ins Paradies begleitete. Die Dörfler verehrten sie als eine Heilige und ersuchten sie oft um Hilfe. Die Schriftgelehrten tolerierten sie – oder sahen weg –, denn auch sie waren auf ihre Dienste angewiesen, hatten ihre eigenen Toten, die versorgt werden mussten. Von Zeit zu Zeit versuchte irgendein Fanatiker, die Jadugara – die Hexe – zu vertreiben, aber die hielten selten lange durch. Die Jadugara war schwer loszuwerden. Und wenn man sie mit vielen Leuten suchte, konnte sie sehr schwer zu finden sein.

Die Dörfler brauchten sie als Vermittlerin, um Kontakt mit ihren Vorfahren zu halten. Sie sagte ihnen, was sie wissen wollten, und im Gegenzug bekam sie zu essen und zu trinken, Kleidung und Brennholz – und die unerwünschten Kinder. Sie fragten nie, was aus den Kindern wurde. Das Leben hier war hart, der Tod kam schnell. Es war nie genug für alle da.

Das Kind auf ihrem Schoß schrie. Seine Lippen zuckten, suchten nach Nahrung, während die alte Frau mitleidlos auf das Baby hinabblickte. Auch sie war ein Schakal, wenn auch von anderer Art, und Urgroßmutter ihres eigenen Rudels. Als sie jünger gewesen war, hatte sie Liebhaber gehabt und selbst ein Kind bekommen. Ein Mädchen, das zu einer Frau herangewachsen war und viele weitere Kinder in die Welt gesetzt hatte. Die Jadugara wachte über ihre Nachfahren, Figuren in ihrem unsichtbaren Spiel. Sie lebte schon länger hier, als irgendjemand ahnte, tat so, als würde sie altern und sterben und eine andere an ihre Stelle treten – seit Jahrhunderten. Die Grabhöhle, in der angeblich ihre Vorgängerinnen ruhten, war leer. Stattdessen hatte sie die Gebeine Fremder dort begraben. Von Zeit zu Zeit machte sie sich auf und streifte in zahllosen Verkleidungen und unter ebenso vielen Namen durch die Welt, wandelte mal als junge Frau, mal als altes Kräuterweib oder irgendetwas dazwischen durch die Lande wie eine Jahreszeitengöttin des Sollan-Glaubens.

Sie fütterte das Kind nicht, denn das wäre reine Verschwendung gewesen. Nichts durfte verschwendet werden, nicht hier, und am allerwenigsten von ihr, die sich ihre Lebenskraft so teuer erkaufte. Sie warf eine Prise Pulver in die Flammen und beobachtete, wie das Feuer sich von einem blassen Orange zu einem tiefen Smaragdgrün verfärbte. Innerhalb von Sekunden wurde es kälter in der Höhle, obwohl die Flammen immer höher loderten. Dicker Rauch stieg auf, und die Nacht horchte wachsam auf.

Es war Zeit. Aus einem Haufen Tand und Trödel neben ihrem Schoß zog die Frau ein Messer und presste es auf die weiche Brust des Babys. Einen Moment lang fing sie den Blick des Neugeborenen auf, doch sie hielt nicht inne, bereute nichts. Diese Gefühle hatte sie schon in ihrer Jugend verloren. Mehr als tausend Male hatte sie dies hier im Lauf ihres langen Lebens bereits getan, in zahllosen Ländern und auf zwei verschiedenen Kontinenten. Es war genauso unvermeidlich wie essen und trinken.

Sie stieß zu, und der kurze Schrei des Babys verstummte. Als der kleine Mund sich öffnete, legte die Hexe ihre Lippen darauf. Sie atmete ein und spürte, wie sie Kraft schöpfte, mehr als zuvor bei dem Schakal. Wäre das Kind ein wenig älter gewesen, hätte sie noch mehr bekommen, aber sie nahm, was immer sie kriegen konnte.

Die Frau legte das tote Baby auf den Boden. Fleisch für die Schakale draußen. Sie hatte, was sie brauchte, und wartete, bis sich die Energie, die sie eingesogen hatte, in ihrem Innern setzte. Sie spendete ihr Lebenskraft, wie nur die Seele eines Menschen es vermochte. Ihr Blick wurde schärfer, die Lebensgeister kehrten zurück. Erfrischt konzentrierte sie sich auf die Geisterwelt. Es dauerte eine Weile, denn die Geister kannten sie. Aus freien Stücken kamen sie nicht, nur unter Zwang. Doch ein paar von ihnen hatte sie an sich binden können, und aus diesen wählte sie nun ihren Liebling aus. »Jahanasthami«, sang sie seinen Namen und streckte die klebrigen Geistfühler nach ihm aus. Sie stocherte im Feuer herum, fachte die Glut zu neuen Flammen an und streute noch etwas Pulver hinein, damit der Rauch dicker wurde. »Jahanasthami, komm!«

Die Zeit verstrich langsam, bis sich schließlich das Gesicht ihres Geisterführers im Rauch abzeichnete, leer wie eine unbemalte lantrische Karnevalsmaske. Die Augen waren leer, der Mund ein schwarzes Loch. »Sabele«, flüsterte er. »Ich habe gespürt, wie das Kind gestorben ist … Ich wusste, dass du nach mir rufen würdest.«

Sie und Jahanasthami wurden eins. Bilder aus dem Bewusstsein des Geistes strömten in das ihre: Orte und Gesichter, Erinnerungen, Fragen und Antworten. Und wenn der Geist ihr keine Antwort geben konnte, beriet er sich mit den anderen und gab dann an sie weiter, was er erfahren hatte. Sie waren wie ein Netz, aus Myriaden von Seelen gewoben und alle miteinander verbunden, ein Wissensschatz von so gewaltigem Umfang, dass ein einzelnes Gehirn unweigerlich bersten würde bei dem Versuch, alles in sich aufzunehmen. Doch Sabele versuchte, sich durch die endlosen Belanglosigkeiten von Millionen von Leben hindurchzuarbeiten auf der Suche nach dem einen Juwel, das ihr die Zukunft enthüllen würde. Ihr Körper bebte vor Anstrengung.

Stunden vergingen, doch für die Jadugara waren es ganze Zeitalter. Galaxien von Wissen wurden geboren, erblühten und verloschen wieder. Sie trieb in Ozeanen aus Bildern und Geräuschen, wurde verschlungen vom unendlichen Strudel des Lebens, sah Könige ihre Diener um Rat fragen, Priester feilschen und Kaufleute beten. Sie sah Geburten und Tode, Liebe und Mord, bis sie schließlich durch die Geisteraugen eines toten Lakh-Mädchens, das den dörflichen Brunnen heimsuchte, das Gesicht entdeckte, nach dem sie gesucht hatte. Nur einen winzigen Moment lang erblickte sie es, als der Geist durch einen Spalt in einem Vorhang spähte, dann wurde er von den Wächtern vertrieben. Doch dieser winzige Augenblick war genug, und Sabele arbeitete sich näher heran, sprang auf der Jagd von Geist zu Geist. Sie konnte ihre Beute spüren wie eine Spinne am Beben der Fäden in ihrem Netz, und schließlich war sie ganz sicher: Antonin Meiros war endlich zur Tat geschritten. Hatte seine Zuflucht in Hebusal verlassen und war nach Süden gegangen, um nach einem Weg zu suchen, den drohenden Krieg abzuwenden – oder ihn wenigstens zu überleben. Wie alt er geworden war. Sabele erinnerte sich daran, wie er in seiner Jugend ausgesehen hatte, an ein Gesicht, das nur so gebrannt hatte vor Tatkraft und Entschlossenheit. Damals war sie ihm gerade noch entwischt, als er und sein Orden sie und die Ihren – Liebhaber ebenso wie Familie – beinahe ausgelöscht hatte. Besser, du hältst mich nach wie vor für tot, Magus.

Sie verscheuchte Jahanasthami mit einer nervösen Handbewegung. Also hat der große Antonin Meiros endlich beschlossen zu handeln. Sie hatte lange genug die sich ständig wandelnden Möglichkeiten der Zukunft erforscht, um zu wissen, wonach er suchte. Sie war lediglich überrascht, dass er so lange gewartet hatte. Es blieb nur noch ein Jahr bis zur Mondflut und zu dem Gemetzel, das sie mit sich bringen würde. Das Spiel war schon weit fortgeschritten, und Meiros’ andere Optionen waren gescheitert.

Sie waren beide Weissager, hatten beide die möglichen Zukünfte gesehen. Seit Jahrhunderten hatten sie sich in der Geisterwelt bekämpft, um die Zukunft gerungen. Sie hatte seine Fragen gehört und die Antworten darauf gespürt. Manche davon hatte sie ihm selbst geschickt: Lügen, aus Vermutungen gesponnen, Köder an hauchdünnen Fäden.

Ja, Antonin, komm nach Süden. Empfange das Geschenk, das ich für dich bereitet habe! Schmecke neues Leben. Schmecke den Tod.

