Die Brücke der Gezeiten 2 - David Hair - E-Book

Die Brücke der Gezeiten 2 E-Book

David Hair

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Beschreibung

Auf der Brücke der Gezeiten wird sich das Schicksal der Welt entscheiden

Die Mondflut wirft ihre Schatten voraus, als drei Menschen verzweifelt mit ihrem Schicksal ringen: Ein gescheiterter Magier auf der Suche nach der Wahrheit, eine junge Frau, die sich zwischen ihrem mächtigen Ehemann und ihrem Liebhaber stellt, und eine einstige Attentäterin, die ihr Leben riskiert, als sie sich gegen ihren Auftraggeber wendet. Ohne es zu wissen, lenken diese drei Menschen die Geschicke ihrer Welt. Und als sich die Mondflutbrücke schließlich aus den Fluten erhebt, wird ihr Leben nie mehr sein wie zuvor …

Der zweite Roman der außergewöhnlichen Saga über gefährliche Magie und Machenschaften, die einen die Zeit vergessen lässt!

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Seitenzahl: 679

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DAVID HAIR

Am Ende des Friedens

DIE BRÜCKE DER GEZEITEN 2

Übersetzt von Michael Pfingstl

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Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Mage’s Blood« (Pages 320–673) bei Jo Fletcher Books, London, an imprint of Quercus.

Copyright © der Originalausgabe 2012 by David Hair

Originally entitled MAGE’S BLOOD

First published in the UK by Quercus Editions Ltd.

Originalausgabe © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Penhaligon Verlag,

in der Verlagsgruppe Randomhouse GmbH, München

Redaktion: Sigrun Zühlke

Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-12407-6V002www.penhaligon.de

Dieses Buch ist meiner Frau Kerry gewidmet: Was habe ich für ein Glück!

Ebenso in Liebe meinen Kindern Brendan und Melissa; meinen geduldigen Testlesern (ihr wisst, wer gemeint ist) und Freunden und Familie überall.

Und Hallo zu Jason Isaacs.

Was bisher geschah

Die Geschichte Urtes

Auf Urte gibt es zwei bekannte Kontinente, Yuros und Antiopia. In Yuros ist das Klima kalt und feucht, seine Bewohner haben helle Haut; Antiopia liegt näher am Äquator, ist größtenteils trocken und dicht von verschiedenen dunkelhäutigen Stämmen bevölkert. Zwischen den beiden Landmassen tost eine unbezähmbare See, ständig aufgepeitscht von extrem starken Gezeiten, welche die Meere unpassierbar machen, sodass die Völker der beiden Kontinente lange Zeit nichts voneinander wussten.

Vor fünfhundert Jahren änderte sich dies grundlegend.

Auslöser des Ereignisses war eine von Corineus angeführte Sekte. Er gab seinen Jüngern einen Trank, der ihnen magische Kräfte verlieh, die sie Gnosis nannten. Noch in derselben Nacht starb die Hälfte seiner Anhänger und ebenso Corineus selbst, der offenbar von seiner Schwester Corinea ermordet wurde. Corinea floh, dreihundert der Überlebenden begannen unter Sertains Führung, den Kontinent mithilfe ihrer neu gewonnenen Kräfte zu erobern. Die Gnosis verlieh ihnen derart große Macht, dass sie das Reich Rimoni mühelos vernichteten und sich selbst als Herrscher des neu gegründeten Reiches Rondelmar einsetzten.

Dieses Ereignis, bekannt unter dem Namen »Die Aszendenz des Corineus«, veränderte alles. Die Magi, wie sie sich selbst nannten, stellten fest, dass auch ihre Kinder über magische Fähigkeiten verfügten. Die Gabe wurde zwar schwächer, wenn der andere Elternteil nicht ebenfalls ein Magus war, doch die Magi breiteten sich unaufhaltsam aus. Im Namen des rondelmarischen Kaisers brachten sie immer mehr Landstriche und Völker Yuros’ unter ihre Herrschaft.

Von den anderen zweihundert, die die Aszendenz überlebt hatten, versammelte Antonin Meiros einhundert Männer und Frauen um sich, die wie er Gewalt verabscheuten, und zog mit ihnen in die Wildnis. Sie siedelten sich im südöstlichen Zipfel des Kontinents an, wo sie einen friedliebenden Magusorden gründeten, den Ordo Costruo.

Die restlichen hundert Überlebenden schienen keinerlei magische Kräfte entwickelt zu haben, doch stellte sich schließlich heraus, dass sie, um die Gnosis in sich wirksam werden zu lassen, die Seele eines anderen Magus verschlingen mussten; also taten sie es. Der Rest der Magigemeinschaft war darüber so entsetzt, dass sie die Seelentrinker gnadenlos jagten und töteten. Die wenigen, die noch übrig sind, leben im Verborgenen und werden von allen verachtet.

Schließlich entdeckte der Ordo Costruo mithilfe der Gnosis den Kontinent Antiopia, oder Ahmedhassa, wie er bei seinen Einwohnern heißt. Antiopia liegt südöstlich von Yuros. Die vielen Gemeinsamkeiten in Tier- und Pflanzenwelt, die die Ordensmitglieder entdeckten, brachten sie zu der Vermutung, dass die beiden Kontinente in vorgeschichtlicher Zeit einmal miteinander verbunden gewesen sein mussten. Meiros’ Anhänger kamen in Frieden und wurden bald dauerhaft in der großen Stadt Hebusal im Nordwesten Antiopias sesshaft. Im achten Jahrhundert begann der Orden mit der Arbeit an einer gigantischen Brücke, die die beiden Kontinente wieder miteinander verbinden sollte, und diese Brücke löste die zweite Welle epochaler Veränderungen aus.

Der Bau der Leviathanbrücke, wie das dreihundert Meilen lange Bauwerk genannt wird, war nur mithilfe der Gnosis möglich, die vieles bewirken kann, aber nicht alles. Sie erhebt sich nur während der alle zwölf Jahre stattfindenden Mondflut aus dem Meer und bleibt dann für zwei Jahre passierbar. Das erste Mal geschah dies im Jahr 808. Zunächst wurde die Brücke nur zögerlich genutzt, doch nach und nach entwickelte sich ein blühender Handel, und nicht wenige wurden dadurch reich. Es entstand eine neue Kaste, die Kaste der Händlermagi, die aufgrund ihres Reichtums auf beiden Seiten der Brücke immer mehr Einfluss gewann. Auch der Ordo Costruo gelangte zu beträchtlichem Wohlstand. Nach etwas mehr als einem Jahrhundert und zehn Mondfluten war der Handel über die Brücke der wichtigste politische und wirtschaftliche Faktor auf beiden Kontinenten.

Im Jahr 902 entsandte der rondelmarische Kaiser, der seine Macht durch die Händlermagi bedroht sah, getrieben von Gier, Neid, Bigotterie und Rassenwahn, sein Heer über die Brücke: gut ausgebildete Legionen, die von Schlachtmagi angeführt wurden. Im Namen des Kaisers rissen sie die Kontrolle über die Brücke an sich, plünderten und besetzten Hebusal. Viele gaben Antonin Meiros die Schuld für diese Ereignisse, denn er und sein Orden hätten den Überfall verhindern können – doch dazu hätten sie die Leviathanbrücke zerstören müssen.

916 kam es zu einem zweiten, noch verheerenderen Kriegszug. Die Menschen Antiopias hatten keine Magi in ihren Reihen und waren den Legionen aus Yuros schutzlos ausgeliefert. Dennoch standen die Dinge für den rondelmarischen Kaiser nicht zum Besten, denn seine tyrannische Herrschaft hatte in mehreren Vasallenstaaten zu einer Revolte geführt, am bekanntesten davon die von 909 im in Zentral-Yuros gelegenen Königreich Noros. Als im Jahr 928 die nächste Mondflut naht, hat der Kaiser bereits neue Pläne geschmiedet, um seine Macht auch in Zukunft zu sichern.

Die Ereignisse von 927–928 (geschildert in Die Brücke der Gezeiten: Ein Sturm zieht auf)

Etwa Mitte des Jahres 927 legen zwei Norer, Belonius Vult und Gurvon Gyle, Kaiser Constant und dessen herrischer Mutter Lucia einen Plan vor, mit dem sie die uneingeschränkte Macht des Throns wiederherstellen wollen. Obwohl beide Veteranen der Noros-Revolte sind, gewinnen sie das Vertrauen der Kaiserinmutter, und ihr Plan soll in die Tat umgesetzt werden.

Eine zentrale Rolle in dem Plan nimmt das strategisch günstig gelegene Königreich Javon im Nordwesten Antiopias ein, ein Vielvölkerstaat, der seit langen Jahren von rimonischen Exilanten regiert wird, obwohl sie in dem eigentlich jhafischen Land nur eine Minderheit sind. Die Leibwächter des javonischen Königs sind Magi, die in Wahrheit jedoch in den Diensten Gurvon Gyles stehen. Sie sollen die Königsfamilie Nesti auslöschen, um Platz für ein neues Regime zu machen, das Rondelmar nahesteht.

Doch Elena Anborn, eine von Gyles wichtigsten Agentinnen in Javon und seine ehemalige Geliebte, ist praktisch eine Nesti geworden, und als der Befehl kommt, die Familie umzubringen, wechselt sie die Seiten und tötet stattdessen ihre Magikollegen. Dennoch gelingt es ihr nicht, den König zu retten, sondern lediglich dessen drei Kinder. Timori, der einzige Sohn und Thronfolger, ist allerdings noch nicht volljährig, weshalb seine achtzehn Jahre alte Schwester Cera zur Regentin ernannt wird. Die andere Tochter, Solinde, ist siebzehn. Sie scheint auf der Seite der Putschisten gestanden zu haben und wird verhaftet.