Sie versuchte zu lachen und weinte stattdessen – vor Wut und Zorn über all das, was sie verloren hatte, vielleicht auch aufgrund irgendeines anderen Gefühls, von dem sie gar nicht mehr wusste, dass sie es empfinden konnte. Sie ging dem nicht nach, kostete nur davon und genoss die willkommene, kurzzeitige Veränderung.

Die Sonne war inzwischen so hoch gestiegen, dass ihr Licht in die Höhle drang. Noch immer kauerte Sabele dort, eine alte Spinne, verstrickt in einem noch älteren Netz. Neben ihr lag, still und kalt, das tote Baby.

Die Plagen Kaiser Constants (Teil 1)

Die Welt von Urte

Urte ist nach Urtih benannt, einem Erdgott der Yothic. Es gibt zwei bekannte Kontinente: Yuros und Antiopia, auch Ahmedhassa genannt. Gewisse Ähnlichkeiten bei primitiven Artefakten und Übereinstimmungen in der jeweiligen Tierwelt haben manche Gelehrte zu der Vermutung geführt, dass die beiden einst durch die Pontische Halbinsel verbunden waren. Diese Vermutung ist nach wie vor unbewiesen, gewiss ist jedoch, dass ohne die Macht der Magi keinerlei Kontakt zwischen den beiden Kontinenten bestehen könnte, denn sie sind durch über 300 Meilen unbefahrbarer See voneinander getrennt. Wir gehen davon aus, dass durch ein kosmisches Ereignis in prähistorischer Zeit Lune, der Mond, in eine nähere Umlaufbahn gebracht wurde, wodurch die Meere unruhiger wurden und ein nicht geringer Teil der einstigen Landmasse verloren ging.

Ordo Costruo, Pontus

Pallas in Nordrondelmar, Yuros2 Julsept 9271 Jahr bis zur Mondflut

Gurvon Gyle zog die Kapuze seiner Robe über den Kopf wie ein bußfertiger Mönch, als sei er einfach nur ein weiterer unbekannter Priester der Kore. Er wandte sich einem Begleiter zu, einem eleganten Mann mit silbrig glänzendem Haar, der sich gedankenverloren über den Bart strich und durch das vergitterte Fenster nach draußen blickte. Das wechselnde Licht auf seinem Gesicht ließ ihn alterslos erscheinen. »Du trägst immer noch den Gouverneursring, Bel«, merkte Gyle an.

Der Mann schreckte aus seinen Gedanken hoch und steckte den verräterischen Ring in die Tasche. »Hör dir diese Menge da draußen an, Gurvon.« Seine Stimme klang nicht wirklich verängstigt, aber immerhin beeindruckt, und das war selten genug. »Es müssen sich mehr als hunderttausend Bürger auf dem Platz versammelt haben.«

»Ich habe gehört, über dreihunderttausend würden der Zeremonie beiwohnen«, erwiderte Gyle. »Auch wenn nicht alle bei der Parade zusehen. Setz deine Kapuze auf.«

Belonius Vult, Gouverneur von Noros, lächelte säuerlich und tat mit einem leisen Seufzer, wie ihm geheißen. Anonymität war einer der Grundpfeiler von Gurvons Gewerbe, aber Vult hasste sie. Doch heute war nicht der Tag, um sich öffentlich zu zeigen.

Es klopfte leise an der Tür, und ein weiterer Mann betrat den kleinen Raum. Er war schlank, hatte den olivenfarbenen Teint und die schwarzen Locken eines Lantriers, trug ein Gewand aus teurem rotem Samt und einen reich verzierten Hirtenstab. Seine Lippen waren voll, fast weiblich, die Augen in dem rundlichen Gesicht schmal. Gyle spürte ein Prickeln auf der Haut – die Gnosis-Schilde des Priesters. Kirchenmagi waren stets übervorsichtig.

Der Bischof warf die schwarzen Locken zurück und streckte eine überreich mit Ringen geschmückte Hand vor. »Herren von Noros, seid Ihr bereit, der heiligen Zeremonie beizuwohnen?«

Vult küsste die Hand des Bischofs. »Ganz begierig darauf, Vater Crozier.« Alle Bischöfe der Kirche Kores legten ihren Familiennamen ab und nahmen den Nachnamen Crozier an. Dieser hier war mit dem Grafen von Beaulieu verwandt und galt als der kommende Mann in der kirchlichen Hierarchie.

»Nennt mich Adamus, meine Herren.« Der Bischof lehnte seinen Stab an die Wand und streifte mit dem Lächeln eines Kindes, das sich gerade verkleidet, eine ebenso graue Kutte über, wie seine beiden Begleiter sie trugen. »Wollen wir?«

Er führte sie einen dunklen Gang entlang und dann eine bröckelige Steintreppe hinauf. Mit jedem Schritt wurde der Lärm von draußen lauter: Rufe und Geschnatter der aufgeregten Menge, schmetternde Trompeten, das Donnern von Trommeln, Priestergesänge, das Gebrüll der Soldaten und das Getrampel von tausend Paar Stiefeln. Sie fühlten es durch die Mauern hindurch, und die Luft selbst schien auf ihrer Haut zu vibrieren. Dann hatten sie das Ende der Treppe erreicht und traten hinaus auf einen winzig kleinen Balkon über dem Place d’Accord. Wie eine Wand schlug ihnen der Lärm entgegen und betäubte ihre Sinne.

»Großer Kore!«, rief Gyle Vult zu, der voller Staunen nur lachte. Beide Männer waren weit herumgekommen, aber keiner von ihnen hatte je etwas Vergleichbares gesehen. Dies war der Place d’Accord, das Herz der Stadt Pallas, die das Herz von Rondelmar war, dem Herzen von Yuros und damit des ganzen Reiches. Und dies war die Bühne, auf der sich sogleich vor einer beängstigend großen Menschenmenge eine gigantische Zurschaustellung von Macht und Politik zutragen würde. Monumentale Gold- und Marmorstatuen ließen die Menschen zu ihren Füßen wie Zwerge aussehen – Riesen, die gekommen waren, um das Schauspiel zu bezeugen. Kohorte um Kohorte marschierten die Soldaten vorbei, der Schritt der Legionäre wie Trommelschlag, der Puls der Macht. Über ihnen kreisten Windschiffe, gigantisch große Kriegsmaschinen, die der Schwerkraft trotzten und in der Mittagssonne riesige schwarze Schatten warfen. Scharlachrote Banner wehten im sanften Nordwind, darauf der Löwe von Pallas, das Szepter und der Stern des Herrschergeschlechts Sacrecour.

Gyle blickte hinüber zur königlichen Loge etwa eine Furchenlänge zu seiner Linken, unter der die Legionäre mit zum Gruß erhobenem Arm vorbeimarschierten. Winzig glitzerten die hohen Herrschaften in Scharlachrot und Gold: seine Kaiserliche Majestät Constant Sacrecour mit seinen kränklichen Kindern, verschiedenste Grafen und Lordschaften, Prälaten und Magi. Alle waren sie gekommen, um Zeugen eines noch nie da gewesenen Ereignisses zu werden: Heute sollte eine Lebende in den Heiligenstand erhoben werden.

Gyle stieß einen leisen Pfiff aus. Er war immer noch verblüfft darüber, dass jemand den Mut zu solcher Blasphemie aufbrachte, aber dem Jubel der Menge nach zu urteilen, schien das Volk die Heiligsprechung gutzuheißen.

Eine Abordnung der Kavallerie ritt im Tölt vorbei, gefolgt von einer Gruppe auf dem letzten Feldzug erbeuteter Elefanten, dahinter die karnischen Reiter auf ihren riesenhaften Kampfeidechsen. Ohne auf das erschrockene Keuchen und die weit aufgerissenen Augen der Menge zu achten, führten sie die Tiere, deren Schuppen in allen Farben des Regenbogens schillerten, durch das Spalier der Zuschauer. Die Echsen fauchten und schnappten in alle Richtungen, aber ihre Reiter hielten sie eisern im Zaum und starrten stur geradeaus bis auf den Moment, als sie die kaiserliche Loge passierten und den Kopf zum Gruß erhoben.

Gyle dachte mit Schaudern daran, wie es war, einer solchen Streitmacht in der Schlacht gegenüberzutreten. Die Noros-Revolte war ein Desaster gewesen. Ein Desaster und sein ganz persönlicher Albtraum. Sie hatte ihn geformt, hatte ihn aller Illusionen und jeglicher Moral beraubt. Und wofür? Noros gehörte wieder – durchaus zu seinem Nachteil – zum Kaiserlichen Bund der Nationen. Für das Kaiserreich war Noros nicht mehr als eine lästige Fliege gewesen, die vorübergehend seine Expansion aufgehalten hatte, aber Noros’ Wunden schwelten noch immer.