Die Nesti ziehen sich in die Familienfestung in Forensa zurück. Elena wird Ceras persönliche Leibwächterin und arbeitet mit dem Regentschaftsrat, vor allem mit Lorenzo di Kestria, dem Hauptmann der Wache, einen Plan zu einem Gegenschlag aus. In einem waghalsigen Unterfangen führt Elena eine Einsatztruppe in die Hauptstadt Brochena. Es gelingt ihnen, einige von Gyles Agenten – Elenas einstige Kollegen – zu töten, und Gyle ist zum Rückzug gezwungen. Cera wird offiziell als Regentin eingesetzt, und Gyles Plan ist in Gefahr.

In der Zwischenzeit erhebt sich in Noros, der Heimat der lange zurückliegenden Revolte, eine neue, zunächst unscheinbare Bedrohung für das Kaiserreich. Alaron Merser, ein junger Magusschüler, wünscht sich nichts sehnlicher, als das Arkanum mit Diplom zu verlassen und sich dem Kriegszug anzuschließen, obwohl er die aggressive Politik Rondelmars eigentlich verachtet. Seine Träume platzen jedoch, als das Arkanum ihm zu Unrecht den Abschluss verweigert. Alaron ist zu einem Leben als zurückgewiesener Magus verdammt: Es ist ihm auf Lebenszeit verboten, die Kräfte zu benutzen, mit denen er geboren wurde. Alaron hegt den Verdacht, dass der Bann mit seiner Abschlussarbeit in Zusammenhang steht. Dort hatte er die These aufgestellt, dass die Skytale des Corineus – das heilige Schriftstück, in dem das Rezept für die Ambrosia steht, die den Menschen die Gnosis verleiht – gestohlen wurde und nun irgendwo in Noros versteckt ist. Die Skytale ist das wichtigste Artefakt in ganz Urte: Magi, die sie in ihren Besitz bringen, könnten sich mit ihrer Hilfe in die Aszendenz erheben und mithilfe der so gewonnenen, beinahe unbeschränkten Macht den rondelmarischen Kaiser stürzen.

Zunächst ist Alaron am Boden zerstört, doch seine Freunde Ramon Sensini und Cymbellea di Regia spornen ihn an, die Gnosis weiterhin einzusetzen. Zurückgezogen auf dem Landsitz der Familie hat er gerade damit angefangen, als er einem mysteriösen Landstreicher begegnet.

Inzwischen fasst auf dem Kontinent Ahmedhassa Antonin Meiros, Gründer des Ordo Costruo, letzter Überlebender der ursprünglichen Aszendenz und mächtigster Magus Urtes, ebenfalls einen Plan von enormer Tragweite. Nachdem er in die Zukunft gesehen hat, beschließt er, trotz seines extrem hohen Alters noch einmal zu heiraten. Er sucht eine Frau aus dem großen, im Süden Antiopias gelegenen Königreich Lakh, die ihm möglichst viele Kinder gebären soll. Schließlich findet er Ramita Ankesharan, eine bescheidene Händlerstochter, heiratet sie und nimmt sie mit ihrer Adoptivschwester Huriya Makani mit nach Hebusal. Obwohl Meiros und Ramita, was Alter und Bildung angeht, nicht unterschiedlicher sein könnten, entwickelt sich zwischen den beiden eine tiefe Vertrautheit.

Doch Ramita war bereits einem anderen versprochen. Ihr Verlobter, Kazim Makani, Huriyas älterer Bruder, stammt von einem Keshi-Krieger ab, dem Blutsbruder von Ramitas Vater. Als Kind wurde ihm von einer Seherin namens Sabele geweissagt, es sei seine Bestimmung, Ramita zu heiraten, und als sie ihm genommen wird, schwört er, sie zurückzuholen. Er schließt sich der Fehde an, dem heiligen Krieg gegen die Rondelmarer, und macht sich mit seinen Freunden Jai (Ramitas Bruder) und Haroun sowie dem mysteriösen Krieger Jamil auf den langen Marsch nach Norden. Gemeinsam meistern sie die gefährliche Reise, überstehen einen Hinterhalt eines räuberischen Nomadenstammes und erreichen schließlich Kesh, wo sie bald an vorderster Front der Fehde kämpfen sollen.

Mittlerweile schreiben wir den Janun des Jahres 928, es sind nur noch sechs Monate bis zur Mondflut. Die Zeit des Friedens neigt sich dem Ende zu.

Die Dame Meiros

Der Ordo Costruo

Einige derer, die von Corineus Unsterblichkeit erhielten, hatten nicht das nötige Feuer und den Eifer, das Rimonische Reich zu stürzen. Jene Undankbaren rotteten sich unter der Führung von Antonin Meiros zusammen und streiften jahrhundertelang ziellos umher, bis sie sich um 700 in Pontus niederließen. In Anlehnung an das rimonische Wort für Baumeister gaben sie sich den Namen Ordo Costruo und erschufen Anfang des 9. Jahrhunderts unter anderem die Leviathanbrücke. Heute leben die Mitglieder des Ordens sowohl in Pontus als auch in Hebusal. Sie stellen das Wissen über den Glauben und erheben sich mit ihren Ketzereien über Gott, weshalb sie weithin verhasst sind, außer unter den gierigen Händlern.

Annalen von Pallas

Manchmal kommt der Feind mit Waffen in Händen und Lästerungen auf den Lippen und ist weithin zu erkennen. Schlimmer jedoch ist der Feind, der mit Geschenken kommt und mildtätig ist, denn ihn erkennt man erst, wenn es zu spät ist.

Salim Kabarakhi II., Sultan von Kesh, 922

Hebusal auf dem Kontinent AntiopiaMoharram (Janun) bis Awwal (Martris) 9286–4 Monate bis zur Mondflut

Ramita und Huriya gingen ruhelos in den Gärten von Meiros’ Palast in Hebusal auf und ab und wünschten, sie hätten Flügel, um diesen Mauern zu entfliehen. Sie fühlten sich wie in einem Gefängnis, und draußen gab es so viele Wunder zu entdecken. Der zentrale Innenhof maß sechzig mal sechzig Schritte. Der Marmorkies glitzerte im Sonnenlicht, und die Reliefs auf den Gebäuden funkelten so grell, dass sie ihre Augen mit Gazeschals bedecken mussten. Der Himmel war klar, und der Duft der Blumenbeete hing in der Luft – die Gerüche der Stadt schienen den Palast nicht zu erreichen. Aus einem steinernen Brunnen, der Fische darstellte, die aus schaumgekrönten Meereswellen sprangen, plätscherte in einer einzigen Minute mehr Wasser, als Ramitas Familie in Baranasi an einem ganzen Tag verbrauchte. Als sie einmal davon trinken wollte, sagte ein Diener herablassend zu ihr: »Wenn die Dame durstig ist, braucht sie nur zu rufen.« Das Brunnenwasser sei nicht trinkbar, erklärte er weiter, dabei sah es viel sauberer aus als das, das Ramita zu Hause Tag für Tag aus dem Imuna geholt hatte. Die Menschen hier waren eindeutig zu verwöhnt. Überall sprossen Pflanzen, die sie nicht kannte, und als sie Huriya fragte, wozu sie wohl gut seien, kicherte ihre Freundin nur. »Zur Zierde«, erwiderte sie.

Zur Zierde?

Sie waren seit vier Tagen hier, und allmählich stellte sich so etwas wie Routine ein. Sie hätten gerne die Stadt besichtigt, aber Meiros wollte nichts davon wissen. Ständig hörte Ramita Schreie und Tumult auf den Straßen, aber die Wachsoldaten ließen sie nicht einmal auf die Balustrade der roten Außenmauern, und sie konnte nur raten, was draußen vor sich ging. Die Palastanlage lag mitten in der Stadt und bedeckte eine Fläche von vier Hektar, hatte man ihr gesagt, aber Ramita durfte sich außer in ihren eigenen Räumen nur im Arbeitszimmer ihres Mannes und dem Garten aufhalten. Manchmal war ihr, als würde sie ersticken. Vom Turm aus konnte man die ganze Stadt überblicken, aber auch dort durfte sie nicht hinein. Wie ein weißer Fangzahn ragte er drei Stockwerke hoch über der Mauer auf, und der einzige Zugang führte über Meiros’ Gemächer.

Als sie sich zum Rondelmarisch-Unterricht im Arbeitszimmer ihres Mannes einfand, waren die tiefen Furchen auf seine Stirn zurückgekehrt. Sichtlich angespannt saß er vor einem Stapel mit Briefen und Sendschreiben und fuhr sich durch das schüttere Haar. In einem Vorzimmer hatte Ramita all die Bittsteller gesehen: Händler aus Rondelmar und Hebb mit schwarz-weiß karierten Kopftüchern und sogar ein paar Frauen in schwarzen Bekira-Schleiern, wie sie hier alle Frauen in der Öffentlichkeit trugen. Meiros erklärte ihr geistesabwesend, seine Tochter Justina werde von nun an den Sprachunterricht übernehmen. Das war vor drei Tagen gewesen. Jeden Abend sah Ramita das Licht hinter den Fensterläden seines Turms. Meiros hatte sie kein einziges Mal in ihren Gemächern besucht, und Ramita hatte den Verdacht, dass er seit ihrer Ankunft nicht eine Stunde geschlafen hatte.

Doch Justina Meiros machte keinerlei Anstalten, Ramita Sprachunterricht zu erteilen, und Olfa, Meiros’ Hausdiener, vertröstete sie nur wortreich. »Sobald sich die Lage in der Stadt wieder beruhigt hat, werden wir Tuch- und Juwelenhändler für Euch kommen lassen, Dame Ramita«, sagte er, als hätte er ihr Anliegen falsch verstanden, und Ramita fragte sich einmal mehr, was wohl auf den Straßen los sein mochte.