Gyle schob den Gedanken beiseite. Niemanden außerhalb von Noros kümmerte diese Erinnerung noch und hier schon gleich gar nicht. Er blickte in die Richtung, in die der Bischof deutete, und bestaunte pflichtschuldig das Fliegende Korps, das gerade auf den Place d’Accord zujagte. Dicht auf dicht kamen die Reihen geflügelter Reptilien hinter den Dächern der Heilig-Herz-Kathedrale in Sicht und stießen vor der Loge nach unten, begleitet von einem ehrfürchtigen – und durchaus verängstigten – Aufschrei der Menge. Kiefer, länger als ein ausgewachsener Mann und mit unterarmlangen Zähnen bewehrt, schnappten zu, und nicht wenige der geflügelten Kreaturen spien Feuer, als sie ihren Kriegsschrei ausstießen. Kreaturen, die es unmöglich geben konnte, ins Leben gerufen von den Kräften der Magi.

Wie sind wir nur auf die Idee gekommen, wir hätten sie schlagen können?

Dann erschallten die Trompeten, und weiße Banner wurden über der kaiserlichen Loge gehisst – das Zeichen für die versammelte Menge zu verstummen, denn nun würde der Kaiser das Wort an sie richten. Gehorsam schwieg das Volk, während eine kleine schmale Gestalt sich von ihrem Thron erhob und vorn an den Balkon trat.

»Mein Volk«, begann Kaiser Constant, und seine hohe Stimme hallte gnostisch verstärkt über den gesamten Platz, »mein Volk, der heutige Tag erfüllt mich mit Stolz und Ehrfurcht. Stolz ob der Erhabenheit unserer versammelten Gemeinschaft, der Gemeinschaft des rondelmarischen Volkes! Zu Recht nennt man uns die größte Nation von Urte! Zu Recht nennt man uns die Kinder Kores! Zu Recht sitzen wir über den Rest der Menschheit zu Gericht! Zu Recht seid ihr, selbst die Geringsten unter euch, unserem Gott mehr wert als alle anderen Völker! Und Ehrfurcht erfasst mich, weil wir trotz aller Widrigkeiten so viel erreicht haben. Ehrfurcht, weil Kore uns für seinen göttlichen Auftrag erwählt hat!«

Constant wurde nicht müde, sein Volk – und damit auch sich selbst – zu verherrlichen, zählte seine Ruhmestaten auf, angefangen von der Niederwerfung des Rimonischen Reiches und der Eroberung Yuros’ bis hin zu den Feldzügen über die Mondflutbrücke und der Unterwerfung der Heiden in Antiopia.

Gyle beeindruckte die kaiserliche Sicht der Geschichte wenig. Er schätzte sich glücklich, zu den wenigen zu gehören, die in einer Version der Ereignisse unterrichtet worden waren, die der Wahrheit ein ganzes Stück näher kam. Das Arkanum, das er besucht hatte, war um Unvoreingenommenheit bemüht gewesen, und die Geschichte, die er kannte, lautete, dass Yuros noch vor fünfhundert Jahren vollkommen zersplittert gewesen war. Die stärkste Macht, das Rimonische Reich, hatte gerade einmal ein Viertel der bekannten Landmasse beherrscht, zu der aber immerhin Rimoni, Silacia, Verelon und ganz Noros, Argundy sowie Rondelmar gehörten. Ständig herrschte Krieg, in der Hauptstadt Rym intrigierten die Dynastien gegeneinander und bekämpften sich. Verschiedene Glaubensrichtungen, die jetzt alle als heidnisch galten, kämpften um die Vorherrschaft. Seuchen kamen, Hungersnöte gingen. Unpassierbar tobte die See. Niemand wäre im Traum auf die Idee gekommen, dass sich hinter den östlichen Meeren ein ganzer Kontinent verbergen könnte.

Dann änderte sich mit einem Mal alles: Wie ein Komet kam Corineus über die Welt und setzte sie in Flammen. Corineus der Retter, geboren als Johan Corin, Sohn einer adligen Familie aus der Grenzprovinz Rondelmar. Er kehrte dem verschwenderischen höfischen Leben den Rücken und entschied sich für ein einfaches, ungebundenes Leben unter freiem Himmel. Johan Corin reiste umher, predigte von freier Liebe und anderen verheißungsvollen Dingen, scharte eine Anhängerschaft um sich, die im Lauf der Zeit auf gut und gern tausend junge Leute anwuchs. In Scharen strömten die Verlorenen und die leicht zu Beeindruckenden zu ihm und seiner Verheißung von der Errettung im nächsten Leben und zügelloser Ausschweifung in diesem. So zogen sie, bekannt als Unruhestifter, durch die Lande, bis sie eines Tages in die Nähe einer Stadt kamen, deren Bewohner in Panik gerieten und Soldaten eines nahe gelegenen Lagers zu Hilfe riefen. Auch sie waren der Meinung, es sei an der Zeit, den lächerlichen Umtrieben Johan Corins und seiner Anhänger ein Ende zu machen. Noch in derselben Nacht wurde Corins Lager von einer ganzen Legion umstellt, und um Mitternacht stürmten sie es, um alle zu verhaften.

Was dann geschah, wurde zunächst zur Legende und dann zur geheiligten schriftlichen Überlieferung. Es wurden Lichter gesehen, Stimmen ertönten, und die Soldaten starben auf tausenderlei Arten und bis auf den letzten Mann. Viele von Corins Anhängern ereilte dasselbe Schicksal, auch Corin selbst, der von Selene, seiner Schwester und Geliebten, ermordet wurde. Doch wer überlebte, fand sich für immer verwandelt: Ein jeder von ihnen verfügte fortan über die Macht eines Halbgottes, konnte über Feuer und Sturm gebieten, Felsbrocken schleudern und Blitze lenken. Sie waren die Gesegneten Dreihundert, die ersten Magi.

Sie entsagten Corins Lehre von Liebe und Frieden und nahmen in einer Orgie der Zerstörung Rache an den Bewohnern der Stadt, die heutzutage namentlich nur noch als »Hort des Bösen« bekannt ist. Als sie begriffen hatten, von welchem Ausmaß die Veränderung war, die mit ihnen geschehen war, verbündeten sie sich mit einem rimonischen Senator und gründeten eine neue Bewegung, die zu einer Armee wurde. Bald hatten sie gelernt, ganze Legionen zu vernichten, ohne dabei selbst nur einen einzigen Mann zu verlieren. Sie löschten die Rimoni aus, machten Rym dem Erdboden gleich und erschufen eine neue Welt, das Rondelmarische Reich.

Die Dreihundert schrieben ihre Macht Johan Corin zu, nannten ihn Sohn Gottes, der in einem Tauschhandel sein Leben gegeben hatte, um seine Anhänger mit magischen Kräften auszustatten. Und dann machten sie sich daran, die Welt der Sterblichen zu erobern. Jung und allmächtig, wie sie waren, schliefen sie in jedem Land, in das sie kamen, mit wem immer sie wollten. Zunächst war es ihnen egal, dass die Mischlinge, die aus diesen Verbindungen hervorgingen, über weniger Macht verfügten als sie selbst. Doch erst als ihre Nachkommen sich über ganz Yuros verbreiteten und Lehensgüter für sich einforderten, begriffen sie ihre eigene Macht. Sie gründeten Arkana, in denen sie sich gegenseitig unterrichteten, und schließlich eine Kirche und predigten dem Volk fortan ihre eigene Göttlichkeit.

Und jetzt, fünfhundert Jahre später, trugen Tausende das heilige Blut der Dreihundert in sich: die Magi. Ihre Herrschaft wurde von der kaiserlichen Dynastie weitergetragen, den Nachkommen Sertains, der nach der Verwandlung Corins Platz eingenommen hatte. Und der jetzige Kaiser war Constant Sacrecour. Auch Gyle konnte seinen Stammbaum direkt bis zu den Dreihundert zurückverfolgen. Ich bin von ihrem Blut, dachte er. Ich bin Magus, aber ich bin auch Norer. Er blickte hinüber zu Belonius Vult und dann zu Adamus Crozier, die ebenfalls Magi waren, Herrscher von Urte.

Adamus deutete auf das Ende des Platzes, als sei er der Zeremonienmeister dieser Darbietung. Eine riesenhafte Statue von Corineus erhob sich dort, die Arme weit ausgebreitet, wie sie ihn am Morgen nach der Verwandlung gefunden hatten: tot, mit dem Dolch seiner Schwester im Herzen. Jeder der Dreihundert hatte behauptet, nach dessen Tod mit Corin gesprochen und Unterweisungen von ihm erhalten zu haben. Manche sagten, sie hätten in Visionen seine Schwester Selene gesehen, wie sie unflätige Worte brüllte. Doch als sie in der Dämmerung zu sich kamen zwischen all den toten Soldaten, sei sie nirgendwo mehr zu finden gewesen. Die Schilderungen der Dreihundert wurden zur heiligen Überlieferung: Johan hatte sie durch die Verwandlung geleitet und war dann von seiner fehlgeleiteten Schwester Selene ermordet worden. Er war der Sohn Gottes, und sie war die Hurenhexe der Verdammnis. Er wurde Corineus der Retter, überall verehrt. Sie wurde Corinea die Verfluchte.