»Rondelmarsprache ich will!«, stotterte sie aufgebracht. »Bücher ich brauche. Jetzt! Nekat chottiya!« Aber Olfa schien nicht zu begreifen, was sie meinte. Es war frustrierend.

Schließlich fragte Huriya ihn, was denn in der Stadt los sei. »Wegen der Dame«, lautete Olfas Antwort.

Ramita lachte nervös, als Huriya ihr davon berichtete. Aufruhr in Hebusal? Wegen ihr? Huriya musste den Diener falsch verstanden haben.

Am Feiertag sprach Meiros kurz mit ihr, bevor er mit einer bewaffneten Eskorte zum Gouverneurspalast aufbrach, um dort an einem Kore-Dienst teilzunehmen. Diesem Gouverneur, Tomas Betillon, sagte man nach, er fräße kleine Kinder, zumindest hatte Huriya das von der Dienerschaft gehört.

»Betillon ist ein Schwein«, sagte Meiros nur angewidert, »und trotzdem muss ich mit ihm speisen.« Er sah aus, als würde er am liebsten ausspucken.

»Olfa sagt, die Bürger wären in Aufruhr wegen mir«, merkte Ramita an und starrte auf die Mosaiken am Boden.

Meiros verdrehte die Augen. »Jemand hat das Gerücht in die Welt gesetzt, ich hätte eine lakhische Prinzessin entführt und würde sie in meinem Turm gefangen halten. Die Hebb verbrennen Strohpuppen von mir und fordern meine Steinigung.« Er schmunzelte. »So etwas ist hier vollkommen normal, Frau. Mach dir keine Sorgen. Die Flammen schlagen hoch und verlöschen dann wieder ganz von selbst.«

»Justina weigert sich, mich zu unterrichten«, beschwerte sich Ramita weiter.

Meiros schnaubte und schrieb eilig etwas auf einen Zettel. »Gib das Olfa. Justina hat Verpflichtungen gegenüber ihrer Familie, ob es ihr gefällt oder nicht. Und diese Verpflichtungen geben ihr Gelegenheit, etwas Sinnvolleres zu tun, als sich ständig Gesicht und Fingernägel zu bemalen.« Er stand auf. »Es tut mir leid, dass ich so beschäftigt bin, aber nächste Woche findet ein Bankett mit den mächtigsten Männern Hebusals statt, und bis dahin musst du bereit sein.«

Nach dem Frühstück brachte Olfa sie zu Justinas Gemächern, und Ramita wartete ungeduldig, während Olfa sich mit Justinas Kammerdienerin herumärgerte. Sie wünschte, Huriya wäre hier, aber ihre Freundin war mit anderen Dienern zu einer Amteh-Zeremonie in die Stadt gegangen. Sie hatte es kaum erwarten können, Hebusal zu sehen. Ramita hatte Olfa gebeten, ihr etwas Geld für den Markt mitzugeben, so viel, dass Huriya, als sie den prall mit Münzen gefüllten Beutel sah, beinahe die Augen übergegangen waren.

Endlich erschien eine weitere Dienerin und führte Ramita in Justinas privaten Garten. Neben einem kleinen Brunnen saßen zwei Frauen im Schneidersitz auf niedrigen Lederhockern, die offensichtlich aus Kesh stammten, denn sie hatten keine Rückenlehne. Die kühle Luft roch nach Räucherwerk. Beide Frauen trugen blaue Umhänge und warfen Ramita einen desinteressierten Blick zu. Justina deutete auf einen freien Sessel und wandte sich wieder der anderen Frau zu.

Zum ersten Mal hatte Ramita Gelegenheit, Meiros’ Tochter aus der Nähe zu betrachten. Ihr Gesicht war lang und schmal, die Haut weiß wie Porzellan, die vollen Lippen rot geschminkt. Meiros hatte behauptet, seine Tochter sei über hundert Jahre alt. Ramita wusste nicht recht, ob sie das glauben sollte, aber andererseits war sie Magierin. Alles schien möglich. In ihrem glänzenden schwarzen Haar war nicht eine einzige graue Strähne zu erkennen. Der Schmuck, den sie trug, war schlicht, aber aus purem Gold. Um Justinas Hals hing ein Rubin, der im Rhythmus ihres Herzschlags in dem gleichen Rot leuchtete wie ihre Lippen: ein Amulett, ein Zauberstein der Magi. Meiros’ Tochter war von unnahbarer Schönheit, als wäre sie aus Stein gemeißelt und nicht aus Fleisch und Blut.

Die andere Frau wirkte weniger einschüchternd. Sie hatte Sommersprossen, und das rundliche Gesicht wurde von goldenen Locken umrahmt. Auch sie trug ein Amulett, einen Saphir. Sie lächelte Ramita gütig an.

»Guten Tag«, sagte sie ganz langsam auf Rondelmarisch, »du musst Ramita sein.« Ihre Stimme klang warmherzig und sinnlich. »Ich bin Alyssa Dulayn. Willkommen in Hebusal«, säuselte sie wie zu einem verängstigten Kätzchen.

Ramita neigte den Kopf und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Guten Tag.«

»Sieh an, sie kann also doch sprechen!«, bemerkte Justina bissig.

»Rondelmarisch ein bisschen. Mehr Keshi. Kannst du Lakhisch?«, erwiderte mit sie vorgerecktem Kinn.

Alyssa grinste. »Da hat sie Recht, Justina. Beherrschst du ihre Sprache?«

»Nein«, antwortete Justina mit einem Naserümpfen. »Und du ebenfalls nicht, Alyssa. Vater scheint zu erwarten, dass ich dieses Mädchen auf das nächste Ordensbankett vorbereite und auf all die Geier, die dort über ihr kreisen werden. Grotesk.«

»Was ist rotess?«, fragte Ramita und versuchte, sich ihre Abneigung gegenüber Meiros’ Tochter nicht anmerken zu lassen.

Justina warf ihr einen abschätzigen Blick zu. »Gro-tesk. Es bedeutet lächerlich, sinnlos. Verstehst du ›sinnlos‹?«

»Ich bin nicht dumm.«

Justina seufzte. »Das habe ich auch nicht behauptet. Bei Kore, was soll ich bloß mit ihr machen, Alyssa?«

Die blonde Frau lachte gutmütig. »Warum überlässt du die Aufgabe nicht einfach mir? Diese Dinge liegen mir besser als dir.«

Alyssa lächelte Ramita an, und Ramita fragte sich, was sich wohl hinter der freundlichen Fassade verbergen mochte.

Justina trank ihre winzige Tasse Tee mit einem einzigen Schluck aus und stand auf. »Ja, Alyssa, warum eigentlich nicht? Geduld ist nicht gerade meine Stärke.« Sie küsste Alyssa auf die Wange und verschwand in ihre Gemächer.

Damit war das Gespräch offensichtlich beendet, und Ramita erhob sich ebenfalls.

»Nein, nein, bleib hier.« Alyssa klopfte auf den Sessel, den Justina soeben freigemacht hatte. »Komm her, setz dich zu mir.« Sie füllte Ramitas Tasse vor ihrer eigenen, dann legte sie ihr die Hände auf die Wangen. Sie fühlten sich weich an und rochen nach Rosenwasser. »Ich werde dir nicht wehtun. Versprochen. Ich werde ganz, ganz vorsichtig sein.«

Ramita blinzelte verwirrt, und ohne es zu wollen, versank sie in den goldgesprenkelten braunen Augen der Magierin. Alyssas Worte sagten ihr wenig bis gar nichts, sie plätscherten dahin wie ein Kinderlied, und ein eigenartiges Gefühl überkam Ramita. Sie glitt in einen Zustand irgendwo zwischen Wachen und Schlafen hinüber, winzige Kleinigkeiten wurden plötzlich riesengroß, und Alyssas Stimme rief Erinnerungen an Meiros’ Unterricht wach. Wie Luftblasen in einem Teich stiegen sie auf, Worte und noch mehr Worte, wie aus einem Strom gespeist, als singe Alyssa sie in ihren Geist. Langsam sanken sie in ihr Bewusstsein und fügten sich aneinander, bildeten Schwärme in einem Ozean aus Gedanken, verknüpften sich mit Farben, Zahlen, Gegenständen und Handlungen … Ramita spürte, wie ihr plötzlich die Augen zufielen …

Mit Duftwasser besprenkelte Hände berührten ihr Gesicht, drehten es sanft hin und her, und Ramita riss verdutzt die Augen auf.

»Alles in Ordnung, Ramita«, sagte Alyssa mit einem zufriedenen Lächeln. »Es hat gut funktioniert, auch wenn es nicht leicht war, dich zu öffnen.« Schweißperlen glänzten auf der Stirn der Rondelmarerin.

Ramita erschrak. Wie viel Zeit war vergangen? Dann dämmerte es ihr: Alyssa sprach Rondelmarisch mit ihr, und sie verstand jedes Wort! Sie schnappte nach Luft und fürchtete einen Moment lang, sie hätte ihre Muttersprache verloren, aber es war alles noch da – sie brauchte nur in ihrem Geist danach zu greifen.

»Du mir Rondelmarisch beibringen?«, fragte sie schließlich.

»Hast du mir Rondelmarisch beigebracht?«, korrigierte Alyssa mit einem Schmunzeln. »Ja. Ein wenig. Wenn wir für den Rest des Monats so weitermachen, wirst du am Ende unsere Sprache perfekt verstehen. Für den Anfang habe ich dir nur ein wenig Grammatik und ein paar neue Wörter gegeben.«

Sie deutete auf den kleinen Himmelsausschnitt, der von Justinas Garten aus zu sehen war: Die Sonne war bereits im Westen verschwunden, und Ramita war mit einem Mal unendlich müde. »Du hast noch viel vor dir, Ramita Ankesharan-Meiros. Sehr viel.«

»Warum mein Mann das nicht machen?«, flüsterte Ramita.