Auf Brusthöhe der Corineus-Statue erstrahlte schimmernd ein rosig-goldenes Licht. Die Menge hielt vor Anspannung und Ehrfurcht den Atem an, während das Licht immer heller wurde und seinen gleißenden Schein über den Platz ergoss. Gyle sah, wie nicht wenigen Tränen übers Gesicht rannen.

Innerhalb des Lichtscheins war jetzt eine Silhouette zu erkennen, eine Frau in einem schlichten weißen Gewand, doch der Eindruck trog, denn Adamus flüsterte ihnen zu, dass das Gewand gänzlich aus Diamanten und Perlen bestehe. Langsam betrat sie die Plattform, die aus dem goldenen Dolch bestand, der aus dem Herz der Statue ragte. Sie war die Frau, die am heutigen Tag heiliggesprochen werden sollte.

Wie aus einer Kehle begann die versammelte Menge zu schluchzen, als würden all ihre Hoffnungen und Träume allein auf ihr ruhen. Lautstark holten sie Luft, als die Frau das Ende des Dolches erreichte und in die Leere hinaustrat, wo sie etwa zwanzig Doppelschritt über ihren Köpfen auf die kaiserliche Loge zuschwebte. Wie von Sinnen schrie und bejubelte die Menge den plumpen Trick, den jeder nur halb ausgebildete Magus bewerkstelligen konnte.

Adamus Crozier zwinkerte ihnen zu, als wolle er sagen: »Seht euch nur dieses Theater an«, aber Gyle tat, als habe er es nicht gesehen.

Die Frau schwebte an ihnen vorbei, die Hände zum Gebet gefaltet, und ein Meer von Gesichtern folgte ihrer Bahn. Ich hoffe, sie trägt ihre beste Unterwäsche, dachte Gyle unwillkürlich, rief sich aber sofort zur Ordnung. Sich über dieses Volk lustig zu machen, und sei es nur in Gedanken, war gefährlich. Selbst in der Welt seiner eigenen Gedanken war man hier nicht sicher.

Die Frau schwebte auf den kaiserlichen Thron zu, und der Große Kirchenvater Wurther erhob sich steif, um sie, umringt von seiner Dienerschaft, in Empfang zu nehmen.

Die Hände immer noch in demütiger Gebetshaltung, sank die Frau auf die Knie. Die Menge jubelte und verstummte abrupt, als der Große Kirchenvater die Hand hob.

Adamus Crozier zupfte Gyle am Ärmel. »Wollt Ihr noch mehr sehen?«, flüsterte er.

Gyle blickte Vult an, dann schüttelte er kaum merklich den Kopf.

»Gut«, erklärte Adamus. »Ich habe einen feinen Tropfen für uns bereitstellen lassen, und es gibt viel zu besprechen.«

Bevor sie gingen, nahm Gyle sich noch Zeit für einen langen und eingehenden Blick auf jenen jungen Mann, dem sie morgen persönlich gegenübertreten würden. Mithilfe seiner gnostischen Sicht musterte er diesen Halbwüchsigen, der Herrscher über Millionen war, als stünde er ihm direkt gegenüber. Constants Gesicht quoll geradezu über vor Stolz, Neid und Furcht, mehr schlecht als recht verborgen hinter einer Maske aus Frömmigkeit. Er tat Gyle beinahe leid.

Aber wie sollte man auch anders reagieren, wenn die eigene Mutter gerade in den Heiligenstand erhoben wurde?

Am nächsten Tag konnte Gyle es in den prächtigen Palastgärten kaum erwarten, die letzten Minuten vor der Audienz hinter sich zu bringen. Wie immer war er der Außenseiter, ein Sonderling im Paradies. Er schlug seinen Kragen hoch, um den Nieselregen abzuhalten, und nahm einen etwas abseits gelegenen Weg, während seine Gedanken ganz woanders waren. Gyle fiel hier auf, weil er nicht so fein herausgeputzt war wie die anderen. In diesem Jahr waren grelle Farben in Mode, der traditionellen Kleidung auf dem östlichen Kontinent nachempfunden, und überall in den Gärten hatte er Adlige in soldatisch anmutender Kleidung gesehen. Der dritte Kriegszug stand kurz bevor, weshalb es schick war, sich zu geben wie ein Krieger, aber dennoch ließ Gyles abgewetzte Ledermontur ihn hier wie eine Krähe in einem Papageienkäfig aussehen. Er trug ein Schwert wie die anderen auch, aber seines hatte eine rasiermesserscharfe Klinge und einen abgenutzten Griff. Sein faltiges Gesicht und die von der Wüstensonne tiefbraun gegerbte Haut ließen ihn bedrohlich aussehen unter den blassen Menschen des Nordens. So verweichlicht und affektiert sie auch aussahen, versuchte Gyle doch lieber, ihnen aus dem Weg zu gehen. Jeder in diesem Garten hatte Magusblut in den Adern und konnte mit einem einzigen Gedanken einen ganzen Trupp Soldaten auslöschen. Wenn nötig, konnte Gyle das auch, aber sich in den kaiserlichen Gärten mit einem jungen Heißsporn anzulegen schien ihm nicht ratsam. Da erblickte er Belonius Vult, der am Eingang zu den Gärten stand und ungeduldig winkte.

Also dann. Es sind stets die kleinen Schritte, die uns zu großen Dingen führen.

Als Belonius Gyles Umhang sah, verzog sich das glatte Gesicht des Gouverneurs zu einem herablassenden Lächeln. Vult trug eine silberblaue Seidenrobe – der Inbegriff des gut gekleideten Magus’. Gyle kannte ihn seit Jahrzehnten, und nie hatte er ihn anders gesehen als aufs Feinste herausgeputzt: Belonius Vult, Gouverneur von Noros im Namen seiner Kaiserlichen Majestät, auch genannt Verräter von Lukhazan. Der einzige General der Noros-Revolte, der in die Dienste des Reiches getreten war.

»Hättest du dir nicht wenigstens eine saubere Tunika überwerfen können, Gurvon?«, fragte Belonius. »Wir treten vor den Kaiser und seine erst gestern heiliggesprochene Mutter.«

»Sie ist sauber«, erwiderte Gyle. »Frisch gewaschen zumindest. Die Flecken gehen nicht mehr raus. Genau das erwarten sie doch von mir: den ungehobelten Südländer direkt aus der Wildnis.«

»Ihren Erwartungen wirst du in diesem Aufzug zumindest gerecht. Komm, wir müssen los.« Falls Vult jemals nervös wurde, verbarg er es gut. Gyle konnte sich an keinen Moment erinnern, in dem Magister Belonius nicht die Ruhe selbst gewesen wäre, nicht einmal während der Kapitulation von Lukhazan.

Sie gingen durch ein Labyrinth marmorner Innenhöfe, verbunden durch palisanderverkleidete Torbogen, passierten Statuen von Herrschern und Heiligen, verneigten sich vor noblen Herren und Damen und drangen immer tiefer in den Palast vor – eine Gunst, die nur wenigen zuteilwurde. Seltsame Wesen streiften unbeaufsichtigt durch die Hallen im Innern des Palasts. Zwischenwesen aus dem kaiserlichen Bestiarium, gezüchtet mithilfe der Gnosis. Manche sahen aus wie Sagentiere, wie Greife und Pegasi, andere waren namenlose Schöpfungen, der Fantasie ihrer Erschaffer entsprungen.

Durch eine letzte Tür betraten sie eine Halle, in der Soldaten mit geflügelten Helmen wie Statuen Wache standen. Ein Diener bedeutete ihnen, ihre Amulette abzulegen – jene Steine, mit denen die Magi die Kraft der Gnosis kanalisieren. Bei Belonius war es ein Kristall an der Spitze seines kunstvoll mit Silber verzierten Akazienholzstabes. Gyle beschied sich mit einem ungefassten Onyx, den er an einem einfachen Lederband um den Hals trug. Er lehnte sein Schwert an die Wand und hängte sein Amulett an den Griff. Dann warf er Vult einen letzten Blick zu. Bereit?

Vult nickte, und gemeinsam betraten die beiden Norer das Allerheiligste ihrer Eroberer.