»Ich glaube, Antonin wollte das Risiko nicht eingehen, während ihr noch unterwegs wart. Eine Gedankenverbindung wie diese ist sehr anstrengend. Im Falle eines Angriffs auf eure kleine Karawane wäre er so gut wie hilflos gewesen. Vielleicht wollte er dich aber auch nicht erschrecken, und jetzt ist er zu beschäftigt. Ich bin längst nicht so furchterregend wie er, und es macht mir Freude, dich zu unterrichten.« Etwas unsicher stand die Jadugara auf. »Es wird Wochen dauern, bis du die Sprache fließend beherrschst, aber bis zum Bankett dürftest du zumindest so weit sein, dich mit anderen Magi unterhalten zu können.« Zu Ramitas Überraschung umarmte sie sie kurz. »Du hast einen schönen Geist, meine Liebe. Du bist aufrichtig und gut.«

Ramita wurde rot angesichts des seltsamen Kompliments. Sie stammelte etwas und wollte ebenfalls aufstehen, aber Alyssa drückte sie sanft zurück auf den Hocker.

»Bleib noch ein wenig sitzen. Wenn du zu schnell aufstehst, wird dir nur schwindlig.« Alyssa wackelte gutmütig mit dem Zeigefinger und ging fort.

Ramita war erschöpft, aber das Plätschern des Brunnens beruhigte sie. Sie fragte sich, ob Huriya wohl schon wieder zurück war, und wollte gerade gehen, als Justina mit einer dampfenden Kanne Tee auftauchte.

»Bleib, Mädchen«, sagte sie bestimmt, goss Ramita von dem würzigen Chai ein und schob ihr eine Porzellantasse hin. »Trink das, bevor du irgendetwas anderes tust.« Sie setzte sich Ramita gegenüber und zog die Kapuze ihres Umhangs über den Kopf. »Diese Art zu lernen ist anstrengender, als du glaubst.«

Ramita nahm einen kleinen Schluck. Der Chai war süß und stark, genau wie sie ihn mochte. »Danke«, sagte sie und fügte schelmisch hinzu: »Tochter.«

»Nenn mich nicht so«, blaffte Justina. »Ich bin nicht deine Tochter, du unzivilisierte Heidin.«

»Baranasi nehin unzivilisiert!«, fauchte Ramita. »Und Lakh nehin Heiden, sondern du.« Wie konnte dieses arrogante Weib es wagen, ihre Heimat und ihr Volk zu verunglimpfen?

»Nehin?«, wiederholte Justina höhnisch.»Du meintest wohl ›nicht‹, oder? Besorg dir ein Lexikon.«

»Was ist ein Lexikon?«

»Ein Buch, in dem du die richtigen Wörter findest. Alyssa scheint keine besonders gute Arbeit geleistet zu haben, findest du nicht? Aber vielleicht bist du auch einfach nur dumm.« Sie beugte sich nach vorn. »Es ist mir egal, wer du bist und woher du kommst. Ich bin nicht einverstanden mit dem, was mein Vater mit dir gemacht hat, und wenn ich in der Sache etwas zu sagen hätte, würde ich dich noch heute zurückschicken. Eine Bauernmagd aus Lakh zu heiraten! Er muss endgültig den Verstand verloren haben.«

»Ich nehin eine Bauernmagd, Jadugara. Mein Vater ist Händler vom Aruna-Nagar-Markt!«

»Es ist mir scheißegal, was dein Bauersvater sonst noch war«, knurrte Justina. »Du bist jetzt in Hebusal, an vorderster Front des heraufziehenden Krieges, und ganz egal wie viel Geld mein vertrockneter Vater deinem bezahlt hat, damit er mit dir ins Bett gehen darf: Wenn du nicht besser gestern als heute schwanger wirst, bist du nicht mehr wert als der Dreck unter deinen Fingernägeln. Wenn du das hier überleben willst, rate ich dir, dein freches Maul zu halten und die Beine breitzumachen, wie es sich für eine Hure gehört.«

Ramitas Wut kochte hoch, sie ballte die Fäuste und wollte aufstehen, um dieser Frau zu zeigen, was in ihr steckte, doch ihr Körper war wie steif gefroren.

Justinas Rubin leuchtete rot wie Blut. Mit eisigem Blick fixierte sie Ramita. »Denk nicht mal dran, die Hand gegen eine Magierin zu erheben«, flüsterte sie. »Das kann nur tödlich für dich enden.« Sie erhob sich und ging im Kreis um Ramita herum, die sich immer noch nicht bewegen konnte. »Du musst lernen, dein Temperament zu zügeln, Dreckhaut, sonst hat jeder, der dich nur ein bisschen provoziert, eine wunderbare Entschuldigung dafür, dir das hübsche Gesichtchen vom Schädel zu brennen.«

Ramitas Herz schlug wie wild. Sie war schweißnass vor Angst.

»Alyssa wird dir unsere Sprache beibringen, und ich werde dir sagen, mit wem du dich unterhalten kannst und wem du besser aus dem Weg gehst. Aber begehe nicht den Fehler, dich für eine von uns zu halten. Solange du nicht schwanger wirst, bist du nicht mehr als ein viel zu teures Freudenmädchen. Und jetzt verschwinde.«

Als Ramita auf zittrigen Beinen hinauswankte, rief Justina ihr nach: »Was ist eine Jadugara überhaupt, du Flittchen?«

Ramita stützte sich an einer Säule ab und drehte den Kopf. »Schau in einem Lexikon nach, Tochter«, sagte sie wohl artikuliert und rannte, was sie konnte.

Zu ihrer Überraschung hörte sie Justina lauthals auflachen.

Ramita wankte zu ihren Gemächern. Sie musste Huriya erzählen, was passiert war. Gerade wollte sie den Trennvorhang zur Seite ziehen, da hörte sie ein rhythmisches Klatschen, begleitet von einem leisen »ah, ah, ah«. Vorsichtig spähte sie durch den kleinen Spalt und sah den behaarten Hünen Jos Lem, wie er die viel kleinere Huriya bearbeitete. Huriya schaute mit glasigen Augen zu dem Durchgang, als spüre sie, dass Ramita da war, dann warf sie plötzlich den Kopf in den Nacken und stöhnte laut.

Ramita stahl sich davon in ihr eigenes, viel zu großes Bett. Kazim verfolgte sie in ihren Träumen wie ein Geist.

»Mein Gatte, Huriya hat mir von einem Sivraman-Schrein hier in Hebusal berichtet«, sagte Ramita stolz auf Rondelmarisch. Es war die Woche des wachsenden Mondes, und sie saß gerade mit Meiros beim Kaffee. Ramita durfte den Palast nicht verlassen, Huriya hingegen schon, wenn auch nur bei Tag und unter Bewachung. Auf dem Gewürzmarkt hatte ein Händler aus Lakh ihr von dem kleinen Omali-Tempel erzählt.

»Was ist damit?«, fragte Meiros abwesend. Er las gerade einen Brief. »In Hebusal gibt es Schreine der Kore, des Sollan-Glaubens, der Ja’arathi und der Amteh – von jeder antiopischen Religion.«

»Aber ich bin eine Omali, und ich möchte dort beten.« Ramita war noch bis zum Ende der Vollmondwoche fruchtbar. Letzte Nacht war Meiros zum ersten Mal in ihre Gemächer gekommen, aber seine Männlichkeit hatte ihn im Stich gelassen, und er war unverrichteter Dinge wieder gegangen. Unberührt und gedemütigt war Ramita allein in ihrem Bett zurückgeblieben. Sie wusste, eine Frau konnte einen Mann in Erregung versetzen, aber sie wusste nicht, wie. Wenn er es nicht selbst schaffte, lag es in der Hand der Götter, und deshalb musste sie zu dem Schrein. »Sivraman reitet den großen Stier, er schenkt uns Kraft und Fruchtbarkeit«, erklärte sie.

Meiros schien peinlich berührt, und Ramita lächelte innerlich. Ich habe einen Jadugara in Verlegenheit gebracht!

Schließlich gestattete er, dass sie den Priester des Schreins in den Palast holte, um sie beide zu segnen, und am folgenden Abend brachte Huriya Pandit Omprasad zur Casa Meiros. Er war hager wie ein Skelett. Der verfilzte graue Bart reichte ihm bis zum Bauchnabel, und er humpelte, als hätte er ganz Antiopia durchwandert – was wahrscheinlich sogar der Wahrheit entsprach. Außer einem ausgefransten Lendenschurz, der kaum die Geschlechtsteile bedeckte, trug er nur eine verschmutzte orangefarbene Decke über den Schultern. An der linken Hand hatte er statt Fingern vernarbte Stummel, und er stank bestialisch.

Ramita blinzelte Huriya an. »Mein Mann wird ihn nicht hereinlassen, solange er so schmutzig ist.«

»Olfa!«, rief Huriya mit einem schelmischen Blitzen in den Augen.

Pandit Omprasad wirkte derart verzückt, als er sich in die warme Marmorwanne sinken ließ, dass Ramita schon befürchtete, er könnte hier und jetzt ins Himmelreich eingehen. Die Diener warfen ihnen zwar missbilligende Blicke zu, während sie den Priester wuschen, aber das war Ramita gleichgültig. Er ist ein Heiliger der Omali, und sie haben zu tun, was ich ihnen sage, nicht umgekehrt.

Schließlich kleideten sie Omprasad in ein ausrangiertes Dienstbotengewand und gaben ihm zu essen, während sie darauf warteten, dass Meiros zurückkam. Als der Herr der Casa Meiros auf dem kleinen Innenhof zu ihnen stieß und den alten Priester sah, nickte er nur resigniert. »Ihr werdet mir sagen müssen, was ich tun soll«, brummte er.

Ramita strahlte erleichtert und drückte Huriyas Hand. »Er wird uns segnen«, erklärte sie, überglücklich, dass ihr Gatte einwilligte.

Omprasad sprach lange. Er schnaufte mühsam und hustete oft, und seine Worte ergaben kaum Sinn, aber das war nicht wichtig. Was zählte, war der Segen der Götter und die Tatsache, dass Meiros neben ihr stand und zur Abwechslung einmal etwas für Ramita tat.

Als der Pandit ihr schließlich mit dem Finger das Pooja-Mal auf die Stirn zeichnete, spürte sie Sivramans drittes Auge auf sich ruhen und wusste, dass sie bald empfangen würde. Ramita fühlte neue Kraft in sich aufsteigen, diesen Albtraum durchzustehen.

Huriya brachte den alten Mann zum Tor und gab ihm einen Beutel mit Essen sowie etwas Geld, während Ramita ihren greisen Mann mit feierlicher Geste zu ihren Gemächern führte. Sie waren kaum außer Sichtweite der Dienerschaft, da blieb Meiros stehen. Sein Gesicht sah amüsiert aus, aber auch traurig. »Lass es sein, Frau. Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen, deinen Optimismus und deine Bereitschaft, deine Pflicht zu erfüllen, aber ich bin müde, und ich bin alt. Schon letzte Nacht habe ich versagt, und heute bin ich sogar noch müder. Ich bin erschöpft.«

Ramita ließ sich nicht entmutigen. »Dann lasst mich Euch helfen, Euch zu erholen«, sagte sie leise.

Meiros zuckte die Achseln. Er sah zwar nicht begeistert aus, gestattete ihr aber, ihn einen kurzen Flur entlangzuführen, der von Ramitas Räumen zu einem kleinen mondbeschienenen Innenhof führte. Sie ließ heißes Wasser, Seife, ein Rasiermesser, Badeöle und Räucherstäbchen bringen, dann bedeutete sie Meiros, sich zu setzen, und kniete sich zu seinen Füßen. Bei ihrem Vater hatte sie es schon öfter gemacht, immer dann, wenn ihre Mutter unter der Blut-Pratta oder im Tempel war. Ramita sang leise, vermischte das Öl mit heißem Wasser und massierte Meiros mit kräftigen Fingern, knetete die steifen Gelenke weich und schnitt seine Zehennägel. Ab und zu blickte Ramita auf und sah, wie die Verwirrung auf Meiros’ Gesicht allmählich einer zufriedenen Resignation Platz machte.

»Danke, Frau«, seufzte er, als sie fertig war. »Das war angenehm.«

Ramita erhob sich, nahm all ihren Mut zusammen und legte ihre Hände auf seine Schläfen. »Ich bin noch nicht fertig, Herr.« Als Erstes vertrieb sie mit sanftem Druck seine Kopfschmerzen, dann wickelte sie ihm ein warmes Handtuch um die Stirn und sagte: »Darf ich Euch das Haar schneiden und den Bart rasieren, mein Gemahl?«

Ramita spürte eine Art Kitzeln in ihrem Geist, und ein Schauer durchlief sie, dann verschwand das eigenartige Gefühl.

»Du darfst«, antwortete er schroff.

Sie befeuchtete Meiros’ Bart und schäumte ihn mit Seife ein. Als sich ihre zitternden Hände beruhigt hatten, griff sie nach dem Rasiermesser. Meiros hatte die Augen geschlossen, sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. Zögerlich begann sie, seinen Hals zu rasieren, und mit jedem Strich wurde sie sicherer. Dann stutzte sie den Bart mit der Schere auf eine Fingerbreite zurück, und als sie fertig war, sah Meiros um Jahre jünger aus. Zum ersten Mal konnte sie den jungen Mann hindurchschimmern sehen, der er einst gewesen war: ein entschlossenes, aber gütiges Gesicht mit einem kräftigen Kiefer und festen Lippen.

Ramita betrachtete die langen, zottigen Strähnen, die wie verfilztes Unkraut an Meiros’ Schädel klebten: Sie mussten weg. Sanft seifte sie sein Haar ein, nahm das Rasiermesser und schabte mit langsamen Bewegungen Strähne für Strähne von seinem Kopf, bis nicht ein Stoppel mehr übrig war. Dann goss sie Wasser über die frisch rasierte Kopfhaut und massierte ein Duftöl hinein.

Als alles fertig war, saß ein neuer Mann vor ihr. Meiros’ Kopfhaut war bereits gebräunt, so schütter war sein Haar gewesen, und die Glatze brachte seine markante Schädelform hervorragend zur Geltung. Jetzt sah er nicht mehr aus wie ein verwahrloster Greis, sondern wie ein König, zeitlos und schön. Die glatte Kopfhaut war wundervoll weich, wie Samt. Erst jetzt merkte Ramita, dass sie Meiros’ Kopf streichelte.

Er hob eine Hand und strich eine Strähne aus ihrem Gesicht, die sich aus den Spangen gelöst hatte.

Ramita blickte ihn an und erstarrte beinahe, als er sie an sich zog. Sein Mund schmeckte nach Tabak, bitter und beinahe unangenehm – aber nur beinahe. Es war das erste Mal, dass Meiros sie küsste.

Er zog Ramita auf seinen Schoß, fuhr mit den Fingern über ihre Schulter und musterte ihren Salwar. »Liebst du dieses Kleidungsstück besonders?«, fragte er.

Wie? »Nein«, flüsterte sie.

»Gut.« Seine Augen blitzten kurz, er machte eine Bewegung mit der Hand, und die Nähte ihres Gewandes lösten sich in Luft auf. Ramita unterdrückte den Impuls, sofort aufzuspringen. Manchmal vergaß sie, dass Meiros kein gewöhnlicher Mann war, aber spätestens in solchen Augenblicken fiel es ihr wieder ein. Es kostete sie allen Mut stillzuhalten, als er den Stoff zur Seite schob und sie oberhalb des Herzens auf die linke Brust küsste. Ramita fragte sich, ob er ihren rasenden Puls hören konnte, während seine Hände über ihren Rücken fuhren und er sie ganz entkleidete. Ohne nachzudenken, legte sie sein Becken frei und setzte sich auf seinen erigierten Penis. Ramita war bereits feucht, diesmal brauchten sie das Öl nicht. Und so empfing sie ihn ohne Probleme und ritt ihn sanft, um seine Erektion zu erhalten, ohne dass er zu schnell zum Höhepunkt kam, während ihre eigenen Säfte immer noch begieriger flossen. Unbewusste Laute drangen aus ihrer Kehle, und Ramita spürte, wie sich etwas in ihr regte. Langsam und schwerfällig stieg es aus den Tiefen auf und näherte sich der Oberfläche wie ein magisches Wesen in einem verwunschenen See. Bald schon, bald würde dieses Gefühl in ihr losbrechen, das sie manchmal mit ihren Fingern in sich heraufbeschwor, aber noch nie gemeinsam mit Meiros erlebt hatte. Bis jetzt …

Er unterdrückte einen Schrei und bäumte sich unter ihr auf, Ramita stöhnte, und um ein Haar wäre es passiert – aber es war zu kurz gewesen. Mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verzückung legte sie den Kopf in den Nacken und betete zu Sivraman und Parvasi, damit sie diese Nacht mit einem Kind segneten.

Sie spürte Meiros’ warme Hand auf ihrer Wange. »Danke, Frau«, sagte er.

»Dankt den Göttern, mein Gemahl«, flüsterte Ramita ehrfürchtig.

»Das einzig Göttliche hier bist du«, erwiderte er und küsste sie auf die Stirn.

Lange hielt er sie fest, dann legte er ihr einen Umhang über die Schultern und entließ sie in ihre Gemächer.

Ramita starrte den Vollmond an und betete um ein Kind, bis sie irgendwann einschlief. Während der gesamten nächsten Woche behandelte Meiros sie mit größter Zärtlichkeit, zweimal zog er sie wieder auf seinen Schoß, und Ramita bewegte sich sanft auf und ab, bis sie seinen Saft in sich spürte, doch als der Mond abnahm, blutete sie wie sonst auch.

Es lag kein Vorwurf in seinem Blick, als sie es ihm erzählte, nur stille Resignation und der Schwur, es im nächsten Monat wieder zu versuchen.

»Und, Frau, du darfst jederzeit in meine Gemächer kommen, wenn dir danach ist.« Irgendwie schien er mehr Kraft zu haben, als hätte ihre neue Zweisamkeit ihm Lebensfreude zurückgegeben. Er hatte mehr Energie für seine Aufgaben als zuvor, und seine Stimme war selbst nach getaner Arbeit lebendiger denn je. Doch Meiros’ gut gemeinte Einladung weckte auch Schuldgefühle in Ramita: Er war ein liebenswürdiger Gatte und der Beischlaf mit ihm mittlerweile beinahe schön, aber ihre Ehe war immer noch lediglich ein Schatten des Glücks, das sie hätte haben können – das sie hätte haben sollen. Nachts, in ihren Träumen, kam Kazim zu ihr und entführte sie auf einem weißen Pferd, und sie ritten fort, immer nur fort …

Die Casa Meiros lag wie die meisten Häuser des Ordo Costruo im westlichen Teil Hebusals. Bei der Einweihung der Leviathanbrücke hatte die Stadt stolze sechs Millionen Einwohner gezählt, doch seit dem ersten Kreuzzug vor vierundzwanzig Jahren war die Zahl um fast die Hälfte geschrumpft. Die Dhassaner waren blasser, sie hatten weichere Gesichtszüge als die Keshi, und ihre Sprache und Tracht waren älter als die von Ramitas Volk, behaupteten sie zumindest. Sie hingen einer weniger strengen Form des Amteh-Glaubens an, dem Ja’arathi, der auf den Lehren der Schüler des Propheten basierte und die Schriftrollen liberaler auslegte. Hebusal galt den Amteh und Ja’arathi als heilig, weil es die Geburtsstätte des Propheten war und gleichzeitig die letzte Ruhestätte seiner Hauptfrau Bekira. Der riesige Dom-al’Ahm der Stadt trug ihr zu Ehren den Namen Bekira Masheed.