Sie befanden sich in einem runden Saal mit Wänden aus weißem Marmor, an der Decke prangten Reliefs der Gesegneten Dreihundert. Über einem Tisch schwebte eine sich langsam um die eigene Achse drehende Statue – Corineus, wie er gerade in den Himmel aufstieg. Der Retter blickte nach oben, das Gesicht andachtsvoll im Moment des Todes. In den Händen hielt er Laternen, die den Raum erhellten. Um eine runde Tafel aus schwerem, zu Spiegelglanz aufpoliertem Eichenholz standen neun Stühle – eine Reminiszenz an die Schlessen-Legende von König Albrett und seinen Rittern. Kaiser Constant beliebte es jedoch, dieses traditionelle Symbol der Gleichheit zu verhöhnen, indem er sich selbst auf einem erhöhten Podium platzierte. Dort saß er auf einem aus Kamelknochen geschnitzten und mit Gold verzierten Thron. Beutegut vom letzten Kriegszug, wenn Gyle sich nicht täuschte.

»Eure Majestät«, kündigte der Diener die Besucher an, »Magister-General Belonius Vult, Gouverneur von Noros, und Volsai-Magister Gurvon Gyle von Noros.«

Seine Kaiserliche Majestät Constant Sacrecour blickte unter buschigen Augenbrauen auf und runzelte die Stirn. »Sie sind Norer«, klagte er mit hoher Stimme und wand sich unbehaglich in seinem schweren hermelinbesetzten Mantel. »Mutter, du hast mir nicht gesagt, dass sie Norer sind.« Er war ein schmaler Mann Ende zwanzig, aber er benahm sich, als sei er wesentlich jünger. Er wirkte gehetzt, eine Art launisches Misstrauen stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben. Nervös nestelte er an seinem Bart herum und machte ganz den Eindruck, als wäre er lieber an einem anderen Ort oder hätte wenigstens ein angenehmeres Unterhaltungsprogramm.

»Natürlich habe ich das«, erwiderte seine Mutter strahlend. Die geheiligte Mater-Imperia Lucia Fasterius erhob sich nicht, begrüßte die beiden Neuankömmlinge aber mit einem freundlichen Lächeln. Gyle war überrascht. Er hatte sich die Frau kälter vorgestellt. Sie hatte Fältchen um Augen und Mund, was bei den eitlen Magusfrauen ein seltener Anblick war, und trug ein vergleichsweise schlichtes himmelblaues Kleid. Ihr einziger Schmuck war ein goldenes Lichtdiadem, mit dem sie das blonde Haar zusammenhielt. Sie sah aus wie eine Lieblingstante aus Kindheitstagen.

»Ihr erstrahlt in ebenso hellem Glanz wie gestern, Eure Heiligkeit«, sagte Belonius Vult mit einer tiefen Verbeugung.

Belonius’ Kompliment war so offensichtlich eine Lüge, dass die Kaiserinmutter eine Augenbraue hochzog. »Mit dem Geld, das ich für das Gewand ausgegeben habe, das ich gestern trug, hätten wir bequem den nächsten Kriegszug finanzieren können«, erwiderte sie trocken. »Ich hoffe, Ihr wollt mir damit nicht sagen, ich hätte mich lieber mit einem einfachen Bauernrock begnügen sollen, Gouverneur Vult?«

»Ich meinte lediglich, dass kein Gewand dieser Welt an den Glanz Eures Antlitzes heranreicht, geheiligte Dame«, antwortete Belonius, ohne mit der Wimper zu zucken. Im Honig-ums-Maul-Schmieren war Vult unübertroffen.

Lucia bedachte ihn mit einem wohlwollenden Blick und deutete auf zwei Stühle an einer Tafel. Vier weitere Männer saßen an dem Tisch, und jeder davon starrte sie an. Die Blicke, denen sie begegneten, reichten von neutral bis offen feindselig.

»Gestattet mir, Euch zu Eurer Heiligsprechung zu gratulieren, edle Mutter. Noch nie wurde eine so vortreffliche Person so passend geehrt.«

Lucia lächelte geschmeichelt wie ein junges Mädchen, das sich über ein anzügliches Kompliment freut, nicht wie eine Kaiserinmutter und Heilige. Doch Gyle hatte Geschichten darüber gehört, was sie mit denen anstellte, die ihr Missfallen erregten, und diese Geschichten ließen ihn bis ins Mark erschauern. Aber was wusste er denn schon darüber, wie Heilige aussahen und sich zu benehmen hatten?

»Willkommen im Hoherat Rondelmars.« Lucia deutete galant in die Runde. »Ich nehme an, Ihr kennt die edlen Herren noch nicht, also gestattet mir, Euch vorzustellen.« Sie nickte einem groß gewachsenen Mann mit beginnender Glatze zu, der aussah wie vierzig, aber wahrscheinlich mindestens achtzig war. »Dies ist Graf Calan Dubrayle, der kaiserliche Schatzmeister.« Dubrayle nickte knapp, der Blick seiner alten Augen undurchdringlich.

Der Mann neben ihm hatte silbernes Haar, aber jugendliche Gesichtszüge und den Körperbau eines Helden. »Mein Name ist Kaltus Korion«, erklärte er kühl. »Ich erinnere mich an Euch, Vult.« Kaltus sah aus, als würde er am liebsten auf den Boden spucken. Er wandte sich an Lucia. »Ich sehe keinen Grund, warum die beiden hier sein sollten. Dies ist der Hoherat, kein Kaffeestand auf einem Markt, wo fahrende Händler versuchen, ihren Tand zu verscherbeln. Ich kenne den Plan bereits. Ich brauche die nicht, damit sie ihn mir schmackhaft machen.«

»Der Plan, den wir umsetzen wollen, wurde von den beiden Herren erdacht, mein lieber Kaltus. Also, seid höflich.«

»Ich behandle alle Norer genauso höflich, wie ich es während der Revolte getan habe.« Er warf Belonius ein schiefes Grinsen zu. »Ich habe immer noch Euer Schwert in meiner Beutekammer, Vult.«

»Und Ihr dürft es gerne behalten«, erwiderte Vult aalglatt. »Ich habe mächtigere Waffen, die obendrein nur durch meine Hand gebraucht werden können.«

Sei vorsichtig, Belonius, um Kores willen, dachte Gyle. Du sprichst hier mit Kaltus Rukker Korion!

Kaltus rümpfte unbeeindruckt die Nase und ließ den Blick zu Gyle wandern. »Und das ist der berüchtigte Gurvon Gyle? Gibt es denn wirklich keine Möglichkeit, die kaiserliche Amnestie aufzuheben und ihn zu hängen?«

»Die Revolte liegt lange zurück«, antwortete Gyle ruhig und blickte dem General fest in die Augen. Siebzehn Jahre war es jetzt her, dass die Norer sich gegen ihre Eroberer erhoben hatten. Anfangs hatte es den Anschein gehabt, als würden sie den Sieg davontragen, doch dann hatte sich Lukhazan unter dem Kommando von Belonius Vult kampflos ergeben, und das Blatt hatte sich gewendet. Gyle war damals ein junger Mann gewesen, idealistisch und unerschrocken, doch wie viel war davon jetzt noch übrig? Ein ausgebrannter Meisterspion? Ein verschlagener Intrigant mit einem letzten Ass im Ärmel, das ihm ein Auskommen im Alter sichern sollte? Wahrscheinlich.

»Gut gesprochen. Der Aufstand liegt viel zu lange zurück, um uns jetzt noch zu beschäftigen«, stimmte ein fetter Mann in priesterlichem Gewand zu. Seine Robe war mit so vielen Juwelen und Gold verziert, dass es wahrscheinlich göttlicher Unterstützung bedurfte, wenn er sich darin bewegen wollte. Der Große Kirchenvater Dominius Wurther wirkte aus der Nähe sogar noch übergewichtiger als gestern von der Loge am Place d’Accord aus. »Er gehört längst der Vergangenheit an, und wir haben unsere norischen Brüder schon vor langer Zeit wieder im Schoß des Reiches willkommen geheißen. Ich zumindest freue mich auf diese Besprechung.« Seine fetten Wangen bebten, und er grinste schmierig. »Ich hoffe, der junge Adamus hat Euch gestern gut unterhalten?«

Die anderen Männer blickten sich an. Wenn diese Norer Gäste des Bischofs waren, welche Rolle spielte dann die Kirche in diesem Plan, und welche eigenen heimlichen Ziele verfolgte sie?

Gyle musste sich zusammenreißen, um sich nichts anmerken zu lassen. Sollen sie nur spekulieren.

Der Mann, der links vom Kaiser saß, drehte den Kopf leicht in ihre Richtung. »Ich bin Betillon«, erklärte er, als sei damit bereits alles gesagt. Und das war es auch: Aufgrund dessen, was er während der Revolte in Knebb angerichtet hatte, war Tomas Betillon in Noros immer noch als »der tollwütige Hund« bekannt. Sein Gesicht war kantig und grau, der Backenbart ungestutzt, und die Augen lagen unter schweren Lidern halb verborgen.