Weniger als sechzigtausend Rondelmarer lebten in der Stadt, sie alle wohnten in einer Art Enklave in der Nähe des Herrscherpalasts. Etwa die Hälfte von ihnen waren Beamte, der Verwaltungsapparat, der hinter den sechs hier stationierten Legionen stand: vier auf den Gotan-Höhen im Osten, die anderen beiden in der Stadt selbst. Jede Legion zählte fünftausend Mann, darunter je ein Dutzend Schlachtmagi.

Meiros fuhr mit Ramita in der Kutsche zu dem im Westen der Stadt gelegenen Hügel, auf dem der Domus Costruo stand – der Palast der Brückenbauer. Er musste dort dem vierteljährlichen Bankett vorsitzen.

Der Domus Costruo hatte einen kreuzförmigen Grundriss und war aus poliertem, mit goldenen Einschlüssen durchsetztem schwarzem Granit erbaut. Über der Haupthalle spannte sich eine gigantische vergoldete Kuppel, auf der in einem riesigen Gemälde die Entstehung der Leviathanbrücke dargestellt war. Die Banketthalle befand sich im Westflügel, wo das Tageslicht am längsten einfiel, der Marmorboden jedoch selbst in der größten Sommerhitze kühl blieb. Überall standen Soldaten der Arkanum-Garde, einer Legion aus Pontus, die eigens zum Schutz des Ordo Costruo abgestellt war.

Ramita musterte ihren Gatten aus dem Augenwinkel. Sie hatte die letzten Tage im Blutturm verbracht. Alyssas willkommener und auf seine ganz eigene Art auslaugender Sprachunterricht war ihre einzige Abwechslung gewesen.

»Ihr seht müde aus, mein Gemahl«, sagte sie auf Rondelmarisch und freute sich über die großen Fortschritte, die sie gemacht hatte. Nicht alles war schlecht an der Magie der Jadugara.

Meiros gähnte. »Ja, ich bin müde. Mehrere Inquisitoren der Kore sind hier, und ihre Anwesenheit hat eine hitzige Debatte in Gang gesetzt. Die Bastarde halten den Nordpunkt besetzt, den Turm am anderen Ende der Brücke, von wo aus der erste Kriegszug begann. Ob es uns gefällt oder nicht, die Hauptfunktion des Ordo Costruo ist es, die Brücke instand zu halten, damit der Kaiser sie benutzen kann, wenn er sie braucht. Das sind alte Wunden …« Er fuhr sich über die immer noch ungewohnte Glatze. »Ich werde zu alt für das alles, auch wenn alle sagen, ich sähe jünger aus, seit du hier bist, Frau.«

Ramita lächelte pflichtbewusst und kämpfte gegen ihre Nervosität wegen des bevorstehenden Banketts an. »Die Dame Justina hat mir geraten, heute Abend auf der Hut zu sein.«

»Sie übertreibt gerne. Bleib einfach in meiner Nähe. Ich passe auf dich auf.«

»Ich werde Euch keine Schande machen.«

»Du wirst das Gespräch des Abends sein, meine Liebe«, erwiderte Meiros mit einem Grinsen.

Die Kutsche fuhr eine lange, von Palmen gesäumte Prachtstraße entlang. Trompeten erschallten, als sie schließlich anhielten. Diener in roten Livreen halfen Ramita beim Aussteigen. Die Arkanum-Garde stand Spalier, und Meiros führte Ramita die Treppe hinauf. Es musste an ihrer eisernen Disziplin liegen, dass nur die Hälfte der Soldaten Ramita mit offenen Mündern anstarrte. Wahrscheinlich hatten sie noch nie einen Sari gesehen, geschweige denn den nackten Bauch einer Frau in der Öffentlichkeit.

Justina hatte gedroht, alle ihre Saris zu verbrennen, falls Ramita vorhatte, einen davon beim Bankett zu tragen. Aber als Ramita sich damit an Meiros wandte, hatte er ihr seinen Segen erteilt, und Justina musste klein beigeben. Ramita hatte sich den raffiniertesten aus der Kollektion ausgesucht, die Vikash Nooridans Frau mit so viel Vergnügen in Baranasi erstanden hatte: Das eng sitzende Oberteil war mit blauen Glasperlen bestickt. Sie hatten die gleiche Farbe wie die handgestickten Gann-Elefanten, jeder ein Gott des Glücks, auf dem Unterteil, und waren so geschickt arrangiert, dass bei jeder Bewegung neue Muster zutage traten, die sich perfekt in das Gesamtbild einfügten. Vor dem Gesicht trug Ramita einen Gazeschleier, und ein goldener Nabelring zierte ihren flachen Bauch. Dazu trug sie ihre Hochzeitsarmreifen und eine Kette zwischen Nasenring und Ohr. Huriya hatte ihr einen scharlachroten Edelstein auf die Stirn geklebt und ihre Fingernägel von einem von Justinas Dienern mit einem eigens angemischten Farbton lackieren lassen. Die Lippen waren dunkelrot geschminkt, und am Morgen hatte Huriya ihr einen Fuß mit Henna bemalt. »Du wirst alle Blicke auf dich ziehen«, hatte sie ihr zugeflüstert, während Justina nur schimpfend den Kopf schüttelte. »Hör nicht auf die eifersüchtige alte Hexe …«

Meiros lächelte zufrieden. »Du leuchtest wie eine exotische Blume«, sagte er, und Ramita war überrascht, wie sehr sie sich über das Kompliment freute.

Sie erreichten das obere Ende der Treppe, wo sie ein alterslos aussehender Mann mit grauem Haar begrüßte und Ramita unverhohlen anstarrte. Sie reichte ihm gerade einmal bis zur Brust. Waren die Rondelmarer wirklich alle Riesen?

Er stellte sich als Graf Rene Cardien vor, beugte sich über ihre Hand, bestaunte verunsichert das Hennamuster auf Ramitas Fuß, und ließ sie nervös wieder los. Sein Blick wanderte von ihrem Hals hinunter zum Bauchnabel und sprang wieder zurück.

»Wenn alle Männer dich heute Abend so anstarren, werden sie kaum einen klaren Gedanken fassen können«, bemerkte Meiros leise, während sie durch das große Eingangstor traten.

»War das nicht die Absicht?«, fragte Ramita keck. Es war kein Geheimnis, dass selbst die gerissensten Händler am Aruna-Nagar-Markt beim Anblick einer schönen Frau alles um sich herum vergaßen. Ramita war nicht einmal das schönste Mädchen am Markt gewesen, aber sie hatte gelernt, im richtigen Moment das richtige Lächeln aufzusetzen.

Meiros warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Vielleicht habe ich dich unterschätzt, Frau«, flüsterte er zufrieden. »Aber sei vorsichtig: Nicht jeder hier ist ein alter Lüstling wie Rene Cardien. Nicht übermütig werden!«

Ramita senkte demütig das Haupt, und sie betraten die große Halle. Staub glitzerte in den dunkelrosafarbenen Lichtstrahlen, die durch die hohen Fenster hereinfielen, und ihre Schritte hallten zwischen den gebieterisch aussehenden, von zinnoberroten und smaragdfarbenen Streifen durchzogenen Marmorstatuen links und rechts wider. Die Gesichter und wallenden Roben wirkten so realistisch, als wären sie echt. Vor einer hoch aufgeschossenen schlanken Frau mit auffallend großen Augen blieb Meiros stehen.

»Das ist Lynesse, meine erste Gattin.« Er deutete auf die Statue gegenüber. Sie stellte eine herrische Frau dar, die eine Hand zum Himmel erhoben hatte. Ihr Blick war grimmig und stolz. »Und das ist Edda, meine zweite Frau.«

»Ist sie Justinas Mutter?«, fragte Ramita leise.

»Allerdings. Sie gleichen einander wie ein Ei dem anderen, und das nicht nur, was das Aussehen angeht«, seufzte Meiros, und Ramita musste ein Schmunzeln unterdrücken, als sie weitergingen.

Ein Zeremonienmeister verkündete ihre Namen, und Stille senkte sich über die Halle. Alle Köpfe drehten sich in Ramitas Richtung.

Sie hatte Meiros gefragt, ob sie einen Knicks machen sollte, was in einem Sari nicht einfach war, aber Meiros hatte verneint. »Der Knicks ist eine rondelmarische Gepflogenheit, und deine Kleidung weist ausdrücklich darauf hin, dass du keine Rondelmarerin bist. Bleib einfach aufrecht stehen und lass sie dich ansehen. Lass sie merken, dass du nicht von hier bist, und warte, bis sie sich vor dir verneigen. Denk daran: Du bist meine Frau, und sie werden tunlichst vermeiden, dich zu beleidigen, um nicht meinen Zorn auf sich zu ziehen.«

Das »der Herr und die Dame Meiros« hing immer noch in der Luft, als sie stehen blieben und der versammelten Gesellschaft ausgiebig Gelegenheit gaben, sie zu betrachten. Meiros trug einen einfachen cremefarbenen Umhang, während Ramita heller erstrahlte als jede andere Frau im Saal. Dann führte Meiros sie unter die Leute, hinein in das Gewirr aus Namen und Gesichtern: Magi-Ehepaare, alleinstehende Magi beider Geschlechter, gewöhnlich geborene Verlobte von Magi – jede Kombination war vertreten, und alle behandelten Ramita mit dem größten Respekt. Und mein Mann ist der mächtigste von ihnen allen, dachte sie mit einem überraschenden Anflug von Stolz.