»Ist diese Unterredung wirklich notwendig?«, wiederholte Korion ungeduldig. »Vult hat also einen Plan für uns ausgearbeitet. Geben wir ihm sein Gold, dann kann er wieder seiner Wege ziehen.« Er grinste. »Mehr brauchte es damals in Lukhazan auch nicht.«

Lucia klopfte auf die Tafel, woraufhin alle verstummten und sich ihr zuwandten. »Genug des Geplänkels, meine Herren.« Sie fixierte Korion mit einem kalten Blick und sah mit einem Mal gar nicht mehr aus wie die freundliche Lieblingstante. »Diese beiden Edelmänner sind für unser Vorhaben unverzichtbar, und sie sind uns höchst willkommen. Sie sind auf meine – auf unsere – Einladung gekommen, weil sie mit einem äußerst erfreulichen Vorschlag an uns herangetreten sind, und wenn wir ihn umsetzen wollen, brauchen wir ihre Hilfe.« Sie deutete auf die bequem gepolsterten Ledersessel. »Bitte, erweist uns die Ehre und setzt Euch zu uns.«

Der Kaiser wirkte, als würde er gerne etwas zu Korions Verteidigung sagen, tat es aber nicht. Stattdessen zog er nur einen leichten Schmollmund.

Lucia legte die Hand auf einen Stapel Papier vor ihr. »Ihr alle habt die Unterlagen gelesen und wart bei den geheimen Besprechungen zu Magister Vults Plan für den kommenden Kriegszug dabei, doch dies ist die erste Gelegenheit, da wir alle am selben Ort versammelt sind. Lasst mich betonen, dass wir hier über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden – über das Schicksal von ganzen Nationen. Wir werden über den Verlauf des dritten Kriegszugs entscheiden, und zwar nicht auf dem Schlachtfeld, sondern hier, in diesem Raum. Wir, die ich hier zusammengerufen habe.« Sie warf ihrem Sohn, dem Kaiser, einen kurzen Blick zu. »Die wir hier zusammengerufen haben.«

Gyle fragte sich, ob sie jetzt – als lebende Heilige – über mehr Autorität verfügte als ihr Sohn. Und er stellt sich wahrscheinlich genau dieselbe Frage.

Lucia blickte in die Runde. »Zunächst werde ich die Situation genau darlegen, damit wir alle auf demselben Wissensstand sind. Dann werden wir gemeinsam die nächsten Schritte beschließen.« Sie erhob sich und begann, im Kreis um die Tafel herumzugehen. Ihre Stimme war glasklar und vollkommen gefühllos – eher wie die eines Racheengels als einer Heiligen.

»Es dürfte Euch nicht entgangen sein, edle Herren, dass das goldene Zeitalter Rondelmars sich allmählich seinem Ende zuneigt.« Der Kaiser wirkte nicht besonders glücklich über ihre Wortwahl, unterbrach sie aber nicht. »Nach außen hin mag es aussehen, als seien wir stärker denn je zuvor, doch die Reinheit – das Herz von Rondelmars gerechter Herrschaft über die Welt – ist besudelt. Unser Reich wurde verunreinigt von Männern, denen Gold wichtiger ist als die Liebe zu Kore. Kaufleute schmieden ungehindert ihre Ränke, und ihre Geschäfte florieren, während wir, die wir Kore und den Kaiser aufrichtig lieben, kämpfen müssen um das, was uns rechtmäßig zusteht. Ein großes Übel wurde in diese Welt gebracht, und es muss vernichtet werden. Das Übel, von dem ich spreche, ist die unselige Leviathanbrücke, jenes verfluchte Artefakt von Antonin Meiros und seinen gottlosen Spießgesellen.« Von plötzlicher Wut erfasst, schlug sie mit der Faust auf den Tisch. »Als Kore dieses Land schuf, erschuf er zwei große Kontinente, getrennt durch einen noch größeren Ozean, und wies seine Schwester Lune an, die Wasser dazwischen unpassierbar zu machen, um Ost und West für immer voneinander zu trennen. Der kluge, edle und rechtschaffene Westen und der tumbe, lasterhafte, ketzerische Osten sollten nie miteinander in Kontakt kommen, nicht unter der Sonne und nicht unter dem Mond – so steht es geschrieben. Doch Meiros, dieser Emporkömmling, der zu feige war, sich der Befreiung Yuros’ vom Joch der rimonischen Herrschaft anzuschließen, verließ den Bund der Dreihundert und baute seine verfluchte Brücke. Diese Brücke ist es, über die all unsere Leiden kommen, und ich frage mich, ob Antonin Meiros auch nur im Entferntesten ahnt, was er damit angerichtet hat!«

Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, schien er sich dessen durchaus bewusst zu sein, dachte Gyle und fragte sich, ob Lucia Fasterius tatsächlich an das bigotte Dogma glaubte, das sie da vertrat. Sie schien intelligent und gebildet zu sein, sogar gütig. Aber in ihren Augen lauerte etwas Fanatisches wie eine Giftschlange, die nur darauf wartet zuzubeißen.

Lucia blieb hinter ihrem Stuhl stehen und hielt die hölzerne Lehne fest umklammert. »Seit einem Jahrhundert sehen wir nun zu, wie sich die Brücke alle zwölf Jahre aus den Fluten erhebt und passierbar wird. Wir haben gesehen, wie unsere Händler sich in Scharen über sie ergießen und mit allen nur erdenklichen Arten von suchterzeugenden Übeln aus dem Osten zurückkehren: mit Opium und Haschisch, mit Kaffee und Tee, mit Seidenstoffen und anderem Tand, der unser Volk verdirbt. Sie können praktisch jeden beliebigen Preis dafür verlangen. Die Bankiers gewähren ihnen Kredit, während sie den Adelsstand ausquetschen – uns, die Schutzmagi, die Rondelmar erst zu dem gemacht haben, was es heute ist. Wer sind die Reichsten in Rondelmar? Händler und Bankiers! Vollgefressener Abschaum wie Jean Benoit und seine Kaufmannsbrut. Und was tun sie mit ihrem gottlosen Gewinn? Sie kaufen unseren Besitz, unsere Häuser, unsere Kunst und, schlimmer noch, unsere Söhne und Töchter, unser Blut!« Inzwischen brüllte sie fast, Speicheltröpfchen flogen aus ihrem Mund. »Dieser Abschaumkauft unsere Kinder, nimmt sie zu Mann oder Frau, damit ihre gottlosen Nachkommen alles bekommen können, sowohl Gold als auch Gnosis, und was dabei herauskommt, ist eine neue Rasse: die Magus-Kaufleute, abscheuliche, habgierige Mischlinge. Aber täuscht Euch nicht, ein Krieg zieht auf zwischen den Geldmachern und denen, die reinen Blutes sind. Denkt einmal darüber nach: Händler und Hausierer von niederer Geburt kaufen unsere Töchter, damit sie Nachkommen ihr Eigen nennen können, die der Gnosis mächtig sind. Und was tun wir, die Magi? Wir sehen zu wie Luden. Wir sind die Luden – unserer eigenen Kinder!«

Lucias Augen verengten sich zu bösartigen Schlitzen. »Doch der Thron hat nicht tatenlos zugesehen, oh nein. Vor zwei Mondfluten schlugen wir zu. Mein Gatte, Kaiser Magnus Sacrecour, möge er in Frieden ruhen, stellte sich dem Ketzer Meiros furchtlos entgegen, und Meiros hat gekniffen. Wir wussten, dass Meiros seine eigene Schöpfung nicht zerstören würde, und sind mit unseren Armeen nach Antiopia marschiert. Wir haben die Ketzer bestraft. Wir haben Dhassa und Javon und Kesh erobert und neue Regierungen dort eingesetzt. In unserem Namen und im Namen Kores sollen die Ungläubigen dort bekehrt werden, doch was noch wichtiger ist: Wir haben die Macht der Händler gebrochen, das Vertrauen zwischen den Kaufleuten des Ostens und Benoits Gesindel ist zerstört. Zwar musste auch unser Volk ein wenig Leid ertragen, aber die Macht der Kaufleute und Bankiers ist nachhaltig geschwächt!«

Ein wenig Leid ertragen?, dachte Gyle. In Form von Hunger, bitterer Armut und ständigen Unruhen. Aber wenigstens konntet Ihr Euren Händlern einen Strich durch die Rechnung machen.

Lucia nickte Betillon zu. »Tomas und seine Männer werden Hebusal verteidigen und den nächsten Kriegszug vorbereiten, aber unsere Kassen sind noch leer von den letzten Feldzügen. Die Menschen haben gespendet, großzügig gespendet, und doch schulden wir den verfluchten Bankiers Millionen, während sie immer reicher werden und weiter an Einfluss gewinnen – und weiter unsere Kinder kaufen.«

Wenn nicht vier Fünftel Eurer unrechtmäßigen Kriegsbeute in den Taschen bestimmter Mitglieder des kaiserlichen Hofes verschwunden wären, wäre die Schatzkammer vielleicht nicht ganz so leer, dachte Gyle und warf Calan Dubrayle, der denselben Gedanken zu haben schien, einen kurzen Blick zu.