Gläser mit sprudelndem Wein wurden gereicht, offensichtlich ein teures Getränk, aber Ramita begnügte sich mit einem Frucht-Scherbet, wie es sich für eine Lakhin geziemte. Sie schien die Einzige zu sein, die keinen Alkohol trank, und Ramita dachte daran, dass ihr Vater immer gesagt hatte, alle Rondelmarer seien Säufer.

Am meisten aber überraschte sie die Tatsache, dass beinahe die Hälfte der anwesenden Magi antiopisches Blut in den Adern hatten. Die meisten schienen vom Volk der Hebb abzustammen, dem dunklen Haar und dem blässlich olivfarbenen Hautton nach zu schließen, aber es gab auch auffällige Ausnahmen: Eine Frau mit üppiger Figur, die ihr als Odessa d’Ark vorgestellt wurde, hatte dunkle Haut und war beinahe blond. Ramitas Sari schien ihr Missfallen zu erregen, und trotzdem konnte sie die Augen nicht davon abwenden, als gebe sie in Gedanken bereits ihr nächstes Ballkleid in Auftrag.

»Dein Aufzug wirkt sich bereits auf die hiesige Mode aus, meine Liebe«, kommentierte Meiros amüsiert.

Bis jetzt hatte noch niemand versucht, sich mit ihr zu unterhalten, und Ramitas Nervosität begann ein wenig nachzulassen, da betrat Justina den Saal. Sie trug eine silberne Brosche mit einer Schlange darauf, die sich um einen Stab wand. Es war das Symbol des Heilerordens, den sie gegründet hatte. Die meisten der anwesenden Frauen trugen es. Begleitet wurde Justina von einem Mann, dessen Gewand beinahe noch bunter schillerte als das Ramitas.

Justina ließ den Arm des Mannes los und begrüßte Meiros. »Vater«, sagte sie mit einem eleganten Knicks.

Meiros musterte ihren Begleiter argwöhnisch. »Musste es ausgerechnet der sein, Tochter?«, brummte er leise.

»Oh, Vater, sei kein solcher Griesgram. Emir Rashids Kutsche fuhr zur gleichen Zeit vor wie meine, und er hat mir seinen Arm angeboten. Sei nett zu ihm. Das hier ist ein Festbankett.«

Der Emir, neben dem jeder Pfau verblasst wäre, kam herangeschritten, und Justina wedelte mit der Hand, als deute sie auf ein Gemälde. »Rashid, das ist Ramita, die neue Frau meines Vaters.«

Ramita starrte in sein Gesicht hinauf. Es war nicht nur das opalgrüne, mit Schildpatt und Perlen besetzte Gewand, das schillerte wie das Schuppenkleid einer Schlange. Nicht nur das perfekt geschnittene, stolze Gesicht mit dem gepflegten Kinnbart und den fein säuberlich geflochtenen Zöpfen, die ihr den Atem verschlugen. Es war nicht der überwältigende optische Eindruck allein, sondern vor allem sein unglaublich selbstsicheres Auftreten, diese Haltung und diese Bewegungen, die aussahen wie die eines Tänzers oder Schwertkämpfers. Unter den gezupften Augenbrauen funkelten durchdringende Augen, aber am schlimmsten war, wie sehr der Emir Ramita an Kazim erinnerte, an dessen unerschütterliches Selbstbewusstsein und seinen angeborenen Charme. Einen Moment lang hatte sie sogar den Eindruck, es wäre tatsächlich Kazim, der da über den Marmorboden dieses Traumpalasts auf sie zukam. Um ein Haar hätte sie seinen Namen gesagt.

Kühle Finger hoben ihre Hand, die Lippen des Emirs streiften ihre Fingerknöchel, und Ramita musste unwillkürlich schlucken.

»Namaste, Dame Meiros«, sagte er auf Lakhisch und ohne den Hauch eines Akzents. »Die Gerüchte über Euch verblassen angesichts der Wahrheit. Ich bin Emir Rashid Mubar al Hallikut und stets zu Euren Diensten.«

»Ja, Namaskar«, stammelte Ramita. »Es freut mich, in diesem Land meine Muttersprache zu hören, Emir.«

»Und mir ist es ein Vergnügen, sie endlich einmal wieder benutzen zu können, Dame Meiros.« Er richtete sich auf und strahlte vor Stolz.

Wie unglaublich selbstverliebt er ist.

»Emir Rashid«, unterbrach Meiros, dessen Stimme im Vergleich zu Mubars volltönendem Bariton klang wie ein Krächzen, »ich wusste gar nicht, dass Ihr längere Zeit in Lakh wart.«

»Oh, ich komme überall herum, Herr.« Er wandte sich wieder Ramita zu. »Ich wünsche einen angenehmen Abend, Antonin. Meine Dame.« Er wirbelte herum und schritt davon, um mit einer eleganten Verbeugung Odessa d’Ark zu begrüßen.

Es kostete Ramita einige Kraft, den Blick von ihm loszureißen.

Nach einer Weile fand sie es frustrierend, ständig angestarrt, aber nie angesprochen zu werden. Ramita war Lakhin, und die Lakh waren von Natur aus gesellig. Sie war umgeben von so vielen faszinierenden Menschen – den leibhaftigen Brückenbauern! –, und dennoch konnte sie nicht mehr tun, als den oberflächlichen Gesprächen zu lauschen und freundlich zu lächeln. Sie wurde unruhig, und schließlich wurde ihr langweilig.

»Ähm, wo sind hier die Toiletten?«, fragte sie leise.

Alyssa, die gerade in der Nähe war, bot an, sie ihr zu zeigen.

»Wie gefällt dir das Festbankett?«, erkundigte sie sich, als sie Ramita durch die endlosen Flure führte.

»Irgendwie ist es gar kein richtiges Fest«, erwiderte Ramita seufzend. »Es gibt keine Musik, niemand tanzt. Ein solches Fest macht keinen Spaß.«

»Ein Fest, das Spaß macht? Das wäre mal was Neues«, überlegte Alyssa laut. »So etwas gibt es hier nicht.«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass die Leute hier einander mögen«, sprach Ramita weiter. »Sonst wären nicht alle so förmlich. Bei uns lädt man jemanden, den man nicht mag, einfach nicht ein, aber es kommen trotzdem immer alle. Man muss sie ja nicht reinlassen, und wenn sie Ärger machen, ruft man Chandra-bhais Schläger. Die kümmern sich dann darum.«

»Klingt, als wäre euer Leben unbeschwerter als unseres. Hier dreht sich alles um Politik: mit wem man spricht, was man sagt, mit wem man tanzt, manchmal bestimmt sie sogar, was man anzieht.« Alyssa kicherte. »Wenn mich nicht alles täuscht, werden die weiblichen Gäste sich beim nächsten Bankett etwas farbenfroher kleiden. Auch wenn die Älteren unter ihnen natürlich schockiert sind wegen deines freien Bauches.«

»Bei uns ist das ganz normal. Glaubst du, ich habe die richtige Wahl getroffen?«

»Das hast du. Alle haben nur Augen für dich. Vor allem die hübscheren unter den Männern.« Sie zwinkerte ihr zu. »Scheint, als hättest du Eindruck gemacht.«

Ramita war verwirrt. »Ich wollte nur zeigen, dass ich eine Lakhin bin und das Recht habe, ich selbst zu sein. Ansonsten wollte ich keinen wie auch immer gearteten Eindruck machen.« Sie hob das Kinn. »Wir Lakh-Frauen sind unseren Männern treu.«

Alyssa lächelte verschwörerisch. »Schön gesprochen, meine Liebe. Aber wenn du erst mal ein halbes Jahrhundert lang mit demselben alten Gockel verheiratet bist, redest du vielleicht anders. Und dein Mann ist jetzt schon so alt, dass manche von uns sich fragen, ob er überhaupt noch in der Lage ist …?« Sie seufzte mitfühlend. »Du tust uns allen entsetzlich leid, Liebes. Wir wollen dir deine Zeit hier so erträglich wie möglich machen, bevor du wieder zurückgeschickt wirst.«

Ein eigenartiges Gefühl regte sich in Ramita. »Zurückgeschickt? Ich werde bald Kinder zur Welt bringen!« Das denken sie also: Ich bin nur ein vorübergehender Zeitvertreib. Selbst diese Frau, die ich für meine Freundin gehalten habe, glaubt das.

»Natürlich.« Alyssa lehnte sich mit der Schulter an die Wand. »Die Frage ist nur: von wem? Die jungen Männer hier schreien geradezu nach Frischfleisch.«

Ramita wurde feuerrot. »Von meinem Mann«, knurrte sie durch zusammengebissene Zähne und verschwand in der Toilette, wo sie so lange blieb, bis sie sich wieder gefasst hatte. Als sie herauskam, fand sie Emir Rashid Mubar an der Stelle, wo eben noch Alyssa auf sie gewartet hatte. Die Magierin war nirgendwo mehr zu sehen.

»Dame Meiros. Oder darf ich Euch Ramita nennen?«, fragte er auf Lakhisch.

Ramita musste zweimal schlucken, bevor sie etwas erwidern konnte. »Mein Herr.« Sie wollte gerade gehen, als er ihr sanft, aber entschlossen eine Hand auf den Arm legte.