Lucia, die Mater-Imperia, setzte sich, das Gesicht immer noch rot vor Eifer. Nur ihre Stimme war wieder absolut kalt. »Lasst mich ganz offen sprechen, edle Herren: Der Thron war noch nie so schwach … was nicht heißt, dass der Kaiser schwach wäre«, schob sie hastig ein, als sie sah, wie Constant aufhorchte, »denn obwohl er damals noch ein Kind war, entschied Constant weise und mutig und gab den Befehl zum zweiten Kriegszug, der unsere Position im Tal von Hebb festigte. Doch die Kaufleute schachern weiter mit unseren Seelen und verwandeln Kores auserwähltes Volk in eine Nation von Krämern.

Zudem haben wir noch andere Feinde: Herzog Echor von Argundy, der Bruder des vorigen Kaisers, erhebt Anspruch auf den Thron, und ganz Argundy wird seinem Ruf folgen. Dass der einzige Onkel meines Sohnes zu solchem Verrat fähig ist, bringt mein Blut zum Kochen. Er muss ebenfalls vernichtet werden! Und« – wieder trat Speichel auf ihre Lippen – »es gibt noch eine weitere Verunreinigung, die in unser Reich gekrochen ist: antiopische Sklaven, hierhergebracht, um die Arbeit der rechtschaffenen Menschen von Yuros zu tun. Ich habe nichts einzuwenden gegen Sklaverei – sie ist das Einzige, wozu die Sydier taugen –, aber Dunkelhäuter, die mitten unter uns leben, das geht zu weit. Auch sie müssen vernichtet werden!«

Gyle sah, wie Dubrayle ein Stöhnen unterdrückte. Der Schatzmeister verdiente recht gut an den auf Sklavenhandel erhobenen Steuern. Würde dir wohl nicht besonders schmecken, wenn diese Steuern plötzlich wegfielen …

Lucia hatte nun überhaupt nichts mehr von einer Heiligen. »Dies sind unsere Feinde, meine Herren: die Händler, Herzog Echor, die Dunkelhäuter und Meiros. Vor allem er.« Sie atmete tief durch. »Sie alle müssen sterben.«

An dieser Stelle hielt sie inne, das Gesicht grimmig, und es wurde still im Raum. Die Männer an der Tafel nickten zustimmend, und Gyle hielt es für ratsam, das Gleiche zu tun. So denken also Heilige.

Lucia deutete auf Belonius. »Unser Freund Magister Vult ist hier, weil er eine Lösung für all diese Probleme hat. Ich werde das Wort nun an ihn übergeben, damit wir aus erster Hand hören, wie wir unser Reich retten können.«

Vult stand auf und verneigte sich. »Heiligste, niemand hätte die Lage besser zusammenfassen können. Lasst mich damit beginnen, meinen Freund und Kollegen Gurvon Gyle angemessen vorzustellen. Sein Netz aus Informanten hat diesen Plan erst möglich gemacht. Gurvons Augen und Ohren sind überall, er dürfte wohl der bestinformierte Mann auf ganz Urte sein.«

Gyle spielte mit dem Gedanken, jeden Einzelnen in der Runde mit seinem finstersten Ich-weiß-alles-über-Euch-Blick zu bedenken, ließ es aber bleiben.

Vult redete weiter: »Mein Plan würde die drei Hauptprobleme, die Mater-Imperia Lucia dargelegt hat, aus dem Weg räumen: die Händler, Herzog Echor und die Heiden in Kesh. Vereinfacht ausgedrückt: Wir werden sie alle mithilfe der Brücke vernichten, wie die Mater-Imperia bereits sagte. Die Leviathanbrücke beginnt bei Pontus und führt über dreihundert Meilen schnurgerade bis hinüber zur Küste von Dhassa, ohne auch nur eine Elle von dieser Richtung abzuweichen. Eine bemerkenswerte bauliche Leistung.«

»Das Werk eines Dämons«, murmelte Betillon.

Gewiss, aber eines, das Euch reichlich Profit eingebracht hat.

Vult sprach unbeeindruckt weiter. »Vor dreiundzwanzig Jahren, genauer gesagt im Jahr 904, führte Kaiser Magnus vier Legionen über die Brücke. Antonin Meiros hätte uns aufhalten können, hätte Zehntausende rondelmarischer Soldaten und Zivilisten töten können – doch dazu hätte er seine Brücke zerstören müssen. Mann und Maus wären jämmerlich ertrunken, und aller Wahrscheinlichkeit nach wäre der Kaiser spätestens den Unruhen im eigenen Reich zum Opfer gefallen, die zweifellos auf das Desaster gefolgt wären. Doch Meiros und der Ordo Costruo unternahmen nichts. Sie ließen Magnus die Brücke überschreiten – und Hebusal erobern. Die Brücke wurde wieder unpassierbar, und wir hofften, wir hätten genug getan. Die Handelsgilden hatten enorme Verluste erlitten, viele gingen in Konkurs. Doch unsere Luftflotte ist nicht allmächtig, und schließlich wurde die Garnison in Hebusal von den heidnischen Horden überrannt – die größte Katastrophe unserer militärischen Geschichte. Im Jahr 916 nahm Seine Majestät« – er verneigte sich in Constants Richtung – »gebührende Rache für das Massaker und festigte unsere Position in Hebusal. Er setzte den edlen Herrn Betillon als Gouverneur ein und ließ die Dunkelhäuter bluten, bis sie weiß wurden.«

Betillon und Korion lächelten geschmeichelt. Du weißt mit ihnen umzugehen wie kein Zweiter, mein Freund, dachte Gyle anerkennend.

»Und jetzt steht der dritte Kriegszug bevor. In einem Jahr wird sich die Leviathanbrücke aus dem Ozean erheben, und wir werden ein weiteres Mal marschieren. Ganz Kesh wartet bereits auf uns. Die Zusammenkunft der Amteh in Gatioch hat uns den Krieg erklärt, und nun ist es die heilige Pflicht ihrer Anhänger, die Waffen gegen uns zu erheben. Der dritte Kriegszug wird keinem der vorangegangenen gleichen: Er wird allumfassend sein. Er wird die kommende Epoche nachhaltig prägen. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass wir einige Rückschläge erlitten haben. In Javon, das eine strategische Schlüsselrolle auf dem östlichen Kontinent einnimmt, wurde die Dorobonen-Dynastie gestürzt, die wir dort eingesetzt hatten. Jetzt herrschen dort die Nesti, ein altes rimonisches Senatorengeschlecht. In Javon leben Rimonier und eine Untergruppe der Keshi, die sich Jhafi nennen. Das Königreich liegt nordöstlich von Hebusal und kontrolliert aufgrund seiner Lage die Hügel oberhalb des Tals von Zhassi. Wer Javon kontrolliert, kontrolliert auch Hebusal und Kesh. Um unseren Vormarsch zu sichern, müssen wir zunächst die Kontrolle über Javon erlangen. Es ist ein komplexes Reich, und mein Kollege Gurvon kennt es wie seine Westentasche. Er wird Euch jetzt unsere Pläne für Javon darlegen.«

Gyle blickte in die Runde und leckte sich die mit einem Mal trockenen Lippen. Kaiser Constant sah gelangweilt aus, doch Lucia beugte sich vor, ganz auf Gyle konzentriert. Korion und Betillon wirkten mürrisch, auf der Hut, und Dubrayle sah aus, als habe man ihn auf ein Nagelbrett gesetzt. Nur der Große Kirchenvater Wurther schien ganz entspannt. Natürlich, die Religion: Balsam für die Seele.

Gyle räusperte sich und erhob das Wort: »Eure Hoheiten, als die Javonier vor sechs Jahren die Dorobonen-Dynastie stürzten, wählten sie Olfuss Nesti zum König. Ja, sie ›wählten‹ ihn, denn in Javon halten sie nach wie vor an der alten rimonischen Tradition fest, darüber abzustimmen, wer der nächste Herrscher wird. Und es kommt noch besser: Es mag Euch erschrecken zu hören, dass den Thron nur besteigen darf, wer gemischten Blutes ist – rimonischen und jhafischen Blutes. Dieses Gesetz wurde eingeführt, nachdem die ersten Rimonier sich in Javon angesiedelt hatten, um künftige Bürgerkriege zu verhindern. König Olfuss ist gemischten Blutes, und seine Frau ist eine Jhafi. Sie haben zwei Söhne und zwei Töchter. Letztes Jahr habe ich dafür gesorgt, dass der ältere Sohn und Erbe des Throns einen tödlichen Unfall hatte. Die beiden Töchter sind jetzt siebzehn und sechzehn Jahre alt, der jüngere Sohn ist sieben. Die beiden werden keine weiteren Kinder mehr bekommen. Würde Olfuss sterben, würde die ältere Tochter die Regentschaft übernehmen, bis der Siebenjährige die Volljährigkeit erreicht.«

»Sohn und Erbe?«, fragte Lucia verwirrt. »Müsste nicht ein neuer König gewählt werden?«

Gyle schüttelte den Kopf. »Javon ist komplex, wie ich bereits sagte. Stirbt der König eines gewaltsamen Todes, erben seine Kinder den Thron – eine Vorsichtsmaßnahme, um Königsmord zu verhindern.«

Korion und Betillon schnaubten verächtlich, ebenso wie der Kaiser – Constant hatte den Thron bestiegen, nachdem sowohl sein Vater als auch seine ältere Schwester eines mysteriösen Todes gestorben waren.