»Erlaubt mir, Euch zu begleiten«, sagte er. »In diesem Irrgarten aus Gängen und Korridoren kann man sich leicht verlaufen.« Ramita zitterte unter der Berührung seiner riesigen Hand, während sie über Flure, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, zu einem kleinen Innenhof gingen, in dem es stark nach Wachsblumen duftete. Dichtes Gebüsch umgab sie und hielt alle neugierigen Blicke ab.

Der Emir wandte sich ihr zu, die Hand immer noch auf ihrem Arm. Er überragte sie um mindestens zwei Köpfe, und seine plötzliche Nähe war intim und bedrohlich zugleich. »Es muss schwer für Euch sein, Ramita, von allen Menschen getrennt zu leben, die Euch am Herzen liegen«, sagte er mit honigsüßer Stimme. »Familie, Freunde, Liebhaber …«

»Sind wir hier richtig, Emir?«, fragte sie und versuchte, die Angst in ihrer Stimme zu verbergen.

»Gab es in Baranasi einen Mann in Eurem Leben? Einen hübschen, jungen Mann?«

Einen Moment lang schien sein Gesicht zu flackern, und Ramita hatte wieder das Gefühl, Kazim stehe vor ihr und würde ihr zuflüstern wie in jenen Nächten vor so vielen Monden auf dem Dach ihres Hauses. Sie versuchte, sich dem Griff des Emirs zu entwinden, aber er hielt sie fest.

»Wartet, Ramita. Habt keine Angst. Ich bin hier, um Euch zu helfen. Ich bin ein Romantiker und möchte Euch glücklich sehen. Ich habe eine Schwäche für junge Liebende wie Euch und Kazim.«

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Er weiß von Kazim. Was weiß er sonst noch?

Da hörte sie Schritte.

»Rashid«, schnarrte Antonin Meiros’ greise Stimme, aber in diesem Moment klang sie in Ramitas Ohren wie Glockengeläut.

Die Lippen des Emirs zuckten. »Ah, Antonin. Ich habe Eure Frau gefunden. Sie hat sich wohl verlaufen.« Er hielt Ramitas Hand hoch wie eine Trophäe. »Hiermit gebe ich sie Euch zurück. Sicher werdet Ihr in Zukunft besser auf sie aufpassen, nicht wahr?«

»Das werde ich, Rashid. Das werde ich.« Er ergriff sanft Ramitas Hand. »Komm, Frau. Das Festmahl wird jeden Moment aufgetragen.«

Sie hörte kaum, was er zu ihr sagte, während sie zurück zum Saal gingen, denn ihre Gedanken rasten. Wie hatte der Emir es erfahren? Sie hatte den ganzen Abend nur ein einziges Mal an Kazim gedacht. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Jemand hatte sich Zugang zu ihren Gedanken verschafft. Alyssa beispielsweise hätte es gekonnt. Ein eiskalter Schauer kroch ihr über den Rücken wie eine schwarze Mamba.

»Du hast deine Sache gut gemacht«, sagte Meiros, als sie nach Hause fuhren. »Du warst still, beherrscht und höflich.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Was wollte Rashid von dir?«

Ramita konzentrierte sich darauf, ihn ihre Gedanken nicht sehen zu lassen. »Es war, wie er sagte: Ich hatte mich verlaufen. Aber nur, weil Alyssa nicht auf mich gewartet hat.«

»Alyssa? Das klingt nicht nach ihr. Etwas muss sie weggeholt haben.«

Oder jemand. Sie wollte ihren Verdacht schon laut aussprechen, ließ es aber sein. Meiros kannteAlyssa Dulayn wesentlich länger und besser als sie, und sowohl er als auch Justina schienen ihr offenkundig zu vertrauen. Wie dem auch sei, dachte Ramita, ich werde keinen Sprachunterricht mehr bei ihr nehmen.

»Ist das Bankett zu Eurer Zufriedenheit verlaufen?«, fragte sie. Niemand hatte getanzt, niemand hatte gelacht. In ihren Augen war es eine ziemlich trostlose Veranstaltung gewesen.

Meiros schnaubte. »Es war eine konsequente Fortsetzung der gesamten Woche. Nichts, was dich interessieren würde«, fügte er hinzu und klang wieder erschöpft wie eh und je.

»Aber natürlich interessiere ich mich für das, was meinen Mann beschäftigt«, widersprach sie.

Meiros drehte ihr das Gesicht zu. »Nun gut: Ich habe diesen Orden gegründet, um den friedvollen Einsatz der Gnosis zu fördern. Aber indem die Inquisitoren den Nordpunkt besetzt haben, haben sie mich gezwungen, zwischen der Brücke und einem offenen Krieg zu entscheiden. Ob zum Guten oder zum Schlechten, ich habe mich für die Brücke entschieden, und seither hat die Inquisition den Orden praktisch in der Hand. Das Einzige, was wir noch dürfen, ist, die Brücke erhalten, und das hat den Orden gespalten. Manche Mitglieder wurden von den Inquisitoren gekauft und tun, was die ihnen sagen, andere haben resigniert und halten sich bedeckt. Und wieder andere, und das sind nicht wenige, wollen kämpfen. Doch wir sind Pazifisten, und das seit Jahrhunderten. Wir haben dem Krieg abgeschworen, und wir sind zu wenige. Ein Krieg würde bedeuten, dass wir unsere Vernichtung riskieren.«

»Und auf welcher Seite steht Ihr, mein Gemahl?«

»Auf der Seite des Friedens, wie ich es immer getan habe. Aber es ist nicht leicht, auch wenn ich als Gründer des Ordens ein Vetorecht habe. Die Militanten unter uns sind in der Mehrheit, und sie können sich nicht entscheiden zwischen Kriegszug und Blutfehde. Rashid ist ein Anhänger der Fehde, Rene Cardien ist der Anführer der Kriegszügler, und ich stehe zwischen ihnen und versuche, die Brückenbauer zusammenzuhalten, damit der Orden weiterhin seinem ursprünglichen Zweck dienen kann: der Bildung, dem Handel und dem Frieden. Aber, Frau, ich bin dabei, diesen Kampf zu verlieren. Mein Sohn ist tot, und meine Tochter vergeudet ihr Leben. Nur meine Vision, dass wir beide, wenn wir Kinder miteinander haben, den Orden retten können, verleiht mir noch Hoffnung. Das ist der Grund, weshalb wir Nachkommen zeugen müssen, auch wenn sie erst in zwanzig Jahren alt genug sein werden, etwas zu bewegen. Wir müssen diese Mondflut überleben und die nächste, auch wenn es im Moment beinahe unmöglich erscheint. Trotzdem, ich lebe schon so lange, ein paar Jahrzehnte werde ich schon noch durchhalten.« Er drückte ihre Hand. »Ich bedaure, dich mit all dem belasten zu müssen, meine junge Ehefrau.«

Meiros sah verloren aus, beinahe wie ein Kind. Ramita hatte nur einen Teil seiner Worte wirklich verstanden. Politik sagte ihr nichts, und sie hatte drängendere Sorgen. Was Alyssa sonst noch in ihrem Geist gelesen hatte, beispielsweise. Bei dem Gedanken wurde ihr übel, aber für den Moment schob sie ihn ebenso beiseite wie ihre Furcht. Sie legte die andere Hand auf die von Meiros und erwiderte seinen Druck.

Hauptmann Lem ließ sie in den Palast, und Ramita folgte Meiros die Treppen hinauf. Er hatte den Weg zu ihren Gemächern eingeschlagen, aber Ramita schüttelte den Kopf. »Eine gute Ehefrau bleibt bei ihrem Mann, wenn er Sorgen hat, und lindert seine Not«, zitierte sie aus einer Omali-Schriftrolle.

Meiros lächelte verhalten. »Ich fürchte, ich bin im Moment keine gute Gesellschaft. Ich bin müde, so unglaublich müde.« Mit diesen Worten küsste er sie auf die Wange und schlurfte davon.

Der Traum dieser Nacht war verstörend. Bilder von Kazim und Rashid wechselten einander ab, verwirrten sie und führten sie im Kreis, während Alyssa mit einem kalten Lächeln auf den Lippen zusah. Mehr als einmal wachte Ramita auf und wünschte, sie wäre nicht allein.

Das Bankett hatte Ende Janun stattgefunden, Februx und Martris vergingen, und Ramita hatte immer noch nicht empfangen. Sie weigerte sich, weiteren Sprachunterricht zu nehmen, und das eine Mal, als Alyssa sie aufsuchen wollte, ließ Huriya sie nicht herein. Wegen der offensichtlich tiefen Freundschaft zwischen Justina und Alyssa traute Ramita sich immer noch nicht, Meiros von ihrem Verdacht zu erzählen. Ihre ganze vorübergehend gewonnene Sicherheit war wie weggefegt, und trotz der wachsenden Zuneigung zwischen ihr und Meiros, trotz Huriyas freundschaftlichem Beistand fühlte Ramita sich einsam und allein. Als sie hierherkam, hatte sie sich vor allen möglichen eingebildeten und tatsächlichen Gefahren gefürchtet, aber sie hätte sich nie träumen lassen, eines Tages den Göttern Opfer zu bringen, damit sie sie von ihrer Einsamkeit erlösten. Niemand kam sie besuchen, selbst Huriya und ihre eigenen Diener hatten mehr Freiheiten als Ramita.

Und Ende Martris platzte auch noch die letzte Blase vermeintlicher Sicherheit, als Huriya eines Morgens in ihr Gemach gestürmt kam.

»Mita, Mita!«, keuchte sie und fiel ihr um den Hals. »Du wirst es nicht glauben, aber ich habe ihn gesehen, in den Suks. Ich habe mit ihm gesprochen!«

»Mit wem gesprochen?«, versetzte Ramita und machte sich von ihrer Schwester los. »Wen hast du gesehen?«

»Jai, ich habe Jai gesehen, hier in Hebu…«

»Jai? Meinen Bruder Jai?«