Gyle wartete, bis er wieder ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »In wenigen Monaten wird Salim, der Sultan von Kesh, Olfuss ein Ultimatum stellen und verlangen, dass Javon sich der Fehde gegen uns anschließt. Olfuss wird seinen Forderungen selbstverständlich nachgeben, denn er ist halb Rimonier und halb Jhafi – und beide Völker hassen Rondelmar zutiefst. Was wir also tun müssen, ist, einen Umsturz zu veranlassen und die Dorobonen wieder einzusetzen.«

»Wer wird sie in Javon unterstützen?«, fragte Kaltus Korion.

»Die Gorgios sind das zweitgrößte Haus Rimonis. Sie waren es, die während des Dorobonen-Regimes die Strippen zogen. Seit dem Umsturz durch die Nesti sind sie geächtet. Sie sind reich, aber es gibt wenig jhafisches Blut in ihrer Linie, weshalb sie nie den König stellen konnten. Sie sind unsere wichtigsten Verbündeten bei der Wiedereinsetzung der Dorobonen.«

»Wer ist Thronerbe der Dorobonen?«, fragte Calan Dubrayle.

»Francis Dorobon. Er besucht ein Arkanum in Noros und geht in dieselbe Klasse wie Euer Sohn Seth, General Korion. Seine Mutter und Schwester leben im Gouverneurspalast in Hebusal.«

»Schafft mir diesen Drachen von Witwe vom Hals, dann habt Ihr meinen Segen«, brummte Tomas Betillon.

»Wie viele Magi habt Ihr in Javon, Magister Gyle?«, fragte Lucia.

»Eure Heiligkeit, ich betreibe einen Sicherheitsdienst und vermiete Schutzmagi an wichtige Persönlichkeiten. In den letzten zehn Jahren operierte er in Noros, Bricia sowie Lantris und seit vier Jahren auch in Javon, da König Olfuss Nesti dort ebenfalls meine Dienste angefordert hat. Drei meiner Magi operieren ganz offiziell im Palast, um die königliche Familie zu ›beschützen‹. Es wäre ihnen ein Leichtes, die Nesti zu beseitigen. Es braucht nicht mehr als einen kleinen Wink von mir, den ich auf Euren Befehl hin geben werde.«

»Wie lustig«, kicherte Wurther. »Wir können einem Norer befehlen zu winken.«

»Können wir uns hundertprozentig darauf verlassen, dass Eure Agenten Olfuss und seine Familie töten werden? Wer sind sie?«, fragte Lucia mit funkelnden Augen.

»Rutt Sordell ist der persönliche Leibwächter des Königs. Samir Taguine beschützt die Königin …«

»Taguine?«, unterbrach Korion. »Der wandelnde Tod höchstpersönlich?« Der General sah beeindruckt aus.

»Ebenjener. Und Elena Anborn wacht über Olfuss’ Kinder.«

»Eine Frau?«, schnaubte Betillon. »Können wir uns darauf verlassen, dass sie das Zeug dazu hat, ihre Schützlinge zu töten?«

»Glaubt Ihr denn, wir Frauen wären nicht in der Lage zu tun, was Kore verlangt, Tomas?«, tadelte Lucia ihn sanft. »Ich bin sicher, Magister Gyle wählt seine Agenten mit größter Sorgfalt aus, oder etwa nicht, verehrter Magister?« Sie blickte Gyle unverhohlen an, ein blutdürstiges Leuchten in den Augen. »Wird diese Frau die Kinder töten, Magister Gyle?«

»Sie ist eine herzlose Hexe, wenn Ihr mir die Wortwahl verzeihen mögt, Eure Heiligkeit«, erwiderte er ruhig. Siehst du, Elena, jetzt kennt sogar die Kaiserinmutter deinen Namen. Endlich hast du den Ruhm, der dir gebührt.

Lucia lächelte erfreut. »Bestens. Die Dame gefällt mir jetzt schon …« Dann hielt sie plötzlich inne, die Stirn in Falten. »Wartet. Sie ist eine Anborn? Treiben nicht auch die Anborn Unzucht mit dem verfluchten Händlerpack?«

Gyle neigte den Kopf. »Ihr habt natürlich recht. Ihre Schwester Tesla ist mit einem Kaufmann verheiratet, doch sie ist mittlerweile nur noch ein ausgebranntes Wrack. Elena hat seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen. Während der Revolte gehörte sie zu meinen Grauen Füchsen. Anstelle eines Herzens trägt sie einen Stein in der Brust, Eure Heiligkeit. Sie ist eine Meuchlerin, durch und durch.«

»Mir kam zu Ohren, dass Ihr das Bett mit ihr teilt«, merkte Calan Dubrayle an.

»Das ist lange her, Herr. Es hat sie bei der Stange gehalten.«

»Eine Frau sollte genauso wenig mit ihrer Möse denken wie ein Mann mit seinem Schwanz«, ließ die heilige Lucia vernehmen und genoss es sichtlich, wie die anwesenden Männer zusammenzuckten.

»Wenn Euer Schwanz sie also nicht mehr bei der Stange hält, Gyle, wie versichert Ihr Euch dann ihrer Loyalität?«, wandte Betillon sachlich ein. »Oder der der anderen? Was gedenkt Ihr zu tun, falls sie auf die Idee kommen, sie seien des Tötens müde, weil sie vielleicht schon genug Gold für ein Auskommen im Alter angehäuft haben?«

»Meine Agenten sind sich vollauf bewusst, dass ihnen diese Möglichkeit nicht offensteht, edler Herr. Es gibt keinen Ort, der verborgen genug wäre, um sich dort zu verstecken. Niemand ist unerreichbar. Befehlsverweigerung käme einem Todesurteil gleich, und das wissen sie. Außerdem verwalte ich ihre Vermögen. Sobald sie sich meinen Unwillen zuziehen, verlieren sie alles.«

Betillon grinste finster und nahm schlürfend einen Schluck Wein. »Das dürfte wohl genügen. Wann schlagen wir zu? Je früher, desto besser, würde ich meinen, denn es vergeht nicht ein einziger Tag in Hebusal, an dem diese Dorobonen-Hexe sich nicht über die Zustände in Javon beklagt.«

»Der richtige Zeitpunkt ist in der Tat von größter Wichtigkeit. Die Tötungen werden das Reich destabilisieren, und die Dorobonen brauchen genug Zeit, um Javon noch vor dem nächsten Kriegszug zu unterwerfen. Mein Plan ist deshalb, in drei Monaten, im Okten, zuzuschlagen. Damit bleiben uns noch neun Monate bis zur nächsten Mondflut. Wir werden die eine Tochter töten und die andere mit einem Gorgio verheiraten, was der neuen Regierung Legitimität verschafft und die Machtübernahme durch die Dorobonen beträchtlich erleichtern wird.« Gyle blickte in die Runde und sah, wie alle nickten. »Und wenn sich die Leviathanbrücke nächstes Jahr öffnet, ist Javon bereits in unseren Händen.«

»Welche Notfallvorkehrungen habt Ihr getroffen?«, fragte Dubrayle. »Kein Plan funktioniert jemals fehlerfrei.«

Deine vielleicht nicht, meine schon. Gyle hütete sich, den Gedanken laut auszusprechen. »Ich stehe in bestem Kontakt zu zahlreichen weiteren Magi, unter ihnen auch Gestaltwandler, die besten ihrer Zunft.« Er blickte die Mater-Imperia an und sah, wie ihre Augen kurz aufblitzten. Ja, du weißt, wen ich meine. »Sollte irgendetwas schiefgehen, wird es im Handumdrehen wieder zurechtgerückt sein.«

Stille kehrte ein, und Gyle nahm vorsichtig einen Schluck Wein. Es war ein Augheimer Kranz, noch dazu ein guter. Und nicht mal mit Wasser verdünnt. Nur ungern stellte Gyle den Kelch wieder ab.

Nach einer halben Minute des Schweigens klatschte Lucia in die Hände. »Danke, Magister Gyle. Der erste Teil Eures Plans klingt äußerst vielversprechend.« Sie blickte in die Gesichter der Anwesenden. »Sicherlich habt Ihr die Einzelheiten bereits den Unterlagen entnommen, die ich Euch übersenden ließ. Gibt es irgendwelche Einwände, oder können wir die Javon-Frage hiermit als gelöst betrachten?«

Gyle hielt den Atem an, doch es kamen keine Einwände.